Macht und ethische Grenzüberschreitungen in der Pflege

Fallbeispiele einer Verletzung des pflegerischen Ethos


Bachelorarbeit, 2020

53 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Das Ethos der Pflege
2.1. Was ist Ethik?
2.3. Das Berufsethos der Pflege

3. Theorien der Macht
3.1. Max Weber
3.2. Michel Foucault

4. Fallbeispiele
4.1. Euthanasie „lebensunwerten Lebens“ im Dritten Reich
4.1.1. Rahmenbedingungen für die Beendigung „lebensunwerten Lebens“
4.1.2. Margarete T
4.1.3. Anna G
4.1.4. Relevante Machtstrukturen für die Anstalt Meseritz-Obrawalde
4.2. Zeitgenössische Fälle
4.2.1. Rudi Z
4.2.2. Niels H

5. Ergebnisse

Literaturverzeichnis

1. Einführung

Die Pflege als Profession hat zur Aufgabe „Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen, Leiden zu lindern (DBfK 2010, S. 1). Dieses Selbstbild der Pflege bietet eine wohlklingende Grundlage für Leitbilder diverser Krankenhäuser, Pflegedienste und -einrichtungen. Diese Bachelorarbeit widmet sich Fällen, in denen Pflegekräfte bewusst oder unbewusst das pflegerische Ethos verletzt haben, speziell solchen in denen Machtgefüge zu diesen Grenzüberschreitungen führten.

Anhand einiger Fallbeispiele sollen Situationen beleuchtet werden, die zu Verletzungen des pflegerischen Ethos geführt haben. In den vorliegenden Fallbeispielen beinhalten diese Überschreitungen die Tötung von Patient*innen. Aus diesen Beispielen sollen Handlungsempfehlungen erwachsen, welche die Wahrscheinlichkeit für solche Grenzüberschreitungen minimieren. Als Grundlage für die Auswahl und Analyse der Fallbeispiele sollen verschiedene Betrachtungsweisen von Macht dienen. Speziell die Theorien von Michael Foucault und Max Weber. Wobei erster sich vor allem mit seinen Überlegungen zu Biomacht gut für Fragestellungen im medizinischen Sektor einigt und zweiter als Grundlage in jeder machttheoretischen Betrachtung Anwendung finden kann.

Doch zunächst soll im Folgenden das pflegerische Ethos definiert werden, welcher unabhängig von persönlichen ethischen Vorstellungen das Handeln von Pflegekräften leiten soll.

2. Das Ethos der Pflege

Um sich dem Ethos der Pflege zu nähern, ist es sinnvoll, zuvor Grundüberlegungen zu den Begriffen Ethik und Ethos anzustellen. Schließlich ist das Pflegeethos, wie jedes andere Berufsethos, aus solcherlei Überlegungen erwachsen.

2.1. Was ist Ethik?

Auch wenn es schon zuvor Auseinandersetzungen mit ethischen Fragestellungen gab, war es Aristoteles, der Ethik erstmals als eigene philosophische Disziplin behandelte. Er ordnete sie zusammen mit Ökonomie und Politik der praktischen Philosophie zu. Im Gegensatz zur theoretischen Philosophie der er Logik, Physik, Mathematik und Metaphysik zuordnete, beschäftigt sich die praktische Philosophie mit menschlichen Handlungen und ihren Produkten (vgl. Pieper 2017, S. 21).

So wurden auch Überlegungen angestellt menschliches Verhalten einzuordnen und zu beurteilen. „Im Weltbild der griechischen Antike wurde davon ausgegangen, dass jede Gemeinschaft oder Gruppe ein bestimmtes Normensystem besitzt“ (Arend, Gastmans 1996, S. 20). Das dafür verwendete Wort „èthos“ hat vier Bedeutungen:

1. feste Bleibe, Stall, Höhle, Asyl
2. Gewohnheit, Brauch
3. Art, Wesen, Charakter
4. Haltung, Gesinnung (vgl. ebd.)

Von diesen vieren sind jedoch nur die zweite und vierte heutzutage von Bedeutung und mit dem Begriff Ethos verknüpft (vgl. ebd.). In der griechischen Antike wurde hauptsächlich der Plural „èthoi“ verwendet. Dieser bezeichnete die praktische Ethik, die sich auf das Handeln des Menschen fokussiert. Der heutzutage gebräuchlicher Begriff Ethik kann darauf zurückgeführt werden (vgl. ebd.).

Auch wenn die heutige Definition den Begriff Ethik als eine Theorie der Moral versteht, war dies in der antiken Betrachtungsweise noch kein ausschlaggebender Punkt. In der Antike liegt der Blick auf einer eher individuellen Ethik und der Anleitung zu einem seligen Leben. Es ist also eine Theorie der Lebenskunst. Die soziale Dimension kommt erst in den moderneren Ethiken dazu, in der eine gewisse Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft und auch sich selbst etabliert wird (vgl. Birnbacher 2007, S. 3 f.).

Angefangen bei dieser, vor allem in der Antike verbreiteten ethischen Sichtweise sollen nun drei verbreitete ethische Denkweisen näher beleuchtet werden. Die drei Folgenden Sichtweisen sind nur Beispiele und decken nur einen kleinen Teil der verschiedenen Ethiktheorien ab. Sie sind jedoch die bekanntesten Ethiken und können im Weiteren zur Analyse der Fallbeispiele gut genutzt werden.

Die Tugendethik

Die Tugendethik geht insbesondere auf Aristoteles, Platon, die Stoa und Thomas von Aquin zurück. In der Antike und lange darüber hinaus war sie die die vorherrschende normative ethische Theorie (vgl. Schramme 2011, S. 49). Der zentrale Bewertungspunkt der Tugendethik ist die charakterliche und motivationale Verfassung der handelnden Person (vgl. ebd.). In ihr strebt der Mensch letztendlich - und das Streben ist zentraler Aspekt dieser Ethik - nach dem Guten und der Glückseligkeit. Sie wird daher auch Glücksethik (Eudaimonie) genannt (vgl. Kemetmüller 2013, S. 35).

Tugenden sind Haltungen, die Menschen das Richtige und Gute aus innerer Überzeugung erkennen und erstreben lassen (vgl. Schramme 2011, S. 49). Aristoteles unterscheidet zwischen den Verstandstugenden (dianoetischen Tugenden) wie Weisheit und Klugheit, die für das Erkennen erforderlich sind, und den ethischen Tugenden, wie Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Bei ihnen gebrauchen wir Verstand und Vernunft, um zu sittlichen Handlungen zu kommen (Kemetmüller 2013, S. 36).

Die Tugend-, oder auch Glücksethik geht davon aus, dass der Mensch von sich aus nach dem Guten und der Glückseligkeit strebt und dies durch Schärfung seiner Tugenden erreichen kann. Eine Pflegekraft, die Patient*innen durch Förderung ihrer Ressourcen und mit ganzheitlichem Blick, auf körperliche, geistige und seelische Verfassung unterstützt, hilft ihnen also diesen Weg zu gehen. Sie ist jedoch auch bestrebt, den Patient*innen das Handwerkszeug zu geben, seine*ihre Ressourcen in Zukunft besser zu nutzen und gestärkt den nächsten gesundheitlichen Herausforderungen zu begegnen.

Die Pflichtethik

Ein ganz anderes Menschenbild liegt der deontologischen Ethik zugrunde. Sie ist eine Pflichtethik. Im Gegensatz zur Tugendethik darf der Beweggrund einer Handlung keinesfalls die Neigung zur Freude oder der Spaß am Handeln sein, stattdessen haut eine sittlich gerechtfertigte allein durch Pflicht zu erfolgen (vgl. Kant 1995, S. 469 f.). So sind für die deontologische Ethik Aussagen in folgender Form typisch: „Handlungen der Art h sind in Situationen von Typ s immer Richtig (oder falsch), gleichgültig welche Folgen sie haben“ (Birnbacher 2007, S. 113).

Immanuel Kants kategorischer Imperativ ist eine Art deontologischer Ethik. Dieser lässt sich in vier Formeln zusammenfassen:

1. Universalisierungsformel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant, 1995, S. 421).
2. Selbstzweckformel: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (ebd., S. 129).
3. Naturgesetzformel: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (ebd., S. 421).
4. Reich-der-Zwecke-Formel: „Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre“ (ebd., S. 438).

Drei dieser Formeln haben eine ähnliche Aussage, die jedoch gleichzeitig Kernaussage des Kategorischen Imperativ ist. Sie verallgemeinern moralisches Handeln und besitzen den Gültigkeitsanspruch einer mathematischen Formel. Lediglich die Selbstzweckformel fällt etwas aus dem Rahmen. In ihr wird der Mensch selbst zum Inhalt. Dieser hat für Kant im Gegensatz zu Dingen, welche als Mittel zur Zweckerfüllung immer einen relativen Wert haben, einen absoluten Wert. Dies beinhaltet nicht nur die Achtung vor der fremden, sondern auch der eigenen Person (vgl. Pleger 2017, S. 98 f.).

Hier zeigt sich ein Menschenbild, dem zugrunde liegt, dass dieser nicht unbedingt von selbst nach dem Guten strebt. Es bedarf Regeln, die in jeder Situation gleich angewendet werden können, um den Menschen moralisch richtige Entscheidungen treffen zu lassen. In der Medizin und Pflege ist diese Form der Ethik unabdingbar, da sie auch bei schwierigen moralischen Dilemmata schematisch angewendet werden kann. Beispielsweise bei der Frage nach dem Für und Wider aktiver Sterbehilfe ist die Aussage des kategorischen Imperativs klar. Die Selbstzweckformel verbietet Selbstmord, da der eigene Tod und somit man selbst als Person nur Mittel zum Zwecke wäre, aus dem aktuellen Zustand zu entfliehen. Diese Regel kann auch auf den assistierten Suizid angewendet werden und verbietet ihn somit ebenfalls, weil zum einen hierbei die assistierende Kraft als Mittel zum Zweck missbraucht wird und zum anderen diese dem*der Suzidant*in dazu verhilft, eine gegen den kategorischen Imperativ verstoßende Tat zu vollziehen.

Die Nutzenethik

Zu einem anderen Ergebnis könnte eine Betrachtung der gleichen Situation mit den Vorgaben einer teleologischen Ethik, wie dem Utilitarismus führen. Diese vor allem in der englischsprachigen Welt wichtige ethische Strömung hat mittlerweile unzählige Ausprägungen. Grundlegender Gedanke der utilitaristischen Ethik ist das Erzielen des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Masse. Sie richtet ihren Fokus also auf die Folgen einer Handlung (vgl. Kemetmüller 2013; 36 f.). Der Urgedanke ist, dass jeder Mensch nach Glück strebt und das dieses Streben unhintergehbare und keiner weiteren Rechtfertigung bedürftige Voraussetzung menschlichen Handelns ist (vgl. Pleger 2017, S. 109). Dieses Glück gilt es quantitativ zu erfassen. Die Art des Glücks kann sich jedoch nach Stuard Mill auch qualitativ unterscheiden (vgl. ebd.). Eine Handlung ist demnach moralisch, wenn sie die nützlichsten Folgen für alle Beteiligten hat, bzw. das Maximum an Freude und Minimum an Leid hervorbringt (vgl. Kemetmüller 2013, S. 36 f).

Die Frage nach aktiver Sterbehilfe lässt sich mit dem Utilitarismus nur von Fall zu Fall entscheiden. Es kommt beispielsweise darauf an, ob die Situation der Person, die zu sterben wünscht, ausweglos ist, wie viel Leid sie*er zu ertragen hat und ob sie*er Verpflichtungen oder Angehörige hat, die unter ihrem Tod leiden würden oder ob der*die beim Suizid Assistierende damit Probleme hätte. Nach einer moralischen „Kosten-Nutzenrechnung“ kann im Anschluss eine Entscheidung getroffen werden.

Aus diesen oder auch abgewandelten ethischen Grundüberzeugungen schöpft jeder Mensch seine ihm innewohnende Ethik. Doch gibt es auch Moralvorstellungen und ethische Vorgaben bestimmter Gruppen, die deren Idealtypus definieren. Diesem Ethos kann sich das Individuum zugehörig fühlen, sie*er kann jedoch auch mit eigenen ethischen Vorstellungen in Konflikt geraten. Ein*e bekennende Zeug*in Jehovas, wäre durch ihre*seine Überzeugung gegen Bluttransfusionen eingestellt. In Ausübung eines Pflegeberufes, würde er* sie jedoch für Patient*innen bei der Verabreichung von Bluttransfusionen unterstützen, weil sein Berufsethos sie*ihn dazu verpflichtet.

Auch die Pflege hat ein solches Ethos entwickelt, doch bevor auf diesen eingegangen werden kann, folgt eine kurze Begriffserklärung: Das griechische Wort „éthos“ kommt in zwei Varianten vor. Zum einen als „ἔθος“, das mit Gewohnheit, Sitte oder Brauch übersetzt werden kann. Die andere ist „ήθος“, welches eine charakterliche Grundhaltung zur Tugend beschreibt (vgl. Pieper 2007, S. 25 f.). Beide wurden im Lateinischen mit dem Wort „mos“ übersetzt, aus welchem sich wiederum das Wort Moral entwickelte. Dies nimmt in der deutschen Sprache eher den Raum des griechischen „ἔθος“ ein wohingegen die Abwandlung Moralität sich eher mit der Bedeutung des griechischen „ήθος“ deckt (vgl. ebd.).

Ethos oder Moral fassen die Gesamtheit der Lebenswerte und Verhaltensregeln in einer Kultur zusammen (vgl. Grabner-Haider 2006, S. 11) und entsprechen somit eher dem griechischen „ἔθος“. Dieses Ethos kann jedoch nicht nur einer Kultur sondern auch beispielsweise einer Berufsgruppe entspringen.

2.3. Das Berufsethos der Pflege

Die pflegerische Ethik ist mit der medizinischen Ethik eng verbunden, weshalb diese zuerst beschrieben werden sollte. Die Heilkunde, als eine Art Urberuf war schon immer vorhanden. Er ging aus dem konkreten Bedürfnis des kranken Menschen hervor, jemanden an seiner Seite zu haben (vgl. Maio 2012, S. 85). Mit den griechischen Medizinschulen erhielt die Empirie einen größeren Stellenwert in der Medizin. Zudem wurden hier mit dem hippokratischen Eid die Grundlagen für ein Berufsethos der Medizin geschaffen. Dieser Eid wurde im vierten Jahrhundert vor Christus verfasst und ist Teil des Corpus Hippocraticum, der Schriftensammlung einer Ärzteschule auf der Insel Kos (vgl. ebd., S. 87 ff.). Er ist in Ringform verfasst und besteht aus neun Paragraphen.

Dieser Eid enthält einige Punkte, die noch heute als ethische Richtlinie in medizinischen Berufen gelten. Die großen Maximen des „bonum facere“ (Wohltuns/Führsorge) und „nil nocere“ (nicht schaden) werden hier festgelegt. Auch konkrete Punkte wie ein Verbot von Sterbehilfe und Abtreibungen werden beschrieben (vgl. Maio 2012, S. 99). Der Eid behandelt auch Punkte wie die Schweigepflicht und die Gleichbehandlung aller Patient*innen unabhängig ihres Standes (vgl. Sass 1998, S. 80). Der hippokratische Eid vermittelt jedoch auch eine paternalistische Einstellung, in der die Ärzt*innen eine Rolle als medizinische Expert*innen einnehmen. Sie sollen selbstständig und ohne Rücksprache entscheiden, was für den*die Patient*in das Beste ist. Ein solch bevormundendes Weltbild lässt sich nur schwer mit der heutigen Zeit vereinbaren (vgl. ebd., S. 80).

Aktuell berufen sich Mediziner*innen nicht mehr auf den hippokratischen Eid, wohl aber auf die lose an den Eid angelehnte Genfer Deklaration. Diese ist seit 1956 Einleitung der Musterberufsordnung für deutsche Ärzt*innen und somit Teil ihres Selbstverständnisses (vgl. Maio 2012, S. 100). Sie wurde erstmals 1948 als Reaktion auf den Missbrauch der Medizin im Zweiten Weltkrieg verabschiedet. Darin verpflichten sich Ärzt*innen ihre Patient*innen unabhängig von religiösen, nationalen, rassischen, Partei- oder Klassengesichtspunkten gleich zu behandeln (vgl. Wiesemann u. Biller-Andorno 2005, S. 15). Auch ist festgehalten, dass medizinisches Wissen auch unter Bedrohung nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlicher Freiheit eingesetzt werden soll (vgl. World Medical Association 2017).

Ihre letzte Überarbeitung erhielt die Deklaration 2017. Hierbei wurden abgesehen von zeitgemäßeren Formulierungen, ergänzt, dass Ärzt*innen die Autonomie ihrer Patient*innen zu fördern haben. Zudem wurde ein Absatz aufgenommen, der Ärzt*innen anhält, auch ihre eigene Gesundheit zu achten, um den Patient*innen bestmöglich helfen zu können. Zudem wurde ergänzt, dass auch Medizinstudierende Respekt durch andere Ärzt*innen erhalten sollen (vgl. Wiesring u. Parsa-Parsi 2018, S. 247 f.).

Auch auf Seite der Pflege gibt es seit Beginn ihrer Professionalisierung Bestrebungen ein Berufsethos zu etablieren. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die Krankenpflege aufgrund des schlechten Rufes der Hospitalpflege vorwiegend Familienangelegenheit. Speziell war sie Aufgabe der Hausfrauen. Aus diesem Kontext stammt das Bild der vornehmlich weiblichen Pflegekraft, als wenig gebildete, unbezahlte aber liebevoll mütterliche Figur ohne medizinische Kenntnisse (vgl. Arend 1996, S. 46). Es bestand die Notwendigkeit für die Entwicklung eines eigenen Berufsstandes, basierend auf medizinischen Schulungen, einem Honorar und einer gemeinsamen Berufsethik.

In dieser Zeit brachte Florence Nightingale mit „Notes on nursing“ das erste pflegerische Handbuch auf den Markt. Daneben startete sie noch weitere Initiativen, wie die Einrichtung der Londoner „Nightingale Trainig School for Nursing“. In ihren Schriften äußert Florence Nightingale Besorgnis über die ethische Entfaltung der Pfleger*innen, ein Werk über die Berufsethik hat sie jedoch nicht hinterlassen (vgl. ebd., S. 46 ff.). Ihre Grundhaltung inspirierte jedoch unter anderem Lystra E. Gretter zur Verfassung des „Nightingale Pledge“, der Ende des 19. Jahrhunderts von vielen Krankenschwestern bei der Diplomierung abgelegt wurde. In ihm wird auf eine ethisch hochstehende Lebensweise eingegangen. Die Achtung für den Beruf, das Berufsgeheimnis, die Haltung der Treue zum Arzt und die gänzliche Zuwendung zu den Patient*innen. Der Eid hat sowohl inhaltlich als auch formell große Ähnlichkeiten zum hippokratischen Eid und ist das älteste pflegerisch-ethische Dokument (vgl. ebd., S. 48). Seit 1953 gibt es den Ethikkodex des International Council of Nursing. Dieser wurde schon mehrfach überarbeitet und liegt seit 2006 in seiner aktuellen Fassung vor. Er ist in vier Teile gegliedert und beschreibt die Verantwortung der Pflegenden gegenüber Mitmenschen, der Berufsausübung, der Profession und den Kolleg*innen. Aus den Normen des Kodex werden Aufgaben für Pflegefachpersonen in der Praxis, dem Management, der Bildung und in den Berufsverbänden abgeleitet (vgl. Kuhn 2018, S. 207).

Es zeigt sich also, dass im Rahmen der Professionalisierung - und schon im Sinne der Berufswerdung der Pflege – diese vergleichbar mit der Medizin ein Berufsethos entwickelte. Dieses Ethos passte sich mit der Zeit an und liegt zuletzt in einer international anerkannten Form vor, die von nationalen Verbänden und kirchlichen Institutionen als Grundlage ihrer eigenen Ethikkodizes verwendet werden kann. Unabhängig von persönlichen, religiösen oder philosophischen Weltanschauungen bildet dieses Ethos eine Grundlage, nach der „gute“ Pflege ausgeübt werden sollte und an der sich das Verhalten von Pflegekräften bemessen lässt. Was aber kann den Menschen dazu bringen, diese ihm in der Regel bekannten und allgemein anerkannten Regeln zu brechen? Macht und ihre Strukturen können solche Einflussfaktoren sein. Um diese besser verstehen zu können sollen nun einige theoretische Ansätze zum Themengebiet der Macht folgen.

3. Theorien der Macht

Machtstrukturen spielen für die Pflege wie für viele andere Berufsgruppen eine große Rolle. Die Pflegekräfte befinden sich jedoch in einem schwierigen Spannungsfeld, da sie ihren Patient*innen gegenüber zum einen eine macht- und verantwortungsvolle Position einnehmen. Aber zum anderen auch viele Einflussfaktoren Macht und Druck auf sie ausüben.

Eine grundlegende Definition von Macht kann lauten: „Macht ist ein asymmetrisches Beeinflussungspotential“ (Pries 2017, S. 212). In sozialen Beziehungen bestehen immer wechselseitige Beeinflussungsmöglichkeiten. Diese können sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Dingen bestehen. Wenn die Möglichkeiten Einfluss auszuüben ungleich verteilt sind, wirkt Macht (vgl. ebd., S. 212).

Diese Definition von Macht ist sehr offengehalten und wird auf die meisten sozialen Beziehungen zutreffen. Sie beschreibt nicht das Nutzen, der vorliegenden Asymmetrie als Macht, sondern verortet Macht bereits im bestehenden Potential eigenem Willen zu beeinflussen. Im Folgenden wird es mit Michel Foucaults und Max Webers Machttheorien um zwei konkrete Betrachtungsweisen dieses soziologischen Phänomens gehen.

3.1. Max Weber

„Die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1985, S. 28). Diese Definition von Max Weber beschreibt Macht als eine asymmetrische soziale Beziehung, weil eine Person der anderen ihren Willen aufzwingen kann. Dabei ist es unerheblich woraus diese Asymmetrie resultiert (vgl. Müller 2007, S. 121). Die Definition von Weber lässt sich in vier Elemente zerlegen:

1. Macht findet nur in sozialen Beziehungen statt und setzt folglich Verhältnis der Interaktionspartner*innen voraus (vgl. Kaven 2006, S. 45). Sie bezeichnet die Möglichkeit einer Beziehung einen besonderen Charakter zuzuweisen. Macht findet nur innerhalb bereits bestehender Beziehungen statt, kann jedoch keine neuen schaffen. Macht ist an soziales Handeln und somit auch an Sinn gebunden. Sie dient der Durchsetzung und Stärkung der eigenen Position. Von daher ist ein entsprechender Wille, der gegen einen anderen Willen antritt, Voraussetzung für Machtausübung (vgl. ebd., S. 45 ff.). Dies bedeutet, dass ein Machtverhältnis nur zwischen mündigen und willensfähigen Individuen bestehen kann. Also beispielsweise zwischen Arbeitskolleg*innen aber auch zwischen Pflegekraft und Patient*in. Nicht jedoch, wenn diese aufgrund eines Komas nicht über einen eigens vertretenen Willen verfügt.
2. Bei der Ausübung von Macht geht es um die Durchsetzung des Willens aufgrund verschiedener Werte oder Interessen. Laut Weber gibt es einen Polytheismus der Werte, der sich aus überschneidenden Lebensordnungen wie Kunst, Politik, Religion und Wirtschaft ergeben kann. Da es in Webers Weltbild keine übergeordnete Instanz gibt, welche in Fällen eines Widerspruches entscheiden kann, welche Werte die richtigen sind, bleibt die individuelle Entscheidung als oberste Instanz. Diese getroffenen Wertentscheidungen können in Folge mit anderen in Konflikt geraten (vgl. ebd., S. 49 f.) Macht dient also dazu, die eigenen Werte gegen die Wertvorstellungen anderer zu behaupten und ihnen so Geltung verleihen zu können. So haben sich die angestellten Pflegekräfte nach dem Pflegeverständnis des sie Beschäftigenden Unternehmens zu richten.
3. Macht bezeichnet die Chance in einer sozialen Beziehung die soziale Wirklichkeit zu gestalten. Sie ist nicht das Ergebnis der Verwirklichung (vgl. ebd., S. 50 ff.). Der*Die Machthabende verfügt über die Möglichkeit, seine Wertvorstellungen auch in der sozialen Beziehung durchzusetzen und diese somit zu verändern. Beispielsweise obliegt es der anleitenden Pflegekraft, wie sie die Auszubildende behandelt und ob sie ihnen mehr oder weniger Freiräume gibt. An der Asymmetrie ihrer Beziehung ändert dies jedoch nichts.
4. Die Chance auf Durchsetzung der eigenen Wertentscheidungen beruht auf Ressourcen. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Ökonomische Güter, Prestige und soziale Ehre aber auch Heilsgüter. Eine Organisationsstruktur, Glaube und Einstellung von Untergebenen sowie physische Gewalt sind Ressourcen welche von den an der sozialen Beziehung beteiligten Personen mitgebracht und zum eigenen Vorteil eingesetzt werden können. Es geht jedoch auch um die Nutzung von Chancen, die sich während der Auseinandersetzung ergeben (vgl. ebd., S. 52 ff.). So entscheiden sich Patient*innen mitunter für Ärzte oder Häuser, die besondere Leistungen anbieten, einen guten Ruf haben oder einfach günstig für sie gelegen sind.

Neben dem Begriff der Macht, beschäftigte sich Weber auch mit dem Begriff der Herrschaft. Diesen zog er sogar dem der Macht vor. Herrschaft bedeutet eine steigende Chance, dass der*die Befehlsempfänger*in den Befehlen Folge leistet (vgl. Müller 2007, S. 122). Herrschaft ist eine vertikale und asymmetrische soziale Beziehung, in der eine Seite aktiv und die andere rezeptiv ist (vgl. Fitzi 2008, S. 74 f.). Damit ähnelt sie grundlegend der Definition von Macht, wobei hier die Rollen der Herrschenden und der Beherrschten festgelegt sind. Disziplin beschreibt Herrschaft, die zu einer sozialen Regelmäßigkeit wird (vgl. ebd., S. 74 f.). In Einzelfällen kann die Fügsamkeit gegenüber Befehlen auf verschiedenen Grundlagen, wie Sitte, materielles Interesse oder Drohung, beruhen. Darauf gründet sich jedoch nicht zwangsläufig eine solide Basis für dauerhafte Herrschaft. Das Fundament liefert hier der Glaube an die Rechtmäßigkeit der Herrschaft. Herrschaft beruht auf zwei Stützpfeilern, Organisation und Legitimität (vgl. Müller 2007, S. 122 f.).

Die Organisation Herrschaftsstruktur in größeren sozialen Zusammenhängen erfordert in der Regel eine Verwaltungsinstanz, die mit der Vermittlung und Durchführung von Befehlsinhalten betraut wird. Der*die Herrscher*in, der*die mit Befehlsgewalt sowie Sach- und Gewaltmitteln ausgestattet ist, bedient sich eines sogenannten Verwaltungsstabs. Die Angehörigen dieses Stabs sind es gewohnt, Befehlen zu gehorchen, aber auch an der Erhaltung des Status Quo interessiert, da sie daraus Vorteile ziehen (vgl. ebd., S. 124 f.).

Die Struktur der Herrschaft entsteht durch die Aufteilung der Befehlsgewalt zwischen Herrscher*in und Verwaltungsstab. Der Verwaltungsstab ist in der Regel nicht durch Legitimität, sondern durch persönliche Interessen, wie materielles Entgelt oder Ehre die Herrschenden gebunden. Unter dem Aspekt der Stabilität scheint jedoch eine Herrschaftsstruktur, die auf Dauer gegen den Willen der Beherrschten handelt, unwahrscheinlich (vgl. ebd.).

So gibt es auch in der Organisation der Pflege beispielsweise im Krankenhaus hierarchische Ebenen, von der Klinikleitung über Pflegedienstleitung, Bereichsleitung/Stationsleitung bis hin zu einfachen Pflegekräften, Auszubildenden und Praktikant*innen.

Neben der Organisationsstruktur bedarf eine stabile Herrschaft eine Legitimität. Diese basiert zu einem großen Teil auf eine Legitimitätsglauben. Dieser bietet die Chance des*der Herrschenden seinen*ihren Willen durchzusetzen. Aus diesem Grund ist der*die Herrschende massiv daran interessiert, den Glauben an die Legitimität seiner*ihrer Herrschaft zu erwecken und zu pflegen. Somit ist die Legitimität in erster Linie auch eine Selbstrechtfertigung. Um ein erfolgreiches Herrschaftssystem zu erhalten sollten der Legitimationsanspruch der Herrschenden und der Legitimationsglaube der Beherrschten weitgehend übereinstimmen (vgl. ebd., S. 127 ff.). Es gibt zum Beispiel Arbeitsverträge, die hierarchische Strukturen in Betrieben, auch des Gesundheitswesens, festlegen und sichern.

Weber unterscheidet verschiedene Herrschaftstypen. Diese unterscheiden sich in der Art der Organisation und Legitimität. Legale Herrschaft, als erster Herrschaftstyp, beruht auf einer gesetzmäßigen Vereinbarung, die nach sachlichen Gesichtspunkten recht- und verwaltungsmäßig angewendet wird. Der Befehlende oder auch Vorgesetzte unterliegt ebenfalls diesen Gesetzmäßigkeiten. Die*Der Vorgesetzte beauftragt einen Verwaltungsstab mit der Durchführung seiner Befehle. Die Beherrschten folgen nun nur Befehlen und nicht dahinterstehenden Personen. Grundlegender Gedanke ist, das abstrakten, formalen Normen Folge geleistet wird. Diese Form der Herrschaft ist unpersönlich (vgl. Müller 2007, S. 131 f.). Der Idealtypus dieser Herrschaftsform ist die Bürokratie mit ihren Vorschriften und abgegrenzten Zuständigkeiten. In ihr arbeiten Beamt*innen in einer festen Amtshierarchie und werden durch Kontrollinstanzen überwacht. Verwaltungsstab und -mittel sind streng getrennt. Die Ämter werden nach Qualifikation vergeben und können nicht gekauft oder vererbt werden. Die bürokratische Herrschaft übt einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft aus, da sie Verwaltungsverfahren berechenbar macht und Innovation über die Grenzen der Tradition fördert. Auch ist sie gerecht, da alle Bürger nach den Vorschriften gleichbehandelt werden (vgl. Fitzi 2008, S. 78 f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Macht und ethische Grenzüberschreitungen in der Pflege
Untertitel
Fallbeispiele einer Verletzung des pflegerischen Ethos
Hochschule
Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
53
Katalognummer
V957927
ISBN (eBook)
9783346300270
ISBN (Buch)
9783346300287
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pflege, Gewalt, Macht, Ethik, Foucault, Weber
Arbeit zitieren
Michael Frenzel-Simon (Autor:in), 2020, Macht und ethische Grenzüberschreitungen in der Pflege, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/957927

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