Die digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland, als „Schlachtschiffe des deutschen Gesundheitssystems“, ist ein aktuell sehr intensiv beachteter Veränderungsprozess innerhalb der Gesundheitsbranche, welcher in einer VUKA-Welt erfolgt. Erfolgreiche Maßnahmen, die zu einem hohen Digitalisierungsgrad einer öffentlichen Universitätsklinik führen und gleichzeitig in der Realität gut funktionieren und Mehrwert erbringen, sind nicht automatisch planbar. Sie sind vielmehr durch Trends und unsicher vorhersagbare Ereignisse mit beeinflusst. Eine reine unternehmerische Innenbetrachtung würde in der VUKA-Situation keine möglichst optimale Strategieplanung erwarten lassen.
Das Ziel der aktuellen Arbeit ist es, das Modell des Radars für die Strategieplanung nach Wulff et al. erstmals zur Entwicklung einer wettbewerbserfolgreichen Strategie für die digitale Transformation öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland im Bereich der Krankenversorgung (unternehmerisches Kerngebiet ohne Forschung und Lehre) einzusetzen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Hintergrund - Digitalisierung
1.2 Hintergrund - Unternehmensführung
1.3 Zielsetzung
2 Analyse des IST-Zustandes
2.1 Electronic Medical Record Adoption Model (EMR Adoption Model, EMRAM)
2.2 Der Stand der Digitalisierung deutscher Krankenhäuser im internationalen Vergleich
2.3 Alternative Evaluationsansätze zur Ermittlung des Digitalisierungsgrades
2.4 Mögliche Ursachen für den IST-Zustand in Deutschland
3 Chancen der Digitalisierung für Gesundheitssysteme
4 Der szenariobasierte Ansatz der strategischen Planung in einer volatilen Welt
5 Ergebnisse für die Branche öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland
5.1 Schritt 1: Zieldefinition
5.2 Schritt 2: Wahrnehmungsanalyse
5.3 Schritt 3: Trend- und Unsicherheitsanalyse
5.4 Schritt 4: Szenarioentwicklung
5.5 Schritt 5: Strategiedefinition
5.6 Schritt 6: Kontinuierliche Kontrolle
6 Diskussion
7 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anlage 1: Abbildungen
Anhang 2: Einflussfaktoren, „Blind Spots“ & „Weak Signals“
Anhang 3: Kritische Unsicherheiten, angrenzende Unsicherheiten & Trends
Anhang 4: Einflussdiagramm
Anhang 5: Szenarien und Datenblätter
Anhang 6: Szenarienauswertung und Strategieableitung (Rohdaten zur Ansicht)
Anhang 7: Szenarienauswertung und Strategieableitung (Rohdaten zur Ansicht)
Anhang 8: Szenarienauswertung und Strategieableitung (Rohdaten zur Ansicht)
Anhang 9: Szenarienauswertung und Strategieableitung (Rohdaten zur Ansicht)
Anhang 10: Kernstrategie und Meilensteine
Anhang 11: Strategieoptionen
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
AOK Allgemeine Ortskrankenkasse
ca. circa
CDR Clinical Data Repository
CDS Clinical Decision Support
CIO Chief Information Officer
CMMI Capability Maturity Model Integration
CPOE Computerized Physician Order Entry
d.h. das heißt
EHS European Hospital Survey
EMRAM Electronic Medical Record Adoption Model
ePA elektronischen Patientenakte
et al. et alii, und andere
EU Europäische Union
EUR Euro
HHL Handelshochschule Leipzig
HIMSS Healthcare Information and Management Systems Society
HITECH Health Information Technology for Economic and Clinical Health
IT Informationstechnologie
KHG Krankenhausfinanzierungsgesetz
KIS Krankenhausinformationssystem
KöR Körperschaft des öffentlichen Rechts
Mio. Millionen
Mrd. Milliarden
o.g. oben genannt
PACS Picture Achiving and Communication System
PESTEL Political, Economic, Social, Technological, Environmental, Legal
PwC PriceWaterhouseCoopers
SARS-CoV-2 severe acute respiratory syndrome coronavirus 2
u.a. unter anderem
UKE Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
USA United States of America
v.a. vor allem
VUKA Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität
WLAN Wireless Local Area Network
z.B. zum Beispiel
Anmerkung:
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit nur die männliche Form verwendet. Die weibliche sowie die geschlechtsneutrale Form sind, soweit erforderlich, dabei gleichermaßen miteingeschlossen.
1 Einleitung
1.1 Hintergrund - Digitalisierung
Der Begriff „Digitalisierung“ hat mehrere Bedeutungen. Grundsätzlich bezeichnet Digitalisierung den Prozess, analoge Daten (z.B. handschriftlich verfasste Texte) in eine digitale Form (z.B. Textdatei) umzuwandeln. Die heutzutage häufigere Verwendung des Begriffs „Digitalisierung“ kommt jedoch in Zusammenhang mit der digitalen Revolution zustande [Gründerszene Lexikon, 2019]. Die digitale Wende zum Ende des 20. Jahrhunderts wird auch "Informationszeitalter" und "Computerisierung" genannt. Die Informationstechnologie (im Weiteren „IT“ genannt) automatisierte und optimierte zunächst vor allem Privathaushalte und Arbeitsplätze, welche entsprechend modernisiert wurden. Auch die Entwicklungen von Computernetzen und Softwareprodukten waren wichtiger Bestandteil des digitalen Wandels. Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelten sich zunehmend disruptive Technologien und innovative Geschäftsmodelle mit Digitalisierung. Im Vordergrund stehen hierbei insbesondere die Autonomisierung, Flexibilisierung, Individualisierung sowie das Internet der Dinge („Internet of Things“). Damit wurde z.B. die Grundlage für die Industrie 4.0 (umfassenden Digitalisierung der industriellen Produktion, „Smart Industry“) gelegt.
Der Begriff „Smart Industry“ beinhaltet mehrere Komponenten. Eine davon stellt der Unterbegriff „Smart Factory“ dar [Bimos, 2020]. Dieser stammt aus der Forschung im Bereich der Fertigungstechnik und heißt übersetzt „intelligente Fabrik“. Die Definition des Begriffs lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen: „Es handelt sich um eine Produktionsumgebung, die sich selbst organisiert. Zu dieser Produktionsumgebung gehören unter anderem Fertigungsanlagen und Logistiksysteme. Der Mensch muss in den eigentlichen Produktionsprozess nicht mehr eingreifen.“ Die Vorteile, die Unternehmen bei der Produktion mit einer Smart Factory erwarten bzw. erzielen, sind in Abbildung 1 dargestellt.
Krankenhäuser in Deutschland inklusive Universitätskliniken in öffentlicher Trägerschaft (im Weiteren „öffentliche Universitätskliniken“ genannt) könnten zukünftig genau von diesen Vorteilen profitieren, denn letztendlich haben auch sie mit jeder einzelnen Herausforderung seit Jahren zu kämpfen. Öffentliche Kliniken in Deutschland sind chronisch unterfinanziert. Direktoren kämpfen täglich damit, dringend erforderliche Investitionen über betriebliche Erlöse und regelmäßig neue Geschäftsideen mitzufinanzieren, obwohl Investitionen nach §4 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) umfänglich von den Bundesländern getragen werden müssten [KHG, 1972]. Die Betriebskosten von vielfach aus der Not heraus umständlich gestalten Prozessen steigen zusätzlich stetig an, während Leistungserlöse weitestgehend gedeckelt sind. Der Fachkräftemangel ist seit Jahren eklatant. Trotzdem wird erwartet, eine hochklassige Patientenbehandlung bei akzeptablen Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Der Anspruch wächst Jahr für Jahr und v.a. öffentliche Krankenhäuser stehen zunehmend unter „Überlebensdruck“ [kma-online.de, 2017; Deutsche Krankenhaus Gesellschaft, 2019a].
Im Grunde genommen stellt eine digitale Transformation des Gesundheitswesens nichts anderes als die Digitalisierung einer Branche, ähnlich der Industrie, dar („Smart Healthcare“, Gesundheitswesen 4.0). Öffentliche Universitätskliniken nehmen einen entscheidenden Teil innerhalb der Branche ein und können auch als größte Gesundheitsfabriken bezeichnet werden, womit sie virtuell die Position einer „Smart Factory“ einnehmen würden („Smart University Hospital“). Entsprechend hat sich seit Jahren international der Fokus der Modernisierung der Gesundheitssysteme auch in Richtung Anwendung digitaler Techniken und digitaler Dienstleistungen ausgeweitet.
Die digitale Transformation des deutschen Gesundheitswesens ist im Jahr 2020 nicht zuletzt durch die internationale Coronakrise in das Zentrum von Medien und politischen Planungen gerückt. Lücken in der Patientenversorgung schließen, Pflegekräfte entlasten, Prozesse besser aufeinander abzustimmen und miteinander verzahnen und dadurch Kosten senken – all das und noch viel mehr steckt im Digitalisierungspotenzial deutscher Krankenhäuser. Was faktisch belegt ist, lässt sich jedoch nicht so leicht umsetzen. Das zeigt auch eine Krankenhausstudie von Roland Berger aus dem Jahr 2017, in der 500 Krankenhäuser nach ihrem Digitalisierungsstand gefragt wurden [Roland Berger, 2017]. Die Antwort war ernüchternd: 91 % der Befragten gaben an, lediglich 2 % des Umsatzes für IT auszugeben, obwohl sie den Fortschritt positiv bewerteten.
Es stellt sich mehr denn je die Frage nach dem „Wie“? Wie können Krankenhäuser in Deutschland die digitale Transformation in ihrer Geschäftstätigkeit v.a. in der Krankenversorgung erfolgreich gestalten und von dem erhofften Mehrwert profitieren? Welche Schritte können und sollten Führungskräfte in der Planung und Etablierung gehen, um auch mittelfristig und langfristig digital erfolgreich zu sein?
1.2 Hintergrund - Unternehmensführung
Unternehmensführung kann sich heutzutage anfühlen, wie wenn man Steuermann eines Raftingboots in einem Gebirgsbach ist. Während man versucht, das Schiff über Wasser zu halten und die Crew zu schützen, kämpft man darum, die Orientierung zu behalten, und man weiß nicht, was als Nächstes passieren wird. Konnten die Abstimmungsergebnisse zum Brexit vorausgesehen werden? Konnte erwartet werden, dass das Augmented-Reality-Spiel Pokémon Go einen Welterfolg erzielt? Konnte die Coronakrise in ihrem volkswirtschaftlichen Ausmaß vorhergesehen werden? Dieses sind nur drei Beispiele die zeigen, dass Menschen und Unternehmen heutzutage in vielfach unsicheren Zeiten leben. Es gibt viele weitere Ereignisse und Trends, die im Nachhinein logisch erklärt werden können, die aber ein Jahr zuvor niemand genau vorhergesagt hat. Und viele scheinbar unzusammenhängende, sich jedoch gegenseitig beeinflussende, Trends, gepaart mit der Unberechenbarkeit verschiedener „Global Player“, wie z.B. politischen Entscheidungsträgern in den USA und China, steigern die Unvorhersehbarkeit weiter.
Ein Begriff, den Experten verwenden, um die herausfordernden Bedingungen für Unternehmen in einer sich schnell wandelnden Geschäftswelt zu beschreiben, ist VUKA. Dieser Begriff steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) [Abbildung 2] [Sarica, 2020, S. 17ff]. Bereits Albert Einstein hatte mit seinem Zitat „Eine neue Art von Denken ist erforderlich, wenn die Menschheit weiterleben will“ einen Denkanstoß gegeben [Poeteus – Zitate für Freunde, 2020]. Die Abkürzung VUKA kommt eigentlich aus Amerika – um genauer zu sein, aus dem amerikanischen Militär und wurde in den 1990er Jahren geprägt [Sarica, 2020, S. 17ff]. Die Abkürzung beschreibt die Zustände in Kriegsgebieten. Dort muss das Militär mit einer Welt umgehen, in der meistens nichts vorhersehbar ist und wo sich alles von einem Tag auf den anderen ändern kann. Manche Modelle erweitern die Abkürzung um ein weiteres C, welches dann für Chaos steht. Die VUKA-Welt beeinflusst, wie Entscheidungen getroffen, Pläne und Strategien erstellt und mit Risiken sowie Änderungen umgegangen werden sollte.
Ein Beispiel um die Bedeutung von VUKA anschaulicher zu verstehen ist der Brexit. Vor und nach der Abstimmung in Großbritannien bestand ein hohes Maß an U nsicherheit, welche tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Brexit mittel- und langfristig haben würde (positiv vs. negativ). Dennoch führte das Brexit-Votum zu sehr v olatilen Reaktionen an den Finanzmärkten. Zusätzlich ist der Austritt aus der EU ein sehr k omplexer Prozess, der verschiedene Optionen für die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU bietet. Betrachtet man es aus britischer Sicht, hat die Abstimmung eine gewisse Mehrdeutigkeit (A mbiguität). Denn das Verlassen der EU bedeutet mehr Unabhängigkeit von EU-Verordnungen auf der einen Seite, während es zugleich, je nach den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien, weniger Zugang zum EU-Binnenmarkt bedeuten könnte. Während der Brexit an sich schon sehr VUKA ist, könnten zusätzlich noch andere, teilweise miteinander verbundene Trends und Ereignisse, wie Flüchtlingskrisen oder die Coronakrise, zum Gesamtbild beitragen. Ob überhaupt bzw. wann und wie sich diese Ereignisse zusätzlich auswirken könnten, ist jedoch eher ungewiss.
Wie passt die VUKA-Welt also in die ordentliche Welt einer traditionellen Geschäftsplanung? Die einfache Antwort lautet: Sie passt nicht hinein. Klassische strategische Planung reicht nicht aus, um mit der VUKA-Welt zurechtzukommen. Unternehmen, die in unsicheren Zeiten gedeihen wollen, benötigen weiterführende Ansätze zur strategischen Führung [Sarica, 2020, S. 17ff]. Dieses trifft auch auf die digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken zu, die auf Unternehmensebene ein unternehmerisches Großprojekt darstellt.
Wissenschaftler der Handelshochschule Leipzig (HHL) untersuchten im Rahmen einer Kooperation mit der Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants in der Vergangenheit eine Reihe von Unternehmen, die unter anderem in der Luftfahrtindustrie, im Automobilsektor und im Elektronikeinzelhandel tätig waren [Wulf, 2011]. Sie fanden heraus, dass sich gerade die Unternehmen als erfolgreich erwiesen, die wichtige Veränderungen in ihrem Umfeld erkennen, richtig bewerten und sie konsequent in ihre strategische Ausrichtung einfließen lassen. Anhand verschiedener Beispiele konnte verdeutlicht werden, dass Veränderungen ihren Ursprung nicht unbedingt im unmittelbaren Branchenumfeld des Unternehmens haben. Vielmehr spielten politische, gesellschaftliche, technologische, ökologische oder ökonomische Entwicklungen der sogenannten Makroumwelt eine wichtige Rolle. Strategievordenker Igor Ansoff schrieb bereits in den 1970er Jahren, dass sich Trends, lange bevor sie wettbewerbsrelevant werden, als „Weak Signals“ (schwache Signale) ankündigen [Ansoff, 1976]. Ein Beispiel sind die ersten Experimente mit dem Internet als Handels- und Austauschplattform zu Beginn der 1990er Jahre. Ansoffs Kollege Michael Porter bezeichnete Einflussfaktoren, die von Unternehmen durch eine zu starke Innensicht übersehen werden, als „Blind Spots“ (blinde Flecken) [Porter, 1980]. Diese Terminologie griffen die Wissenschaftler der Handelshochschule Leipzig auf. Die zusätzlich zur introspektiven Sicht erfolgende Einholung der unternehmensexternen Perspektive und der Einbezug dieser in den strategischen Planungsprozess wurde als sehr wertvoll und zielführend beschrieben [Wulf, 2011]. Das Modell des „Radars für die Strategieplanung“ wurde entwickelt und vielfach evaluiert. Wie ein Radar geht die Analyse über Branchen und Unternehmen und ihre Umfelder hinweg und hilft dabei, in unsicheren Zeiten und Umfeldern eine wettbewerbsvorteilshafte Strategie zu planen. Damit erlaubt das Instrument Branchen und Unternehmen, besser auf die Zukunft vorbereitet zu sein und auch einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu erzielen.
1.3 Zielsetzung
Die digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland, als „Schlachtschiffe des deutschen Gesundheitssystems“, ist ein aktuell sehr intensiv beachteter Veränderungsprozess innerhalb der Gesundheitsbranche, welcher in einer VUKA-Welt erfolgt. Erfolgreiche Maßnahmen, die zum Erreichen eines hohen Digitalisierungsgrades einer öffentlichen Universitätsklinik führen und gleichzeitig in der Realität gut funktionieren und Mehrwert erbringen, sind nicht automatisch planbar, sondern sie werden durch Trends und unsicher vorhersagbare Ereignisse mit beeinflusst. Eine reine unternehmerische Innenbetrachtung würde in der VUKA-Situation keine möglichst optimale Strategieplanung erwarten lassen.
Das Ziel der aktuellen Arbeit war es daher, das Modell des Radars für die Strategieplanung nach Wulff et al. [Wulf, 2011] erstmals zur Entwicklung einer wettbewerbserfolgreichen Strategie für die digitale Transformation öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland im Bereich der Krankenversorgung (unternehmerisches Kerngebiet ohne Forschung und Lehre) einzusetzen.
2 Analyse des IST-Zustandes
2.1 Electronic Medical Record Adoption Model (EMR Adoption Model, EMRAM)
Das EMR Adoption Model wurde im Jahr 2005 in den USA von der HIMSS Analytics, einem Tochterunternehmen der HIMSS (Healthcare Information and Management Systems Society), entwickelt [HIMSS Analytics, 2017]. Diese wurde 1961 gegründet und ist eine weltweite Non-Profit-Organisation mit dem erklärten Ziel, die Gesundheitsversorgung durch den Einsatz von IT zu verbessern. Sie besteht aus überwiegend freiwilligen Mitgliedern (> 60.000), die aus allen Bereichen des Gesundheitssystems kommen. Der europäische Ableger der HIMSS Analytics ist die HIMSS Analytics Europe [https://www.himss.eu/about-himss/himss-international]. Insgesamt wird das EMR Adoption Model zunehmend und mittlerweile in > 10000 Krankenhäusern weltweit angewendet und seit 2010 auch jährlich ausgewertet. Dabei gelten auf internationaler Ebene die gleichen Anforderungen und Voraussetzungen [HIMSS Analytics, 2017].
Das EMR Adoption Model setzt sich aus acht Stufen zusammen [HIMSS Analytics, 2017; Stephani, 2019]. Prinzipiell gilt: je höher die Stufe, desto digitaler das Krankenhaus. Die niedrigste Stufe (Stufe 0) bedeutet, dass kaum digital gearbeitet wird, während die höchste Stufe (Stufe 7) einem papierlosen Krankenhaus entspricht. Zu beachten gilt es, dass die nächste Stufe erst erreicht werden kann, wenn alle Voraussetzungen der vorherigen Stufe/Stufen erfüllt sind. Als Stärken des EMR Adoption Models werden die in Abbildung 3 dargestellten Aspekte durch HIMSS Analytics beschrieben. Jedoch dürfen natürliche Schwächen des EMR Adoption Models in der Betrachtung nicht vernachlässigt werden. Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse wird dadurch beeinflusst, dass eine Evaluation hauptsächlich auf Basis einer Selbstauskunft der teilnehmenden Krankenhäuser erfolgt. Außerhalb der Stufen 6 und 7 wird der Digitalisierungsgrad auch nur anhand von Fragebögen, die von Mitarbeitern der Krankenhäuser ausgefüllt werden, ermittelt. Zwar werden etwaige Unstimmigkeiten in einem anschließenden iterativen Prozess zwischen der HIMSS und dem jeweiligen Krankenhaus geklärt, jedoch ist die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der unteren Stufen dadurch natürlich eingeschränkt. Auch handelt es sich bei dem EMRAM-Bewertungsschema um ein Stufenmodell. Bevor eine Stufe erreicht werden kann, müssen die Kriterien der darunterliegenden Stufen erfüllt werden. Sollte beispielhaft eine Klinik einen komplett geschlossenen, IT-gestützten Medikationskreislauf besitzen, jedoch noch kein digitalisiertes Labor, wäre es immer noch auf der gleichen Stufe zu werten, wie ein Krankenhaus, das gar nicht digital arbeitet bzw. keines von beidem besitzt. Es würde damit auf Stufe 0 zertifiziert, welches nicht der wahren Realität entspräche. Ein weiterer Nachteil des Stufenmodells ist, dass es nach oben hin begrenzt ist. In der Realität endet der Grad der Digitalisierung zukünftig sicherlich nicht auf Stufe 7 der EMRAM-Logik. Die zunehmende Entwicklung und Einführung künstlich intelligenter Techniken für ein Krankenhaus 5.0 werden in Zukunft Erweiterungen notwendig machen, die aktuell in ihrem Ausmaß noch gar nicht bedacht werden können. Denkbar wären deswegen Ansätze zu Erweiterungen des Stufenmodells, wie zum Beispiel mit Hilfe von „+“-Siegeln (7+, 7++ etc.). Diese finden bereits in anderen Industriezweigen Verwendung und haben den Vorteil, dass sie als fast unbegrenzt erweiterbar gelten [Kruber, 2017]. Daran anknüpfend finden bestimmte Anwendungen und andere relevante Aspekte der Digitalisierung keine Berücksichtigung im EMR Adoption Model, denn der Fokus liegt primär auf der krankenhausinternen IT-Nutzung. Krankenhausexterne IT-Nutzung, wie telemedizinische Anwendungen, und die Fähigkeit der digitalen Kommunikation mit externen Marktakteuren, wie z.B. niedergelassenen Ärzten, werden nicht betrachtet. Letztendlich handelt es sich beim EMR Adoption Model jedoch um das international am weitesten verbreite Modell zur Beschreibung des Digitalisierungsgrades von Krankenhäusern.
2.2 Der Stand der Digitalisierung deutscher Krankenhäuser im internationalen Vergleich
Die zuverlässigsten und aktuellsten Daten bezüglich des IST-Zustandes der Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern wurden im Rahmen des Krankenhausreports des Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahr 2019 veröffentlicht und sie beziehen sich auf Daten aus dem Jahr 2017 [Stephani, 2019]. Im Folgenden wird eine Kurzvorstellung dieser Daten mit einzelnen Ergänzungen erfolgen. Neuere Daten lagen zum Zeitpunkt der Verfassung der Masterthesis nicht in publizierter Form kostenfrei zugänglich vor. Es muss beachtet werden, dass die HIMSS-Kriterien sich zum 01.01.2018 etwas verschärft haben, sodass die reellen Werte nach neuen Leitlinien etwas geringer, als im Weiteren vorgestellt, liegen könnten. In der unter 2.1 erfolgten Modellvorstellung war bereits das neue EMR Adoption Modell vorgestellt worden.
Im Jahr 2017 lag der durchschnittliche EMRAM-Score eines deutschen Krankenhauses auf einer Skala von 0 bis 7 bei 2,3. Dieser Wert wurde auf Grundlage von insgesamt 167 deutschen Krankenhäusern erhoben, die sich seit 2014 hatten zertifizieren lassen. Anhand der Daten zeigt sich eindrucksvoll, dass im Jahr 2017 die Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern über die Breite noch nicht Einzug gehalten hatte, starke Schwankungen bestanden und letztendlich deutliches Potenzial zur Verbesserung besteht [Abbildung 4]. Vor allem die hohe Zahl an teilnehmenden Krankenhäusern, die im Jahr 2017 gar nicht digital arbeiteten (knapp 38 % auf der Stufe 0), ist hervorzuheben. Immerhin, die rudimentäre Vorstufe der elektronischen Patientenakte (ePA), die CDR (Clinical Data Repository), wurde im Jahr 2017 in rund einem Viertel der deutschen Krankenhäuser bereits angewendet (Stufe 2). Funktionen wie die computerunterstützte Entscheidungsfindung (CDS; Clinical Decision Support) oder die elektronische Arzneimittelverordnung (CPOE, Computerized Physician Order Entry) wurden auf dieser Stufe jedoch noch nicht genutzt. Positiv hervorzuheben ist, dass sich 18 % der Häuser im Jahr 2017 bereits auf Stufe 5 zertifizieren lassen konnten. Hier wurden Arzneimittelverordnungen durch den behandelnden Arzt elektronisch eingegeben und es erfolgte eine erweiterte klinische Entscheidungsunterstützung (z.B. Erkennung von Duplikaten oder potenziellen Wechselwirkungen von Medikamenten). Auf Stufe 6 konnten sich im Jahr 2017 lediglich zwei Kliniken in Deutschland zertifizieren lassen (medius Klinik Nürtingen und Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg [Healthcare IT News, 2018; ehealthcom, 2017]). Diese Krankenhäuser hatten eine intelligentere klinische Entscheidungsunterstützung durch patientenangepasste Therapievorschläge und eine IT-gestützte, geschlossene Medikamentenvergabe bereits fest in den Klinikalltag integriert. Auf Stufe 7 gab es bis dato nur das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) von 2012 bis 2015. Obwohl sich die Anforderungen des EMRAM bis zum 1.1.2018 nicht verändert hatten, konnte das UKE diese Stufe bei der Re-Zertifizierung jedoch nicht mehr erreichen und wurde auf Stufe 5 re-zertifiziert [ehealthcom, 2017].
In der Betrachtung der Krankenhausgröße nach Bettenzahl und der Trägerschaft kann erkannt werden, dass große öffentliche Krankenhäuser im Jahr 2017 in der Regel digitaler arbeiteten als kleine private Krankenhäuser. Der durchschnittliche EMRAM-Score von Häusern mit über 500 Betten betrug 3,4. Kleine Krankenhäuser mit einer Bettenzahl von < 200 lagen mit einem durchschnittlichen Wert von 1,3 deutlich darunter. Aufgeteilt nach Trägerschaft zeigte sich, dass öffentliche Krankenhäuser digitaler arbeiteten (2,7) als freigemeinnützige (2,1) und private (1,5) Krankenhäuser.
In der Betrachtung des Zeitverlaufes der EMRAM-Profilkurve von 2011 bis 2017 fällt auf, dass die deutsche Krankenhauslandschaft innerhalb des Zeitraums von 6 Jahren kaum digitaler geworden ist. Der durchschnittliche EMRAM-Score hat sich nur leicht von 1,8 auf 2,3 verbessert. Der Profilverlauf insgesamt ist ähnlich. Die Zahl der Krankenhäuser auf Stufe 0 ist seit 2012 von über 40 % auf ca. 38 % gesunken. Zuwächse sind auf Stufe 5 zu verzeichnen, wo es einen Anstieg von 10 % auf 18 % der Krankenhäuser gab. Seit der Einführung des EMR Adoption Models in Europa wurden in Deutschland über 400 Krankenhäuser evaluiert. Die Anzahl der zertifizierten Häuser hat sich zwischen 2012 und 2017 jedoch halbiert.
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Deutschland gegenüber vielen anderen Industrieländern einen geringeren IT-Durchdringungsgrad besitzt und dass der Abstand Deutschlands zum europäischen Durchschnitt innerhalb des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts deutlich zugenommen hat. Während der negative Abstand zum europäischen Durchschnitt im Jahr 2011 nur 0,2 (EMRAM-Mittelwert Europa: 2) auf der EMRAM-Skala betrug, ist er bis 2017 auf 1,3 (EMRAM-Mittelwert Europa: 3,6) angestiegen. Das liegt mitunter an dem immer noch sehr hohen Anteil an Krankenhäusern in Deutschland, die nicht einmal eine Basis-Digitalisierung besitzen (Stufe 1). Länder wie Spanien, die Türkei oder auch Großbritannien besaßen bereits 2017 kaum ein Krankenhaus, das gar nicht digitalisiert arbeitete bzw. sich auf Stufe 0 befand. In den Niederlanden gab es sogar gar keins und in Dänemark waren > 75 % der Krankenhäuser auf Stufe 5 und höher evaluiert. Unter den betrachteten Ländern wies einzig Österreich im Jahr 2017 ein ähnliches Profil wie Deutschland mit einem durchschnittlichen EMRAM-Score von 2,3 auf. Interessanterweise wird dem EMRAM-Score im Ausland, wie z.B. in der Türkei vielfach eine sehr hohe politische Bedeutung zugestanden. Das türkische Gesundheitsministerium hatte in der Vergangenheit angeordnet, dass sich bis 2019 alle öffentlichen Krankenhäuser anhand des EMR Adoption Models evaluieren lassen müssten. Zusätzlich wurde das politische Ziel ausgegeben, bis 2017 über 100 Krankenhäuser auf EMRAM-Stufe 6 zu bringen. Dieses Ziel wurde im Jahr 2017 mit 154 Krankenhäusern (24,2 Prozent) mehr als eindrucksvoll erreicht [HIMSS Europe, 2018]. In den USA werden fast alle Kliniken flächendeckend durch EMRAM zertifiziert, weswegen die Zahl der erhobenen Krankenhäuser in den letzten Jahren sehr gleichmäßig bei > 5000 lag. Der Ausbau der Digitalisierung ist enorm Zwischen 2011 und 2017 hat sich der EMRAM-Score im US-Durchschnitt von 3,2 auf 5,3 (+ 2.1 Punkte) erhöht. Im selben Zeitraum ist dieser Wert innerhalb der teilnehmenden Krankenhäuser in Deutschland (n=340) lediglich um 0,6 Punkte gestiegen. Dieses wird auf die US-amerikanische Gesetzgebung und damit verbundene finanzielle Anreize zurückgeführt. Unter anderem wurde die HITECH-Initiative (Health Information Technology for Economic and Clinical Health) im Jahr 2009 für diesen Zweck eingeführt, bei der vor allem darauf geachtet wurde, dass nicht nur eine ePA flächendeckend eingeführt wird, sondern diese dabei auch „sinnvoll“ benutzt wird („meaningful use“) [Hoggle, 2012]. Außerdem werden seit 2015 Krankenhäuser unter dem Medicare-Programm sanktioniert, sofern sie keine ePA benutzen. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass im Jahr 2017 der Anteil von Krankenhäusern, die auf den Stufen 0–2 des EMR Adoption Modells liegen, auf weniger als 3 % geschrumpft ist und sich knapp 40 % mittlerweile auf Stufe 6 oder 7 befanden.
2.3 Alternative Evaluationsansätze zur Ermittlung des Digitalisierungsgrades
Alternativ zum EMR Adoption Model können Ergebnisse des European Hospital Survey – Benchmarking Deployment of eHealth Services (EHS) betrachtet werden [Sabes-Figuera, 2013; Stephani, 2019]. Diese Analyse wurde im Auftrag der EU von der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PriceWaterhouseCoopers (PwC) durchgeführt und sie analysiert und vergleicht die Ausbreitung von eHealth in Krankenhäusern in 28 Ländern der EU (+ Island & Norwegen) in den Jahren 2012 und 2013. Ein wesentlicher Unterschied zum EMR Adoption Model ist die umfänglichere Betrachtung von Digitalisierungsmerkmalen, die sich nicht ausschließlich auf die IT-Nutzung innerhalb des Krankenhauses konzentriert, sondern unter anderem auch die Möglichkeit der Kommunikation mit externen Leistungserbringern, wie zum Beispiel durch Telemedizin, berücksichtigt. Die analysierten Merkmale verteilen sich auf die Kategorien: Anwendungen (PACS-Benutzung, eVerschreibung, eÜberweisung, Telemonitoring), Infrastruktur (Breitband-Anbindung, Verbunden mit Externen, einheitliches WLAN, einheitliche ePA zwischen allen Abteilungen), Sicherheit (einheitliche Regeln zur Benutzung von klinischen Daten, Wiederherstellung der Daten innerhalb von 24 h) und Möglichkeiten der digitalen Integration (Austausch von klinischen Daten mit Externen).
Für Deutschland wurden im Rahmen der Analyse stichprobenhaft 201 Akut-Krankenhäuser mittels Fragebögen an CIOs und Telefoninterviews befragt. Zusammengefasst liegen deutsche Krankenhäuser in den Jahren 2012 und 2013 auch im EHS in den meisten Bereichen unterhalb des EU-Durchschnitts. Lediglich in den Punkten Datensicherheit, Benutzung von PACS und der technischen Interoperabilität mit Externen war Deutschland leicht besser als der Durchschnitt. Im EU-weiten Ländervergleich unter Einbezug eines gewichteten summierten Wertes belegte Deutschland lediglich Rang 19 (von 30). Spitzenreiter waren Estland, Finnland, Schweden und Dänemark.
Damit bestätigt der EHS einerseits die Ergebnisse des EMR Adoption Models. Zusätzlich erweitert der EHS die Ergebnisse des EMR Adoption Models, in dem er erkennen lässt, dass deutsche Krankenhäuser in den Jahren 2012/2013 nicht nur bei der krankenhausinternen Nutzung von IT rückständig waren, sondern auch in dem Punkt Datenaustauch mit Externen Nachholbedarf bestand. Neuere Daten zum EHS liegen zum Zeitpunkt der Verfassung der Masterthesis nicht in publizierter Form vor.
2.4 Mögliche Ursachen für den IST-Zustand in Deutschland
Die Ursachen für Deutschlands IST-Zustand in der Krankenhausdigitalisierung sind sicherlich als sehr vielfältig und vielschichtig zu betrachten. Eine detaillierte Analyse war nicht Ziel der vorliegenden Masterthesis. Elementar ursächlich sollten jedoch die drei im Folgenden vorgestellten Aspekte sein, die vielleicht zukünftig, durch die Erlebnisse in der Coronakrise, stärkere positive Beachtung finden werden:
Top 1: Allgemeiner Investitionsstau in deutschen Krankenhäusern
Der allgemeine Investitionsstau in deutschen Krankenhäusern wurde im Jahr 2019 kumuliert mit ca. 30 Mrd. EUR veranschlagt [Deutsche Krankenhaus Gesellschaft, 2019b]. Die Transformation zu digital-gestützten Prozessen bedarf gerade in der Anfangszeit finanzieller Investitionen, die nicht unerhebliche zusätzliche Belastungen für Krankenhäuser darstellen. So müssen entsprechende Hardware und Software-Lizenzen erworben und auch das Personal (Ärzte/Pflege/Verwaltungsangestellte) geschult werden. Damit entstehen v.a. initial hohe Kosten, die abgewogen werden müssen und im Konkurrenzkampf zu anderen Investitionen stehen. Im Schnitt gaben deutsche Krankenhäuser bisher zwischen 1,5 [von Eiff, 2017] und 1,7 % [Schneider, 2016] ihrer Gesamtausgaben für IT aus [Stephani, 2019]. In anderen Ländern liegt diese Quote höher: Die Niederlande, Schweiz oder Österreich geben rund 4 Prozent für IT aus. Vorreiter sind die USA, in denen zwischen 5 und 6 % in IT investiert werden [von Eiff, 2017]. Dass es gerade an Universitätskliniken eine finanzielle Unterfinanzierung der IT gibt, wird auch vom Verband der Universitätsklinika bescheinigt. Dieser geht von einem jährlichen IT-Investitionsdefizit von rund 5–10 Mio. Euro in jeder deutschen Universitätsklinik aus [Verband der Universitätsklinika Deutschlands und Medizinischer Fakultätentag 2014].
Am Beispiel Dänemarks lässt sich zeigen, dass zur Vernetzung des Gesundheitswesens keine konstant hohen Investitionen notwendig sind. 38 % der dänischen Krankenhäuser geben durchschnittlich weniger als 1 % ihres Budgets für IT aus [McKinsey, 2018]. Trotzdem gilt das dänische Gesundheitssystem als eines der am besten vernetzten Systeme weltweit. Das Thema IT und Digitalisierung wird in Deutschland dagegen zu häufig immer noch als reiner Kostentreiber gesehen, ohne die mehrwertlichen Ertragschancen zu berücksichtigen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Beeinflusst von dieser kostengetriebenen Perspektive tut sich somit ein Großteil der deutschen Krankenhäuser schwer damit, finanzielle Mittel für die Digitalisierung ihrer Prozesse aufzubringen [McKinsey, 2018].
Top 2: Zweifel und Skepsis bezüglich IT-gestützter Prozesse
Bei Entscheidungsträgern und Anwendern bestanden in der Vergangenheit vielfach Zweifel und Skepsis bezüglich des Nutzens von IT-gestützten Prozessen, denn im ungünstigen Fall führten diese kurzfristig zu einer Mehrbelastung. Dabei ist die Angst aus heutiger wissenschaftlicher Sicht mittelfristig sicherlich unbegründet. Studien haben gezeigt, dass z.B. die Einführung einer digitalen Patientenakte erst mittelfristig Zugriffs- und Dokumentationszeiten reduzieren kann, wenn sich Lerneffekte einstellen und in der Regel nicht bereits kurzfristig mit sofortiger Mehrwertgenerierung [Poissant, 2005]. Eng damit zusammenhängend wird auch häufig die Benutzerfreundlichkeit der IT-Systeme kritisiert: „Displays seien zu klein, das Abrufen von Informationen dauere zu lang oder das System stürze immer wieder ab.“ Die meisten IT-Systeme in deutschen Krankenhäusern sind in den letzten Jahrzehnten innerhalb der einzelnen Abteilungen organisch gewachsen und entsprechend heterogen. Teilweise handelt es sich im Kern sogar um antiquierte Systeme, die langsam sind und die Kompatibilität zu neuen Technologien und Software vielfach nicht oder nicht ausreichend gewährleisten können [Verband der Universitätsklinika Deutschlands und Medizinischer Fakultätentag, 2014]. Bei einer Umfrage unter 1.800 Krankenhausärzten im Jahr 2017 kamen nur 11 % der Ärzte zum Schluss, dass das von ihnen benutzte Krankenhausinformationssystem (KIS) benutzerfreundlich sei [Marburger Bund, 2017]. In einer weiteren Studie wurde ermittelt, dass im Schnitt 34 % des ärztlichen Dienstes mit der Anwenderfreundlichkeit der IT unzufrieden sind, davon sogar fast 20 % diese als „unakzeptabel“ empfinden. Der pflegerische Dienst scheint im Allgemeinen zufriedener zu sein [Hübner, 2018]. Dabei sei nicht entscheidend, welches KIS im Krankenhaus benutzt wird bzw. von welchem Anbieter das KIS ist. Wichtiger für die Benutzerfreundlichkeit sei, inwieweit das KIS an den lokalen Kontext angepasst worden ist (sog. „customizing“), die Prozesse harmonisiert und ob Mitarbeiter geschult worden sind. Gerade letzteres erscheint in deutschen Krankenhäusern ausbaufähig: 62 % der Krankenhäuser bieten keine regelmäßigen Schulungen für IT-gestützten Arbeitsabläufe an [Marburger Bund, 2017].
Top 3: Neue digitale Bedrohungen von Krankenhäusern
Durch die Digitalisierung haben sich auch Bedrohungsformen von Krankenhäusern geändert, sodass z.B. sensible Patientendaten und auch die Funktionalität digitaler Prozesse heutzutage schutzbedürftiger denn je sind. Laut einer Studie von Roland Berger wurden bisher rund zwei Drittel aller deutschen Krankenhäuser jemals Opfer eines Hackerangriffs [Roland Berger, 2017]. Durch den Trojaner „Ransomware“ wurden seit dem Jahr 2016 eine Vielzahl von Krankenhäusern auch sehr sensibel angegriffen [Trojaner-Info, 2018]. Durch diese Schadsoftware, die durch einen geöffneten E-Mail-Anhang ausgeführt wird, konnten die Angreifer Patientendaten verschlüsseln und anschließend Krankenhäuser damit erpressen. In den USA fühlte sich sogar ein Krankenhaus, nachdem es Opfer eines solchen Ransomware-Hackerangriffs geworden war, gezwungen, Lösegeld zu zahlen, um sensible Patientendaten wieder zurückzuerhalten und weiterhin die Patienten behandeln zu können [Gierow, 2018]. In einem weiteren Experiment einer Firma für Sicherheits-IT ist es Hackern über ein offenes WLAN-Netzwerk einer Klinik gelungen, künstlich erstellte Patientendaten zu modifizieren und Medizingeräte zu steuern [Funkschau, 2016]. Solche Entwicklungen fördern nicht das Vertrauen in die Digitalisierung und werden in Deutschland äußerst aufmerksam registriert. Ein adäquates IT-Sicherheitsmanagement (mit vertraglichen, organisatorischen, technischen, infrastrukturellen und personellen Maßnahmen) ist bei der Nutzung von IT entsprechend unausweichlich. Gleichzeitig sollten aber die Sicherheit und der Schutz von Daten, die mit konventionellen Methoden verschickt werden (z.B. per Fax), mit dem gleichen kritischen Auge betrachtet werden.
Die Aspekte zwei und drei sind im internationalen Kontext sicherlich besonders zu betrachten. Während in Deutschland vielfach noch ein „digitales Angstgefühl“ besteht und gemehrt wird, wird z.B. in Südkorea seit Jahren viel stärker beruflich und privat ein „digitales Erlebnis“ gelebt, anstatt sich aufgrund eines Angstgefühls digital zu verschließen [Messenzehl, 2019; Reiter, 2019; ITU News, 2018]. Die ursächliche Antwort hierfür ist zu mutmaßen und ihre Suche war nicht Ziel der weiteren Masterthesis.
3 Chancen der Digitalisierung für Gesundheitssysteme
Die digitale Transformation ist die industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts [McKinsey, 2018]. Prozesse werden durch Digitalisierung zunehmend stärker standardisiert und automatisiert. In zahlreichen Branchen, z.B. im Finanz- oder Einzelhandelssektor, sind digitalisierte Abläufe längst tägliche Routine. Dieser Trend wird vermutlich auch die Gesundheitsbranche revolutionieren. Neue digitale Techniken und Dienstleistungsangebote werden die Rolle des Patienten im System, seinen Blick auf das Gesundheitswesen und dadurch auch seine Ansprüche an Versicherer und Leistungserbringer, wie öffentliche Universitätskliniken, verändern. In Deutschland befinden wir uns allerdings noch im Frühstadium dieses Wandels. Mit aktuellen regulatorischen Veränderungen wird diese Entwicklung zunehmend gefördert. So sieht z.B. das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom Mai 2019 vor, dass alle gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten ab 2021 eine elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen haben [Bundesministerium für Gesundheit, 2019]. Dennoch werden in der öffentlichen Debatte weiter eher Risiken anstatt Chancen durch neue Technologien und Behandlungsmöglichkeiten thematisiert.
Die Digitalisierung birgt enorme Chancen für Gesundheitssysteme. Neue Technologien bieten bereits im Jahr 2020 die Möglichkeit, Effizienzpotenziale bei mindestens gleichbleibender, häufig sogar höherer Qualität zu erschließen. Die Kosten im gesamten Gesundheitssystem können damit mittelfristig gesenkt werden. Der Patient profitiert zusätzlich von neuen technischen Applikationen. Bereits heute können Wearables oder Smartwatches die Gesundheitsprävention der Bevölkerung nachhaltig fördern [Drexler, 2020].
In einer Studie der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey [McKinsey, 2018] wurde bereits 2018 geschätzt, dass durch die digitale Transformation in Deutschland allein im Jahr 2018 insgesamt 34 Mrd. EUR der gesamten Gesundheitsausgaben hätten eingespart werden können. Dieses hätte einem Anteil von ca. 12 % der gesamten nationalen Ausgaben für Gesundheit und Patientenversorgung entsprochen. Hinter diesem Einsparpotenzial lägen 26 digitale Lösungen in 6 Kategorien. Lösungen für papierlose Daten hätten mit 9 Mrd. EUR die größten Kosteneinsparungen versprechen lassen, wobei die einheitliche elektronische Patientenakte mit etwa 19 % bzw. 6,4 Mrd. EUR hierbei das größte Potenzial dargestellt hätte. Mit ca. 16,1 Mrd. EUR wäre ein Großteil der Einsparungen auf Krankenhäuser entfallen. Allein ein Drittel (5,4 Mrd. EUR) dieser Einsparungen wäre in dem Bereich der Ergebnistransparenz und Entscheidungsunterstützung erzielt worden. So hätten Krankenhäuser beispielsweise durch die Einführung und Nutzung von Leistungsdashboards die durchschnittliche Dauer eines Krankenhausaufenthalts sowie Wiedereinlieferungszahlen reduzieren und gleichzeitig die Versorgungsqualität und interne Produktivität verbessern können. Aber auch durch die Umstellung auf papierlose Daten, durch Automatisierung von Arbeitsabläufen und eine Fernüberwachung chronischer Patienten hätten Krankenhäuser kalkuliert jeweils rund 3 Mrd. EUR einsparen können.
Zusätzlich zu wirtschaftlichen Vorteilen für Krankenhausunternehmen bietet die Digitalisierung des Gesundheitssystems bereits jedoch heute noch viel mehr. Beispielsweise können Dienstleistungen digital deutlich serviceorientierter für Patienten und Angehörige, die Hauptkunden eines Krankenhausunternehmens, geleistet werden, sodass ein Mehrwert auch öffentlich spürbar wird. Zahlreiche weitere Mehrwerte von Krankenhausdigitalisierung werden diskutiert und auch bereits erlebbar gemacht [Gerdum, 2019]. Darauf soll jedoch aktuell nicht näher eingegangen werden. Das vielfältige Potenzial einer digitalen Transformation ist für Krankenhäuser inklusive öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland im Jahr 2020 also enorm.
4 Der szenariobasierte Ansatz der strategischen Planung in einer volatilen Welt
Der szenariobasierte Planungsansatz ermöglicht die strukturierte, methodisch unterstützte Einbindung von Szenarien in einen strategischen Planungsprozess. Über ihn ist eine vorwärtsgerichtete (extrapolative) Analyse eines Unternehmens oder auch einer Branche selbst und des Umfeldes möglich. Ziel ist es, zukünftige Chancen und Risiken überhaupt und auch schneller zu erkennen („In die Zukunft zu blicken“), anhand dessen eine Strategie z.B. zur erfolgreichen Unternehmensführung in volatilen Umfeldsituationen entwickelt werden kann. Die vorwärtsgerichtete Analyse steht dabei zwischen einer Situationsanalyse, mit der die gegenwärtige strategische Situation verstanden werden soll („Auf das Heute blicken“), und einer rückwärtsgerichteten (retropolativen) Analyse, mit der Chancen und Risiken aus der Zukunftsperspektive geprüft werden können („Aus der Zukunft zurückblicken“).
Der szenariobasierte strategische Planungsansatz in volatilen Unternehmensumgebungen wurde von einem Team der Handelshochschule Leipzig (HHL) Graduate School of Management unter Leitung von Herrn Prof. T. Wulf entwickelt, im Jahr 2010 erstbeschrieben [Wulf, 2010] und auch weiterführend öffentlich publiziert [Brands, 2013]. Mittlerweile wurde es für verschiedene Unternehmen und zahlreiche Branchen außerhalb der Medizin zur strategischen Planung auf Unternehmensebene vielfach in Kooperation mit der internationalen Unternehmensberatung Roland Berger angewendet.
Die szenariobasierte strategische Planung folgt in den Grundzügen dem allgemeinen Prozessablauf der Gestaltung einer Unternehmensstrategie (Strategiedefinition, Strategieanalyse, Strategieformulierung und –auswahl, Strategieimplementierung), wobei die initiale Zieldefinition mit der Definition der Vision und Mission der Strategieplanung eine sehr wichtige Rolle für den weiteren Prozessablauf einnimmt. Konkret beinhaltet das Model 6 verschiedene Handlungsschritte, die jeweils durch gezielte Aufgaben und spezielle Instrumente zur standardisierten Aufgabenbearbeitung gekennzeichnet sind. Abbildung 5 gibt einen Überblick über den Gesamtprozess der szenariobasierten strategischen Planung.
Eine notwendige Grundkenntnis des Models und einzelner Handlungsschritte ist für das Verständnis der vorliegenden Masterthesis wichtig und grundlegende Informationen werden im weiteren Verlauf vermittelt. Für eine detaillierte Modellbetrachtung wird auf eine ausführliche Publikation der Methodenentwickler verwiesen [Brands, 2013].
Durch Schritt 1 (Zieldefinition) soll sichergestellt werden, dass alle Prozessbeteiligten das gleiche Verständnis für die weitere Planungsphase besitzen. Als methodisches Werkzeug hierzu dient eine rahmengebende „Framing Checklist“ (engl. „frame“, dt. „Rahmen“), über die als Ergebnis 5 wichtige Bedingungen für den weiteren Planungsprozess direkt zu Anfang festgelegt werden können [Abbildung 6]. Um den größtmöglichen Nutzen aus dem Projekt zu ziehen, sollte hierzu, und für den weiteren Planungsprozess, ein Projektteam aus thematischen Experten und Führungskräften eines Unternehmens inklusive Unternehmensführung definiert werden. Insgesamt werden damit wichtige Grundvoraussetzungen für einen späteren Change-Prozess gelegt. Mit dem Schritt 2 (Wahrnehmungsanalyse), beginnt die eigentliche szenariobasierte strategische Planung. Dieser Schritt dient dazu, die Gedankenspiele und Annahmen der Entscheidungsträger im Unternehmen sowie von Experten in Bezug auf die zukünftigen Entwicklungen der Unternehmensbranche zu erfassen. Als methodisches Werkzeug hierzu dient das „360°-Stakeholder-Feedback“ [Wulf, 2011], welches durch das definierte Projektteam durchgeführt wird. Im Rahmen der Wahrnehmungsanalyse werden Führungskräfte von internen und externen Anspruchsgruppen an ein Unternehmen / eine Branche („Stakeholder“) in den strategischen Planungsprozess über eine zweistufige Befragung integriert [Abbildung 7]. Zusätzlich werden externe Markt- und Branchenexperten für die Zielfragestellung der strategischen Planung befragt. Der Kreis der ausgewählten Personen sollte möglichst weit gefasst werden, um eine möglichst große Bandbreite von Sichtweisen auf die Branche und das zu betrachtende Unternehmen gewinnen zu können. Die Wahrnehmungsanalyse trägt damit zu einer „Öffnung“ der strategischen Planung bei und vermeidet eine zu enge, unternehmensbezogene Sichtweise im Planungsprozess, die gerade bei hoher Umweltvolatilität, wie einleitend beschrieben, sehr schädlich sein kann. Das Ergebnis des 360°-Stakeholder-Feedbacks ist dann zunächst ein umfassender Überblick über die wichtigsten Einflussfaktoren, die die zukünftige Entwicklung des Unternehmens bzw. auch der Branche prägen [Wulf, 2012]. Noch bedeutender ist jedoch gerade in volatilen Umfeldern die mögliche Identifikation von sogenannten „Blind Spots“ (blinde Flecken) und „Weak Signals“ (schwache Signale). Blinde Flecken sind erhobene Analysefaktoren, die interne Stakeholder als wesentlich weniger bedeutend bzw. unsicherer einschätzen als externe Anspruchsgruppen. Sie können ein Indikator für eine verengte Sichtweise („Blindheit“) eines Unternehmens für wichtige Einflüsse und Veränderungen im externen Umfeld sein. Schwache Signale sind Faktoren, die von nur sehr wenigen, meist externen Befragten, genannt werden. Sie können die ersten Indikatoren für wichtige zukünftige Veränderungen im Umfeld des Unternehmens sein. In Schritt 3 (Trend- und Unsicherheitsanalyse) werden die Ergebnisse der Wahrnehmungsanalyse entlang von zwei Dimensionen visualisiert. Als methodisches Werkzeug dazu dient das Instrument des „Impact/Uncertainty Grid“ (Wirkungs-/Unsicherheitsraster), um als Ergebnis sog. sekundäre Elemente, relevante Trends und kritische Unsicherheiten in Bezug zur Zielfragestellung zu identifizieren [Abbildung 8]. Sekundäre Elemente sind dadurch gekennzeichnet, dass Ihnen eine eher geringe bzw. unterdurchschnittliche Auswirkung auf die initiale Zielfragestellung zugeschrieben wird. Der Grad der Unsicherheit des tatsächlichen Eintritts ist dabei zu vernachlässigen. Für die Entwicklung von Szenarien können diese Faktoren weitgehend ignoriert werden. Trends werden durch einen hohen Einfluss auf die initiale Zielfragestellung und eine nur geringe bis mittlere Unsicherheit und damit eher hohe Sicherheit des zukünftigen tatsächlichen Eintritts definiert. Darauf können sich Unternehmen weitestgehend sicher vorbereiten. Kritische Unsicherheiten haben ähnlich den Trends einen hohen zukünftigen Einfluss auf die initiale Zielfragestellung. Ihr tatsächlicher Eintritt erscheint den befragten Stakeholdern jedoch kritisch hochunsicher. Unternehmen können sich darauf vorbereiten, jedoch können dabei viele Ressourcen auch unnötig verbraucht werden. Diese Faktoren zeigen eine gewisse Volatilität und sie sind daher mit unternehmerischer Vorsicht zu betrachten. Daher sollten kritische Unsicherheiten entscheidend bei der Entwicklung von Planungsszenarien berücksichtigt werden. Hierzu werden die kritischen Unsicherheiten abschließend in Metakategorien basierend auf gemeinsamen Elementen oder Themen eingeteilt. Zwei dieser Metakategorien werden dann ausgewählt, um die Grundlage für Schritt 4 (Szenarioentwicklung) zu bilden. Als methodisches Werkzeug im Schritt 4 wird dazu das von Kees van der Heijden entwickelte Instrument der „Szenariomatrix“ grundlegend eingesetzt [van’t Klooster, 2006; van der Heijden, 2005] [Abbildung 9]. Insgesamt sind vier Unterschritte erforderlich, um als Ergebnis Szenarien auf der Grundlage einer Szenariomatrix zu entwerfen und zu beschreiben (Szenarioidentifikation, Erstellung eines Einflussdiagramms, Szenariobeschreibung, Erstellung eines Datenblatts). Nach Abschluss der Beschreibung der Szenarien und der Erstellung des Datenblattes wird von den Methodikbeschreibern eine finale kritische Prüfung empfohlen, bei der ermittelt werden soll, ob die Szenarien tatsächlich den Zweck erfüllen, für den sie entwickelt wurden.
Dazu sollten zwei entscheidende Fragen gestellt werden:
- Helfen die Szenarien tatsächlich Unsicherheiten und Risiken zu erkennen und zu verstehen?
- Können die Szenarien strategische Möglichkeiten aufdecken helfen, die bisher nicht bewusst waren?
Wenn beide Antworten mit „Ja” beantwortet werden können, sollte zu Schritt 5 (Strategiedefinition) übergegangen werden. Bei einer „Nein”-Antwort bestünde die Gefahr von reinen Vermutungen und die Szenarien sollten überarbeitet werden. Die Strategiedefinition schlägt die Brücke zwischen dem Nachdenken über die Zukunft und dem Ableiten konkreter Strategiealternativen und Aktionspläne, in dem konkrete Handlungspläne erarbeitet werden, die dann auch mit aktuellen Strategien z.B. eines Unternehmens verglichen werden können. Als methodisches Werkzeug dient das Instrument des „Strategiehandbuchs” (Strategy Manual), das in 3 Schritten einen Leitfaden zur Strategieerstellung darstellt. Im Ergebnis können eine Kernstrategie (zutreffend für alle Szenarien) und ergänzende Strategieoptionen (zutreffend für 1 bis 3 Szenarien) herausgearbeitet werden, die einen Strategiekorridor bilden [Abbildung 10]. Die Denkweise von Managern kann sich damit von einer reinen Eindimensionalität in eine Denkweise mit mehreren Strategieoptionen ändern. Damit werden sie empfänglicher für Ereignisse in einem zunehmend dynamischen, komplexen und volatilen Unternehmensumfeld, sodass auch die Reaktionszeit auf Umweltveränderungen verkürzt werden kann und ggf. Wettbewerbsvorteile erzielt werden können. Abschließend werden potenzielle Meilensteine für die Erreichung einzelner strategischer Handlungspunkte festgelegt, über die die konkrete Strategieumsetzung gemessen werden kann. Welche Elemente der Kernstrategie besonders betont und welche Strategieoptionen gegebenenfalls verfolgt werden, wird im letzten Schritt (Schritt 6; kontinuierliche Kontrolle) festgelegt [Wulf, 2012]. Als methodisches Werkzeug wird das „Szenario Cockpit“ genutzt, das in einem dreistufigen Prozess mithilfe von Indikatoren entwickelt und regelmäßig auch weiterentwickelt wird. Als Ergebnis können die erarbeiteten Szenarien damit regelmäßig mit den Entwicklungen in der Realität und der tatsächlichen Volatilität der Umwelt konfrontiert und verglichen werden. Dieses bietet Unternehmen quasi eine Art “Frühwarnsystem”, über das sie analysieren können, ob sich die reale Welt in Richtung eines bestimmten Szenarios entwickelt und welche Strategieoption als Antwort darauf sinnvoll zusätzlich zur Kernstrategie in dieser Situation gewählt werden sollte. Gleichfalls hilft das Szenario Cockpit auch zu beurteilen, ob die Szenarien noch so gültig und plausibel sind, wie sie initial waren, und ob ggf. eine Erneuerung notwendig wird.
5 Ergebnisse für die Branche öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland
Der szenariobasierte strategische Ansatz zur Planung einer Strategie für die erfolgreiche, mehrwertgenerierende digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland in der Krankenversorgung wurde gewählt, weil die aus Sicht der Unternehmen perspektivtechnisch wichtige Entwicklung in einer volatilen Umwelt stattfindet und das Modell von Wulf et al. [Wulf, 2011] vielfach belegt bereits für andere Branchen und Unternehmen seine Wertigkeit gezeigt hat. Die Beantwortung der Zielfragestellung wurde bis dato wissentlich nach ausführlicher Recherche von keinem anderen Projektteam mit identischem Modellansatz verfolgt. Nicht zuletzt die internationale Coronakrise seit Frühjahr 2020 hat gezeigt, wie sich Digitalisierungsstrukturen auch in der Krankenhauslandschaft quasi über Nacht verändern können und wie wichtig plötzlich digitale Prozesse innerhalb der Gesellschaft werden können, die noch Wochen zuvor eher wenig nachgefragt waren. Abbildung 11 gibt einen Kurzüberblick über den zeitlichen Ablaufplan des Projektes für eine beispielhafte öffentliche Universitätsklinik in Deutschland. Für das Projektteam wurden der Autor der Masterthesis, als Projektteamleiter und Hauptverantwortlicher, sowie strategisch mitentscheidende Persönlichkeiten einer öffentlichen Universitätsklinik in Deutschland inklusive kaufmännischem Vorstand zusammen mit Fachexperten ausgewählt.
5.1 Schritt 1: Zieldefinition
Der Modellschritt 1 wurde im Rahmen eines Kick-off Meetings innerhalb des Projektteams erarbeitet. Die erstellte „Framing Checklist" wird in Abbildung 12 dargestellt.
Das Ziel des Szenarioprojektes konnte klar definiert werden. Damit wurde auch nochmals die strategische Analyseebene auf „Branchenebene“ bestätigt und festgelegt. Als Teilnehmer des Planungsprozesses wurden die Projektteammitglieder final bestimmt. Eine Übersicht über die definierten Stakeholder gibt Abbildung 13. Da die digitale Transformation im Bereich der Krankenversorgung alle Tätigkeitsgebiete einer öffentlichen Universitätsklinik betreffen würde, wurde eine interne Analyse über alle Tätigkeitssparten einer öffentlichen Universitätsklinik als sinnvoll betrachtet. Als interne Stakeholder wurden primär die Führungskräfte aller klinischen Bereiche, jedoch auch aus Forschungs- und Lehrbereichen sowie der Verwaltung in all ihren Führungsuntereinheiten definiert, da sie eine Übersicht über die Gesamtstrategie des Unternehmens besitzen und als ausreichend erfahren bezüglich der Beurteilung externer Einflussfaktoren auf die digitale Transformation in der Krankenversorgung eingeschätzt wurden. Als übergeordnete Instanz wurde der Aufsichtsrat einer öffentlichen Universitätsklinik als separate Stakeholdergruppe definiert, da er zwar primär als Kontrollgremium des Vorstandes außerhalb des Tagesgeschäftes fungiert, jedoch maßgeblich an der Unternehmenspolitik stellvertretend für die Eigentümer beteiligt ist. Gleichfalls wurde es für sinnvoll erachtet eine zusätzliche interne Stakeholdergruppe aus Experten außerhalb von direkten Führungspositionen zu definieren, die sich im Rahmen von Projekten oder Forschungsarbeiten bereits intensiv mit Fragestellungen rund um die digitale Transformation im Gesundheitswesen auseinandergesetzt hatten und daher als interne Experten definiert werden konnten. Insgesamt konnten so 3 interne Stakeholdergruppen definiert werden. Auch für die externe Analyse wurde es als sinnvoll erachtet, sämtliche tägliche Stakeholder der beispielhaft betrachteten öffentlichen Universitätsklinik als Analyseteilnehmer zu definieren. Dabei wurde darauf geachtet, erfahrene Persönlichkeiten bzw. Führungskräfte in den einzelnen Gruppen zu definieren. Die Kontaktdaten wurden über die öffentliche Universitätsklinik bzw. über Suche in professionellen Netzwerken (XING, LinkedIn) zusammengestellt. Zusätzlich erschien es sinnvoll, nachweisliche Experten für Krankenhausdigitalisierung aus dem gesamten Bundesgebiet als Stakeholdergruppe zu definieren, um zukünftige Entwicklungen außerhalb der Perspektive des Unternehmens möglichst sensitiv generieren zu können. Insgesamt konnten so 11 externe Stakeholdergruppen definiert werden. Abschließend wurde ein zeitlicher Planungshorizont von 5 Jahren (2021 bis 2026) festgelegt, da er dem vielfach üblichen Maß der Strategieplanung an einer öffentlichen Universitätsklinik entspricht und die digitale Transformation in der Krankenversorgung, trotz eines unternehmerischen Langzeitprojektes, zügig vorangebracht werden sollte. Zugleich kann ein Zeitraum von 5 Jahren für die Stakeholder präzise betrachtet werden und er erschien ausreichend lang genug, die Auswirkungen externer Entwicklungen auf die Digitalisierung detailliert zu betrachten.
5.2 Schritt 2: Wahrnehmungsanalyse
Für die Umfragen im Rahmen des 360°-Stakeholder-Feedbacks wurde die Umfrage- und Experience-Management-Software „QuestionPro“ (QuestionPro GmbH, Friedrichstraße 171, 10117 Berlin, Germany) in seiner Onlineversion (www.questionpro.com) verwendet.
In Umfrage 1 wurden mögliche Einflussfaktoren für eine aus Sicht der Stakeholder erfolgreiche und mehrwertgenerierende digitale Transformation einer öffentlichen deutschen Universitätsklinik über einen Zeitraum von 5 Jahren (2021 bis 2026) nach dem PESTEL-Schema [Abbildung 14] erfragt. Dabei wurde die offene Frageform gewählt. Mitglieder sämtlicher definierter interner und externer Stakeholdergruppen wurden per E-Mail durch den Projektleiter persönlich eingeladen. Über einen zugeschickten Onlinelink war die Studienteilnahme online 24/7 weltweit über den gesamten Erhebungszeitrahmen möglich. Dabei wurde der Link zur Studienteilnahme zwischen internen und externen Stakeholdern unterschiedlich gewählt, um sicher zwischen internen und externen Antworten unterscheiden zu können. Alle Daten wurden zur Wahrung des Datenschutzes anonym erhoben und auch ausgewertet. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um v.a. internen Führungskräften einen gewissen Sicherheitsrahmen für eine offene Kommunikation ohne die Gefahr von beruflichen Nachteilen anzubieten. Die Kontaktdaten und weitere Informationen der Studienteilnehmer wurden ausschließlich für Forschungszwecke erhoben und nach Abschluss der Gesamtstudie gelöscht.
Es wurden 185 interne und 123 externe Persönlichkeiten aus den definierten Stakeholdergruppen paritätisch gewichtet online angeschrieben und über einen Zeitraum von 2 Wochen um Antwort gebeten. Insgesamt konnten 52 interne und 49 externe Antworten generiert werden, welches einer Antwortrate von 28,1 % intern und 39,8 % extern entsprach. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für die Umfrage 1 betrug intern 6 Minuten und extern 8 Minuten und sie lag damit innerhalb des vorab veranschlagten Zeitkorridors von ca. 10 Minuten. Nach Ordnung und Verdichtung konnten 58 potenzielle Einflussfaktoren auf die digitale Transformation einer öffentlichen Universitätsklinik für den Zeitraum 2021 bis 2026 definiert und in Clustern jeweils einer Kategorie nach dem PESTEL-Schema definitiv zugeordnet werden. Eine Übersicht ist in Anhang 2 beigefügt. Die Definition und Zuordnung erfolgten in gemeinschaftlicher Abstimmung durch die Mitglieder des Projektteams, um rein subjektive Einflüsse möglichst zu vermeiden. Hierbei wurde die Anzahl der Nennungen des jeweils möglichen Einflussfaktors maßgebend berücksichtigt. In den Ergebnissen zeigt sich, dass die Einflussfaktoren kategorisch eher heterogen verteilt sind. Über alle Kategorien des PESTEL-Schemas hinweg erscheinen primär wirtschaftliche, sozio-kulturelle sowie politisch/rechtliche Faktoren und weniger ökologische Faktoren Einfluss auf eine erfolgreiche digitale Transformation einer öffentlichen Universitätsklinik in Deutschland haben zu können.
Für die Umfrage 2 wurden alle definierten Einflussfaktoren exakt der gleichen Personengruppe, wie zur Umfrage 1, in Form einer geschlossenen Fragestellung zur Bewertung vorgelegt. Über eine visuelle Likert-Analogskala von 1 (niedrig/schwach) bis 10 (hoch/stark) wurden der geschätzte Einfluss jedes Faktors auf eine erfolgreiche, mehrwertgenerierende digitale Transformation einer öffentlichen Universitätsklinik in Deutschland und die erwartete Unsicherheit des tatsächlichen zukünftigen Eintritts dieses Faktors, jeweils über den Betrachtungszeitraum 2021 bis 2026, erfragt. Der Umfragezeitraum betrug 3 Wochen und die Umfrageteilnahme war erneut anonym möglich. Insgesamt konnten 48 interne und 42 externe Antworten generiert werden, welches einer Antwortrate von 25,9 % intern und 34,1 % extern entsprach. Die Teilnehmerrate war damit etwas geringer als bei Umfrage 1. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für die Umfrage 2 betrug intern 11 Minuten und extern 12 Minuten. Sämtliche folgende statistische Auswertung erfolgte mittels Microsoft Excel über das Microsoft Office Home and Business 2019 (Microsoft Corporation, Redmond, Washington, Vereinigte Staaten; www.microsoft.com). Die Parameter aus Umfrage 2 wurden gesammelt und als Mittelwerte ausgewertet und anschließend grafisch nach Fragestellung (Einfluss bzw. Unsicherheit) dargestellt. Dabei wurde streng zwischen internen und externen Stakeholdern unterschieden und als Darstellungsform wurden Netzdiagramme gewählt [Abbildung 15 & 16].
Das Ergebnis des 360°-Stakeholder-Feedbacks ist der umfassende Überblick über die wichtigsten Einflussfaktoren, die die zukünftige Entwicklung der digitalen Transformation einer beispielhaften öffentlichen Universitätsklinik und auch von öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland allgemein prägen sollten. Es zeigt sich in der Übersicht bereits, dass den meisten Faktoren ein hoher Einfluss auf den Erfolg der digitalen Transformation einer öffentlichen Universitätsklinik in Deutschland innerhalb des Betrachtungshorizontes von 5 Jahren durch die Stakeholder zugeschrieben wird. Dabei erscheint das Gesamtbild zwischen internen und externen Stakeholdern relativ homogen. In Betrachtung der Unsicherheit zeigt sich, dass bezüglich der zur Bewertung gestellten Faktoren weitestgehend keine hohe bzw. extrem hohe Unsicherheit zu bestehen scheint und dass in dieser Einschätzung externe Stakeholder mit internen Stakeholdern weitestgehend übereinstimmen.
Interessant ist die Visualisierung von „Blind Spots” (blinde Flecken) in der Wahrnehmung zwischen internen Stakeholdern gegenüber der Wahrnehmung der externen Stakeholder sowohl im Bereich der Erfolgsbeurteilung als auch in den Einschätzungen bezüglich der Unsicherheit. Hierzu wurden jeweils Unterschiede in den Bewertungen > 1 Einheit in der Likert-Skala als Maßstab herangezogen. Die „Blind Spots“ in der Erfolgsbeurteilung sind in Abbildung 15 in roter Umrandung grafisch hervorgehoben. Tabellarisch gelistet handelt es sich dabei um die in Anhang 2 gelisteten Faktoren. Aus der Beurteilung geht hervor, dass die internen Stakeholder allgemein wichtige und häufig diskutierte Grundvoraussetzung zur digitalen Transformation von Unternehmen weniger erfolgskritisch bewerten, als externe Stakeholder inklusive externer Experten. In der Detailansicht der Bewertungen der einzelnen Teilnehmer bezüglich der „Blind Spot“- Faktoren erkennt man, dass die Schwankungsbreite um den tatsächlichen Mittelwert nie mehr als 2 Bewertungspunkte betrug. Daher sollten die “Blind Spots” als durchaus reell bewertet werden können. Ob die Ergebnisse durch mangelnde oder auch hohe digitale Erfahrung der befragten internen Stakeholder, eine eventuell zu begrenzte Sichtweise, durch eine unzureichende Stakeholderauswahl oder bei einer Antwortrate von knapp 30 % rein zufällig bedingt sind, lässt sich nicht ermitteln. Trotzdem sollten diese Unterschiede im Rahmen der weiteren Strategieentwicklung im Hinterkopf behalten werden und sicherlich für die beispielhaft untersuchte öffentliche Universitätsklinik zukünftig auch konkret berücksichtigt werden. Die „Blind Spots“ in der Unsicherheitsbeurteilung sind in Abbildung 16 in roter Umrandung grafisch hervorgehoben. Tabellarisch gelistet handelt es sich dabei um die in Anhang 2 gelisteten Faktoren. Alle Faktoren, bis auf die steigenden Energiekosten (Ö1), stoßen an bekannte und wesentliche Problembereiche des IST-Zustandes an öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland in der Krankenversorgung an. Daher mag der Bewertung eine natürliche interne Skepsis gegenüber Digitalisierung zugrunde liegen mit der Frage, ob die digitale Transformation zur Problemlösung wirklich einen Mehrwert beisteuern kann oder, wie bereits zuvor schon viele Lösungsansätze, nicht. Die mögliche interne Skepsis gegenüber digitalen Produkten und Dienstleistungen in der Krankenversorgung sollte für die weitere Strategieentwicklung im Hinterkopf behalten werden und sicherlich für die beispielhaft untersuchte öffentliche Universitätsklinik in der konkreten Anwendung auch besonders berücksichtigt werden.
Abschließend konnte beobachtet werden, dass einzelne mögliche Erfolgsfaktoren nur einmalig in Umfrage 1 erwähnt worden sind, in Umfrage 2 jedoch mit hohem Einflusserfolg und nicht zu verachtender Unsicherheit bewertet wurden. Diese Faktoren können damit als „Weak Signals” (schwache Signale) eingeordnet werden. Hervorzuheben sind die in Anhang 2 gelisteten Faktoren. Um den Ergebnissen der Trend- und Unsicherheitsanalyse bereits vorweg zu greifen, handelt es sich bei keinem dieser Faktoren um eine kritische Unsicherheit, sondern um einen Trend bzw. ein sekundäres Element. Sie können erste Indikatoren für zukünftig wichtige Veränderungen im Umfeld öffentlicher Universitätskliniken in Deutschland sein und sollten in den weiteren strategischen Planungen berücksichtigt werden.
5.3 Schritt 3: Trend- und Unsicherheitsanalyse
Die im Rahmen der Wahrnehmungsanalyse erhobenen Daten wurden im Schritt 3 zur Trend- und Unsicherheitsanalyse in das Wirkungs- und Unsicherheitsraster nach van der Heijden eingetragen. Mit der Bewertungsskala über die volle Bandbreite von 1 bis 10 über beide Achsen fiel eine Datenkumulierung im linken oberen Quadranten (hohe Erfolgsbedeutung und geringe bis mittlere Unsicherheit für fast alle Faktoren) auf. Damit zeigt sich eine klare Ergebnistendenz, die jedoch für die weiteren Planungsschritte so nicht ausreichend nutzbar war. Entsprechend den Modellvorgaben von Wulf et al. [Wulf, 2010] erfolgte daher die Adjustierung der numerischen Wertung, um die tatsächlichen Ergebnisse zu entzerren. Eine grafische Übersicht in Form des bezüglich des Wertebereiches adjustierten Wirkungs- und Unsicherheitsrasters zeigt Abbildung 17. Die Einordnung in Trends, sekundäre Elemente und kritische Unsicherheiten erfolgte soweit willkürlich, da das Modell nach Wulf et al. [Wulf, 2010] keine verbindlichen numerischen Vorgaben zur Einteilung macht. Es wurden jedoch die in Abschnitt 4 vorgestellten Definitionen berücksichtigt.
In der Trend- und Unsicherheitsanalyse zeigt sich, dass die zukünftige digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in der Krankenversorgung klar von Trends, jedoch auch kritischen Unsicherheiten beeinflusst werden wird. Es sollte jedoch nochmals beachtet werden, dass auch die kritischen Unsicherheiten nicht so stark unsicher von den Umfrageteilnehmern bezeichnet worden sind, wie sie in Abbildung 17 visuell erscheinen. Die Verzerrung erfolgt durch die Adjustierung der x-Achse. Klar ist jedoch, dass diese Faktoren unsicherer bewertet worden sind, als die anderen Faktoren. Weiterhin zeigt sich, dass kein Faktor als sekundäres Element bezeichnet werden darf. Der Faktor SK 6 (Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitssystem durch multikulturelle Durchmischung der Gesellschaft) ist hier als maximal grenzwertig zu sehen.
Als kritische Unsicherheiten können die in Anhang 3 gelisteten Faktoren eingeordnet werden. Als zusätzliche angrenzende Unsicherheiten wurden die ebenfalls in Anhang 3 gelisteten Faktoren ergänzend eingeteilt. In Ansicht beider tabellarischen Auflistungen fällt auf, dass technische Faktoren weder in die Rubrik „kritische Unsicherheiten“ noch in die Rubrik „angrenzende Unsicherheiten“ eingeteilt werden mussten. Damit sind sämtliche technischen Faktoren als klare Trends zu bezeichnen, auf die sich eine öffentliche Universitätsklinik in Deutschland auf dem Weg zur erfolgreichen digitalen Transformation vorbereiten kann. Als Folge wurden die technischen Faktoren in der konkreten Strategieplanung zwar als Rubrik generell berücksichtigt, jedoch etwas im Hintergrund stehend betrachtet. Abschließend konnte im Team einheitlich eine weitestgehend klare Kategorisierung der „kritischen Unsicherheiten“ und der „angrenzenden Unsicherheiten“ in zwei Metakategorien erfolgen. Eine Übersicht hierzu wird in Anhang 3 gezeigt. Einzig der angrenzend kritische Faktor SK7 (Zunehmendes Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung und Wille zur Prävention) war keiner Metakategorie eindeutig zuzuordnen, sodass sein Einfluss für die Konzipierung der Kategorien vernachlässigt wurde.
5.4 Schritt 4: Szenarioentwicklung
Die Szenariomatrix, als initialer Schritt der Szenarioentwicklung, wurde basierend auf den beiden zuvor definierten Metakategorien aus kritischen Unsicherheiten und angrenzenden Unsicherheiten erstellt und sie wird in Abbildung 18 grafisch dargestellt. Jeder möglichen Szenariosituation wurde ein klar zuzuordnender und leicht einprägsamer Name zugeteilt, der die spezifischen Szenarioverhältnisse in Bezug zur digitalen Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in der Krankenversorgung in Deutschland beschreibt und einfach erkennen lässt. Für die folgende Erstellung des Einflussdiagramms wurden wichtige herausgearbeitete Einflussfaktoren auf die zukünftige erfolgreiche digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in der Krankenversorgung, v.a. Unsicherheiten und wichtige Trends, miteinander in Beziehung gesetzt und wichtige Wechselwirkungen bzw. Abhängigkeiten über eine Zeitachse betrachtet. Plausibilität und Authentizität der Beziehungen wurden berücksichtigt und es bot sich an, das Einflussdiagramm schrittweise zu entwickeln [Abbildungen 19 – 21], wodurch die Fokussierung deutlich vereinfacht wurde. Zunächst wurden kritische Unsicherheiten und Trends festgelegt, die maßgebend die stakeholdergruppenübergreifende Akzeptanz bzw. Effizienz auf Anbieterseite beeinflussen können. Diese Faktoren wurden als „Baseline” des Einflussdiagramms berücksichtigt [Abbildung 19]. Im nächsten Schritt wurden die kritischen Unsicherheiten, angrenzende kritische Unsicherheiten und Trends, die unmittelbar auf die Baselinefaktoren Einfluss nehmen können, grafisch ergänzt [Abbildung 20]. Abschließend erfolgten die Ergänzung der noch fehlenden angrenzenden Unsicherheiten und Trends mit Einordnung in das gesamte Einflussdiagramm und die Erstellung des finalen Beziehungsschemas [Abbildung 21]. Wie im Rahmen der Trend- und Unsicherheitsanalyse bereits angedeutet, werden politische, sozio-kulturelle und wirtschaftliche Faktoren in Betrachtung des finalen Einflussdiagramms im Zentrum der Strategieplanung stehen müssen. Auch rechtliche Faktoren werden Einfluss finden müssen und sie sind vielmals an Verbindungsstellen zwischen beiden Szenariodimensionen einzuordnen. Die Zeitachse ist dabei jeweils so zu betrachten, dass sie eine Orientierung für den Ablauf ohne jedoch konkrete Zeitangaben darstellt. Viele Einflusszeiten zeigten sich bei der Erstellung des Einflussdiagramms nicht genau einschätzbar bzw. überhaupt im Vorhinein messbar. Technische Einflussfaktoren wurden, wie bereits zuvor schon erwähnt, basierend auf den Erkenntnissen der Trend- und Unsicherheitsanalyse bei der Erstellung des Einflussdiagramms primär vernachlässigt. Dieses geschah in dem Bewusstsein, dass eine grundlegende Technik für die digitale Transformation von öffentlichen Universitätskliniken in der Krankenversorgung natürlich erforderlich ist, diese jedoch in allen folgend möglichen Szenarien eher sicher verfügbar sein wird. Zur einfachen Übersicht und ggf. besseren Lesbarkeit ist im Anhang 4 die Endversion des Einflussdiagramms zusätzlich nochmals in DIN-A4-Format in schwarz-weiß abgebildet.
Die anschließende Erarbeitung und Beschreibung der vier verschiedenen Szenariosituationen erfolgte jeweils unter Beachtung des Einflussdiagramms, in dem zunächst die hervorgehobenen Baselinefaktoren in ihrer jeweiligen „pro“ bzw. „contra“ Variante, je nach Szenario, grundlegend berücksichtigt wurden. Schrittweise wurden die einzelnen Szenarien dann um die weiteren kritischen Unsicherheiten, die angrenzenden Unsicherheiten und zahlreiche Trends erweitert. Dabei wurden die kritischen Unsicherheiten und die angrenzenden Unsicherheiten weiterhin in ihrer „pro“ bzw. „contra“ Variante berücksichtigt. Bei den Trends wurden klare, sichere Trends in allen Szenarien identisch eingesetzt und nur bei Unsicherheitspotenzial ggf. etwas in der Formulierung angepasst. Gleichzeitig erfolgte die Integration von fest vorgegebenen Fakten außerhalb der Faktoren der Masterthesis, wie z.B. die alternde Bevölkerung in Deutschland. Zur Szenarioerstellung wurde insgesamt ein freier Schreibstil verwendet. Die ausführlichen Szenarienbeschreibungen sind als Anhang 5 der Masterthesis beigefügt. Ergänzend angefügt wurde das jeweilige Datenblatt mit einer Szenariokurzbeschreibung inklusive relevanter Daten und den wichtigsten Schlüsselindikatoren zum jeweiligen Szenario.
Aus Sicht des Projektteams sollte sicher attestiert werden können, dass die erarbeiteten Szenarien tatsächlich helfen können, Unsicherheiten und Risiken in der jeweiligen Situation zu erkennen und zu verstehen, um strategische Möglichkeiten aufzudecken, die bisher nicht bewusst waren. Daher sollte eine Strategiedefinition in Folge möglich sein, womit der Prozess der Szenarioentwicklung abschloss.
5.5 Schritt 5: Strategiedefinition
Der Prozess der Strategiedefinition wurde mit der Aufschlüsselung der konkreten Situation innerhalb jedes erarbeiteten Szenarios unter Berücksichtigung folgender Betrachtungselemente begonnen:
(1) Entwicklungen in der Makroumgebung des Unternehmens
(2) Potenzielles Verhalten von Wettbewerbern und Kunden
(3) Beabsichtigte Positionierung und Wettbewerbsstrategien des Unternehmens
(4) Gestaltung der Wertschöpfungskette des Unternehmens und Aktionspläne
Anschließend wurde jedes einzelne herausgearbeitete Situationsgeschehen hinsichtlich seiner Auswirkung auf eine erfolgreiche, mehrwertgenerierende digitale Transformation einer öffentlichen Universitätsklinik positiv bzw. negativ, vereinzelt auch neutral, bewertet, um eine Übersicht über die Gesamtsituation zu generieren. Gleichzeitig wurden jedem Situationsgeschehen mögliche Handlungsoptionen aus Sicht des Projektteams zugeordnet, mit denen im konkreten Situationsgeschehen die Situation positiv in Richtung Digitalisierung gelenkt werden könnte. Hierbei ging es stets nicht um die Lösung von Detailfragen in der genauen Praxis. Vielmehr wurden grundlegende strategische Herangehensweisen herausgearbeitet. Im Falle von konträren Meinungen wurde die Mehrheitsentscheidung im Projektteam gewählt. Das für jedes Szenario erarbeitete Datendokument ist in den Anhängen 6 bis 9 beigefügt. Nach Ordnung der Datenergebnisse erfolgte die Ableitung einer geordneten Strategie für jedes Szenario. Das jeweilige Datendokument hierzu ist in ebenfalls in den Anhängen 6 bis 9 beigefügt.
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- Arbeit zitieren
- Jan Gödeke (Autor:in), 2020, „Digitale Transformation“ in der Krankenversorgung von öffentlichen Universitätskliniken in Deutschland. Eine szenariobasierte Strategie für die Jahre 2021 bis 2026, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/956798
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