Das Problem der Erlösung bei Arthur Schopenhauer und Philipp Mainländer. Sein oder Nichtsein?


Trabajo Escrito, 2020

16 Páginas, Calificación: 1,7

Anónimo


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. Schopenhauers Willensmetaphysik
2.1. Die Verneinung des Willens durch Askese
2.2. Die Verneinung des Willens durch Mitleid

3. Mainländers Metaphysik der Entropie
3.1. Der Tod Gottes
3.2. Der Freitod als Erlösung

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Il nˈy a quˈun problème philosophique vraiment sérieux: cˈest le suicide. Juger que la vie vaut ou ne vaut pas la peine dˈêtre vécue […] Et sˈil est vrai, comme le veut Nietzsche, quˈun philosophe, pour être estimable, doive prêcher dˈexemple, on saisit lˈimportance de cette réponse puisquˈelle va précéder le geste définitif.1

In der Welt als Wille und Vorstellung (1819) eröffnet Arthur Schopenhauer seinen Lesern, dass das Leben eine einzige große Leidensgeschichte ist. Das Leiden wird verursacht durch den niemals genügsamen Willen, der die Einheit und das innere Wesen aller Individuen ist. Das Individuum kann das Leid nur durch die Verneinung des Willens überwinden, um so zur Erlösung zu gelangen. Die Erkenntnis, dass alles Leiden auf dem principio individuationis beruht - der Befangenheit des Erkenntnisvermögens in Raum und Zeit, die die Vielheit der Vorstellungen erst ermöglicht - ist für Schopenhauer der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Erlösung. Ist die Täuschung durch das principium individuationis durchschaut, führt Schopenhauer zwei Möglichkeiten der Willensverneinung an: die Möglichkeit freiwilliger und absichtlicher Armut (Askese) und die Möglichkeit der Willensresignation durch die Erfahrung von Mitleid bzw. eigenem Leid. Der Freitod ist für Schopenhauer keine Option. Über den Freitod hinaus, bliebe der metaphysische Wille schließlich bestehen, der zudem im Akt des Freitodes bejaht, nicht aber verneint würde.

In der Philosophie der Erlösung (1876) kritisiert Philipp Mainländer Schopenhauers Willensmetaphysik und entgegnet, dass der Freitod als absolute Vernichtung die radikalste Form der Weltüberwindung ist. Der Wille, der sich bei Schopenhauer rund 60 Jahre zuvor als Wille zum Leben definiert hat, entpuppt sich bei Mainländer als Wille zum Tod. Laut Mainländer dient das Leben auf der Erde nur als Mittel zum Zweck. Der Zweck ist der endgültige Übergang Gottes ins absolute nichts. Der Freitod ist für Mainländer die beste Option, um dem eigentlichen Weltlauf gerecht zu werden.

Im ersten Kapitel meiner Arbeit untersuche ich Schopenhauers Willensmetaphysik und erläutere Schopenhauers Thesen zur Willensverneinung. Im zweiten Kapitel untersuche ich, mit welcher Begründung der Wille für Mainländer der Wille zum Tod ist. Insbesondere zeigt sich, welcher Hauptirrtum Schopenhauer von Mainländer unterstellt wird und welche Aspekte Mainländer von Schopenhauer übernimmt und weiterdenkt. Für die Arbeit konzentriere ich mich v.a. auf die §§ 58 f. und die §§ 68–71 der Welt als Wille und Vorstellung sowie auf das Kapitel Metaphysik in der Philosophie der Erlösung und deren Anhang: Kritik der Lehren Kantʼs und Schopenhauerʼs.

2. Schopenhauers Willensmetaphysik

Arthur Schopenhauer vertritt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung 2 die These, dass allen Objekten dieser Welt ein nicht individueller und undurchsichtiger Wille inhärent ist. Der Wille soll als Prinzip verstanden werden, das das innere Wesen und die Zusammenhänge in der Welt erklärt. Der Wille selbst liegt „gesondert von seiner Erscheinung betrachtet, außer der Zeit und dem Raum, und kennt demnach keine Vielheit“.3 Die Erscheinung des Willens nennt Schopenhauer Vorstellungen. Der Wille selbst wird als metaphysische Einheit dargestellt, die sich in vier verschiedenen Stufen zur platonischen Idee objektiviert. „Als die niedrigste Stufe der Objektivation des Willens stellen sich die allgemeinsten Kräfte der Natur dar“4, gefolgt von Pflanzen und Tieren. Die höchste Stufe der Objektivation ist die Idee des Menschen. „Er [der Wille] offenbart sich eben so ganz und eben so sehr in einer Eiche, wie in Millionen“5, aber erst auf „den oberen Stufen der Objektität des Willens sehn wir die Individualität bedeutend hervortreten, besonders beim Menschen“.6

Indessen greift Schopenhauer die Unterscheidung Kants zwischen einem intelligiblen und einem empirischen Charakter auf. „Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offenbart, zusammen: insofern ist […] der empirische Charakter jedes Menschen […] als Erscheinung eines intelligiblen Charakters […] anzusehen.“7 So wie in der erkenntnislosen Natur Ursachen und Reize die empirische Erscheinung beeinflussen, so wird der intelligible Charakter durch unbewusste Motive affiziert. Der metaphysische Wille tritt zumindest temporär als empirischer Charakter in Erscheinung, lässt sich aber erst aus der Summe empirischer Erscheinungen erschließen. Weil sich die Anwendung des Satzes vom Grunde auf den intelligiblen Charakter als Irrtum durch das eigene Erkenntnisvermögen herausstellt, folgert Schopenhauer: „Die Motive bestimmen nicht den Charakter des Menschen, sondern nur die Erscheinung dieses Charakters, also die Thaten“.8 Weil der Verstand aber nicht anders kann, als sich den intelligiblen Charakter in Zeit und Raum vorzustellen, ist das Erkenntnisvermögen für gewöhnlich im sog. principium individuationis befangen. Für Schopenhauer heißt das, dass der Mensch zwar in dem Glauben lebt, freie Entscheidungen zu treffen, tatsächlich aber alle Handlugen zum einen durch unbeeinflussbare Umstände und zum anderen durch den eigenen unerklärlichen Charakter determiniert sind. „Diese [Begebenheiten und Handlungen] werden von äußeren Umständen bestimmt, welche die Motive abgeben, auf welche der Charakter seiner Natur gemäß reagiert“.9 Wirklich frei ist nur der Wille, sodass mit Notwendigkeit geschieht, was ohnehin geschehen musste.

Dieter Birnbacher erklärt, dass der Wille stets auf die Selbsterhaltung und die Reproduktion des eigenen Individuums gerichtet ist.10 Schopenhauer selbst betont, dass der Wille im Allgemeinen nichts anderes ist als der Wille zum Leben. Birnbacher zeigt weiterhin, dass der Wille beharrlich, d.h. langfristig nicht von seinem Ziel abzulenken ist. Ist das Ziel erreicht, erweist sich der Wille als unersättlich und strebt immer nach neuen Zielen. Das erreichte Ziel stellt sich lediglich als vorläufige Befriedigung heraus, sodass sich auf absurde Weise die eigentliche Ziellosigkeit des Willens bereits im ständigen Haben-wollen abzeichnet. Weil sich im Wollen selbst kein einheitlicher Sinn sowie kein nachvollziehbares und übergeordnetes Ziel erkennen lassen, ist der Wille selbst irrational. So erscheint es, dass die Individuen dieser Welt ohne Mitleid und in fortdauernder Rivalität untereinander leben.11

Die Rivalität geht mit Notwenigkeit aus dem Egoismus der Individuen hervor. Der Egoismus ist für Schopenhauer auf einen inneren Widerstreit des Willens zum Leben zurückzuführen. Innerer Widerstreit meint, dass der Wille als metaphysische Einheit durch die Individuation gegen sich selbst kämpft. Der individuelle Wille, der in der Vielheit der Erscheinungen in solchem Übermaß bejaht wird, dass der Wille einzelner Individuen zwangsläufig verneint werden muss, ist der Auftakt aller Rivalitäten. Der Egoismus ist die „Hauptquelle des Leidens, […] der Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im Inneren behaftet ist“.12 Das vom principio individuationis geblendete Individuum glaubt sich einen persönlichen Vorteil erkämpfen zu können. „Daher will Jeder Alles für sich, will Alles besitzen, wenigstens beherrschen, und was sich ihm widersetzt, möchte er vernichten.“13

Das Vernichten anderer Individuen ohne jeden Eigennutzen ist die höchste Steigerung des Egoismus und für Schopenhauer ein Ausdruck der Bosheit. Zieht das Individuum aus seiner Bosheit einen Lustgewinn, spricht Schopenhauer von Grausamkeit.14 Die Befriedigung des Willens wird durch die Erkenntnis noch größerer möglicher Befriedigung überlagert, sodass Neid und Missgunst entstehen. Grausamkeit bedeutet, dass fremdes Leid als Mittel zum Zweck der eigenen Befriedigung dient. Aber Leid ist nicht nur das Ergebnis von Rivalität, sondern im Wollen selbst inbegriffen.

Dem Leben ist der Wille zum Leben inhärent und der Wille bringt das Leiden mit sich. In §16 gesteht Schopenhauer den Stoikern zu, bereits die Ursache des Leidens erkannt zu haben:

Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwenig hervorging aus dem Nicht-haben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt.15

Das Leid wird verstärkt durch eine endlose Kette angestrebter Ziele: „Jedes erreichte Ziel ist wieder Anfang einer neuen Laufbahn und so ins Unendliche.“16 Ziele können zwar erreicht werden, aber das Glück ist nicht von Dauer. Erreichte Ziele werden durch immer neue Ziele ersetzt und zur quälenden Sehnsucht für das wollende Individuum. Ein unerreichbares Ziel vor Augen zu haben, heißt für das Individuum, einen Mangel erdulden zu müssen. Aus einem Mangel heraus entsteht Not und sich in Not zu befinden, bedeutet zu leiden. „Alles Wollen entspringt aus dem Bedürfniß, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt“.17 Der stetige Wechsel zwischen alten und neuen Zielen wird nur abgelöst durch den Zustand vorübergehender Ziellosigkeit, den Schopenhauer als Langeweile definiert. Die temporäre Abwesenheit eines konkreten Ziels ist wiederum ein Zustand des Mangels. Durch den konsequent anwesenden und immer strebenden Willen, entsteht erneut Leid. „Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz […] Fehlt es ihm [dem Willen] hingegen an Objekten des Wollens […] so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d.h. sein Wesen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last.“18

Zusammengefasst wird das Dasein der Individuen von zwei wesentlichen Faktoren bestimmt, der Rivalität untereinander und der lebenslangen Erfahrung von Entbehrung und Langerweile. Beide Faktoren vereinen Leben und Leiden untrennbar miteinander. Schopenhauer gelangt zu der These, dass das Leid nur überwunden werden kann, wenn diese Welt überwunden wird. Um die Welt überwinden zu können, muss der Wille schließlich verneint werden: „Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.“19 In den zwei folgenden Abschnitten meiner Arbeit untersuche ich, welche zwei Möglichkeiten Schopenhauer anführt, den Willen zu verneinen und wie Schopenhauer die Erlösung als solches definiert.

2.1. Die Verneinung des Willens durch Askese

Um den Willen verneinen zu können, setzt Schopenhauer die Grundvoraussetzung, dass das oben erläuterte principium individuationis durchschaut werden muss. Die Individuen müssen zur Erkenntnis gelangt sein, dass sich die vermeintliche Vielheit untereinander ausschließlich in ihrer Vorstellung manifestiert und das innere Wesen aller Vorstellungen der Wille ist. Das Leiden fungiert somit als inneres Band zwischen allen Individuen. Vergrößert ein Individuum mit Gewalt das Leid eines anderen, so ist es gezwungen mitzuleiden: „Der Quäler und der Gequälte sind Eins.“20

Georges Goedert zeigt, dass die ästhetische Kontemplation bei Schopenhauer als Vorstufe der endgültigen Willensverneinung gedacht ist. Ästhetische Kontemplation bedeutet, dass sich die Erkenntnis des Individuums durch den sog. „Zustand des reinen Erkennens“21 aus dem Dienst des Willens befreit. Das Individuum ist dann nicht mehr länger Subjekt des Wollens und fortwährend auf bestimmte Ziele gerichtet, sondern nur noch Subjekt des Erkennens. Im Zustand des reinen Erkennens hat das Subjekt das Wollen vergessen. Die vom Satz des Grundes losgelöste, reine Erkenntnis negiert die Individualität. Das Subjekt ist eins mit der Natur. Im Zustand der ästhetischen Kontemplation sind weder Egoismus noch Bosheit oder Grausamkeit gegeben. Ohne Individualität sind Rivalität, Entbehrung und Langeweile überwunden. Das Leiden ist vorübergehend ausgeschaltet.22

Das Schöne der betrachteten Objekte tritt dem Individuum in einem passiven Prozess als deren Idee gegenüber und lädt zur ästhetischen Kontemplation ein. Die ästhetische Kontemplation ist besonders dem Künstler vergönnt. Der Künstler wird von Schopenhauer als Genie beschrieben, dessen Zugang zur reinen Erkenntnis durch eine weniger stark ausgeprägte Seite der Vernunft erleichtert wird. Das Genie wirkt dann in anderen Bereichen oft irritiert oder verschroben. Das Genie aber ist in der Lage, sich innerhalb eines aktiven Prozesses vom Willen loszureißen, während die Erinnerung an das Wollen weiter besteht. Es handelt sich um einen gewonnenen Kampf, indessen sich die Erkenntnis über den Willen erhebt. Schönheit und Erhabenheit sind jedoch keine Attribute der Idee, sondern losgelöste Wege die Idee zu erkennen.

Was also das Gefühl des Erhabenen von dem des Schönen unterscheidet, ist dies: beim Schönen hat das reine Erkennen ohne Kampf die Oberhand gewonnen […] so daß selbst keine Erinnerung an den Willen nachbleibt: hingegen bei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewußtes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen des selben Objekts zum Willen23 Das Problem der ästhetischen Kontemplation stellt die lediglich temporäre Überwindung des Willens dar. Im Bewusstsein dieses Problems entwickelt Schopenhauer zwei verschiedene Möglichkeiten der endgültigen Willensverneinung. Die erste Möglichkeit stellt sich für Schopenhauer in der asketischen Heiligkeit dar. Der Asket, der sich absichtlich in Armut begibt und den freiwilligen Hungertod zu sterben bereit ist, wird von Schopenhauer als Heiliger bezeichnet. Der Heilige muss neben der Armut auch die völlige Keuschheit einhalten. Würde er sich fortpflanzen, so könnte der Heilige seinen Willen niemals vollständig verneinen. Schopenhauer geht davon aus, dass der Wille durch Fortpflanzung metaphysisch erhalten bleibt.24 Für den Heiligen würde das bedeuten, dass er den Willen über seinen Tod hinaus durch seine Kinder bejaht. Sobald das Leben durch die Verneinung des Willens erfolgreich überwunden ist, gelangt der Heilige zu endgültiger Erlösung durch die Aufhebung seiner Individualität. Der Heilige ist eins mit der Natur. Ohne Individualität keine Rivalität, Entbehrung oder Langeweile, das Leiden ist endgültig überwunden.

Jedoch ist Heiligkeit mit enormer geistiger Anstrengung verbunden, wie Goedert festhält. In der Heiligkeit geht es wie in der Kunst darum, die Erkenntnis des inneren Wesens der Welt zu erlangen. In der Kunst werden die Ideen dargestellt. Die Erkenntnis der Ideen löst eine Faszination bei Künstlern und Rezipienten aus. Die Kunst dient also der Reproduktion der Ideen, hat aber außer dem zeitweiligen Geistesfrieden durch den Genuss der Reproduktionen keine weitere Funktion. Für den Heiligen ist die Erkenntnis der Ideen hingegen der Auslöser, ein höheres Ziel in Augenschein zu nehmen. Die Erkenntnis dient als Quietiv25, also Beruhigungsmittel, des Willens. Der Heilige strebt mittels der Erkenntnis die Erlösung an und tötet seinen Willen gänzlich ab. Nur die Tugend führt zur Heiligkeit und der Weg zur Tugend ist die Erkenntnis.26 Schopenhauer ist bewusst, dass, „wenn diese Maxime allgemein würde, das Menschengeschlecht ausstürbe“.27

2.2. Die Verneinung des Willens durch Mitleid

Schopenhauer weiß aber auch, dass: „[d]er gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur“28 weder den Verstand noch die Tugendhaftigkeit besitzt, um Asket zu werden. Im Bewusstsein, dass der Großteil der Menschheit weder aus Genies noch aus Heiligen besteht, eröffnet Schopenhauer die zweite Möglichkeit zur endgültigen Willensverneinung. Gemäß der Voraussetzung, dass jeder Mensch irgendwann in seinem Leben schon einmal Leid erfahren hat, kommt Schopenhauer zu der Annahme, dass fremdes Leid mit der gleichen Intensität erkannt und empfunden werden kann wie das eigene.29

Wie Goedert betont, spielt wiederum die Erkenntnis eine grundlegende Rolle. Aufrichtiges Mitleid wird nur dann empfunden, wenn das principium individuationis durchschaut ist.30 Denn für Schopenhauer gilt: „alle wahre und reine Liebe ist Mitleid, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht.“31 Ein Beispiel für Selbstsucht ist das Weinen auf dem Begräbnis eines Angehörigen. Das Weinen ist hier nach Schopenhauer kein körperlicher Ausdruck des Mitgefühls, sondern bloß ein Reflex der Trauer über den eigenen Verlust.32 Schopenhauer bezieht sich in seiner These auf die hinduistische Philosophie, die Schopenhauers Mitleidsethik stark beeinflusst: „[d]ie direkte Darstellung finden wir in den Veden, der Frucht der höchsten menschlichen Erkenntniß und Weisheit, deren Kern in den Upanischaden uns, als das größte Geschenk des Jahrhunderts, endlich zugekommen ist […] tat twam asi, welches heißt: »Dies bist du«“.33 Gemeint ist die individuelle Identifikation mit der Gesamtheit aller organischen sowie anorganischen Natur. So führt die Erkenntnis fremder Leiden zu eigenem Leid. Das Mitleiden wird zum Motiv freiwilliger Gerechtigkeit, die eine Steigerung bis hin zu uneigennütziger Liebe erfährt:34 „In solchem Falle wird der zur höchsten Güte und zum vollendeten Edelmuth gelangte Charakter sein Wohl und sein Leben gänzlich zum Opfer bringen für das Wohl vieler Andern“.35 Schopenhauer geht davon aus, dass Mitleid zur Resignation des Willens führt. Der Wille versiegt durch die Erkenntnis des fremden Leids, das durch Egoismus ausgelöst wurde. Die Resignation negiert die Individualität. Das Subjekt ist wiederum eins mit der Natur. Ohne Individualität keine Rivalität, Entbehrung oder Langeweile, das Leiden ist endgültig überwunden.

[...]


1 Camus, Albert: Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde. Paris: 1999, S. 15.

2 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürich: 1977. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Ausgabe durch Angabe der Bandnummer und der Seitenzahl in den Fußnoten. Für die einzelnen Werke werden folgende Abkürzungen verwendet: WI/1 = Die Welt als Wille und Vorstellung I. Erster Teilband, WI/2 = Die Welt als Wille und Vorstellung I. Zweiter Teilband.

3 WI/1, S. 175.

4 Ebd., S. 178.

5 Ebd., S. 176.

6 Ebd., S. 179.

7 Ebd., S. 208.

8 Ebd., S. 187.

9 Ebd., S. 211.

10 Vgl. Birnbacher, Dieter: Metaphysik des Willens (WI, §§ 23–29). In: Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Hg. v. Oliver Hallich/Matthias Koßler. Berlin: 2014 (Klassiker auslegen, Bd. 42), S. 74 f.

11 Ebd.

12 WI/2, S. 416.

13 Ebd., S. 414.

14 Vgl. WI/2, S. 452.

15 Ebd., S. 129.

16 WI/1, S. 217

17 Ebd., S. 252.

18 WI/2, S. 390.

19 WI/2, S. 491.

20 Ebd., S. 441.

21 WI/1, S. 254.

22 Vgl. Goedert, Georges: Schopenhauer – Vorstufen der Willensverneinung. In: Schopenhauer-Jahrbuch. Hg. v. Dieter Birnbacher/Matthias Kossler. Würzburg: 2013 (2012, Bd. 93), S. 44–47.

23 WI/1, S. 259.

24 Vgl. WI/2, S. 471.

25 Ebd., S. 470.

26 Vgl. Goedert, Georges: Schopenhauer – Ethik als Weltüberwindung. In: Schopenhauer-Jahrbuch. Hg. v. Heinz Gerd Ingenkamp/ Dieter Birnbacher/ Lutz Baumann. Würzburg: 1996 (1996, Bd. 77), S. 119–120.

27 Ebd.

28 WI/1, S. 242.

29 Vgl. WI/2, S. 469.

30 Vgl. Goedert, Ethik als Weltüberwindung, S. 122 f.

31 WI/2, S. 466.

32 Vgl. ebd.

33 Ebd., S. 442.

34 Vgl. Goedert, Ethik als Weltüberwindung, S. 122 f.

35 WI/2, S. 465.

Final del extracto de 16 páginas

Detalles

Título
Das Problem der Erlösung bei Arthur Schopenhauer und Philipp Mainländer. Sein oder Nichtsein?
Universidad
University of Freiburg  (Philosophische Fakultät)
Curso
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung
Calificación
1,7
Año
2020
Páginas
16
No. de catálogo
V957925
ISBN (Ebook)
9783346310941
ISBN (Libro)
9783346310958
Idioma
Alemán
Palabras clave
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Philipp Mainländer, Die Philosophie der Erlösung, Selbstmord, Suizid, Freitod, Metaphysik, Entropie, Sein, Nichtsein, Gott, Tod, Nietzsche, Schopenhauer, Mainländer, Wille, Vorstellung, Mensch, Welt, Philosophie, Platon, Kant, Idee, a priori, a posteriori, Buddhismus, Hinduismus, Tat twam asi, Jenseits, Pessimismus, Aufklärung, 19. Jahrhundert, Skeptizismus, Naturalismus, Locke, Hume, Hegel, Fichte, Deutschland
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Anónimo, 2020, Das Problem der Erlösung bei Arthur Schopenhauer und Philipp Mainländer. Sein oder Nichtsein?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/957925

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