Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Situation
1.2 Problemstellung
1.3 Zielsetzung
1.4 Vorgehensweise
2 Theoretische Vorbetrachtungen
2.1 Begriffsdefinition
2.1.1 „Whistleblowing“
2.1.2 Begriffsdefinitionen im Whistleblowing Kontext
2.2 Status quo: Forschungsstand, Erkenntnisse und Trends
2.2.1 Forschungsstand und theoretische Modelle
2.2.2 Erkenntnisse aus der Forschung und Ausblick
2.2.3 Whistleblowing: Recht, Gesetze und Digitalisierung
2.3 Fazit der theoretischen Vorbetrachtung
3 Ansätze für Unternehmen zum Umgang mit ethischen und gesetzlichen Anforderungen.
3.1 Zielsetzung von Unternehmen
3.2 Verhaltenskodex und Social Responsibility
3.3 Compliance und Integritätssystem
3.4 Unternehmensorganisation und -kultur
4 Führungskräfte in der Verantwortung
4.1 Ethischer Führungsstil
4.2 Ethische Personalauswahl
4.3 Personalentwicklung
5 Diskussion & Kritische Würdigung
6 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Model of whistleblowing determinants
Abbildung 2: Unterschiede Compliance- und Integritätsprogramme
Abbildung 3: Bei der EFK eingegangene Meldungen 2014-2019
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Situation
Ob illegales oder unethisches und unmoralisches Verhalten am Arbeitsplatz (Suhr, 2017), Geheimnisverrat, Namen wie Edward Snowden und Chelsey Manning oder wie jüngst in den Nachrichten, das Thema Wirecard (Schäfer, 2020): Das Thema ethisches und moralisches Verhalten bzw. die hohe Anzahl und Verbreitung an Verstößen beschäftigt nicht nur die Wissenschaft. Vielmehr ist das Thema gesellschaftsfähig und nur die prominentesten Fälle schaffen es in die Schlagzeilen der Tageszeitungen, Onlineportalen und Nachrichten im Fernsehen. Dabei handelt sich nur um die Fälle, welche aufgedeckt und, auch nur in Teilen, aufgeklärt werden. Oft dienen diese Fälle zur Abschreckung und Warnung für andere „Sünder“. Oft dienen diese Fälle aber auch der Abschreckung für diejenigen, die sich mit Mut und Entschlossenheit dazu entschieden haben, Unrechtmäßiges und Unmoralisches aufzudecken, Beweise zu sammeln und entsprechend zu melden - innerhalb eines Unternehmens oder wie in den bekanntesten Fällen, an eine dritte Stelle wie bspw. Journalisten. Unternehmen, wie auch die gesamte Gesellschaft scheinen oft in den Konflikt zu geraten, bei dem sich der Einzelne zwischen Mitmachen, Melden, Ignorieren oder aktive Ansprache entscheiden kann und muss. Es scheint also angebracht, das Thema und das gesamte beteiligte Ökosystem einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
1.2 Problemstellung
Im Rahmen der öffentlichen Berichterstattung werden überwiegend nur grobe Ausschnitte der Realität wiedergegeben. Das heißt, weder die gesamten Hintergründe des Verstoßes, die Motivation des sog. Whistleblower, dessen Rolle oder der Vorgang des Whistleblowing werden dargestellt. Whistleblower, Held oder Verräter (NZZ, 2018) scheint die Auswahl an Einschätzung zu sein. Dabei spielen neben finanziellen Motiven, bspw. bei der Weiterleitung von Datenträgern mit Daten von Steuersündern, auch weitere Einflußfaktoren eine Rolle, in einem Prozess den der Whistleblower durchläuft, zu spielen. Zunehmend in den Fokus geraten auch die juristische Perspektive sowie die Möglichkeiten, welche Unternehmen im Hinblick auf die Einhaltung und Umsetzung ethisch-moralischer Grundsätze sowie gesetzeskonformes Verhalten haben. Unklar sind jedoch neben genauen Definitionen und dem Verständnis, was Whistleblowing ist, auch die bisherigen Erkenntnisse aus Studien, Möglichkeiten, als Unternehmen darauf zu reagieren und Ansätze, wie Führungskräfte dem Thema begegnen können. Begriffe wie Compliance und Corporate Social Responsibilty (CSR) sind allgegenwärtig und scheinen mitunter mehr Marketing-Charakter zu bieten, als Ihrem eigentlichen Zweck nachzukommen. Dieser scheint wiederum nicht klar.
1.3 Zielsetzung
Die vorliegende Arbeit soll somit ein grundlegendes Verständnis bieten, was unter dem Begriff des Whistleblowing zu verstehen ist bzw. weitere Begriffe kurz ausführen, die für das weitere Verständnis notwendig sind. Weiters soll ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu Whistleblowing gegeben werden. Dabei sollen verschiedene Ansätze und Forschungsschwerpunkte dargestellt werden, um im Anschluß auf Erkenntnisse aus Studien und Analysen einzugehen. Vor einem Fazit zur Forschung soll auch ein kurzer Überblick zu aktuellen Studien gegeben werden sowie ein Ausblick über mögliche zukünftige Ansätze im Bereich Whistleblowing. Das Thema Rechtsprechung und Digitalisierung soll aus Gründen der Aktualität ebenfalls Erwähnung finden. Schließlich sollen Ansätze dargestellt werden, wie sowohl Unternehmen als auch Führungskräfte in Unternehmen das Thema ethisch und moralische Verantwortung aktiv leben und gestalten können. Dazu sollen verschiedene Ansätze und Instrumente aufgezeigt und kurz erläutert werden. Die konkrete Ausgestaltung der Instrumente und tiefer gehende Diskussion verschiedener Ansätze soll nicht Teil dieser Arbeit sein. In diesem Zusammenhang sollen Compliance und CSR Berücksichtigung finden, bevor abschließend eine kritische Betrachtung und Bewertung in ein Fazit münden.
1.4 Vorgehensweise
Die Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Teil beschreibt die theoretischen Grundlagen in Form von Begriffsdefinitionen zu Whistleblowing, Moral, Loyalität und Ethik. Darauf folgen der Forschungsstand, Erkenntnisse aus der Forschung und eine Zusammenfassung mit Ausblick, um einen soliden Überblick zum Thema Whistleblowing, und damit verbundene Konflikte, zu bieten. Der zweite Teil zeigt, darauf aufbauend, Möglichkeiten für Unternehmen, wie mit den Herausforderungen und Anforderungen hinsichtlich rechtlich, moralisch und ethisch korrektem Verhaltens, umgegangen werden kann, sowie, auszugsweise ausgewählte Instrumente, dies umzusetzen. Hier werden Compliance-Systeme, eine Whistleblowing-Policy, Verhaltenskodexe als Teil der sozialen Verantwortung und die Stichworte Unternehmenskultur ebenfalls zusammengefaßt beschrieben, wie auch der Ansatz des „Integrity Managements“. Das Instrumentarium für Führungskräfte wird in weiterer Folge ebenfalls kurz beleuchtet und Bausteine der Personalauswahl, ethische Führung und Personalentwicklung weiter ausgeführt. Die Arbeit schließt, im dritten Teil, mit einer kritischen Würdigung, einem Ausblick auf weitere mögliche Untersuchungen und Ansätze sowie einem abschließenden und zusammenfassenden Fazit.
2 Theoretische Vorbetrachtungen
2.1 Begriffsdefinition
2.1.1 „Whistleblowing“
„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“.
Mit diesem Zitat von Hofmann von Fallersleben (Schneider, 2018) wird deutlich, dass das Thema „Whistleblowing“ nicht nur einem genaueren Verständnis bedarf, sondern auch welche Rolle es im fragilen sozialen Gefüge einer Organisation spielen kann. Zunächst soll über das Wort „Whistleblower“ bzw. „Whistleblowing“ als Vorgang Klarheit geschaffen werden. Aus dem Englischen abgeleitet, kann „to blow the whistle“ mit „pfeifen“ übersetzt werden (Duden, 2020b). Auch das negativ konnotierte Wort „verpfeifen“ erscheint in den Recherchen zum Wort selbst (Whistleblowing, 2020f). Auch eine Ableitung aus dem Sport ist bei Quasqas & Kleiner zu finden, bei der das Spiel bei einem „Foul“ durch den Schiedsrichter gestoppt wird (Gao & Brink, 2017). Um den Vorgang des Whistleblowing kurz und prägnant zu beschreiben, kann folgende Definition Hilfe leisten, derer sich in zahlreichen Publikationen, vorzugsweise aus dem angloamerikanischen Sprachraum, bedienen:
„Ein aktuelles oder ehemaliges Mitglied einer Organisation hat Kenntnis von illegalen, unmoralischen oder illegitimen Verhaltensweisen, die im Verantwortungsbereich der Organisation liegen, und deckt diese Mißstände gegenüber Personen oder Organisationen, die Handlungsmöglichkeiten besitzen, auf“ (Near und Miceli 1985; Übersetzung von Donato 2009, zitiert in HTW, 2019, S. 78).
Gleichwohl muss erwähnt werden, dass die Wissenschaft zwar ein ähnliches Verständnis zum Begriff entwickelt hat, eine einheitliche Definition aber seit den ersten Forschungen in den 1970ern nicht vorliegt und das jeweilige Verständnis nahezu jeder Publikation als Einführung dient (Keenan & McLain, 1992, S. 348; Near & Miceli, 1995, S. 682; Scaturro, 2018, S. 3; Sieber, 1998, S. 12). So fristete das Thema in der Forschung bis in das aktuelle Jahrhundert eher ein Nischendasein (Vandekerckhove, 2020, S. 2) mit dem sich Psychologen, Philosophen, aber auch Rechtswissenschaftler und weitere Disziplinen zunehmend beschäftigen und welches stark durch Fälle auf dem Controlling- und Finanzsektor geprägt wurde bzw. wird (vgl. Gao & Brink, 2017; Sheppey & McGill, 2007; Sieber, 1998, S. 10). Eine weitere Rolle spielen die Optionen, die der Whistleblower hat. Er kann, wenn er sich dafür entschieden hat, eine Meldung organisations-intern bzw. extern vollziehen (Mesmer- Magnus & Viswesvaran, 2005, S. 278). Viel entscheidender ist aber die Frage, ob er meldet oder nicht (Waytz, Dungan & Young, 2013, S. 1027), ein Dilemma bzw. ein intrapersonaler Konflikt (Reinhardt, 2015, S. 13) zwischen Loyalität und Fairness bzw. Gerechtigkeit oder die Entscheidung, ob es angemessen ist oder eben nicht, eine Meldung zu machen (Near & Miceli, 1995, S. 679). Da die Begriffe Loyalität, Fairness, Gerechtigkeit, sowie Moral und Ethik eine zentrale Bedeutung einnehmen, sollen diese nachfolgend und zur Förderung eines einheitlichen Verständnisses in Form einer Arbeitsdefinition beschrieben werden.
2.1.2 Begriffsdefinitionen im Whistleblowing Kontext
- Loyalität
Sowohl Treue, Ergebenheit, aber auch Unbestechlichkeit und Rechtschaffenheit werden mit dem Begriff Loyalität assoziiert, welcher aus dem französischen „loyal“ bzw. aus dem lateinischen „legis“ für Gesetz“ abgeleitet wird (Freie Werte Enzyklopädie, 2020). Im Zusammenhang mit Whistleblowing spielt jedoch das Thema der „prima facie“ Loyalität eine große Rolle, welche beschreibt, dass der Mitarbeiter in erster Linie und bis auf Widerruf als Vertreter seines Unternehmens oder Vorgesetzten agiert (Larmer, 2006, S. 1) und so in den intrapersonalen Konflikt gerät, wenn er ggf. deren unethische Vorgänge an eine dritte Stelle melden muss. Markige Slogans wie „Loyalität ist das Mark der Ehre", was auf von Hindenburg bzw. „"Tapferkeit ist nicht genug. Loyalität und Gehorsam sind wichtiger" auf Orwell zurückzuführen sind, fördern ein zwielichtiges Verständnis von Loyalität. Der Film „Eine Frage der Ehre“ des Regisseurs Rob Reiner (1992) zeigt das Thema im Rahmen eines Vorfalls beim Militär sehr eindrücklich bzw. thematisiert die Begriffe Kodex und Loyalität.
- Fairness & Gerechtigkeit.
Ein weiterer Punkt, welcher in Sachen Whistleblowing immer wieder Erwähnung findet, sind die Begriffe der Fairness und Gerechtigkeit. Wie Wiek (Wiek, 2018, S. 8) schreibt, ist Fairnessempfinden mitunter sehr subjektiv, kann aber mit den folgenden Schlagwörtern subsumiert werden: Regeln einhalten, Gleichbehandlung aller Mitarbeiter, keine Bevorteilung, alle Menschen gleich behandeln und wertschätzen und auch niemanden auszuschließen bzw. auszugrenzen. Gerechtigkeit kann gut mit folgendem Zitat beschrieben werden:
„Vieles nennt man gerecht oder ungerecht: nicht nur Gesetze, Institutionen und Gesellschaftssysteme, sondern auch die verschiedensten Handlungen. Auch Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen, wie auch diese selbst, nennt man gerecht oder ungerecht. Wir haben es aber mit der sozialen Gerechtigkeit zu tun. Für uns ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (Rawls, 2017, S. 23).
Fairness ist dabei eher ein individuelles Bild von Gerechtigkeit gegenüber einem konzeptionellen Bild von Gerechtigkeit mit Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung von Regeln (Reinhardt, 2015, S. 40).
- Moral & Ethik.
Ethik beschreibt die „Reflexion über die Gesamtheit der Normen, Werte und Handlungsmuster einer Gemeinschaft, welche das individuelle Verhalten prägt" (Westphal, 2011, S. 114, zitiert in Reinhardt, 2015, S. 13) bzw. lässt unethisches Verhalten als Nonkonformität definieren. Moral kann vereinfacht mit der Frage nach Gut und Böse beschrieben werden (Reinhardt, 2015, S. 15), also normative Regeln, nach denen Menschen handeln. Die Gesamtheit der moralischen Prinzipien wiederum wird unter dem Begriff Ethos subsumiert.
Mit der Definition und Ausführung der einzelnen Begriffe wird das mögliche Dilemma, in dem ein (potentieller) Whistleblower stecken kann, klar ersichtlich.
2.2 Status quo: Forschungsstand, Erkenntnisse und Trends.
2.2.1 Forschungsstand und theoretische Modelle.
Wie bereits unter 2.1.1. beschrieben fristete die Forschung zum Thema Whistleblowing, welche sich ab den 1970er-Jahre entwickelt bis in die späten 1990er, eher ein wissenschaftliches Nischendasein (Vandekerckhove, 2020, S. 1). Seither hat sich ein lebhaftes Forschungsinteresse mit zahlreichen Publikationen entwickelt (Culiberg & Mihelic, 2017, S. 1), welche zwischen 1985 und bis heute durch die Arbeiten von Near und Miceli maßgeblich geprägt werden. In den vergangenen Jahren hat sich auch das Forscherteam um Kenny und Vandekerckhove einen Namen in der wissenschaftlichen Welt zum Thema Whistleblowing erarbeitet, wie zahlreiche Veröffentlichungen belegen (Whitaker Institute for Innovation and Societal Change, NUI Galway, 2020). Dabei unterscheiden sich die Forschungsarbeiten in der Regel in zwei methodische Ansätze, um Erkenntnisse zu gewinnen. Zum einen bedienen sich Forscher der Befragung von Whistleblowern oder, und häufiger zu finden, werden Experimenten, Szenarien, Interviews oder Umfragen von möglichen Whistleblowern durchgeführt und ermittelt ob und wie wahrscheinlich es ist, dass eine „Meldung" gemacht wird (Mesmer-Magnus & Viswesvaran, 2005, S. 278). Near beschreibt dies selbst als entweder auf eine „Grounded Theory" basierend, also eine qualitative Studie der Fälle von Whistleblowing, oder das Testen theoretischer Modelle durch Befragungen von umfangreichen Stichproben verschiedener Organisationen und Job Situationen (Near, 2020, S. 1). Dies kann bestätigt werden, wenn man sich einen, nicht erschöpfenden, Überblick über die Studien in Zusammenhang mit Whistleblowing in unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Fokus der vergangenen fünf Jahre macht (Di Salvo, 2020; Gao & Brink; Thüsing & Forst, 2016; What Makes Effective Whistleblowing, 2020e).
Whistleblowing wird in der frühen Literatur überwiegend als ein (Entscheidungs-) Prozess dargestellt, der sequentiell abläuft und verschiedene Phasen durchläuft (Keenan & McLain, 1992, S. 348; McLain & Keenan, 1999, S. 256-258). Situative Einflüsse, der Typ des „Wrongdoing“ (weit verbreitete englische Beschreibung für entsprechend unmoralisches, illegales, unethisch, verschwenderisches, ineffizientes etc. Verhalten einer Person, in McLain & Keenan, 1999, S. 256) sowie individuelle Faktoren werden vor allem durch das Modell von Near und Miceli (Near & Miceli, 1995, S. 679-708) maßgeblich zum Gegenstand der Forschung. Sie differenzieren bei den Überlegungen zu „effizientem“ (erfolgreichen, im Sinne von einer bewirkten und nachhaltigen Veränderung) Whistleblowing zwischen individuellen Variablen wie die Eigenschaften des Whistleblowers, des Empfängers sowie des „Wrongdoers“ (Person, welche den Verstoß begeht) und situativen Variablen wie der Typ des „Wrongdoing“ (Beweislage, rechtliche Situation etc.) und den Eigenschaften der Organisation (Angemessenheit des Whistleblowing, Unternehmensklima etc. Auch der Einfluss des Typs des Wrongdoing wurde eingehend untersucht (Near, Rehg, van Scotter & Miceli, 2004). Diesem Modell liegen zahlreiche theoretische Ansätze zugrunde. In weiteren Studien werden die Einflüsse demographischer Faktoren ebenso untersucht, wie Korrelationen zwischen den verschiedenen Eigenschaften des Whistleblowers (Geschlecht, Alter, Job, Verantwortung, Ausbildungsstand etc.), den kontextuellen Variablen wie bspw. Unterstützung durch andere Mitarbeiter, Organisationsklima, drohenden Vergeltungsmaßnahmen oder den Möglichkeiten, das „Wrongdoing“ zu melden und den Eigenschaften des „Wrongdoing“ (Mesmer-Magnus & Viswesvaran, 2005). Jüngere Forschungsarbeiten versuchen einen Rahmen zu finden, in dem bisherige Erkenntnisse, Ansätze und Modelle einfließen und Kritikpunkte, wie bspw. eine zu starke Komplexitätsreduktion oder das Vernachlässigen einzelnen Eigenschaften von Beteiligten, aufnehmen. So stellen Culiberg & Mihelic (Culiberg & Mihelic, 2017) in Ihrer Arbeit das „Wheel of Whistleblowing“ vor, welches den Prozess aus der Perspektive des Whistleblowers betrachtet und neben dem Whistleblower das Wrongdoing, verschiedene Einflüsse sowie organisations-interne und -externe Möglichkeiten als Meldestelle mit einbezieht (Culiberg & Mihelic, 2017, S. 789). Sie wiesen zudem darauf hin, dass in den Typen des Wrongdoing, also der Art möglicher zu meldender Ereignisse, weiteres Potenzial für Forschung steckt.
Ein Thema, welche die Entscheidung für oder gegen Whistleblowing maßgeblich beeinflußt, sind mögliche Folgen, die als Vergeltung (Englisch „Retaliation“) beschrieben werden können, wie bspw. Beleidigungen, Kündigung, Bedrohung, Meiden durch Kollegen, Diffamierung, Benachteiligung etc. (Parmerlee, 1982; Near & Micali, 1996 in Mesmer- Magnus & Viswesvaran, 2005, S. 281). Motivationen für diese Reaktion können sein, eine öffentliche Verbreitung zu vermeiden, das Image von Unternehmen oder Wrongdoers zu schützen und ggf. weitere potentielle Whistleblower davon abzuhalten. In Abschnitt 2.3.3 soll ein Überblick über die gesetzliche Lage gegeben werden, welchen rechtlichen Schutz Whistleblower jeweils genießen und.
Vandekerckhove (2020) unterteilt die Forschung in die Schule, welche Micali & Near repräsentieren und die sich mit der „Governance“, Prozessen und Strukturen des Whistleblowing beschäftigt und die Schule nach Alford, die den Whistleblower als eine Person beschreibt, die unethisches und unmoralisches Verhalten meldet und als Folge darunter leidet (Vandekerckhove, 2020, S. 1). Daran schließt sich der neueste Ansatz der Whistleblowingforschung an, der vor allem durch Kenny repräsentiert wird. Sie nennt diesen „Affective Recognition“ und sieht den Prozess des Whistleblowing sowohl aus der Perspektive des Whistleblowers als auch und vor allem nicht mit der Meldung beendet, auf die der „dritte Akt“ folgt (Kenny, 2019, S. 141). Kenny öffnet somit die Forschung bzw. erweitert den Forschungshorizont um die Beziehungen zwischen dem Whistleblower, den Unterstützern, Beschützern und Gerechtigkeit (Vandekerckhove, 2020). Kenny stützt Ihre Hypothesen und Ihren Ansatz auf Ihre zehnjährige Forschung zu Whistleblowing mit Gesprächen und Untersuchungen von zahlreichen Fällen aus dem Finanzsektor und mit Whistleblowern selbst (Near, 2020, S. 296).
2.2.2 Erkenntnisse aus der Forschung und Ausblick.
Um die Erkenntnisse aus den vergangenen knapp 50 Jahren Forschung zum interdisziplinären Konstrukt Whistleblowing darzustellen, ist der Rahmen dieser Arbeit nicht ausreichend. Daher werden vor allem richtungsweisende Erkenntnisse präsentiert, welche sich an den, in 2.2.1 beschriebenen, Modellen von Miceli & Near respektive Kenny und Culiberg & Mihelic orientieren und die Ergebnisse der Metaanalyse von Mesmer-Magnus und Viswervaran einbeziehen.
Frühere Studien haben vor allem den Prozess, der beim Whistleblowing durchlaufen wird, analysiert, bewertet und detailliert. Der Erkenntnisgewinn liegt dabei im Verständnis, dass mehrere Stufen durchlaufen werden (McLain & Keenan, 1999, S. 256-258).
Wie Chen (Chen, 2019, S. 304) darstellt, haben sich die Studien zum Thema Whistleblowing meistens auf eine der Variablen bzw. deren Eigenschaften aus dem Modell von Miceli & Near fokussiert (s. Abb. 1). Im Folgenden werden die Erkenntnisse zu jeweils individuellen Faktoren erläutert und welche Rolle die jeweiligen Eigenschaften spielen.
- Eigenschaften des Whistleblowers
Studienergebnisse zeigen zwar leichte Unterschiede zwischen den Whistleblowern in Bezug auf demographische Daten wie Alter, Geschlecht, Ausbildungsniveau und Persönlichkeitsmerkmalen wie bspw. Moralvorstellungen, doch kann gesagt werden, dass Whistleblower überwiegend gut gebildet sind, eine gute Leistung in Ihrem Job erbringen und ein überdurchschnittliches Moralbewusstsein aufweisen (Magnus und Viswervaran, 2005, S.3; Gao & Brink, 2017, S. 3; Dungan, Waytz & Young, 2015, S. 3). Anhand der Studienergebnisse zur Bereitschaft zu Whistleblowing konnten auch Unterschiede nach geographischer Herkunft und kulturellem Hintergrund identifiziert werden (Lewis & Vandekerckhove, 2017; Apaza & Chang, 2020; Dungan, Waytz & Young, 2015, S. 3). So sind Personen aus asiatischen Kulturkreisen zurückhaltender in Sachen Whistleblowing im Vergleich zu Amerika (bspw. USA).
- Eigenschaften des Empfängers
Auch die Eigenschaften des Empfängers spielen eine Rolle und zeigen Unterschiede auf. Hier zahlen die Eigenschaften des Empfängers ebenso in die Situation ein, wie der Kanal über den die Meldung erfolgt (Gao & Brink, 2017, S. 5). So kann es (bspw. In Fällen der Finanzindustrie) einen Unterschied machen, ob die Meldung an den Wrongdoer selbst gerichtet wird, einen Auditor oder einen Vorgesetzten bzw. ob und welche Unterstützung oder Reaktionen zu erwarten sind (Magnus und Viswervaran, 2005, S. 4). Bezüglich des Kanals kann zwischen einer Meldung organisationsintern sowie -extern unterschieden werden, wobei die Meldestelle wiederum intern besetzt ist oder durch einen externen Mitarbeiter verwaltet wird. Für beide Arten stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die jeweils Anonymität bieten können. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass der Kanal bei der Entscheidung und der tatsächlichen Durchführung eine signifikante Rolle spielen (Kaplan & Schultz, 2007; Curtis & Taylor, 2009; Zhang, Pany & Reckers, 2013; Brink et. al., 2013, 2017; zitiert in Gao & Brink, 2017, S. 6).
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