Goethes Dramenfigur Iphigenie als Sinnbild des klassischen Humanitätsideals in „Iphigenie auf Tauris“


Hausarbeit, 2020

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Iphigenies Weg in die Autonomie

3 Die Verwirklichung der Humanität

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Goethes Drama Iphigenie auf Tauris beginnt mit den Worten: „Heraus1 [...] Tret‘ ich“ (IT I/1, 161), die von der Protagonistin Iphigenie geäußert werden. Auffällig ist hierbei sowohl der syntaktische als auch der inhaltliche Aufbau der Aussage, da Handlung, Prädikat und Subjekt zuletzt genannt werden.2 Bereits an dieser Stelle wird die Prozesshaftigkeit des Dramas in seiner äußeren Form veranschaulicht, wodurch auch die bevorstehende persönliche Entwicklung Iphigenies antizipiert wird. Vor dem „Heraustreten aus der Unmündigkeit“3 ist das Finden des eigenen Selbst unerlässlich und bildet die Grundlage, um autonom und im Interesse der Humanität handeln zu können. Die Entwicklung einer zivilisierten und humanen Gesellschaft mithilfe von Kunst und Literatur galt als ein zentraler Aspekt während der Zeit der Weimarer Klassik. Jedoch besteht die Idee von der Menschlichkeit des Menschen per se schon seit der Antike als konstitutives Element der Zivilisation und Kultur.4 Becker verweist in diesem Zusammenhang auf die Semantik des lateinischen Adjektivs ‚humanus‘, welches mit ‚zerbrechlich‘ übersetzt werden kann.5 So bezeichnet die dem Menschen zugrunde liegende ‚humanitas‘ „seine eigene, subjektive Gebrechlichkeit [...] [sowie] seine objektive Menschlichkeit, nämlich die Hinwendung zum Bedürftigen“6. Zudem umfasst das klassische Humanitätsideal die Wichtigkeit des Verstandes, des Gefühls, der Sittlichkeit und grundsätzlich das Streben nach Einheit und Harmonie. Demnach spiegelt Goethes Drama die Werte der Weimarer Klassik und insbesondere das Humanitätsideal von „edler Einfalt und stiller Größe“7 wider.

Des Weiteren ist die Überarbeitung der Iphigenie zu einem klassischen Drama und ihr Status als Zeugnis des Übergangs zu betonen. Im Zuge des tektonischen Aufbaus wird die Wahrung von Raum und Zeit realisiert. Die Verwendung des Blankverses und der bewusst stilisierten Kunstsprache im hypotaktischen Sprachstil – in der Endfassung aus dem Jahre 1787 – führt zu der Distanzierung von der Prosa des Alltags und erschafft somit die Konformität von äußerer Form und Inhalt. Hervorzuheben ist dabei, dass das Versmaß das Ideal der klassisch-harmonischen Sprache repräsentiert, wodurch die Autonomie des dichterischen Kunstwerkes im Sinne der Autonomieästhetik verdeutlicht wird.8

In dieser wissenschaftlichen Hausarbeit soll im Folgenden die Darstellung der Protagonistin Iphigenie unter dem Aspekt des Humanitätsideals der Weimarer Klassik analysiert werden. Insbesondere die individuelle Entwicklung Iphigenies und ihre gesellschaftliche Funktion im Hinblick auf die Humanität stehen im Zentrum der Analyse. Hierzu wird zunächst Iphigenies Weg in die Autonomie thematisiert, welche die Grundlage für ein menschliches und selbstverantwortliches Handeln bildet. Im Zuge dessen wird Iphigenies Relation zum traditionellen Frauenbild und darüber hinaus ihr subjektives Verhältnis zu den Göttern erörtert. Darauf folgt die Untersuchung der konkreten Praxis ihres humanen Verhaltens. Dies umfasst die Verwirklichung der Humanität im Allgemeinen, Iphigenies Rolle bei der Heilung Orests sowie ihren abschließenden Entschluss zur Wahrheit. Konkret lautet die These, dass die Figur der Iphigenie durch die Herausbildung ihrer Autonomie in ihrer bereits innewohnenden Humanität gestärkt wird und diese Tugend im Prozess des Dramas aktiv vertritt und nach außen trägt. Ziel der Arbeit ist daher, Iphigenies Funktion als Sinnbild des klassischen Humanitätsideals herauszustellen.

2 Iphigenies Weg in die Autonomie

Im Zuge der Analyse der Entwicklung Iphigenies zu einem autonomen Individuum, das Humanität repräsentiert, sei zunächst eine Definition des Autonomiebegriffs gegeben. Dies erfolgt auf Grundlage der Philosophie Immanuel Kants, dessen Ideen das Denken in der Zeit der Aufklärung prägten und später unter anderem das Werk Friedrich Schillers beeinflussten. So bezeichnet Kant die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“9. Im Hinblick auf Iphigenies Entwicklung stellt dieser Umstand einen zentralen Aspekt dar, da sie zu Beginn des Dramas den Verlust ihrer Selbstbestimmung und des selbstbewussten Lebens erleidet. Autonomie im Konkreten beschreibt Kant als eine „durch das Prinzip der Moralität kategorische Freiheit“10. Demnach soll zum einen der individuelle Wille zugleich Wille der Allgemeinheit sein, zum anderen sei dieses Prinzip auch auf den Aspekt der Freiheit zu übertragen.11 Laut Borchmeyer beruft sich Iphigenie bei ihren Entscheidungen und ihrem Verhalten auf ihr Herz, welches jedoch ein „aufgeklärtes Sentiment“12 darstellt. So macht sie den freien menschlichen Willen als einzige Richtschnur des Guten geltend und verpflichtet sich der Autonomie des Willens im Sinne Kants.

Bereits im Eingangsmonolog erfolgt die Markierung von Raum und Zeit im Exil und infolgedessen die Herausstellung des Fremdheitsgefühls sowie der inneren Unzufriedenheit und des Widerstandes (vgl. IT I/1, 161). Die Bezeichnung des Lebens auf Tauris als „zweiten Tod[]“ (IT I/1, 162) verdeutlicht Iphigenies ausgeprägte Abneigung gegenüber ihrer Situation. Zudem sehnt sie sich nach Heimkehr, „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ (IT I/1, 161) und erkennt den Verlust ihrer Selbstbestimmung (vgl. IT I/1, 162). Trotz ihrer Rolle als Priesterin und Funktion als Initiatorin des kulturellen Fortschritts im Exil, welcher das Beenden der Menschenopferung und die Humanisierung des Königs Thoas umfasst, hält Iphigenies Widerwille an (vgl. IT I/1, 161). Laut Rasch ist dies auf den Aspekt des Zwangs zurückzuführen, da Iphigenie die Taten nicht aus freiem Willen vollbringt.13 In diesem Zusammenhang wird ihr Anspruch auf ein selbstbestimmtes und unabhängiges Dasein nochmals untermauert. Ebenfalls zu Beginn erfolgt die Abwertung des lebensrettenden Eingriffs durch die Göttin Diana als „feindlich Schicksal“ (IT I/1, 162), welches Iphigenies oberflächliche Fügung an die Umstände demonstriert. Gleichzeitig befindet sie sich in einem Zwiespalt zwischen der Dankbarkeit für die Rettung vor dem Tod und der Verbannung nach Tauris.14 So beharrt Iphigenie entschlossen auf ihrem menschlichen Anrecht auf Freiheit, welches die Größe ihrer Person veranschaulicht.15 Folgt man Wember, so ist die Spannung zwischen Freiheit und Fremdbestimmung sowohl im Verhältnis zum Göttlichen als auch im zwischenmenschlichen Bereich sichtbar.16 Die Widmung Iphigenies Lebens „zu[m] freie[n] Dienste“ (IT I/1, 162) Dianas bildet ein Oxymoron und auch das Verhältnis Iphigenies zu Thoas ist von solcher Gegensätzlichkeit geprägt, wenn sie von einer Pflicht spricht, die man gerne tut (vgl. IT I/3, 167). Im Rahmen der Verwendung solcher sprachlichen Mittel wird der innere Konflikt Iphigenies verdeutlicht. Aus Sicht von Dörr stehen sich in der Protagonistin „Pflicht und Neigung, Sittlichkeit und Sinnlichkeit gegenüber“17. Demnach ist festzuhalten, dass die natürliche Selbstbestimmung Iphigenies zunächst von äußeren Einflüssen und Umständen gefährdet und verhindert wird. In diesem Zusammenhang geht Becker davon aus, dass die Entfremdung von der Heimat im Eingangsmonolog als Metapher für die Entfremdung von sich selbst und die noch vorhandene Abhängigkeit von weltlichen und religiösen Autoritäten betrachtet werden kann.18 Ausgehend davon soll nun Iphigenies Weg zurück in die Autonomie und in die Rolle als Repräsentantin der Humanität dargelegt werden.

2.1 Iphigenies Verhältnis zum traditionellen Frauenbild

Bei der Betrachtung der Figurenkonstellation des Dramas fällt die symmetrische Anordnung der Griechen – Orest und Pylades – sowie der Skythen – Thoas und Arkas – um Iphigenie auf.19 Infolgedessen wird der Fokus auf Iphigenie und die Konzeption ihrer Frauenrolle gelegt. Entgegen der traditionellen Rolle einer Frau, welche ein Leben im Schatten des Mannes vorsieht, erhält Iphigenie ihre Selbstbestimmung in dieser Hinsicht aufrecht. Diese Abweichung von der traditionellen Auffassung des Frauenbildes lässt Iphigenie als Außenseiterin erscheinen.20 Bereits in dem in das Drama einführenden Monolog findet sich die Exclamatio „Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!“ (IT I/1, 162), wodurch Iphigenies Abneigung und emotionaler Erregung Ausdruck verliehen wird. Zudem problematisiert sie die Funktion der Ehe als bloßen Trost im Leben einer Frau, deren Existenz ohne einen Mann somit nichtig sei (vgl. IT I/1, 162). Rasch zufolge dient die Klage über das Frauenschicksal als Erhellung von Iphigenies individuellem Wesen, sodass ihr Wunsch nach Autonomie aller Frauen als Grundlage für ein würdiges und sinnvolles Dasein verstärkt wird.21 Wember beschreibt, dass „die begrifflichen Zuordnungen zu Beginn [...] die Rolle der Frau als fremdbestimmt, die des Mannes als autonom“22 ausweisen. Iphigenies „Protest gegen die festgelegte weibliche Daseinsform“23 wird das gesamte Drama über aufrechterhalten, welches ihre Entschlossenheit bezüglich der Bewahrung der eigenen Person und die Ausbildung ihrer Autonomie kennzeichnet.

Mit der Ablehnung des Heiratsantrags von Thoas behält sie sich die Möglichkeit autonomer Selbstbestimmung ein und infolgedessen auch die Option, künftig in ihre Heimat zurückkehren zu können (vgl. IT I/3, 173). Bereits im Eingangsmonolog wird deutlich, dass Iphigenie ihr Verbleiben auf Tauris mehr als Freiheitsberaubung durch Thoas (vgl. IT I/1, 162) anstelle eines Dienstes für die Göttin Diana begreift.24 Darüber hinaus erhält sie ihre Jungfräulichkeit, den Schutzwall ihrer Selbstbestimmung, aufrecht.25 Borchmeyer betitelt diese Art der Weiblichkeit als „selbstbewußte Virginität“26, welche sowohl Iphigenies Verhältnis zu den Menschen als auch zu den Göttern prägt. In Anlehnung an Borchmeyer lässt sich an dieser Stelle behaupten, dass Iphigenie ihre Weiblichkeit nur in Form von Schwesterlichkeit nach außen trägt.27 Dieser Umstand hängt mit der einhergehenden Unterdrückung der Frau im Zuge ihrer gelebten Sexualität zusammen. Die Konsequenz ihrer Weigerung hinsichtlich der Ehe mit König Thoas ist der zivilisatorische Rückfall der skythischen Gesellschaft, da dieser das hierarchische Verhältnis zwischen sich und Iphigenie als Priesterin sowie die Menschenopferungen wieder einführt (vgl. IT I/3, 174). Thoas unterschätzt Iphigenies empfindsame Vernunfthaltung28 und wertet ihre Reaktion als gefühlsgeleitete, weibliche Laune ab (vgl. IT I/3, 173). Mit seiner Aussage „Es spricht dein eignes Herz“ (IT I/3, 174) wertet er zudem das Bild des Herzens als „Emblem des Reinen, Wahren und [...] Bild für das Wahrnehmungsorgan des Göttlichen“29 ab und wirft Iphigenie somit eine verfälschte Auffassung der Realität vor.30 Auch der Versuch Arkas‘, Iphigenie zu dem Dienst der weitergehenden Humanisierung der taurischen Gesellschaft zu überreden, scheitert. Trotz seiner Bemühungen, ihr die positiven Auswirkungen ihrer Gegenwart auf Tauris aufzuzeigen, bleibt Iphigenie standhaft und sich ihres eigenen Selbst bewusst. Paradoxerweise müsste sie sich für die kontinuierliche Humanisierung der taurischen Gesellschaft opfern31 und entgegen ihrem Willen an diesem Ort verweilen.

Im dritten Auftritt des fünften Aufzuges wird Iphigenies erlangte Autonomie anschaulich dargestellt. Insbesondere im Umgang mit Thoas wird ihre Emanzipation, welche den „Übergang aus einem Zustand der Abhängigkeit in einen der Mündigkeit“32 beschreibt, deutlich. So äußert sie ihre Abneigung, einem Mann Gehorsam zu leisten und sich bevormunden zu lassen (vgl. IT V/3, 211). Des Weiteren fürchtet sie sich nicht vor dem König, sondern tritt selbstbewusst und stolz auf (vgl. IT V/3, 212). Ein klares Anzeichen für Iphigenies Emanzipation ist die Aussage „Ich bin so frei geboren als ein Mann“ (IT V/3, 212), wodurch sie ihren Anspruch auf Freiheit und die Gleichberechtigung der Geschlechter nochmals untermauert. Folgend hebt sie die signifikante Sprachfähigkeit der Frauen als ihre Stärke hervor, welche den Waffen der Männer entgegenstehe (vgl. IT V/3, 212). Zudem nimmt sich Iphigenie „die männlichen Heldentaten zum Vorbild und [...] [möchte] im Wetteifer mit den Männern eine ruhmeswürdige Tat vollbringen“33.

2.2 Iphigenies Verhältnis zu den Göttern

Betrachtet man Iphigenies subjektive Haltung hinsichtlich der Götter, so stellt man fest, dass sich diese im Verlauf des Dramas verändert. Zu Beginn ist ihre Sicht auf die Götter von Dankbarkeit und Pflichtbewusstsein geprägt. Wie bereits in Kapitel 2 thematisiert, herrscht eine Spannung zwischen Iphigenies Abhängigkeit von den Göttern und ihrer persönlichen Freiheit sowie dem Wunsch nach Autonomie. Trotz dessen spürt sie eine „tiefe Verbundenheit [...] [zu] der jungfräulichen Göttin Diana“34, da diese ihre Weiblichkeit ebenfalls vor allem in Form der Schwesterlichkeit praktiziert.35 Bis zu der Enthüllung der realen Verhältnisse durch Orest, befindet sich Iphigenie in dem Glauben, dass die Familiensituation in der Heimat in Ordnung sei (vgl. IT I/1, 162). Somit wird in diesem Zusammenhang ihr Glaube an die glückliche Bewahrung der Familie durch die Götter entlarvt. Zuvor instrumentalisierte Iphigenie die Götter zur Rechtfertigung ihres Weltbildes und ihrer Entscheidungen, wodurch sie sich selbst als Person entwürdigte und sich der Verantwortung entzogen hat. So nutzt Iphigenie die Autorität der Götter unter anderem dazu, um von Thoas fernzubleiben (vgl. IT I/3, 173) und die Zugehörigkeit zu ihnen, um sich selbst vor diesem Bündnis zu bewahren (vgl. IT I/3, 174).

Im ersten Aufzug scheinen die Götter aus Iphigenies Sicht auf einer Ebene mit den Menschen zu stehen. Ihrer Auffassung nach sprächen die Götter durch sie, unterstützten sie und würden somit eine humane Haltung aufweisen (vgl. IT I/3, 174). Während des Dialogs mit König Thoas widerspricht sie diesem hinsichtlich seiner subjektiven Auffassung der Götter (vgl. IT I/3, 175). Dabei wirft Iphigenie ihm vor, den Willen der Götter falsch zu deuten und seine Absichten bloß mithilfe ihrer Autorität rechtfertigen zu wollen (vgl. IT I/3, 175). Somit nutzen sowohl Iphigenie als auch Thoas die Macht der Götter als Berechtigung für das eigene Handeln.

Im vierten Auftritt des ersten Aufzuges findet sich ein Monolog Iphigenies, in welchem sie zu der Göttin Diana betet. Betrachtet man dieses Gebet, so fällt auf, dass Iphigenie verzweifelt ist und die Göttin basierend auf Argumenten bittet, sie vor der anstehenden Menschenopferung zu bewahren (vgl. IT I/4, 175). Im Zuge des Monologs betitelt Iphigenie sie als „gnädige Retterin“ (IT I/4, 175), welche weise und allwissend (vgl. IT I/4, 175) sei. Darüber hinaus biete Diana Schutz und stehe den Unschuldigen bei (vgl. IT I/4, 175). Folglich entsteht ein positives und warmherziges Bild von der Göttin, deren Wirken scheinbar nur Gutes bringt. Die Stimmung erscheint ruhig und bedächtig, welches Iphigenies Ehrfurcht Diana gegenüber widerspiegelt. Analysiert man nun im Kontrast dazu den Monolog im fünften Auftritt des vierten Aufzuges, ist eine klare Veränderung in Iphigenies Relation zu der Göttin Diana und den Göttern im Allgemeinen erkennbar. An dieser Stelle erfolgt eine Abkehr von der regelmäßigen, jambischen Versform, welches den inneren Konflikt und die emotionale Erregung Iphigenies veranschaulicht. Hinsichtlich dessen ist die zunächst verzweifelte und von Schuldgefühlen geplagte Stimmung Iphigenies hervorzuheben. Im Rahmen des bevorstehenden Betrugs an König Thoas und der geplanten Flucht mitsamt der Statue erkennt Iphigenie den Zusammenhang mit dem Tantalidenfluch (vgl. IT IV/5, 207). Die Aussage „kaum naht ein lang‘ erflehtes Schiff / Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten“ (IT IV/5, 207) stellt eine Metapher für ihre nun verlorene Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren, dar. Des Weiteren prägen zahlreiche rhetorische Fragen diesen Auftritt, wodurch die psychische Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer Situation verdeutlicht wird (vgl. IT IV/5, 207). Im Zuge dessen entstehen Zweifel am gerechten und sittlichen Handeln der Götter, da Iphigenie den Betrug nicht als göttlich gewollt ansehen und akzeptieren kann (vgl. IT IV/5, 207). Im Folgenden fordert sie „[...] rettet euer Bild in meiner Seele!“ (IT IV/5, 207), bei welchem es sich, laut Borchmeyer, um ein „nach dem Vorbild der Humanität entworfene[s] Gottesbild“36 handelt. Anhand der genannten Invocatio lässt sich Iphigenies autonome Haltung hervorheben, welche im anschließenden Parzenlied anschaulich dargelegt wird. In Anlehnung an Becker ist der sich entwickelnde Hass auf die Götter und ihre Willkürherrschaft Auslöser für die endgültige Emanzipation.37 Den Aufbau des vorliegenden Auftrittes betrachtend, fällt die Unterbrechung der Handlung durch das Lied der Parzen in lyrischer Form auf. So verbildlicht diese Intermedialität und der Bruch mit dem bislang regelmäßigen Aufbau des Dramas Iphigenies Widerstand gegen das passive Eingebundensein im mythischen Schicksal sowie ihre Abneigung gegen den Umstand des entmündigten Menschen als Opfer der göttlichen Willkür. Konkret werden die Götter als furchterregende Mächte beschrieben, welche sich weder an Moral noch an Recht orientieren und im Zuge ihrer Herrschaft ganze Geschlechter grausam behandeln (vgl. IT IV/5, 208). Rasch thematisiert die von Iphigenie hinzugefügte letzte Strophe, in der sie mit den Worten „Und schüttelt das Haupt“ (IT IV/5, 209) von dem verbannten Tantalus spricht.38 Das Schütteln des Hauptes bildet eine signifikante Gebärde der Verneinung und der unwilligen Ablehnung der Umstände.39 Somit emanzipiert sich Iphigenie im Parzenlied schließlich von den Göttern und „beweist damit, daß der Mensch sich dem Erbfluch, dem Zwang zum Bösen [aus eigener Kraft] entziehen kann, [...] wenn er [...] den Böses verlangenden Göttern widersteht [...]“40. Auch Greif betont im Hinblick darauf die Wirkung des Parzenliedes. So hebe das Nachsingen des Orakels „dessen Schrecken auf und übereignet ihn endgültig einer ‚naiven‘ Vergangenheit“41. Zudem enthalte die hinzugefügte Strophe „die ästhetische Antwort auf das vermeintliche Vorherrbestimmtsein“42. So wird deutlich, dass Iphigenies Heraustreten aus der Unmündigkeit und folgend die Ausbildung ihrer Autonomie an dieser Stelle einen Höhepunkt erreichen und als Grundlage für die Verwirklichung der Humanität fungieren.

[...]


1 Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Xenien. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Helmut G. Göpfert u.a. Bd. 3.1.: Italien und Weimar 1786-1790. Hrsg. von Norbert Miller und Karl Richter. München: Hanser 1990, S. 161. Im Folgenden zitiert mit der vorangestellten Sigle ‚IT‘ und Seitenzahl in Klammern direkt im Fließtext.

2 Vgl. Karina Becker: Autonomie und Humanität: Grenzen der Aufklärung in Goethes "Iphigenie", Kleists "Penthesilea" und Grillparzers "Medea". Frankfurt a. M.; Berlin; Bern: Lang 2008 (= Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 44), S. 38.

3 Ebd.

4 Vgl. ebd. S. 17.

5 Vgl. ebd.

6 Ebd.

7 Benedikt Jeßing/ Bernd Lutz/ Inge Wild (Hrsg.): Metzler-Goethe-Lexikon: Personen - Sachen - Begriffe. 2., verb. Aufl. Stuttgart; Weimar: Metzler 2004, S. 221.

8 Vgl. Dieter Burdorf/ Christoph Fasbender/ Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart; Weimar: Metzler 2007, S. 60.

9 Ebd. S. 52.

10 Becker: Autonomie und Humanität, S. 15.

11 Vgl. ebd.

12 Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche. Weinheim: Beltz, Athenäum 1994, S. 151.

13 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie. München: Beck 1979, S. 98.

14 Vgl. ebd S. 92.

15 Vgl. ebd. S. 94.

16 Vgl. Valentin Wember: Schönheit und Erkenntnis, zum Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik in Goethes "Iphigenie auf Tauris". Diss. masch. Hamburg 1987, S. 53.

17 Volker C. Dörr: Weimarer Klassik. Paderborn: Fink 2007, S. 122.

18 Vgl. Becker: Autonomie und Humanität, S. 38.

19 Vgl. Jeßing/ Lutz/ Wild (Hrsg.): Metzler-Goethe-Lexikon, S. 222.

20 Vgl. Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris", S. 93.

21 Vgl. ebd.

22 Wember: Schönheit und Erkenntnis, S. 54.

23 Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris", S. 93.

24 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 123.

25 Vgl. Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 149.

26 Ebd.

27 Vgl. ebd.

28 Vgl. ebd.

29 Wember: Schönheit und Erkenntnis, S. 62.

30 Vgl. ebd.

31 Vgl. Dörr: Weimarer Klassik, S. 123.

32 Burdorf/ Fasbender/ Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur, S. 185.

33 Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris", S. 163.

34 Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 149.

35 Vgl. ebd.

36 Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 153.

37 Vgl. Becker: Autonomie und Humanität, S. 41.

38 Vgl. Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris", S. 182.

39 Vgl. ebd.

40 Ebd. S. 183.

41 Stefan Greif: Arbeitsbuch Deutsche Klassik. Paderborn: Fink 2008, S. 127.

42 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Goethes Dramenfigur Iphigenie als Sinnbild des klassischen Humanitätsideals in „Iphigenie auf Tauris“
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V958235
ISBN (eBook)
9783346299291
ISBN (Buch)
9783346299307
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Klassik, Goethe, Iphigenie auf Tauris, Drama, Humanität, Humanitätsideal, Weimarer Klassik, Thoas, Orest, Heilung, Wahrheit, Erkenntnis, Autonomie
Arbeit zitieren
Stefanie Breitenbicher (Autor:in), 2020, Goethes Dramenfigur Iphigenie als Sinnbild des klassischen Humanitätsideals in „Iphigenie auf Tauris“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958235

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