Legasthenie - Erscheinungsbilder und Symptome / Diagnostik und Förderung


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 1998

21 Pages


Extrait


1. Legasthenie - Begriffsbestimmungen

Von Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Legasthenie spricht man, wenn ein Kind das Lesen oder Schreiben in der dafür vorgesehenen Zeit nicht oder nur sehr unzureichend erlernt hat. Oft ist in diesem Fall auch das allgemeine Verhalten auffällig: Resignation, Agressivität, Schulangst u.ä.

„ ... Ernste Probleme mit dem Lesen- und Schreibenlernen bei Kindern, deren Intelligenz zumindest normal ist und deren Probleme nicht durch eine visuelle oder auditive Behinderung, einen Hirnschaden, Schul- oder Erziehungsprobleme verursacht werden.“ (Terlouw 1997, 33)

Dumont: „ Legasthenie bedeutet, als Folge einer Störung im Rekodierungsmechanismus, beim Lesen und Schreiben im Rückstand sein. Die Störung liegt dennoch in der Unfähigkeit, einen geschriebenen Buchstaben in einen gesprochenen Laut umzuwandeln, wie es beim Lesen notwendig ist, oder umgekehrt, einen Laut in einen geschriebenen Buchstaben umzuwandeln, wie es beim Schreiben geschieht.“

Dumont ist der Ansicht, daß diese Störung ihren Ursprung in einer gestörten oder verlangsamten Sprachentwicklung hat.

Kuipers und Weggelaar betrachten Legasthenie als Entwicklungsstörung, ebenso wie die Waldorfpädagogik. Für Glöckler ist Legasthenie eine Störung im zusammenwirken der Sinne untereinander und der Sinne mit dem Denken.

Becker (1985), Definition aus logopädischer Sicht:

„ Die Lese-Rechtschreib-Schwäche stellt eine Beeinträchtigung im Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens bei Kindern mit normaler oder annähernd normaler Intelligenz, so daß die schriftsprachliche Kommunikation längere Zeit erheblich behindert oder gar unmöglich ist. Die LRS kann auf eine mangelhafte Ausbildung der phonematisch-kinästhetischen und sprechmotorischen Funktionen zurückgeführt werden, wobei periphere Schwächen der Analysatoren als Ursachen auszuschließen sind.

Untersuchungen machen wahrscheinlich, daß Kinder mit LRS auch ein kognitives Leistungsdefizit aufweisen. Dieses Leistungsdefizit betrifft eine beeinträchtigte Abstraktionsfähigkeit, die durch eine eingeschränkte Fähigkeit zur Erkennung relevanter begrifflich-lexikaler Merkmale und ihrer variablen operationalen Verknüpfung bedingt ist.“

Kossow formulierte 1972 so:

„ Als LRS bezeichnen wir ein spezielles Versagen im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bei normaler oder im Verhältnis zu dieser partiellen Schwäche zumindest relativ besseren Intelligenz, wobei sowohl erworbene Störungen wie Alexie und Agraphie als auch peripher bedingte Hör- und Sehstörungen und Schwierigkeiten infolge Schwachsinns, ungenügender Übung oder mangelhafter methodischer Anleitung auszuschließen sind. Es bestehen extreme analytischsynthetische Schwierigkeiten aufgrund ungenügender Trennschärfe im sprechmotorisch-akustischen Bereich.“

Andere pädagogisch-psychologisch orientierte Begriffsbestimmungen:

Lindner (1962) : „ Unter Legasthenie verstehen wir eine spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbständigen fehlerfreien Schreibens) bei sonst intakter - oder im Verhältnis zur Lesefertigkeit - relativ guter Intelligenz Von Legasthenikern sprechen wir also nur, wenn ein Kind von ungefähr normaler Intelligenz unter normalen Schulverhältnissen und trotz aller Bemühungen der Erwachsenen das Lesen (oder Schreiben) nicht oder nur mit der größten Anstrengung erlernen kann, während in den übrigen Fächern keine auffallenden Probleme vorhanden sind. “

Biglmaier (1965) ergänzt : „ Wir verstehen somit unter Legasthenie eine spezielle Störung in der Beziehung zwischen dem geschriebenen oder gedruckten und dem ausgesprochenen oder erkannten Wort. Sie ist an überdurchschnittlich häufigen und schwerwiegenden Lesefehlern und meist verzögertem Lesetempo zu erkennen. im einzelnen finden wir beim Lesen des Legasthenikers: Sinnlose Wörter, Erratendes Lesen, sehr viele Umstellungen, Auslassungen, Hinzufügungen, Verwechslung von Buchstaben, erschwerte Analyse und Synthese; schlechte Rechtschreibleistungen sind der Ausdruck derselben Schwierigkeiten auf schriftlichem Gebiet. Von der Legasthenie sprechen wir aber nur dann, wenn die Leseschwäche nicht auf Organfehler, Minderbegabung oder ungünstige Umweltverhältnisse zurückzuführen ist.“

Lory (1966) : „ Legasthenie ist die Leseschwäche bei hirngeschädigten, dominanzgestörten, reifedisproportionierten oder familliär belasteten Kindern.“

Medizinisch orientierte Begriffsbestimmung:

Hallgren (1950) : „

1. wenn die Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben während der ersten Schuljahre auffällig waren,
2. wenn ein deutlicher Unterschied gegenüber den Leistungen in anderen Schulfächern besteht,
3. wenn ein deutlicher Unterschied zwischen Rechtschreib- leistung und allgemeiner Intelligenz besteht. “ (Angermaier 1977, 23)

Hermann (1959) betont die Erblichkeit und das familliäre Vorkommen der Störung in seiner Definition. Die Häufigkeit wird mit 10 % angegeben. Rotationen, Reversionen und Inversionen werden von ihm als primäre Fehler bezeichnet. Wortblindheit besteht neben anderen Erscheinungsformen einer SymbolSchwäche im Umgang mit Noten, Zahlen, Morsezeichen und Stenographie. Trotz Speziallunterricht bleibt sie bis ins Erwachsenenalter.

Critchley (1966) : „ Das Kind - ansonsten normal in Bezug auf Intelligenz und emotionale Stabilität - zeigt eine spezielle Schwäche beim Erwerb der Bedeutungsgehalte geschriebener oder gedruckter, verbaler Symbole und findet es ganz besonders schwer, die verbalen Komponenten der Sprache (wie sie von den Sprechwerkzeugen produziert und vom Ohr aufgefangen werden) mit den empirischen Komplexen zur Deckung zu bringen, die in wechselnden Formen auf Papier anzutreffen sind.“

Weinschenk (1965) : „ Unter der kongenitalen Legasthenie oder der erblichen Lese-Rechtschreibeschwäche verstehen wir eine angeborene verschieden stark ausgeprägte Schwäche im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bei dafür hinreichender Intelligenz, ausreichenden Sinnesfunktionen und einem an und für sich regelrechten neurologischen Befund.“

Zusammenfassung

„ Bringt man die angeführten Begriffsbestimmungen der ‘ Legasthenie ‘ auf einen Nenner, so enthalten sie folgende widersprüchliche Behauptungen:

1. a) Es existiert eine spezielle, spezifische oder isolierte
Lese-Rechtschreib-Schwäche, die Legasthenie oder Dyslexie. b) Diese Schwäche ist nicht so isoliert, daß sich nicht Beziehungen zur Intelligenzschwäche, Sprachschwäche und gestörtem Lernverhalten nachweisen ließen.
2. a) Sie äußert sich in speziellen oder typischen Fehlern, zu denen u.a. Reversionen, Inversionen und Umstellungen zählen.
b) Es treten die gleichen Fehler auf, die auch sonst beim Lesenlernen beobachtet werden, allerdings gehäuft.
3. a) Der Defekt besteht trotz mindestens durchschnittlicher Intelligenz oder Schulleistung, z.B. im Rechnen.
b) Leseschwäche gibt es zu einem erheblichen Teil bei Unter- begabten.
4. a) Die Störung ist erblich. Der Erbmodus ist umstritten.
b) Die Störung ist nicht erblich. Sie wird häufig von Um- welt - und Persönlichkeitsfaktoren mitbestimmt.
5. a) Sie besteht ohne das Vorhandensein vergangener oder aku- ter organischer bzw. neurologischer Schwächen von Ge- wicht.
b) Sie besteht als organische, zerebrale Dysfunktion ver- schiedener Ätiologie.

2. Legasthenie - Erscheinungsbilder und Symptome

2.1. Erscheinungsbilder im Vorschulalter

Im Vorschulalter können Eltern Auffäligkeiten beobachten die sie allerdings noch nicht richtig deuten können. Während des Schulaufnahmeverfahrens könnte man Eltern auf folgende möglichen Beobachtungen hin ansprechen:

Bei der Geburt hatte das Kind Sauerstoffmangel oder eine Gelbsucht. Das Kind hat relativ spät sprechen gelernt.

Es konnte längere Wörter nicht richrig nachsprechen.

Es sprach zu Beginn des Schulalters noch wie ein Kleinkind. Es lispelte.

Es fiel durch Tolpatschigkeit auf, fiel häufig hin, mochte nicht balancieren, nicht Roller fahren.

Es hat Probleme beim Schleifebinden.

Es war unsicher im Nachsingen einfacher Melodien. Es ,alte nicht gern.

Es mochte keine Puzzles.

Solche Hinweise aus dem Vorschulalter gelten als gewisse Risikofaktoren, die zu einer Lese-Rechtschreib-Schwäche führen können. Sie müssen es aber nicht!

2.2 Erscheinnungsbilder in den ersten Grundschulklassen

Voraussetzungen für Lesen- und Schreibenlernen sind im wesentlichen fünf auf die Sprache bezogenen Teilleistungen. Sie entstammen folgenden Wahrnehmungsbereichen (Breuer-Weuffen 1993):

a) Optisch-graphomotorischer Bereich

Eine notwendige Voraussetzung für das Lesen- und Schreibenlernen ist die Fähigkeit, graphische Zeichen richtig zu erfassen und wiederzugeben. Werden graphische zeichen in ihrer Struktur ungenau erfaßt oder wiedergegeben, dann wird die darauf aufbauende Tätigkeit des Lesens und der graphomotorischen Realisierung entsprechend beeinträchtigt.

Auswirkungen bei Auffälligkeiten in der optischen Wahrnehmung

- Mangelndes Wahrnehmen kleiner Detailunterschiede:

Druckschrift: a - o / d - a / m - n / f - t / i - l

Schreibschrift: h - k / d - a / f - l

- Raumlageorientierungslosigkeit, Reversion horizontal oder vertikal bei: b - p -P / b - d / g - d / M -W / p - d / g - p / u - n / f - t

- Abschreibefehler

- Keine sicher gespeicherte Formerfassung, deshalb Fehlen innerer Schreib-bilder

Hinweis: Das orthoptische Sehen sollte überprüft werden.

b) Akustisch-phonematischer Bereich

Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, Laute innerhalb eines Wortes genau herauszuhören, um ein gesprochenes Wort inhaltlich zu verstehen, z.B. das O bei Oma, das Au bei Maus oder das N bei Kran.

Auswirkungen bei Auffälligkeiten in der phonematischen Wahrnehmung

- Phonematische Fehlleistungen führen zu Verwechslungen verschiedener, aber klangähnlicher Laute, besonders im Hochtonbereich. Rechtschreibfehler sind die

Folge: e - i /ü- i /ö-ü/ a - ei / o - u

- Konsonanten mit gleichem Entstehungsort werden oft verwechselt: d - t / g - k / b - p / r - ch / j - ch

- Es können keine klaren Klangbilder gespeichert und entwickelt werden.

- Beim Erlernen von Fremdsprachen gibt es Probleme.

Hinweis: Untersuchungen auf evtl. vorliegende Hörschäden und/oder Sprachstörungen sind in diesem fall nötig.

c) Kinästhetischer Bereich

Automatisierte Bewegungskoordination sind nötig zum Sprechen und Schreiben. Die Sprech- und Schreibbewegungsvorstellungen bilden die im Gedächtnis gespeicherten kinästhetischen Muster für die Aussprache der Laute und Wörter bzw. für deren graphomotorische Umsetzung. Ist die kinästhtische Differenzierung unzureichend entwickelt, treten Mängle im sprechmotorischen Vollzug auf, z.B. „demacht“ - statt gemacht, oder „desagt“ statt gesagt, „Skraße“ statt Straße. Sprechmotorik wurzelt in der allgemeinen Motorik. Die sprechmotorischen Leistungen hängen in erster Linie vom koordinierten Zusammenspiel der Sprechorgane ab.

Auswirkungen bei Auffälligkeiten in der kinästhtischen Wahrnehmungen

- Häufig undeutliches, leises und unsicheres Sprechen
- Unbeweglicher Sprechapparat
- Rechtschreibfehler, weil das innere Sprechen falsch erfolgt; wiederkehrende Fehlereigentümlichkeiten
- Häufiges Verwechseln von r - ch, k - t
- Vertauschen und Auslassen von Lauten
- Ungleichmäßige Schrift
- Ungeschick beim Basteln, Schneiden, Kleben
- Auffälligkeiten im Sportunterricht: tolpatschig und unsicher in der gesamten Körperwahrnehmung
- Insgesamt langsam

d) Rhythmischer Bereich

Ein Gliederungsprinzip der Sprache ist der Rhythmus. Oft führt der Weg zum Sinn des Gesprochenen über eine exakte Dekodierung dieser rhythmischen Struktur. Von der Betonung der Wörter und ihrer Stellung innerhalb des Satzes hängt es ab, worauf der Kern der Aussage zielt. Rhythmische differenzierung hängt mit akustischer und kinästhetischer Wahrnehmung zusammen.

Auswirkungen bei Auffälligkeiten in der rhythmischen Wahrnehmung

- Rhythmisch retardierte Kinder beim Lautieren, z.B. bei Oma, unter Umständen mit „a“, weil für sie dieser zuletzt gehörte Laut am stärksten klingt und deshalb als Anfangslaut gewählt wird (Umstellung).
- Sie können beim Reimen Sprechsilben und Geste schwer koordinieren.
- Sie haben Schwierigkeiten bei der Silbentrennung.
- Sie haben Schwierigkeiten in Mathematik, z.B. bei rhythmischen Reihen (Zählen, Malfolgen).

e) Melodischer Bereich

Sprache hat mit Musik die Gemeinsamkeit, daß sie von melodischen Spannungsbögen getragen werden. Auf die unterschiedliche Melodie eines Satzes reagieren wir mit unterschiedlichen Gemütsäußerungen. „Kommst du jetzt“, kann eine Frage sein, eine Bitte, ein Befehl. Also der Ton macht die Musik. Eine für das Kind ungenaue Satzmelodie erschwert die Sinnentnahme.

Auswirkungen bei Auffälligkeiten in der melodischen Wahrnehmung

- Mangelt es einem Kind an der Fähigkeit zur melodischen Differenzierung, dann können Diskrepanzen zwischen seinen Reaktionen und den vom Lehrer beabsichtigten entstehen. Auch davon hängen Aufmerksamkeit, Konzentration und damit der Lernerfolg ab.
- Sinnzusammenhänge und Situationsspezifisches gehen verloren. Hier ergeben sich Beziehungen zum Leseverständnis und zur Rechtschreibung. Kinder, die nicht verstehen, was sie lesen, zeigen im Tonfall und in der Betonung deutliche Symptome.

Zusammenfassen kann man sagen, daß diese Wahrnehmungsbereiche , die Basisfunktion haben. Dies ist durch die Differenzierungsprobe nach Breuer/Weuffen (1993) bei jedem Kind bzw. dem gefährdeten überprüfbar. Ist ist schwierig, wenn ein Kind mit LRS mehrere der angesprochenen Teilleistungsschwächen hat oder weitere, weniger gut diagnostizierbare Schwächen sowie feinmotorische Schwierigkeiten.

Meistens versuchen Schüler mit LRS, die ja lesen wollen, ihre Schwierigkeiten durch Auswendiglernen der Lesetexte zu kompensieren. Man kommt nur selten auf die Idee bei einem aufgeweckten Kind, daß nich lesen kann, sondern Texte auswendig vorträgt. Leseschwache bleiben jedoch in einer Sackgasse im Leselernprozeß, bis jemand ihr Geheimnis entdeckt.

Daher wird heute ein berechtigter Ruf nach Früherfassung laut.

2.3 Symptome

Lesen

- Häufige Fehler beim lauten Lesen
- Zahlreiche Selbstkorrekturen
- Langsames bzw. mühsames Erlesen von Wörtern
- Silbenweises Lesen von Wörtern
- Wortweises Lesen von Sätzen und Texten
- Probleme bei der Verschmelzung von Einzellauten zu Lautfolgen
- Probleme bei der Sinnentnahme

Rechtschreibung
- Häufige Fehler beim Abschreiben
- Zahlreiche Fehler in Diktaten oder Aufsätzen
- Verwechslung visuell ähnlicher Buchstaben (dlau statt blau)
- Verwechslung von Buchstaben, die ähnliche Laute repräsentieren (krün statt grün)
- Auslassung von Buchstaben, so daß sich die Klanggestalt des Wortes ändert (Apfe statt Apfel)
- Auslassung von ganzen Wörtern und längeren Wortteilen (Fernseh statt Fernsehzeitung)
- Vertauschung der Buchstabenreihenfolge (Fabirk statt Fabrik)
- Häufige Fehler aufgrund der Nichtbeachtung bestimmter Rechtschreibregeln ( Bager statt Bagger)
- Schreibhemmung

Gesprochene Sprache
- Verwaschene Artikulation
- Stockendes Sprechen
- Wortschatzarmut
- Wortfindungsstörungen
- Häufige Bildung von grammatisch bzw. syntaktisch inkorrekten Ausdrücken

Merkfähigkeit
- Geringe auditive Merkfähigkeit (z.B. beim Vokabellernen)
- Geringe visuelle Merkfähigkeit (z.B. beim Einprägen von Wortbildern)

Motorik
- Allgemeine Ungeschicktheit
- Verkrampfte Schreibhaltung
- Undeutliches Schriftbild
- Langsames Schreiben

Verhaltensauffälligkeiten
- Reduziertes Selbstwertgefühl
- Schulangst
- Aggressivität
- Clownerie
- Hyperaktivität
- Konzentrationsschwäche
- andere psychosomatiosche Störungen

3. Legasthenie - Diagnostik und Förderung

3.1 Diagnostik

Zum generellen diagnostischen Prinzip gehört ein individuell durchgeführter Lesetest. Nur durch ihn ist eine direkte Beobachtung der Leseschwierigkeiten möglich. Sehr bedeutend ist dabei eine frühzeitige Diagnose von Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen. Dabei soll man besonders auf Schwierigkeiten mit der Lautsynthese beim Lesen und auf Schwieirgkeiten mit der lautorientierten Schreibung achten, natürlich unter Berücksichtigung der Art des Anfangsunterrichts. Bei der entsprechenden Frühförderung kann die Gefahr großer Rückstände und schwerwiegender emotionaler und motivationaler Beeinträchtigungen vermieden werden.

Es können diagnostische Verfahren wie der Diagnostische Lesetext von Müller (1984) und der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest von Landerl, Wimmer und Moser (1997) ab dem Ende der 1. Klasse eingesetzt werden. In letzterem sind Subtest zum Lesen von Pseudowörtern beinhaltet, was speziell zur Diagnose von Anfangsschwierigkeiten von Bedeutung ist. Es zeigt sich dabei, ob Kinder völlig neue Wörter erlesen können. Ab dem Ende der 2. Klasse kann auch der Züricher Lesetest (Lindner & Grissemann, 1996) zum diagnostizieren verwendet werden.

3.2 Förderung

Es gibt eine Menge Förderprogramme die speziell zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten ausgelegt sind.

Die Palette von Förderangeboten für Kinder mit LRS „... reicht von blau getönten Augengläsern bis zur Psychotherapie und gleicht einem Markt ohne jeglichen Konsumentenschutz.“. (Rost 1998, 326)

Es wurde festgestellt, daß nur Förderprogramme sinvoll und wirksam sind,, die speziell bei den jeweiligen LRS ansetzten.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß „... auch bei einer intensiven, an den Leseund Schreibfertigkeiten orientierten Förderung die Leistungsverbesserung nur langsam und in kleinen Schritten...“ (Rost 1998, 326) zum gewünschten Erfolg führt. Die Behandlungsmaßnahmen erfordern also von allen Beteiligten, wie den betroffenen Kindern, als auch den Eltern und Lehrern, viel Geduld.

3.3 Spezielle Übungen

Nachfolgende Übungen wurden mit den Kindern der LRS-Klasse in Wurzen, in die auch die drei beobachteten Kinder gingen, vorranggig durchgeführt. Sie stellen allerdings nur einen Teil der umfangreichen Arbeit dar, wie aus verschiedenen Interviews mit Lehrern und Schülern deutlich wurde!

a) optisch-graphomotorischer Bereich:

Bauen mit Bausteinen:

Bauen nach Vorlagen, nach Aufforderung oder eigener Phantasie: So hoch wie möglich soll der Turm sein; Bauen von Brücken, Hütten, Häusern usw.

Zuordnungsbeispiel:

Auf einem Zeichenblatt sind geometrische und andere Figuren vorgezeichnet:

Balkenkreuze, Kreise, Quadrate, Rechtecke, Ringe, Dreicecke, Sterne, Rhomben, Vielecke usw. Im Umschlag befinden sich die ausgeschnittenen Figuren. Sie passen genau auf die Vorlagen. Jedes Kind sucht sich seine Vorlage und legt die Figur darauf. Anstelle geometrischer Figuren können auch figürliche Darstellungen gewählt werden: Autos, Häuser, Menschen, Tiere, Spielzeug.

Strichmännchen nachahmen:

Auf einem Tisch liegen Karten mit Strichmännchenabbildungen. Diese zeigen unterschiedliche Körperhaltungen. Ein Kind sieht auf eine Karte und ahmt die Körperhaltung des Strichmännchens nach. Alle anderen Kinder machen es ihm nach. Dann holt das nächste Kind eine Karte, auf der eine andere Körperhaltung dargestellt ist.

Faltübungen:

Ein Blatt Papier wird in verschiedener Weise gefaltet. Zunächst wird das genaue Falten gelernt. Den Kindern wird gesagt und gezeigt, wie zu falten ist. Es entstehen Briefumschläge, Schiffe, Flugzeuge, Türen, Helme usw.

Einzelheiten finden:

Es werden Bilder mit vielen Einzelheiten betrachtet. Dabei wird gefragt: „Wo ist das Auto?“; „Was siehst du vor dem Auto?“; „Was siehst du hinter dem Auto?“; „Was siehst du rechts neben dem Auto?“. Es möglichst viel Raum-Lage- Bezeichnungen benutzt und nachgesprochen werden, z.B. „Vor dem Auto steht ein Hund.“ usw.

Werkzeuge erraten:

Das Kind hat die Augen geschlossen. Es werden ihm Gegenstände in die Hände gegeben: hammer, Zange, Feile, Schraubendreher. Die Gegenstände sind zu erraten. Das gleiche Spiel ist möglich, wenn sich die Gegenstände unter einer Decke befinden und vom Kind zu betasten sind, ohne daß sie gesehen werden. Es können auch andere Objekte ertastet werden.

b) phonematisch-akustischer Bereich:

Geräusche sind mit geschlossenen Augen zu erraten:

Alltagsgeräusche sind zu unterscheiden und ihre Quellen zu nennen: Klappern mit dem Schlüsselbund, Tür aufschließen, Licht anknipsen, Schnarchen, Uhrenticken, gurgeln usw.

Geräusche zuordnen:

Geräusche sind dabei zu unterscheiden, ohne daß die betreffenden Gegenstände gesehen werden. Mit gleichen und verschiedenen Gegenständen werden akustisch ähnliche Geräusche erzeugt: Packpapier und Seidenpapier knüllen, beide Papierarten zerreißen; Stoff zerreißen; Büchsen mit verschiedenem Inhalt schütteln usw.

Wo piepst es?

Die Kinder stehen mit geschlossenen Augen in der Mitte des Raumes. Im Raum bewegt sich ein Kind und sagt leise „piep“. Es ist zu raten, woher das Piepsen kam. es kann auch ein tickender Wecker sein, der an verschiedenen Orten versteckt wird.

Rätselraten:

Es wird mit einem Wort begonnen, die Kinder achten auf den letzten Laut. Er ist der Anfangslaut des nächsten Wortes. Von diesem ist wiederum der letzte Laut der Beginn des nächsten Wortes. Jedes Kind versucht sich dabei. z.B.: Ball - Lampenschirm - Mutti - Igel - ...

M und N unterscheiden:

Es werden Wörter gesucht, die entweder mit „N“ oder „M“ beginnen. Die Wörter können nur gefunden werden, wenn das Rätsel gelöst wird: „Man kann damit nähen?“ (Nadel); „Es ist ein kleines graues Tier und piepst?“ (Maus); „Sie ist weiß und wir trinken sie zum Frühstück?“ (Milch) - Es können auch andere phonemähnliche Laute gewählt werden.

c) kinästhetischer Bereich

Nachsprechen und raten:

„Der Gärtner muß die Blumen gießen, der Jäger muß den Hasen...“ (schießen) „Der Bauer muß die Samen säen, der Schneider muß die Hose...“ (nähen) „Die Köchin muß das Essen kochen, der Schaffner muß den Fahrschein...“ (lochen)

Schwierige Wörter:

Wörter mit gehäuften Konsonantenverbindungen werden nachgesprochen, so z.B.: Doppelstockbett, Reißverschluß, Zwetschgenzweige, Blumentopferde, Knochenknacher, Verkehrspolizist, uvm.

d) rhythmischer Bereich

Papierketten:

Die Kinder kleben verscheidenfarbige Papeirstreifen (Länge ca. 15cm, Breite ca. 1cm, Klebefläche ca. 2cm) zu einem Ring. Die Reihenfolge der Farbe wird vorgegeben, wird variiert, die Muster verändert, eventuell auch die Größe der Ringe. Danach mit den Ringen eine Kette kleben und das Zimmer ausgestalten (z.B.: Fasching)

Lieder erraten:

Bekannte Kinderlieder werden gesungen bzw. vorgesummt. Dazu wird der Rhythmus geklatscht. Danach werden die Lieder nur im „Kopf“ gesungen und dazu laut geklatscht. Die vorgeklatschten Lieder sind zu erraten.

Bewegungen erfinden:

Die Kinder bewegen sich vorwärts: wie eine schleichende Katze, wie ein hoppelnder Hase, wie ein stolzierender Pfau, wie eine Schlange, wie ein fliegender Vogel , wie eine Raupe, wie ein marschierender Soldat, wie eine tanzende Fee, wie ein alter Opa usw.

e) melodischer Bereich

Lieder summen:

Wenn die Kinder über eine bestimmten Sammlung von Lieder verfügen, werden sie aufgefordert, Lieder zu summen. Das kann auf m, s, n, l geschehen.

Stimmungen ausdrücken:

Der Lehrer spricht einen Satz und läßt ihn in der gleichen Intonation von den Kindern wiedergeben. Die Intonation kann traurig, fröhlich, schnell, hastig, langsam, bittend, wütend, tief, hoch, fragend oder vornehm sein. z.B.: „Bring mir das Buch her!“

„Geh auf den Platz zurück!“ „Da kommt ein großer Bus!“

4. Allgemeine Hinweise, die bei Kindern einer LRS-Klasse in der weiterführenden Arbeit ab Klasse 4 zu beachten sind

Fast alle Kinder sind sehr bewegungsaktiv, die Belastbarkeit ist nicht sehr hoch, Konzentrationsprobleme und teilweise Hyperaktivität sind noch vorhanden.

Die Förderung im Lese- Rechtschreibebreich darf keinesfalls als abgeschlossen angesehen werden.

(Es kann davon asugegangen werden, daß durch Förderung bis Klasse 6 Schwierigkeiten im Wesentlichen behoben sind - im Wesentlichen heißt, daß sie bei einigen Kindern auch weiter vorhanden sind.)

Mit großer Wahrscheinlichkeit haben alle Kinder das Lesen gelernt.

(Niveaustufen beachten: meistens ist das satzweise Lesen erreicht, asudrucksvolles Lesen gelingt nur wenigen Kindern, sinnerfassendes Lesen wird von den meisten beherrscht.)

Hinweis: Kinder anfangs im neuen Klassenverband nur laut lesen lassen, wenn sie dazu bereit sind, eine kurze Leseübung muß vorausgegangen sein. Beim erschließenden Lesen brauchen die Kinder etwas mehr Zeit.

Rechtschreibübungen sind bei der Vorbereitung von Diktaten zu intensivieren, da LRS-Kinder einen höheren Übungsbedarf bei der Einprägung des Grundwortschatzes haben.

Das Schreibtempo ist teilweise noch etwas langsam.

Erste Diktate sollen eventuell bei schlechtem Erfolg nochmals allein nachgeschrieben und dabei das individuelle Schreibtempo beachtet werden. Die Kinder sollen zur ständigen Eigenkontrolle angehalten werden. Bei schwierigen Wörtern soll noch immer lautlich durchgegliedert werden. Bei neueinzuführenden Wörtern, die nicht lautgetreu geschrieben werden, soll auf schwierige Buchstabenverbindungen (mehrere Konsonanten), auf Dehnung oder Verdopplung hingewiesen werden.

Die LRS-Kinder haben durch die Arbeit in Kleingruppen eine starke Bindung an den Klassenlehrer, was am Anfang in Klasse 4 noch beachtet werden sollte.

5. Quellenverzeichnis

Breuer, Helmut: Lernschwierigkeiten am Schulanfang: Schuleingangsdiagnostik zur Früherkennung und Frühförderung / Helmut Breuer; Maria Weuffen. - Weinheim; Basel: Beltz, 1993

Weigt, Ralph: Lesen- und Schreibenlernen kann jeder!?: methodische Hilfen bei Lese-Rechtschreib-Schwäche / Ralph Weigt. - Neuwied; Kriftel; Berlin: Luchterhand, 1994

Angermaier, Michael: Legasthenie - Verursachungsmomente einer Lernstörung / Michael Angermaier. - Weinheim; Basel: Beltz, 1973

Becker, Ruth: Die Lese-Rechtschreib-Schwäche aus logopädischer Sicht / Ruth Becker. - Berlin: Volk und Gesundheit, 1985

Terlouw, Moniek: Lagasthenie und ihre Behandlung / Moniek Terlouw. - Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, 1997

Wimmer, Heinz und Landerl, Karin: Lese-Rechtschreib-Schwächen in: Rost, Detlef

H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie / Detlef H. Rost (Hrsg.). - Weinheim: PsychologieVerlagsUnion, 1998

Valentin, Renate: Zur Entstehung von Lern-Behinderungen durch falsche Lehr/Lernkonzepte beim Schriftspracherwerb in: Eberwein, Hans (Hrsg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen: Aneignungsprobleme - Neues Verständnis von Lernen - Integrationspädagogische Lösungsansätze / Hans Eberwein (Hrsg.). - Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1996

Tücke, Manfred: Psychologie in der Schule - Psychologie für die Schule: Eine themenzentrierte Einführung in die Pädagogische Psychologie für (zukünftige) Lehrer / Manfred Tücke. 2., durchges. Auflage. - Münster: LIT, 1998

Verwaltungsvorschrift zur Förderung von Schülern im Lesen und Rechtschreiben in LRS-Klassen an Grundschulen im Freistaat Sachsen

Informationen des Legasthenieverbandes in Österreich im Internet

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Legasthenie - Erscheinungsbilder und Symptome / Diagnostik und Förderung
Université
University of Leipzig
Auteur
Année
1998
Pages
21
N° de catalogue
V95821
ISBN (ebook)
9783638084994
Taille d'un fichier
430 KB
Langue
allemand
Mots clés
Legasthenie, Erscheinungsbilder, Symptome, Diagnostik, Förderung
Citation du texte
Tobias Schmidt (Auteur), 1998, Legasthenie - Erscheinungsbilder und Symptome / Diagnostik und Förderung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95821

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