Beschwerdeverhalten von Konsumenten gegenüber Familienunternehmen im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen

Eine Vignettenstudie


Masterarbeit, 2019

108 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Formelverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Familienunternehmen
2.2 Family-Business-Brand
2.2.1 Identity View
2.2.2 Image View
2.2.3 Reputation View
2.3 Beschwerdeverhalten von Konsumenten
2.3.1 Kognitive Prozesse im CCB
2.3.2 Maßnahmen des CCB

3 Herleitung der Forschungsfrage und Hypothesen

4 Empirische Untersuchung
4.1 Textvignetten
4.1.1 Unternehmensbeschreibung
4.1.2 Aufbau und Textdarstellung
4.1.3 Servicesituation
4.2 F ragebogen
4.3 Vorstudie
4.4 Verbreitung
4.5.1 Bereinigung und deskriptive Statistik
4.5.2 Hypothesentests und Ergebnisse

5 Diskussion

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Abbildung 1: Dimensionen der FBB und zentrale Literatur

Abbildung 2: Die Blickwinkel der FBB

Abbildung 3: Studiendesign als Reiz-Reaktions-Modell

Abbildung 4: Darstellung der Servicesituation im Baumarkt WACKER

Abbildung 5: SoSci-Survey Teilnahmen im Zeitverlauf

Abbildung 6: Verhältnisse des Alters und Geschlechts der Stichprobe

Abbildung 7: Berufsgruppen im Vergleich

Abbildung 8: Beschwerdehistorie der Probanden

Abbildung 9: Einflüsse der FBB im optimierten Studiendesign

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Attribute der beiden fiktiven Unternehmen

Tabelle 2: Übersicht der Konstruktvalidität des Pretests

Tabelle 3: Vorläufige Ergebnisse des Pretests

Tabelle 4: Konstruktvalidität der Hauptstudie

Tabelle 5: Ergebnisse der Manipulationsprüfung

Tabelle 6: Statistiken und Testergebnisse zum Konstrukt Kosten

Tabelle 7: Statistiken und Testergebnisse zum Konstrukt Response-Efficacy

Tabelle 8: Ergebnisse der Faktorenanalyse der Beschwerdemaßnahmen

Tabelle 9: Ergebnisse ausgewählter Items der Beschwerdemaßnahmen

Tabelle 10: ANOVA zu verschiedenen abhängigen Variablen der Beschwerdemaßnahmen

Formelverzeichnis

Formel 1: Regressionsgleichungen (MLR) Block 1 und Block 2

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Familienunternehmen (FU) existieren in nahezu allen Märkten und Kulturen. Sie machen welt­weit etwa zwei Drittel aller Unternehmen aus.1 Dazu zählt die kleine familiengeführte Bäckerei von nebenan wie auch der große internationale Automobilkonzern. Die tatsächliche Wirt­schaftskraft von FU kann nur näherungsweise geschätzt werden, da es unterschiedliche Klassi­fikationen von FU gibt. Unter dem Strich ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeu­tung von FU jedoch unumstritten. Aus dem Grund prägen FU seit Jahrzehnten ein eigenes For­schungsfeld (vgl. Steiger et al. 2015, S. 2 f.).

In einer dynamischen Welt voller Veränderung, Fortschritt und Innovation stechen Werte wie Beständigkeit, Vertrauen und Tradition positiv hervor. FU bedienen ebendiese Merkmale und differenzieren sich dadurch von Nicht-Familienunternehmen (Nicht-FU) am Markt. Konsu- menten2 assoziieren mit FU positive Attribute wie Nachhaltigkeit, hohes Vertrauen und emoti­onale Nähe, welches ihnen als Kunde ein gutes Gefühl gibt (vgl. Carrigan & Buckley 2008, S. 661). Konsumenten nehmen FU deshalb als eigenständige Marke bzw. als ein Markenelement wahr (vgl. Krappe et al. 2011, S. 44). Die Assoziationen können jedoch nur wahrgenommen werden, wenn das FU seine Markenattribute nach außen kommuniziert. Große Unternehmen wie Sixt3 und einer Studie zufolge etwa 40 Prozent der FU verzichten jedoch darauf ihre Marke „FU“ in strategischen Marketingaktivitäten über die Unternehmenshomepage hinaus einzube­ziehen (vgl. Botero et al. 2013, S. 19). Wie kommt es also zu einem derartigen Verhalten? Das interdisziplinäre Forschungsfeld aus Marketing- und FU-Forschung versucht Erklärungsan­sätze für die Motivation und Funktionsweisen einer family business brand (FBB) zu liefern (vgl. Binz Astrachan et al. 2018). Die vorliegende Arbeit greift die genannte Thematik auf und folgt dem Aufruf von Babin und Kollegen (2017, S.2), dass zusätzliche empirische Studien über FU im Bereich des Marketings und family branding benötigt werden.

Der Dienstleistungssektor ist einer der größten und die am stärksten wachsende Branche in Deutschland.4 Der persönliche Kundenkontakt spielt in diesem Umfeld eine übergeordnete Rolle und wird von Kunden eines FU besonders hervorgehoben (vgl. Carrigan & Buckley 2008, S. 663). Aus diesem Grund wird für die Rahmenbedingung der folgenden empirischen Studie ein Servicedienstleistungsumfeld gewählt. Damit wird die Forschung zur Wahrnehmung von Produkten von FU um zusätzliche Erkenntnisse aus dem Service erweitert (vgl. Binz et al. 2013; Beck & Kenning 2015). Im persönlichen Kontakt und bei Serviceleistungen treffen jedoch oft unterschiedliche Erwartungshaltungen aufeinander. 71 Prozent der Deutschen bezeichnen ihr Land mit Blick auf den Dienstleistungssektor weiterhin als „Servicewüste“.5 Es herrscht also eine allgemeine Unzufriedenheit mit verschiedenen Branchen und den darin befindlichen Un­ternehmen (vgl. Anhang 1). Die Unzufriedenheit der Konsumenten hängt unweigerlich mit ih­rem Beschwerdeverhalten zusammen. Soziale Plattformen, Bewertungsportale oder der Kun­denservice sind nur ein paar der existierenden Anlaufstellen, die für Beschwerdeäußerungen genutzt werden. Wütende Kunden können sich dabei existenziell auf die Performance eines Unternehmens ausschlagen. Trotz dieser Relevanz existieren bisher kaum Studien über die Rolle von FU im Sturm unzufriedener Kunden. Die vorliegende Forschungsarbeit behandelt deshalb erstmals die Frage des Einflusses der FBB auf das Beschwerdeverhalten von Konsu­menten.

Die theoretischen Grundlagen über FU allgemein, die FBB im speziellem sowie das Beschwer­deverhalten von Konsumenten bilden das Fundament des aktuellen Forschungsstandes, auf dem die empirische Studie aufbaut. Das Ziel des ersten Teils ist es, die zentralen empirischen und theoretischen Ergebnisse aus der Forschung umfassend darzustellen. Dafür werden zunächst die verschiedenen Ansätze zur Definition von FU erläutert. Danach wird anhand der drei Di­mensionen identity, image und reputation das FBB Konzept nach Binz Astrachan und Kollegen (2018) vorgestellt. Die Perspektive auf die FBB und die dazugehörigen Studienergebnisse wan­deln sich im Verlauf des Grundlagenteils vom Kern des Unternehmens (Identität), über das projizierte Selbstbild (Image), hin zur tatsächlichen Reputation von FU. Damit schließt der Teil der FU Forschung bei der Konsumentensicht auf ein FU ab. Daran knüpfen sich, thematisch verwandt, Studienergebnisse aus dem Teilbereich des costumer complain behaviour (CCB) an. In Kapitel 3 werden die Forschungsfrage, die Hypothesen zur Beantwortung dieser und das Studiendesign hergeleitet. Der empirische Teil der Arbeit beginnt mit dem Aufbau der für die Studie benötigten Textvignetten und der Herleitung des Fragebogens. Anschließend werden wichtige Erhebungs- und Analyseschritte der empirischen Studie sowie dessen Ergebnisse dar­gestellt. Damit werden die zuvor aufgestellten Hypothesen geprüft und final diskutiert. Das Fazit rundet die wissenschaftliche Arbeit ab und führt die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.

2 Theoretische Grundlagen

Im folgenden Kapitel werden die zentralen Begrifflichkeiten, wissenschaftlichen Forschungs­bereiche sowie Theorien und Modelle, die für diese Arbeit relevant sind, vorgestellt. Der Fokus dieses Kapitels liegt, neben dem Aufzeigen des aktuellen Forschungsstandes, auf der Heraus­arbeitung von ungeklärten Fragen und Indizien in den einzelnen Thematiken. Ziel ist es, eine fundierte Wissensbasis zu schaffen, in deren Lücken die Herleitung der Forschungsfrage im darauffolgenden Kapitel fußen kann.

Für die Recherche sind zunächst Artikel aus Fachzeitschriften der jüngsten Vergangenheit her­angezogen worden. Mit dem Katalog plus -Tool der Universität Bielefeld wurden die Schlag­worte family business, marketing, family brand, branding und eine Kombination aus den ange­gebenen Begriffen gesucht. Der Artikel von Binz Astrachan und Kollegen (2018) positioniert sich dabei als zentrale Ausgangsliteratur für einen umfassenden Blick in den Bereich der FU- Forschung. Konkreter befasst er sich mit dem Konzept der FBB, die ein interdisziplinäres For­schungsfeld aus Marketing und FU-Forschung darstellt. Daran angeknüpft, eröffnete eine zweite Themenrecherche aus consumer behavoir, brand perception und complain behavior ein verwandtes Forschungsfeld. Der Artikel von San Bolkan (2018) bildet die Ausgangsliteratur für die zweite Forschungsströmung. Nachfolgend werden beide Themengebiete vorgestellt und zur Herleitung der Forschungsfrage aufbereitet.

2.1 Familienunternehmen

In einer Studie von Miller und Kollegen (2007, S. 845) untersuchten die Forscher Performance- Unterschiede zwischen Familien- und Nicht-Familienunternehmen. Als Einzelunternehmer in erster Generation in die definierte Klasse der Familienunternehmen miteinbezogen wurden, konnte eine „Überperformance“ der FU festgestellt werden. Dieser Effekt hob sich auf, als die Einzelunternehmer aus der vordefinierten Klasse herausgenommen wurden.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, welche Tragweite eine unklare Definition in einem Forschungs­feld haben kann. Was zeichnet also ein FU aus? In der Literatur von und über FU hat sich bis heute keine einheitliche Definition etabliert (Vgl. Steiger et al. 2015, S. 25). Drei Ansätze haben sich über die Jahre herauskristallisiert. Der sogenannte Component-of-Involvement Approach (COI) misst den Familieneinfluss über das Eigentum, Management und Steuerung6 des Unternehmens (Chrismann et al. 2005, S. 556). Nach dem COI Ansatz ist jedes Unternehmen, in dem eine Familie die genannten Positionen ausfüllt, von der Definition her ein Familienun­ternehmen (ebd.). Zellweger und Kollegen (2010, S. 56) merken kritisch an, dass mit dem COI Unternehmen, die in Familienbesitz sind und von deren Entscheidungen beeinflusst werden nicht als FU definiert würden, wenn die Familie nicht offiziell mit im Management Board sitzt.

Aus diesem Grund greift der Essence Approach die Vision, Motivation und das Verhalten der Familie innerhalb des Unternehmens auf (vgl. Pearson et al. 2008, S. 966). Der objektive Fa­milieneinfluss muss nach diesem Ansatz auch in ein Verhalten transferiert werden, damit ein FU auch als solches definiert werden kann (vgl. Chrismann et al. 2005, S. 557). Dieses Verhal­ten spiegelt wiederum eine generationsübergreifende Vision der Familie wider (vgl. Zellweger et al. 2010, S. 56).

Der dritte Ansatz zur Messung des Familieneinflusses auf ein Unternehmen wurde von Ast­rachan und Kollegen im Jahr 2002 geprägt. Die F-PEC-Skala vereint die Komponenten aus den beiden vorangestellten Ansätzen und misst den Einfluss der Familie auf die Dimensionen Macht, Erfahrung und Kultur.7 Die umfassende Literaturrecherche von Steiger und Kollegen (2015, S. 16) zeigt und vergleicht die Literatur über und von FU in den vergangen zehn Jahren. 105 Fachartikel (44 Prozent) beziehen sich dabei auf den COI-Ansatz, 51 Artikel (21 Prozent) nutzen den Essence Approach und 78 (33 Prozent) der Artikel greifen auf eine Mischform für die FU Definition zurück. Vier Fachartikel (2 Prozent) nutzen keine spezifizierte Definition (ebd.).

Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle weitere aktuelle Skalen zur Erfassung der Fa­milienessenz genannt: Die socioemotional wealth importance scale (SEWi) von Debicki und Kollegen (2016) sowie die family influence familiness scale (FIFS) von Frank und Kollegen (2016). Diese sind Bestandteil des aktuellen Forschungsstandes über FU, inhaltlich jedoch nicht weiter relevant für den Aufbau dieser Forschungsarbeit und damit nicht weiter erklärungswür­dig.

Diese Arbeit folgt letztlich der Definition von Chua und Kollegen (1999, S. 25): „(...) a busi­ness governed and/or managed with the intention to shape and pursue the vision of the business held by a dominant coalition controlled by members of the same family or a small number of families in a manner that is potentially sustainable across generations of the family or families.” Die generationsübergreifende Vision und die Langlebigkeit, die sie impliziert ist bei der Unter­scheidung von FU und Nicht-FU durch Konsumenten ein entscheidender Faktor. Ob und wie FU die Werte und Charakteristiken ihres Daseins kommunizieren, wird im Laufe dieser Arbeit untersucht.

2.2 Family-Business-Brand

Die Definition von FU und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit wird im Folgenden noch weiter spezifiziert. Um die Differenzierung von Produkten und/oder Services von Unternehmen und FU simplifizieren zu können, greifen Konsumenten oft auf die Klassifizierung in Marken bzw. auf ein „Markendenken“ zurück (Keller 2008, S. 30 ff.).

Eine Marke ist laut der American Marketing Assoziation (AMA) wie folgt definiert: “ (...) (A brand is a) name, term, sign, symbol, or design, or a combination of them, intended to identify the goods and services of one seller or group of sellers and to differentiate them from those of competition.”( Keller 2013, S. 30). Das bedeutet, dass es im Bereich der Marke primär um die Abgrenzung oder Profilierung im Wettbewerb geht. Keller (2013, S. 30) beschreibt eine wei­terführende und praxisorientierte Markendefinition als etwas das awareness, reputation und prominence am Markt etabliert. Produkte, Service und Unternehmen bestehen dabei aus einer Vielzahl an unterschiedlichen und tiefgehenden Markenelementen. Diese können unter ande­rem Namen, Symbole und Slogans sein (ebd.). Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, geht es bei der Definition eines FU ebenfalls um eine Differenzierung und Abgrenzung von Nicht-FU. Daher liegt die Betrachtungsweise, die Familie innerhalb des Unternehmens als ein weiteres Marken­element zu verstehen, sehr nahe.

Die Arbeit von Blombäck (2009, S. 5) wählt ebenjenen Markenansatz und versteht die Kom­munikation des Familienstatus als weitergehendes Markenelement. Das Element fließt als zu­sätzliche Dimension in die Wahrnehmung eines FU durch Konsumenten ein. Binz Astrachan und Kollegen (2018, S. 5) bauen auf diesem Standpunkt auf und verstehen die (FBB) als eine formelle und informelle Kommunikation (image) der Familieneinflüsse auf das Unternehmen (identity), die Assoziationen und Erwartungen bei Interessengruppen (reputation) hervorruft und dabei helfen soll, dieses Unternehmen von anderen am Markt zu unterscheiden.

Zu dieser Schlussfolgerung gelangen auch Krappe und Kollegen (2011, S. 44), die in ihrer zweistufigen Studie zwei theoretische Markentheorien8 in Form einer qualitativen Befragung untersuchen. Sie kommen zu dem Schluss, dass FU als eigene Marken wahrgenommen werden und eindeutige Assoziationen bei den Konsumenten hervorrufen (vgl. Krappe et al. 2011, S. 44).

Da es in der Literatur kein klar trennbares Verständnis der Begriffe Identität, Image und Repu­tation gibt, wählen Binz Astrachan et al. (2018, S. 10) einen systematischen Rahmen, der die Wechselwirkungen der einzelnen Markendimensionen aufzeigt. Sie sehen die FBB als ein drei­stufiges Konzept aus Identität, Image und Reputation. Alle Dimensionen ihres Konstrukts be­dingen und beeinflussen sich gegenseitig, wenn innerhalb einer Dimension Veränderungen stattfinden.

Anhand dieses Konstrukts werden den einzelnen Dimensionen in den folgenden Unterkapiteln theoretische, wie auch empirische Forschungsergebnisse zugeordnet und erläutert. Die Perspek­tive auf FU wandelt sich im Verlauf der Kapitel von der Innensicht bis hin zur Außenansicht durch den Konsumenten. Abbildung 1 gibt einen grafischen Überblick über die Unterthemen der einzelnen Dimensionen sowie die dazugehörigen Studien. Es werden jeweils Fragestellun­gen und Ergebnisse präsentiert, die für die Herleitung dieser Arbeit relevant sind.

- "Wer sind wir als Organisation?" (Memili et al. 2010)
- AC2ID (Balmer & Greyser 2002)
- FFI & OID (Zellweger et al. 2010; Botero et al. 2013)
- Kanäle (Micelotta & Raynard 2011)
- Kommunikationsinhalte (Binz Astrachan & Astrachan 2015)
- Kommunikationsmotivation (Blombäck & Ramirez-Paillas 2012)^
- feel good (Carrigan & Buckley 2008)
- relational/business related qualities (Binz et al. 2013)
- Mitarbeiterwahrnehmung (Sageder et al. 2015)

Abbildung 1: Dimensionen der FBB und zentrale Literatur

2.2.1 Identity View

Die Identität einer Organisation ist das Selbstbild und die mentalen Assoziationen, welche Or­ganisationsmitglieder über ihre Organisation haben (Vgl. Brown et al. 2006, S. 102). Die orga­nisatorische Identität ist also eine primär subjektive Antwort der Organisationsmitglieder auf die Frage „Wer sind wir als Organisation?“ und dient als kognitive Orientierung für das kollek­tive Verhalten innerhalb der Organisation (vgl. Memili et al. 2010, S 201; Nag et al. 2007, S. 824). Damit nimmt der Identity View eine nach innen bzw. auf sich selbst gerichtete Perspektive der Organisation ein (vgl. Binz Astrachan et al. 2018, S. 5)

In der Literatur über Organisationen gibt es verschiedene Ansichten darüber, wie viele Identi­täten in einem Unternehmen koexistieren und was eine Identität überhaupt ist (vgl. Balmer & Greyser 2002; Micelotta & Raynard 2011; Botero et al. 2013). Wie in Kapitel 2.1 bei der Defi­nition von FU erläutert, bedingt die Definition von Identität das theoretische Verständnis ihrer Struktur. Balmer und Greyser (2002, S. 73 f.) haben für ihr Konstrukt des AC2ID Tests bspw. fünf verschiedenen Identitäten innerhalb einer Organisation aufgezeigt. Nach ihrem Verständ­nis lässt sich jedes Unternehmen über die formulierten Eckpunkte actual, comunicated, concei­ved, ideal und desired identity charakterisieren (ebd.).9 Zu dem in diesem Kapitel und dieser Arbeit definierten Verständnis von Identität als subjektive Selbstwahrnehmung passen dabei lediglich die tatsächliche und gewünschte Identität. Die tatsächliche Identität wird durch die Besitzverhältnisse, das Management, Führungsstil, organisationale Strukturen, Geschäftsakti­vitäten, das Produkt- und Serviceangebot sowie die allgemeine Performance des Unternehmens ausgedrückt (vgl. Balmer & Greyser 2002, S. 73). Die gewünschte Identität bezieht sich auf die subjektive Vision, Vorstellung und Persönlichkeit der Geschäftsführer eines Unternehmens (ebd.). Die anderen Identitäten die von Balmer und Greyser (2002) identifiziert wurden, sind nach außen gerichtet oder extern bedingt und damit nicht Teil des Identity View dieses Kapitels.

An dieser Stelle ist ein wiederkehrendes Definitonsschema aus objektiven Kenngrößen und subjektiven Assoziation zu erkennen (vgl. Kapitel 2.1). Ähnliches gilt auch für die Definitions­ansätze COI und Essence Approach bei der Definition von FU. Die Unterscheidung von FU und Nicht-FU ist also unweigerlich mit der Definition von Identitäten verbunden. Aus diesem Grund entstand in der Literatur ein Forschungsstrom in Richtung family firm identity (vgl. Craig et al. 2008; Sundaramurthy & Kreiner 2008; Zellweger et al. 2010; Botero et al. 2013). Die Einzigartigkeit von FU liegt in der Beschaffenheit ihrer Identitäten. Es existiert eine organisationale Identität (OID) und zusätzlich eine familiäre Identität (FFI) parallel und im Zu­sammenspiel innerhalb einer Organisation (vgl. Zellweger et al. 2010, S. 57 f.; Botero et al. 2013, S. 13 f.).

Sundaramurthy und Kreiner (2008, S. 417) veranschaulichen das theoretische Zusammenspiel beider Identitäten mithilfe der Boundary Theorie. Sie argumentieren, dass boundaries von sehr ähnlichen Identitäten vom Grad ihrer Flexibilität und Durchlässigkeit sehr dünn sind. Wohin­gegen Identitäten mit sehr dicken boundaries im Kern sehr verschieden sind (ebd.). Es liegt am Management, eine geeignete Strategie mit gezieltem boundary work zu finden, um zwischen beiden Identitäten Brücken zu bauen (Sundaramurthy & Kreiner 2008, S. 430). Klassische Maßnahmen wie Familientreffen oder ein Familienforum sowie eine adäquate Zusammenstel­lung des Führungsteams können bei der Integration der Identitäten helfen (ebd.). Botero und Kollegen (2013, S. 14) bestätigen aus konzeptioneller Sicht, dass bei multiplen Identitäten eine Übereinkunft positive Auswirkungen auf das Unternehmen haben kann. Sundaramurthy und Kreiner (2008) stärken mit ihrem theoretischen Konstrukt die Vorstellung von verschiedenen Identitätsüberlappungen innerhalb eines FU.

Der Grad der Unterscheidung oder Ähnlichkeit der Identitäten hat demnach Auswirkung auf das Verhalten von FU. Je mehr Ziele, Werte, Überzeugungen und Normen die OID und die FFI teilen, desto eher wird der Familienstatus auch in Marketing- und Werbeaktivitäten kommuni­ziert und desto eher sehen die Familienmitglieder ihr Unternehmen als eine Erweiterung ihrer selbst (Vgl. Sundaramurthy & Kreiner 2008, S. 419; Memili et al. 2010, S. 201 f.). Im Umkehr­schluss bedeutet das, dass FU mit komplett gegensätzlichen Identitäten auf eine Kommunika­tion der FFI verzichten und damit die Signale eines Nicht-FU senden (vgl. Barroso Martinez et al. 2019, S. 3).

Das nächste Kapitel des Image View befasst sich noch intensiver mit Marketingstrategien und Kommunikationsmaßnahmen, welche von FU ergriffen werden, um ihre FFI herauszustellen. Die Frage „Wer sind wir als Organisation?“ ist damit eine sehr komplexe und zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr theoretische Problemstellung. Das Kapitel Identity View hat gezeigt, welche Kräfte innerhalb einer Organisation im Allgemeinen und in einem FU im Speziellen wirken. Darüber hinaus sind die Parallelen zur Definition von FU aufgezeigt worden. Ähneln sich OID und FFI, lautet die Antwort der Organisationsmitglieder auf die vorangestellte Frage: „Wir sind ein Familienunternehmen!“ Welche Folgen das für die Handlungen und zentralen Kommuni­kationsmaßnahmen des FU hat, wird im folgenden Kapitel näher beleuchtet.

2.2.2 Image View

Nachdem das FU im Klaren darüber ist, welche Identitäten in der eigenen Organisation wirken und wie ähnlich oder unterschiedlich diese sind, hat das Management nun zu entscheiden wie und zu welchem Grad die FFI und OID nach außen porträtiert werden soll (vgl. Binz Astrachan 2018, S. 5).

In der Marketing Literatur taucht im Zuge dessen ein weiterer Identitätsbegriff auf: corporate identity bzw. corporate brand identity, die eine konsistente und zielgerichtete funktionale wie auch emotionale Darstellung der eigenen Organisation und Kommunikation in Richtung der stakeholder bedeutet (vgl. Aaker 1993, S. 57 f.). Die communicated identity aus der Arbeit von Balmer und Greyser (2002) folgt derselben Definition und impliziert damit eine eindeutige Steuerbarkeit der Identität (vgl. Kapitel 2.2.1). Eine für diese Arbeit treffendere Definition ist die nach Johnson und Zinkhan (2015, S. 346), welche von einer konzeptualisierten Identität als kommuniziertes ideal self-image sprechen. Damit zeichnet der Image View ein projiziertes Bild der Organisation. Die im vorherigen Kapitel aufgeworfene Leitfrage wird damit um die Frage „Was sollen andere über uns als Organisation denken?“ erweitert.

Neben der Tatsache, dass FU eine zusätzliche Identität besitzen, haben sie darüber hinaus die einzigartige Möglichkeit, ihre FFI wettbewerbswirksam nach außen zu projizieren (vgl. Craig et al. 2008, S.7 f.). Nur so können FU durch Stakeholder überhaupt als FU wahrgenommen werden (vgl. Botero et al. 2013, S. 15). Für die Kommunikationen der FFI können direkte oder indirekte Kanäle genutzt werden (vgl. Botero et al. 2013, S 15 f.). Balmer und Greyser (2002, S. 74) sprechen von kontrollierbaren und nicht bzw. weniger kontrollierbaren Kommunikati­onskanälen. Direkte Kommunikationskanäle können via E-mail, Telefon, im persönlichen Kontakt oder online erfolgen (vgl. Keller 2013, S. 208). Die Kommunikation über indirekte Kanäle wird über Dritte abgewickelt, wie z.B. klassisches Word-of-Mouth (ebd.; Balmer & Greyser 2002, S. 74).

Micelotta und Raynard (2011, S. 6) haben mit ihrer Studie drei Marketing-Strategien aufge­zeigt, anhand derer sich die Kommunikation der FFI über die Website des Unternehmens, also direkt und kontrollierbar, kategorisieren lassen. Die Family Preservation Strategy charakteri­siert sich durch eine sehr enge, nahezu deckungsgleiche Übereinstimmung zwischen FFI und OID (ebd.). Sowohl visuell wie auch textlich trägt die Familie die Identität des Unternehmens mit ihrem Namen, den Bildern der Mitglieder und der familiären Historie präsent auf der Webs­ite nach außen (vgl. Micelotta & Raynard 2011, S. 8). Nach dieser Strategie zeigt sich die 9 Familie tief verwurzelt und personifiziert innerhalb der Organisation und betont ihr transgene­rationales Werteverständnis (ebd.). Ähnlich kommunizieren FU, die eine Family Enrichment Strategy verfolgen. Der Unterschied liegt hier jedoch in der Chronologie der Argumentation. Produkte und Services stehen im Vordergrund auf den Unternehmenswebseiten. Die Historie und Vertrauenswürdigkeit des FU unterstützen die Aussagen, ohne jedoch die Innovations­freude und Zukunftsfähigkeit der Organisation zu schmälern (vgl. Micelotta & Raynard 2011, S. 10). Bei der Family Subordination Strategy verzichtet das FU gänzlich auf die Kommunika­tion der FFI und kommuniziert ausschließlich OID Charakteristiken (ebd.). Die Ergebnisse der Analyse von Onlineauftritten von FU durch Micelotta und Raynard (2011) weisen darauf hin, dass FU eher zu einer Family Preservation Strategy tendieren.

Botero und Kollegen (2013) betonen die Einschränkungen der Studie von Micelotta und Ray- nard (2011). Sie kritisieren, dass die gewählte Stichprobe primär aus alten und traditionsreichen FU besteht und damit der Einflussfaktor „Alter“ im Studiendesign nicht gesondert betrachtet werden kann (vgl. Botero et al. 2013, S. 16). Darüber hinaus bemängeln sie die fehlende An­gabe, wo genau der Hinweis auf die FFI auf der Homepage zu finden sei (ebd.). Sie spezifizie­ren ihr eigens Studiendesign dahingehend und betrachten ausschließlich die Startseite und die „Über uns“-Seiten einer FU Homepage. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Kommunikation der FFI vor allen Dingen davon abhängt, ob das FU der produzierenden Industrie angehört und im B2C tätig ist (vgl. Botero et al. 2013, S.18). Darüber hinaus bestätigen sie die formulierte Ein­schränkung für Micelotta und Raynard (2011), dass das Alter positiv mit der Bereitschaft, die FFI zu kommunizieren, korreliert (ebd.). Letztlich kommunizierten 57 Prozent der in der Studie untersuchten FU online ihre FFI, und das hauptsächlich auf der „Über uns“-Seite (Botero et al. 2013, S. 19). Die meisten in der Studie untersuchten FU geben ihren FFI also erst auf einer Unterseite ihrer Homepage und dort primär implizit preis (ebd.). Damit sprechen die Ergebnisse von Botero und Kollegen (2013) dafür, dass FU hauptsächlich eine Family Enrichment Strategy für die Imagebildung verfolgen.

Binz Astrachan und Kollegen (2018, S. 7) merken an, dass es in der Literatur über die Wahl von geeigneten Kommunikationskanälen für FU bisher wenig bzw. relativ einseitige Untersu­chungen gibt. Aufgrund des einfachen Informationszugangs sind primär Studien über die Kom­munikation der FFI über die Homepage veröffentlicht worden (vgl. u.a. Micelotta & Raynard 2011; Botero et al. 2013; Zanon et al. 2019).

Neben dem „ob“ und „wo“ ein FU seine FFI kommuniziert, schließt sich ebenfalls die Frage des „wie“ an. Binz Astrachan und Astrachan (2015) kommen mit ihrem Case Study Report unter anderem dem Aufruf von Botero und Kollegen (2013, S.19) nach, die weitere Untersu­chungen von impliziter Kommunikation der FFI als strategische Entscheidungen in FU forder­ten. In ihrem praxisorientierten Report klassifizieren sie ihre Cases in drei strategische FBB Kommunikationen: Geschichte und Erbe, Balance aus Tradition und Innovation und Verant­wortung und Werte zeigen (vgl. Binz Astrachan & Astrachan 2015, S. 11 ff.). Damit identifi­zieren die Wissenschaftler thematische Argumentationsbündel, die FU zur Kommunikation ih­rer FFI nutzen können, ohne dabei den Anspruch auf eine realitätsgetreue Klassifizierung zu formulieren (vgl. Binz Astrachan & Astrachan 2015, S. 6). Sie behaupten, FU bedienen sich verschiedener Kommunikationsmaßnahmen aus den jeweiligen Bündeln und lassen sich nicht exklusiv einer Strategie zuordnen (ebd.).

Die FBB auf der Geschichte und dem Erbe des Unternehmens aufzubauen, bedeutet, dass das FU die Vorfahren bzw. die Dynastie der Familie präsent in die Kommunikation einbindet (vgl. Binz Astrachan & Astrachan 2015, S. 12). Bei dieser Strategie bedient sich das Unternehmen an einzigartigen und unverwechselbaren Artefakten der eigenen Historie und leitet daraus Vor­teile für Stakeholder ab (ebd.). Ein klassisches Symbol dafür ist der explizite Hinweis auf die familiäre Existenz und das Gründungsjahr im eigenen Slogan.10 Um diese Argumentations­struktur anwenden zu können, benötigt das FU selbstverständlich ein fortgeschrittenes Alter. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass jüngere FU diese Strategie nicht bzw. weniger wirkungs­voll einsetzen können. Damit liefern die Case Studies von Binz Astrachan und Astrachan (2015) zusätzlich eine Teilerklärung für die empirische Beobachtung der erhöhten Bereitschaft zur Kommunikation der FFI bei älteren FU (vgl. Micelotta & Raynard 2011; Botero et al. 2013).

Um eine zu starke Fokussierung auf die Vergangenheit zu vermeiden und damit etwaige nega­tive Assoziation11 bei Empfängern der Kommunikationsmaßnahmen zu verringern, versuchen FU die Balance aus Tradition und Innovation zu finden (Binz Astrachan & Astrachan 2015, S. 16). Bei dieser Kommunikationsstrategie begründet das FU zukünftige Entwicklungen und In­novationen mit der eigenen Beständigkeit und versucht so Tradition und Zukunft in Einklang zu bringen (ebd.).

Die dritte Kommunikationsstrategie der FFI legt den Fokus auf soziale Verantwortlichkeit und Werte der Familie (vgl. Binz Astrachan & Astrachan 2015, S. 19). FU verknüpfen dabei die Kommunikation über eigene CSR12 -Maßnahmen vom Unternehmen mit den eigenen familiären Wertevorstellungen (ebd.). In diesem Fall verkörpert die Familie die ultimative Verantwortung für die Handlungen des Unternehmens und kommuniziert die Einheitlichkeit der FFI und OID nach außen (ebd.).

Eine weitere Form der ultimativen Verantwortung der Familie in FU lässt sich in subtiler Form beim Eponym13 beobachten, wenn der Familienname gleichzeitig auch der Name des Unter­nehmens ist (vgl. Zellweger 2010, S. 58). Der Name ist fundamentaler Bestandteil der FFI und damit äußerst präsenter Bestandteil der Unternehmenskommunikation (vgl. Kashmiri & Ma­hajan 2010, S. 273). Er kann als identity marker fungieren und signalisieren, wie stark FFI und OID übereinstimmen (vgl. Kap. 2.2.1; Ashforth 1998, S. 220). Gleichnamige Familienmitglie­der besitzen eine stärkere Verbindung zur OID und sehen das Unternehmen als Erweiterung ihrer selbst (vgl. Zellweger 2010, S. 58; Dyer & Whetten 2006, S. 797). Kashmiri und Mahajan (2010) bestätigen in ihrer Studie den Unterschied zwischen FU mit Familiennamen (FN) und ohne Familiennamen (NFN). Sie untersuchten die Performance von 130 öffentlich gelisteten FU in den USA über einen Zeitraum von 2002 bis 2006 mit insgesamt 35 FN und 95 NFN Unternehmen (vgl. Kashmiri & Mahajan 2010, S. 274). Ihre Ergebnisse suggerieren, dass FN- Unternehmen am Markt besser performen als die NFN und ihre Bereitschaft zur Wahrnehmung von CSR Maßnahmen erhöht ist (vgl. Kashmiri & Mahajan 2010, S. 278 f.; Dyer & Whetten 2006, S. 795 f). Darüber hinaus scheinen FN-FU größeren Wert auf ein Mitsprachrecht der Marketingabteilung im Management Board zu legen (ebd.). Die Ergebnisse implizieren ein hö­heres FBB Bewusstsein in FN-FU und damit eine stärkere Bereitschaft den Namen des Unter­nehmens gezielt für Imagekampagnen einzusetzen.

Bei allen angesprochen Strategien, Annahmen und Beobachtungen, die in der Literatur aufge­führt sind, bleibt eines weitestgehend außer Acht: der Grad der aktiven und bewusst gesteuerten Kommunikation der FFI in FU. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, haben Blombäck und Ramirez-Paillas (2012) in ihrer Studie CEO's von FU qualitativ zu ihrer Einstellung und Kom­munikation der FFI befragt. Sie identifizieren drei verschiedene Logiken von CEO's bzw. FU und kommen zu dem Ergebnis, dass Kommunikationsentscheidungen nicht immer auf fundier­ten Marketingüberlegungen fußen (Blombäck & Ramirez-Paillas 2012, S. 23). Entscheidungen zur Kommunikation der FFI werden unbewusst14 oder organisch aus dem FU heraus getroffen (ebd.). Erst ab einem erhöhten Professionalisierungsgrad und Einsatz einer Marketingabteilung werden strategischen Überlegungen, wie die Kommunikation der FFI, bewusst getroffen. Nach dieser Logik ergibt sich für das FU erst dann die eingangs aufgeworfene Leitfrage: „Was sollen andere über uns als Organisation denken?“

Neben den objektiven Einflussfaktoren auf die Kommunikation der FFI sind in der Literatur auch subjektive Motivationen15 einzelner Familienmitglieder untersucht worden (vgl. u.a. Zell­weger et al. 2012; Binz Astrachan & Botero 2017). Für die Stoßrichtung dieser Arbeit ist eine intensivere Auseinandersetzung mit individuellen Handlungsmotivation jedoch nicht notwen­dig.

Dieses Kapitel zeigt, wie vielfältig die Motivationen von FU zur Kommunikation der FFI aus­fallen können. Die Zusammensetzung der FFI hat dabei Einfluss auf Inhalt und Wahl des Kom­munikationskanals und darüber hinaus, ob die FFI überhaupt kommuniziert wird. Zusammen­fassend sind die entscheidenden Aspekte für die bewusste oder unbewusste Kommunikation der FFI das Alter, Branchenzugehörigkeit und strategische Ausrichtung des Unternehmens (vgl. Micelotta & Raynard 2011; Botero et al. 2013). Trotzdem existieren noch große Lücken im Bereich der Marketingforschung über FU. Binz Astrachan und Kollegen (2018, S. 7) empfeh­len, den Fokus auf andere von FU genutzte Kommunikationskanäle zu richten. Im nächsten Kapitel wird der Blickwinkel auf die FBB verändert, von der Sender-Perspektive in die Emp­fänger-Perspektive. Die thematische Leitfrage des Kapitels „Reputation View“ lautet daher „Was denken andere wirklich über uns als Organisation?“

2.2.3 Reputation View

Der Reputation View auf die FBB umfasst die individuelle Wahrnehmung von externen stake- holdern zur Differenzierung von FU am Markt (vgl. Binz Astrachan et al. 2018, S. 4). Dabei handelt es sich um konkrete mentale Assoziationen von Individuen über eine Organisation, ohne selbst Teil von ihr zu sein (vgl. Brown et al. 2006, S. 101). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die individuelle Wahrnehmung der FFI als Family Firm Reputation (FFR) bezeich­net. Die FFR resultiert aus der Sammlung, Organisation und Auswertung von Informationen durch stakeholder über ein FU (vgl. Binz Astrachan et al. 2018, S. 5). Davon abzugrenzen sind Reputationseinflüsse auf potenzielle Mitarbeiter von FU, die nicht im Blickpunkt dieser For­schungsarbeit stehen.

Veröffentlichte empirische Studien aus dem Forschungsfeld FFR übersteigen die Anzahl an Publikationen aus dem Forschungsbereichen über die Identität und Imagebildung von FU um ein Vielfaches. Das liegt vor allen Dingen daran, dass der Konsument mit seiner Einstellung, Wahrnehmung und subjektiven Interpretation von Sachverhalten speziell aus wirtschaftswis­senschaftlichen Gesichtspunkten ein lukratives Forschungsobjekt ist.

Moore (2006) interessierte sich in seiner Studie für die Beweggründe beim Kauf von frischem Obst und Gemüse von familiengeführten Bauernhöfen in Irland. Seine qualitativen Interviews ergaben, dass Konsumenten die persönlichen Berührungspunkte mit dem FU wertschätzen (vgl. Moore 2006, S. 424 f.). Dadurch empfanden sie das FU als authentisch und vertrauensvoll, da es sich in den meisten Fällen um kleine FU handelte (ebd.). Ein ähnliches Resultat ergab die vergleichende Analyse mit 126 amerikanischen Studierenden über familiengeführte Super­märkte von Orth und Green (2009). Sie fanden heraus, dass die FFR im Bereich Image, Service, Vertrauenswürdigkeit und Kundenzufriedenheit signifikant höher eingeschätzt wird als die von Nicht-FU (vgl. Orth & Green 2009, S. 254 f.). Zusätzlich schätzten die Studierenden die Mit­arbeiter von FU wohlwollender und lösungsorientierter ein, als die von Nicht-FU (vgl. Orth & Green 2009, S. 249).

Vertrauen und Authentizität stehen auch im Blickpunkt der Studie von Carrigan und Buckley (2008, S. 660). In 19 semistrukturierten Interviews mit weiblichen Konsumenten stellten die Befragten die Integrität, mit der FU ihre Geschäfte führen, als positiv heraus. Das Vertrauen in ein familiengeführtes Unternehmen kann so hoch sein, dass die Preiswahrnehmung als fair be­urteilt wird, ohne dass die Konsumenten Kenntnisse über die Preisstruktur besaßen (vgl. Carri­gan & Buckley 2008, S. 660 f.). Aus den Antworten ergab sich ebenfalls eine aus der Literatur bereits bekannte erhöhte Erwartungshaltung gegenüber Produkten und Services von Familien­unternehmen (ebd.). Konsumenten erwarten ein persönliches feel good, durch die besondere Beziehung zum FU, wenn sie dort einkaufen (vgl. Carrigan & Buckley 2008, S. 661). Ähnlich zu den Ergebnissen von Orth und Green (2009) strahlen die positiven Assoziationen mit dem FU auf die Mitarbeiter aus, die als überdurchschnittlich freundlich, ausgebildet und loyal be­schrieben werden (ebd.). Außerdem assoziieren Konsumenten FU eher mit kleinen lokalen Un­ternehmen und beschreiben sie als den sozialen „Kit“, der die lokale Gemeinschaft zusammen­hält (vgl. Carrigan & Buckley 2008, S. 663).

Den sozialen Aspekt, den FU ausstrahlen belegt auch in der Studie von Krappe und Kollegen (2011). Ihre zweistufige qualitative Studie mit 110 Konsumenten aus Deutschland kam zu dem Ergebnis, dass die Befragten FU als nachhaltiger und sozialer im Vergleich zu Nicht-FU ein­schätzen (vgl. Krappe et al. 2011, S. 42). Aufgrund dieser einzigartigen Attribute, die Konsu­menten mit FU verbinden, schlussfolgern die Autoren, dass FU von Konsumenten als eigen­ständige Marke verstanden werden (S. 44). Die von FU nach außen projizierte FFI führt also zu kollektiven Assoziationen der Konsumenten über die Marke oder das Label FU.

Binz und Kollegen (2013) versuchen mit ihrer Onlinebefragung von 253 Konsumenten aus der Schweiz, die kollektive FFR zu klassifizieren. Sie kategorisieren die FFR dafür in relational qualities und business-related qualities und nehmen an, dass relationale Qualitäten das positive Urteil über FU stärker beeinflussen als „harte“ Business Qualitäten (vgl. Binz et al. 2013, S. 9). Die relational qualities beziehen sich auf Attribute, die hinter dem Unternehmen stehen. Dazu zählen u.a. Vertrauen, Respekt, ökologische Nachhaltigkeit und hohe Standards in der Mitar­beiterführung (vgl. Binz et al. 2013, S. 7). Die business-related qualities beziehen sich auf den Innovationsgrad der Produkte und Services, die Qualität und das Preis-Leistungs-Verhältnis (ebd.). Die Analyse ergab, dass die positive FFR hauptsächlich durch die relationalen Qualitä­ten beeinflusst wird, bzw. konnte kein signifikanter Unterschied bei den geschäftsbezogenen Qualitäten zwischen FU und Nicht-FU festgestellt werden (vgl. Binz et al. 2013, S. 9).

Sageder und Kollegen (2015) bestätigen mit ihrer Befragung von 247 Konsumenten in Öster­reich die positive Wahrnehmung der FFR, die als konsumentenorientierter und nachhaltiger beschrieben wird (vgl. Sageder et al. 2015, S. 17). Bei ihren Ergebnissen ist die positive Wahr­nehmung der Mitarbeiter von FU hervorzuheben, ähnlich wie bei Carrigan und Buckley (2008), und die Bereitschaft das FU aufgrund der positiven FFR weiterzuempfehlen (vgl. Sageder et al. 2015, S. 18).

Dass die positive FFR auch international, über kulturelle Grenzen hinaus beobachtet werden kann, fanden Deephouse und Jaskiewicz (2013) mit ihrer Studie in acht verschiedenen Ländern heraus. Namentlich konnten in Frankreich, Deutschland, Indien, Italien, Japan, Süd-Korea, Schweden und Großbritannien kein Effekt unterschiedlicher Wahrnehmung der FFR gemessen werden (vgl. Deephouse & Jaskiewicz 2013, S. 351). Das zeigt, dass die überwiegend positive FFR ein weltweites Phänomen ist.

Eine weitere Studie, die speziell die Rolle des Vertrauens in der FFR untersucht, ist von Beck und Kenning (2015) durchgeführt worden. Das Ziel ihrer Studie war zu untersuchen, welche 15 Wirkung das Vertrauen durch die FFR auf die Akzeptanz neue Produkte am Markt ausübt (vgl. Beck & Kenning 2015, S. 1136). Sie kommen zu dem Schluss, dass Konsumenten durch die positive FFR in ihrem potenziellen Kaufverhalten beeinflusst werden und sprechen vom zuvor genannten feel good Faktor, der beim Kauf bei FU wirkt (ebd.). Konsumenten kaufen also bei FU mit einem besseren Gewissen ein. Lude und Prügl (2018, S. 128) können signifikant bestä­tigen, dass die Kaufintention wiederum durch das Markenvertrauen mediiert wird. Die Wirkung und der Einfluss der FFR auf den Konsumenten ist durch die vielen Studien also unumstritten. Speziell das hohe Vertrauen in FU lässt die Konsumentenurteile positiv ausfallen.

Die FFR wird von Konsumenten jedoch nicht ausschließlich positiv bewertet. In der Literatur tauchen immer wieder Assoziationen mit der FFR auf, die sie als altmodisch, traditionell, hie­rarchisch, stagnierend, unflexibel und wenig innovativ beschreiben (vgl. Krappe et al. 2011; Sageder et al. 2015). Wie Binz und Kollegen (2013) herausstellen, handelt es sich hierbei pri­mär um business-related qualities. Also den Teil der FFR, der die allgemeine Wahrnehmung von Konsumenten weniger beeinflusst. Die negativen Assoziationen der Konsumenten sind in der Literatur jedoch kaum empirisch belegt (vgl. Rosina 2018, S. 35).

Damit ergibt sich erneut die in der Einleitung aufgeworfene Frage, ob die positiven Assoziati­onen, die mit der FFR verbunden sind, auch ein Laster für das FU darstellen. Ob die von Car­rigan und Buckley (2008, S. 660) identifizierte erhöhte Erwartung der Konsumenten gegenüber Produkten und Services von FU kippen kann? Dem gegenüber steht die Auffassung von Dyer und Whetten (2006, S.785), die die positive FFR als social insurance verstehen, die das Unter­nehmen durch schlechte Zeiten trägt. Das heißt, die positive FFR ist ein Bonus und Wettbe­werbsvorteil gegenüber Nicht-FU am Markt.

Dieses Kapitel hat gezeigt, wie umfassend und primär positiv empirische Studien zu Konsu­mentenwahrnehmung von FU ausfallen und wie viel sich seit dem Aufruf nach weiteren spezi­fischen Konsumentenstudien von Carrigan und Buckley (2008, S. 657) getan hat. Die Marke­ting- und speziell die Konsumentenforschung im Bereich von FU weist trotz alledem weiterhin Lücken auf (vgl. Babin et al. 2017, S. 2). Die Rolle der FBB beim Kauf von Produkten bei FU ist bspw. deutlich öfter Bestandteil von Studien, im Vergleich zu Serviceleistungen. Sie stellen direkte Kontaktpunkte zu dem Unternehmen dar. Dabei können relational qualities der FFR einen besonderen Stellenwert einnehmen. Bisher weitestgehend unerforscht sind Wahrneh­mung und Reaktion der Konsumenten auf Schlechtleistungen von FU (vgl. Bougoure et al. 2016). Welche Rolle spielt die FBB, wenn das FU die Erwartungen an einen Service nicht erfüllen kann? Babin und Kollegen (2017, S. 2) bringen es mit ihrem Aufruf an die Forschung auf den Punkt: „When does family-related branding backfire (...)?“

Nach dem strukturellen Vorbild von Binz Astrachan und Kollegen (2018), zeigte dieses Kapitel die Wechselwirkungen der FFI, der Kommunikation der FFI und der daraus resultierenden FFR. Abbildung 2 fasst das theoretische Konzept der FBB und die Struktur des Grundlagenka­pitels zusammen. Ob bewusst oder unbewusst, die generell positive Wirkung der FBB auf Kon­sumenten ist umfassend dargestellt worden. Die Signale, die ein FU über sein Alter und seine Historie sendet, führen beim Konsumenten zu konkreten vertrauensvollen Assoziationen. Be­vor die Forschungsfrage hergeleitet werden kann, richtet das folgende Kapitel den Fokus auf das individuelle Beschwerdeverhalten von Konsumenten gegenüber Unternehmen im Allge­meinen. Dafür werden einige Theorien und Modelle aus der Kommunikationsforschung heran­gezogen, die für diese Arbeit relevant sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.3 Beschwerdeverhalten von Konsumenten

Das Verhalten von Konsumenten ist entscheidend für die Performance von Unternehmen aller Branchen. Insbesondere beim Feedback an das Management wirken Konsumenten entschei­dend bei der Verbesserung der Performance mit (vgl. Bolkan 2018, S. 841). Gleichzeitig kön­nen Beschwerden für das Unternehmen zeit- und kostenintensiv werden und je nach Ausprä­gung der Reputation des Unternehmens nachhaltig schaden (vgl. Thogersen et al. 2009, S. 773). Aus diesem Grund ist das Verhalten von Konsumenten für die Forschung, wie auch für die Wirtschaft besonders interessant.

Das Beschwerdeverhalten von Konsumenten, bzw. das costumer complain behaviour (CCB), ist ein großes Teilforschungsfeld des Konsumentenverhaltens (vgl. Sharma et al. 2010, S 164). Seit den 80er Jahren befassen sich Forscher konsequent mit dem CCB, welches bis heute jedoch keiner einheitlichen Definition folgt (ebd.). Allgemein umfasst das CCB eine Vielzahl an hand­lungs- wie auch intentionsbehafteten Reaktionen auf eine nicht zufriedenstellende Situation (vgl. Fornell & Wernerfelt 1987, S. 339). In der Literatur macht Andreassen (2001, S. 39) drei Forschungsströme zur CCB aus: Entwicklung und Test von Kundenunzufriedenheitstheorien, die Typisierung von Beschwerden und die Analyse von Faktoren, die zu Beschwerden führen. Im Rahmen dieser Arbeit ist speziell letztgenannter Forschungsstrom relevant, da an den Fak­toren der Beschwerde Berührungspunkte mit der FBB im Speziellem in der FFR liegen (vgl. Binz Astrachan et al. 2018, S. 5; Kap. 2.2.3). Im ersten Schritt dieses Kapitels wird die Ursache, die zum CCB führen, theoretisch und empirisch aus der Literatur hergeleitet.

Die Beschwerde eines Konsumenten folgt auf die Beurteilung einer nicht zufriedenstellenden Situation respektive Servicequalität, die unterschiedliche Ursachen haben kann (vgl. Trocchia & Luckett 2013, S. 32). Diese aus Konsumentensicht negativen Situationen werden in der Grundlagenforschung von Parasuraman und Kollegen (1988) mit dem SERVQUAL GAP Mo­del identifiziert. In insgesamt fünf Dimensionen kann es zwischen dem Konsumenten und dem Unternehmen zu Missverständnissen kommen, die zu Unzufriedenheit führen kann. GAP 1 be­schreibt den Unterschied zwischen dem, was der Konsument will, und was das Unternehmen glaubt, was der Konsument will (vgl. Parasuraman et al. 1988, S.15 ff.). GAP 2 beschreibt den Unterschied zwischen dem, was Unternehmen glauben, was der Konsument will, und den for­mulierten Qualitätsansprüchen (ebd.). GAP 3 bezieht sich auf den Unterschied zwischen for­mulierten und tatsächlichen Serviceansprüchen (ebd.). GAP 4 zeigt den Unterschied zwischen den tatsächlichen Ansprüchen des Unternehmens und wie es die Konsumenten empfinden (ebd.). GAP 5 ist die Differenz zwischen dem, was die Konsumenten an Qualität erwarten und letztlich tatsächlich bekommen (ebd.). Trocchia und Luckett (2013, S. 33) leiten aus diesem Modell weitergehende Ursachen ab, die über die Wahrnehmung von Produkt und Servicequa­lität hinausgehen. Das universelle Fehlverhalten im Unternehmen beschreiben sie als unfreund­liches und inkompetentes Verhalten durch einzelne Mitarbeiter gegenüber dem Konsumenten oder durch schlechte organisationale Strukturen (ebd.). Darüber hinaus beschreiben sie Diskri­minierung einzelner Konsumenten oder Konsumentengruppen als Beschwerdeursache (ebd.). Eine tiefergehende Erläuterung der sozialen und gesellschaftlichen Beschwerdeursache ist für die Argumentation dieser Forschungsarbeit nicht notwendig.

Die Unzufriedenheit, die Konsumenten durch die Beurteilung einer der erläuterten Situationen erfahren, ist jedoch nur ein Teilaspekt ihres CCB (vgl. Thogersen et al. 2009, S. 761). Die For­schung von Thogersen und Kollegen (2009, S. 762) beschäftigt sich mit persönlichen und situ­ativen Einflüssen auf das CCB ab. Die persönliche Einstellung zum Beschweren, speziell wenn ein Individuum in der Vergangenheit bereits eine Beschwerde abgegeben hat, wirkt fördernd auf das CCB (vgl. Thogersen et al. 2009, S. 773 f.). Vor allen Dingen die wahrgenommene Ernsthaftigkeit der Situation, also der situative Einfluss, bestimmt das unterschiedliche CCB (ebd.). Konsumenten reagieren auf die gleiche Situation mit unterschiedlichem Beschwerde­verhalten, je nachdem wie relevant das Problem für das Individuum ist. Damit zeigen die For­scher, dass das Beschweren nicht als psychologische Überreaktion irrationaler Individuen ver­standen werden kann, sondern als eine rationale Reaktion (vgl. Thogersen et al. 2009, S. 775). Konsumenten evaluieren die Problemstellung also kognitiv und führen daraufhin konkrete Handlungen oder Nicht-Handlungen aus, um die Situation auszugleichen (vgl. Susskind 2000, S. 354).

2.3.1 Kognitive Prozesse im CCB

Zur Konzeptualisierung des CCB eignet es sich die Protection Motivation Theory (PMT) von Rogers heranzuziehen (1975). Ausgehend von dieser Theorie lässt sich das CCB in drei kogni­tive Beurteilungsebenen unterteilen: threat, coping und cost (vgl. Rogers 1975, S. 99). Zunächst bewertet der Konsument die persönliche Gefahr, die von einem Fehlverhalten einer Organisa­tion ausgeht. Dafür evaluiert der Konsument bspw. die eigenen Ansprüche an einen Service und gleicht sie mit dem der Organisation ab (GAP 5). Je nachdem wie die Beurteilung des GAP durch den Konsumenten ausfällt, also wie groß der subjektive GAP zwischen Anspruch und Realität wahrgenommen wird, ergeben sich für den Konsumenten negative Folgen (vgl. Bolkan 2018, S. 844). Emotionen wie Enttäuschung, Frustration und Wut resultieren aus einem Kon­sumentenurteil und können Auslöser für nachgelagerte Handlungen sein (ebd.). Tronvoll (2011) untersuchte in seiner Studie die Auswirkung verschiedener negativer Emotionen auf das CCB. Seine Ergebnisse verdeutlichen die Rolle der Emotion „Frust“ auf das CCB (vgl. Tronvoll 2011, S. 13). Er resümiert, dass Frust so stark auf das CCB wirkt, da diese Emotion aus einer fremdverschuldeten und nicht kontrollierbaren Situation des Konsumenten hervorgeht (ebd.).

Die anschließende kognitive Reaktion auf das negative Konsumentenurteil wird im PMT von Rogers (1975) als coping definiert. Der Begriff coping wird auch in der Verhaltenspsychologie verwendet und beschreibt eine individuelle Ausgleichshandlung, um Emotionen innerhalb des Individuums zu regulieren (vgl. Folkman & Lazarus 1988, S. 466). Um eine Verwechslung der Begrifflichkeiten zu verhindern, wird der coping Begriff nach Folkmann und Lazarus (1988) im weiteren Verlauf dieser Arbeit als emotional coping bezeichnet. Im Modell von Rogers (1975, S. 99) wird das coping hingegen als Funktion aus self-efficacy und response-efficacy definiert. Die wahrgenommene self-efficacy stammt ursprünglich aus der Motivationspsycho­logie und beschreibt die Überzeugung und die Kontrolle eines Individuums, eine Handlung ausüben zu können (vgl. Bandura 1994, S. 2). Eigene Erfahrungen, die Beobachtung und Er­fahrungen anderer und soziale Normen beeinflussen die wahrgenommene self-efficacy (ebd.). Davon abzugrenzen ist die Wahrnehmung der response-efficacy16, die eine Einschätzung der Konsumenten über ihren Einfluss auf eine externe Situation darstellt (vgl. Susskind 2000, S. 360). In Bezug auf das CCB handelt es sich dabei um ein Abwägen der Wahrscheinlichkeit, dass eine Beschwerde tatsächlich auch eine Änderung hervorruft. Je geringer die response-effi­cacy eingeschätzt wird, desto weniger sind Konsumenten motiviert, eine Beschwerde abzuge­ben (ebd.). Diese Vorstellung des copings rückt damit inhaltlich von der Definition des Emoti­onsausgleichs nach Folkmann und Lazarus (1988) ab. Obwohl Emotionen und ihre Verarbei­tung nachweislich Einfluss auf das CCB haben, konzentriert sich diese Arbeit auf die rationale Abwägung aus self- und response-efficacy zur Konzeptualisierung des CCB.

Die dritte Beurteilungsebene umfasst die wahrgenommenen Kosten, die mit einer Beschwerde verbunden sind. Huppertz (2007, S. 429 f.) zählt zu den Kosten unter anderem Geld, Zeit und kognitiven Aufwand, sowie die mit einer Beschwerde verbundenen Unannehmlichkeiten. Je höher die wahrgenommenen Kosten für den Konsumenten sind, desto unwahrscheinlicher ist eine Beschwerdereaktion (ebd.). In der Literatur über CCB herrscht die Auffassung, dass Konsumenten auf den verschiedenen Beurteilungsebenen eine Kosten-Nutzen-Analyse betrei­ben. Konsumenten müssen für sich entscheiden, ob eine Beschwerde ihren Aufwand rechtfer­tigt (vgl. Richins 1982, S. 503).

Bolkan (2018) untersuchte die Wirkungszusammenhänge der drei erläuterten Beurteilungsebe­nen threat, coping und cost mit 454 Probanden in fünf verschiedenen hypothetischen Service­szenarien. Seine Ergebnisse bestätigen die Hypothese, dass alle drei Faktoren signifikanten Ein­fluss auf das CCB besitzen und bestätigen die Theorie von Rogers (vgl. Bolkan 2018, S. 849). Obwohl er keine Abhängigkeit aller drei Faktoren untereinander nachweisen konnte, suggerie­ren seine Ergebnisse, dass Konsumenten eine Kosten-Schaden-Analyse beim CCB durchführen (ebd.). Damit entsprechen seine Ergebnisse denen der aktuellen Forschung über CCB mit dem Unterschied, dass er eine negativ ausgerichtete Motivation beim Konsumenten aufzeigt. Die dahinterliegende Annahme lautet: „Ist das Problem groß genug, um die Kosten in Kauf zu neh­men?“ (vgl. Bolkan 2018, S. 853 f.). Das bestätigt insbesondere die Annahme von Thogersen und Kollegen (2009, S. 773 f.), dass die Ernsthaftigkeit einer nicht zufriedenstellenden Situa­tion hauptsächlich das CCB bestimmt.

Der Konsument benötigt viele Informationen, um die kognitiven Prozesse im Rahmen des CCB auswerten zu können. Um die Informationsverarbeitung des Konsumenten auf den einzelnen Beurteilungsebenen besser verstehen zu können, hilft die Signaling Theory nach Spence (2002). Besitzt ein Konsument unvollständige bzw. asymmetrische Informationen zu einer Situation oder Organisation, greift er auf vorherige Erfahrungen oder Signale, die aus der Situation her­vorgehen, zurück (vgl. Spence 2002, S. 435). Diese Signale aktivieren Assoziationen beim Konsumenten, die die Bewertung eines bspw. nicht zufriedenstellenden Services für ihn kog­nitiv vereinfachen (ebd.). Die Signale, die ein Konsument empfängt, können dabei ganz unter­schiedlich sein und sind in der Literatur auf viele andere Forschungsbereiche ausgeweitet wor­den. Barroso Martinez und Kollegen (2019, S. 4) nutzen die Signaling Theory, um die Wirkung der FBB auf Konsumenten zu erklären. Wie in Kapitel 2.2 erläutert, aktiviert die FFR bei Kon­sumenten durch Signale bestimmte Assoziationen, die sie dann in ihr Urteil einfließen lassen.

Die Arbeit folgt bisher der Auffassung, dass Konsumenten durch kognitive Prozesse eine be­wusste und kausal zusammenhängende Entscheidung innerhalb des CCB treffen. Die Untersu­chungen von Bolkan (2018) und Thogersen und Kollegen (2009) haben neben den bewussten kognitiven Prozessen im CCB auch demografische und persönliche Faktoren einbezogen. Wie in der Literatur vielfältig thematisiert, suggerieren ihre Ergebnisse einen Zusammenhang des CCB vom Alter, Geschlecht und Einstellung des Konsumenten. Selbst die politische Einstel­lung kann ein Indikator für ein bestimmtes CCB darstellen (vgl. Jung et al. 2017, S. 493). Damit zeigt sich, dass die kognitive Beurteilung einer Servicesituation durch Konsumenten auch von einer Vielzahl tiefenpsychologischer und gesellschaftlicher Faktoren bestimmt wird. Dieser Umstand muss daher bei einem Studienaufbau und einer Analyse zum CCB stets berücksichtigt werden.

Zusammenfassend zeigt dieses Kapitel, wie komplex und vielschichtig die kognitiven Prozesse innerhalb des CCB bei der Beurteilung einer Servicesituation ausfallen. Der wichtigste kogni­tive Prozess im CCB ist die Wahrnehmung und Beurteilung der Ernsthaftigkeit einer negativen Servicesituation durch den Konsumenten. Das Problem, bzw. die daraus resultierende Frustra­tion und Enttäuschung bildet gemeinsam mit den Beschwerdekosten und dem coping die kog­nitiven Prozesse des CCB. Die PMT liegt diesem Konzept zugrunde und ist durch empirische Ergebnisse bestärkt worden. Bisher unerforscht sind neben der Veränderung des CCB über Zeit (vgl. Bolkan 2018, S. 856) auch etwaige Imageeinflüsse innerhalb des CCB. Die Signaling Theory kann hier als gemeinsamer theoretischer Nenner für das CCB und die FFR genutzt wer­den. Wie in Kapitel 2.2 dargestellt, kann die Reputation einer Organisation, insbesondere FFR, positive Emotionen und Assoziationen beim Konsumenten hervorrufen. Die Einflüsse positiver Emotionen auf die drei kognitiven Beurteilungsebenen der PMT und damit auf das CCB ist in der Literatur bisher nicht erforscht und bedarf weiterer Untersuchungen.

2.3.2 Maßnahmen des CCB

Das vorherige Kapitel zeigte theoretische wie auch empirische Ergebnisse zu kognitiven Pro­zessen innerhalb des CCB. Ein wesentlicher Bestandteil des CCB blieb bisher unbeleuchtet: die tatsächlichen Beschwerdemaßnahmen von Konsumenten. Dieses Teilkapitel widmet sich daher der aus dem kognitiven Prozess resultierenden Reaktion des Konsumenten.

Warum das CCB überhaupt eine Reaktion hervorbringt, lässt sich gut anhand des emotional coping aus der Verhaltenspsychologie erklären (vgl. Folkman & Lazarus 1988). Die kognitiven Prozesse im CCB wecken Emotionen im Konsumenten. Diese Emotionen sind negativ und in der Regel gegen die Organisation gerichtet, die ein Serviceversagen verursacht (vgl. Kap. 2.3.1). Beim emotional coping vollzieht der Konsument Handlungen, die sein Gefühlszustand in ein Gleichgewicht zurückversetzen (vgl. Folkman & Lazarus 1988, S. 466). Mit anderen Worten: Der Konsument möchte seinen Emotionszustand durch eine Ausgleichshandlung re­gulieren.

Im speziellen Fall des Serviceversagens von Organisationen lassen sich verschiedene Be­schwerdekanäle identifizieren, die von Konsumenten genutzt werden können. Zu den direkten Beschwerdemaßnahmen gehören die verbalen Äußerungen gegenüber dem Manager oder den Mitarbeitern sowie schriftliche Äußerungen via Brief, Email oder auf der Organisationshome­page oder eine Kombination aus den verschiedenen Kanälen (vgl. Susskind 2006, S. 8). Zu den indirekten Beschwerdemaßnahmen zählen die Nutzung des privaten Social Media Accounts, die Nutzung von Rezensionsplattformen (z.B. Google) und negatives Word-of-Mouth (NWOM) gegenüber Freunden und Familie (vgl. Berry et al. 2018, S. 11). Konsumenten besit­zen also eine Vielzahl an Instrumenten, um ihrer Unzufriedenheit entgegenwirken zu können. Empirische Studien über Beschwerdemaßnahmen von Konsumenten zeigen jedoch, dass etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller Konsumenten ihre Beschwerde nicht an die Organisation rich­ten, die sie enttäuscht hat (vgl. Andreassen 2001, S. 47; Berry et al. 2018, S. 9). Das bedeutet, dass ein Großteil der Konsumenten eine indirekte Beschwerdekommunikation bevorzugt. Dazu gehört auch das kommentarlose Abkehren der Konsumenten von einer Organisation.

Für ein Unternehmen ist es hingegen essenziell, dass die Konsumenten ihre erlebte Unzufrie­denheit mitteilen, um die Servicequalität verbessern zu können (vgl. Kap. 2.2). Denn nur so kann die Organisation wiederum reagieren und auf die Beschwerde des Konsumenten eingehen. In der Literatur wird dieser Umstand service recovery genannt (vgl. Andreassen 2001, S. 41). Aus theoretischem Blickwinkel zählen dazu Erstattungs- oder Kompensationsmaßnahmen des Unternehmens um die im vorherigen Kapitel erläuterten GAP's zu verkleinern. Bolkan und Kollegen (2012, S. 116 f.) zeigen mit ihrer Studie, dass service recovery Maßnahmen das NWOM der Konsumenten verringern, die wahrgenommene Verbundenheit mit der Organisa­tion und auch die Bereitschaft zukünftig mit ihr zu interagieren, erhöhen. Wenn der Konsument durch die service recovery Maßnahmen zufriedener ist, als er vor dem Serviceversagen des Unternehmens war, kommt es zum service recovery Paradox (vgl. Andreassen 2001, S. 40). Ein Phänomen, welches vermehrt Aufmerksamkeit in der Literatur erfährt (ebd.). Das For­schungsfeld des service recovery wurde an dieser Stelle oberflächlich erläutert, um die kom­plette Spannweite des CCB aufzuzeigen und die Notwendigkeit von Beschwerdemaßnahmen zu verdeutlichen. Eine tiefergehende Analyse ist für das Ziel dieser Forschungsarbeit nicht not­wendig.

Das Kapitel „Beschwerdeverhalten von Konsumenten“ gab einen umfassenden Einblick in das CCB und zeigte, welche kognitiven Prozesse wie auch Handlungen aus der Wahrnehmung einer nicht zufriedenstellenden Servicesituation resultieren. Es sei erneut betont, dass das CCB durch 23 eine Vielzahl verschiedener Faktoren beeinflusst wird, die in diesem Kapitel nicht oder nur kurz thematisiert wurden, um die konkludente Struktur dieser Arbeit zu erhalten. Alle vorgestellten Einflussfaktoren vereint, dass sie einer bewussten und kognitiven Überlegung der Konsumen­ten zugrunde liegen.

Das Forschungsfeld CCB ist speziell in der Hotel- und Tourismusbranche wie auch durch die Kommunikations- und Marketingforschung geprägt worden. Gänzlich unbeachtet blieb das CCB bisher von der Forschung über FU. Diese Arbeit ist damit ein erster Vorstoß, die For­schung über FU um eine Facette des Konsumentenverhaltens respektive um das CCB zu erwei­tern. Dafür werden in der folgenden Herleitung der Forschungsfrage Indizien der FBB mit Ein­flussfaktoren der CCB verknüpft.

[...]


1 https://my.ffi.org/page/globaldatapoints [abgerufen am 05.05.2019]

2 Hier und im weiteren Verlauf der Arbeit wird für die Begriffe des Konsumenten, des Kunden und des Mitarbeiters das generische Maskulinum verwendet.

3 https://about.sixt.com/websites/sixt cc/German/0/ueber-uns.html#Familie [abgerufen am 11.05.2019]

4 https://de.statista.com/themen/1434/dienstleistungsbranche/ [abgerufen am 20.05.2019]

5 https://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/servicewueste-deutschland-wenn-das-unternehmen-noch-nicht-mal-das-problem-versteht/12446774.html [abgerufen am 15.03.2019]

6 Im Original: ownership, management, governance

7 Im Original: power, experience, culture

8 Der identity-oriented approach und der sociological based view. Beide Theorien sind für den weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht relevant und werden daher an dieser Stelle nur genannt, jedoch nicht erläutert.

9 Daraus abgeleitet ergibt sich der Name des AC2ID Tests.

10 Weiterführendes Beispiel: Die Warsteiner Brauerei (https://www.warsteiner.de/die-brauerei).

11 Die Wirkung auf oder Erfahrungen von Konsumenten mit FU ist zentrales Thema des nächsten Kapitels 2.2.3 Reputation View.

12 Corporate Social Responsibility

13 Ein aus dem Eigennamen abgeleiteter Begriff (https://de.wikipedia.org/wiki/Eponym (Sprachwissenschaft))

14 „I actually never thought about that. (...)” (Blombäck & Ramirez-Paillas 2012, S. 15).

15 Die Autoren untersuchten Konstrukte wie family firm pride, community social ties und long-term orientation (vgl. Zellweger et al. 2012, S. 248).

16 Susskind (2000, S. 357) verwendet das Synonym outcome expectation.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Beschwerdeverhalten von Konsumenten gegenüber Familienunternehmen im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen
Untertitel
Eine Vignettenstudie
Hochschule
Universität Bielefeld  (Führung von Familienunternehmen)
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
108
Katalognummer
V958361
ISBN (eBook)
9783346302038
ISBN (Buch)
9783346302045
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konsumentenverhalten, Familienunternehmen, Beschwerde, Beschwerdeverhalten, Quantitative Studie, Family-Business-Brand, Marketing
Arbeit zitieren
Gordon Schröder (Autor:in), 2019, Beschwerdeverhalten von Konsumenten gegenüber Familienunternehmen im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958361

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