Die Rolle Russlands in der Ukraine-Krise 2013. Neorealistischer und konstruktivistischer Blickwinkel


Dossier / Travail, 2015

13 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Neuer Kalter Krieg oder die Ukraine zwischen Ost und West

2. Neorealistische und konstruktivistische Erklärungsansätze
2.1 Die Wahrung der staatlichen und territorialen Integrität - der Neorealismus
2.2 Geteilter Wertekonsens oder die Ukraine als unvollendeter Sozialisand - Der Konstruktivismus

3. Ein Ende im Interesse des Friedens in Europa

Literaturverzeichnis

1. Neuer Kalter Krieg oder die Ukraine zwischen Ost und West

Der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, von 1945 bis 1990 das bestimmende Merkmal der internationalen Politik, schien ein geschlossenes Kapitel in der Geschichte zu sein. Doch die jüngsten Entwicklungen in Osteuropa könnten diese Annahme widerlegen. Die Annexion der Krim und die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine haben Aufruhr verursacht in der Weltpolitik. Ende des Jahres 2013 protestierten auf dem Kiewer Majdan hunderttausende Menschen gegen das autoritäre Regime Janukowytschs, Auslöser dabei war die Weigerung Janukowytschs, das bereits ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Unterstützt wurde er dabei von Russland, das eine Annäherung an den Westen mit allen Mitteln verhindern wollte. Nachdem die Proteste gewaltsam eskalierten und Janukowytsch abgesetzt wurde, griff Russland zum dramatischen Mittel der militärischen Intervention, annektierte die Krim und begann die Ukraine zu destabilisieren, indem es separatistische Gruppen im Donbass unterstützte. Das Verhalten Russlands führte damit zur schwersten internationalen Krise in Europa seit Ende des Kalten Krieges. Nach westlicher Auffassung hat Russland durch die Annexion das Völkerrecht gebrochen und wurde daraufhin vom Westen sanktioniert. Das Verhältnis zwischen Ost und West und insbesondere das Verhältnis zwischen Russland und den USA ist derzeit angespannt und die Ukraine-Krise hat sich mittlerweile zu einem Krieg entwickelt, der bereits über 6000 Menschenleben forderte.

Das beispiellose Vorgehen Russlands, so sehr man es verurteilen muss, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Faszination, da der vermeintlich notorisch überlegene und erfolgreiche Westen schlichtweg überrumpelt wurde und tatenlos zusehen musste, wie sich das von Obama als Regionalmacht degradierte Russland1 einfach die Krim einverleibte. Das aggressive Vorgehen Putins und die damit verbundene Dramatik bringt Bewegung und Unruhe in die internationale Politik, scheinbar überholte und infrage gestellte Institutionen wie die NATO rücken plötzlich wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Es stellt sich damit die Frage ob wir es bei der Ukraine-Krise mit einem Revival des Kalten Krieges zu tun haben. Einige Parallelen sind gewiss unleugbar. Damit bietet es sich gewissermaßen an, den Konflikt um die Ukraine aus neorealistischem Blickwinkel zu beleuchten, da machtpolitische Belange vermehrt im Vordergrund stehen. Anschließen soll anhand des Konstruktivismus die Rolle der NATO etwas näher untersucht werden, welche durchaus mehr beinhaltet als die klassische Kernfunktion der kollektiven Verteidigung zu Zeiten der Blockkonfrontation. Die mittlerweile kriegserschütterte Ukraine ist zutiefst gespalten und bereits seit langer Zeit hin- und hergerissen zwischen Ost und West.2 Nach der zuletzt zunehmenden Hinwendung zum Westen eskalierte die Situation, da Russland in der potentiellen Ausdehnung des Westens Kerninteressen Russlands bedroht sieht.

Im vorliegenden Artikel geht es um das Vorhaben der USA schweres Militärgerät nach Osteuropa zu verlegen, als Antwort auf das aggressive Verhalten Russlands in der Ukraine. Zu diesem Zweck traf der US-amerikanische Außenminister seine baltischen Amtskollegen. Die baltischen Länder, allesamt Mitglieder der NATO, sehen in Russland eine existenzielle Sicherheitsbedrohung, daher werden die US-Waffen unter anderem in besagten Ländern stationiert. Außerdem wurde eine Erweiterung der schnellen Eingreiftruppe vonseiten der NATO bekanntgegeben. Ziel ist es, bei einer weiteren Aggression Russlands, unmittelbar reagieren zu können, insbesondere im europäischen Raum. Russland gab daraufhin die Erweiterung seines Nuklearwaffenarsenals bekannt.

2. Neorealistische und konstruktivistische Erklärungsansätze

2.1 Die Wahrung der staatlichen und territorialen Integrität - der Neorealismus

Der Theorie des Neo-Realismus liegt eine durch und durch pessimistische Haltung zugrunde und stellt in ihrer ursprünglichen Form des Realismus die älteste Theorie der internationalen Beziehungen dar. Das internationale System steht im Zentrum und ist konträr zum hierarchisch geprägten Nationalstaat anarchisch geordnet. Anarchie bedeutet die völlige Abwesenheit von hierarchischer Struktur beziehungsweise Über- oder Unterordnung. Beim Ordnungsprinzip der Anarchie sind die Akteure untereinander gleichgestellt und subsystemische Strukturen werden bewusst ausgeklammert. Die Akteure sind im Realismus nach außen geschlossen auftretende, zweckrationale, egoistische und nach Macht strebende Staaten. Sicherheitsinteressen haben oberste Priorität, wobei Sicherheit als Erhalt der territorialen und staatlichen Integrität verstanden werden muss . „In einem anarchischen System muss die Sicherung des eigenen Überlebens in Autonomie das oberste Ziel jedes egoistisch-zweckrationalen Staates sein.“ (Schimmelfennig 2008: 69) Durch das Fehlen eines übergeordneten und regelnden Organs im internationalen System, müssen sämtliche Staaten mit der Unsicherheit über die Intentionen ihrer Nachbarstaaten leben. Damit steht Aggressivität und Expansionsdrang der benachbarten Staaten immer als Möglichkeit im Raum, die es außenpolitisch zu berücksichtigen gilt. Somit ist jeder Staat selbst für seine Sicherheit verantwortlich, entscheidend hierbei sind die Mittel physischer Zwangsgewalt in Form von Streitkräften und die jeweilige verfügbare Technologie. Diese stellen im internationalen System und in Bezug auf das Machtstreben die wichtigsten Ressourcen dar. In einem anarchischen System müssen Staaten, um überleben zu wollen, ihre Sicherheit maximieren, denn es ist nur unter den Bedingungen des Machtgleichgewichts für keinen Staat ratsam, einen anderen anzugreifen. Das ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Neo- oder strukturellen Realismus im Vergleich zum klassischen Realismus, denn „Staaten betreiben Machtpolitik nicht aus einem menschlichen Machttrieb heraus; ihr Hauptinteresse ist gar nicht die Macht, sondern die Sicherheit. Aber Sicherheit erwirbt man eben auch nur durch Machtmittel.“ (Krell 2004: 63) Daraus resultiert eine nie endende Machtkonkurrenz im internationalen System, da Machtungleichgewichte unmittelbar kompensiert werden müssen um das Machtgleichgewicht zu erhalten. Dieser Kreislauf, bestehend aus Sicherheitsbedürfnis und Machtanhäufung, ist auch bekannt als Sicherheitsdilemma und schränkt Handlungsmöglichkeiten und Fortschrittsoptionen im internationalen System massiv ein. Staaten können also einerseits militärische Fähigkeiten aufbauen aber andererseits auch Allianzen formen um Machtungleichgewichten beizukommen. Damit zählen „Allianzen oder Bündnisse [...] zu den wichtigsten staatlichen Antworten auf die sich aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems ergebenen Unsicherheit ihrer Existenz.“ (Griegerich 2012: 109)

Die Machtverteilung im internationalen anarchischen System kann dabei unterschiedliche Formen annehmen, hierbei wird unterschieden zwischen Unipolarität, Bipolarität und Multipolarität. Diese Unterscheidungen lassen auch Aussagen darüber zu, ob eher mit friedlichen oder kriegerischen Zeitabschnitten zu rechnen ist. Bei Bipolarität geht man aufgrund ihrer relativ übersichtlichen Struktur von eher friedlichen Phasen aus, ebenso verhält es sich bei der Unipolarität. Hierbei gilt je höher die Machtkonzentration, desto geringer die Unsicherheiten. Bei Multipolarität nehmen die Konflikte deutlich zu aufgrund zunehmender Unübersichtlichkeit und Machtdiffusion. Durch die Interaktionsmechanismen Sicherheitsdilemma und insbesondere Machtgleichgewicht ergibt sich eine zyklische Dynamik von Hegemonien, welche sich, im Hinblick auf die Geschichte, meist als recht stabile Phasen erwiesen haben. Anschließend soll nun die praktische Anwendung des Neorealismus anhand des ausgewählten Artikels erfolgen. Zentral dabei sind die beidseitig vorhandenen Ankündigungen militärisch massiv aufzurüsten. Die USA kündigt den Ausbau ihres Militärengagements in Europa an, die NATO gibt die Erweiterung der mobilen Eingreiftruppe3 bekannt und Putin verkündet die Erweiterung des russischen Atomwaffenarsenals.

Im internationalen System gibt es derzeit faktisch keine übergeordnete Machtstruktur mit Sanktionspotential, ansonsten hätte das völkerrechtswidrige Handeln Russlands bei der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ost-Ukraine geahndet werden müssen. (Cicero nachschauen die zaudernde Weltmacht) Zusätzlich zum Völkerrecht brach Russland auch mehrere multilaterale Abkommen4, in denen es die territoriale Integrität der Ukraine anerkannt hatte. Russland lässt sich jedoch in seinem Vorgehen nicht beirren, trotz der zahlreichen internationalen Kritik.

„Erklärungen für dieses Verhalten sind nicht nur in der geopolitischen Bedeutung der Ukraine aus russischer Sicht zu suchen, sondern vermutlich auch darin, dass der Verlust der Ukraine in der Folge der Maidan-Revolution sowie des Sieges der Russland-kritischen Kräfte bei den diversen Wahlen in der Ukraine als Fortsetzung, ja womöglich als Gipfel der Schmach wahrgenommen wird, die in Moskau mit dem Vorrücken westlichen Einflusses nach Osten verbunden wird.“ 5

Das Geschehen in der Ukraine, die zunehmende pro-westliche Dynamik und das letztendlich unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union sorgen dafür, dass Russland diese Entwicklungen als existenzielle Sicherheitsbedrohung wahrnimmt. Besondere Relevanz kommt hierbei auch dem möglichen NATO Beitritt der Ukraine zu. Tritt diese Ereignis ein, käme das sicherheitspolitisch und geostrategisch in Europa einem Erbeben gleich. „Bekanntlich ist nicht nur die Ukraine selbst, sondern die gesamte Region, in der sie sich befindet, eine Sphäre der strategischen Interessen Russlands.“ (Pradetto 1997: 136) Durch die Hinwendung der Ukraine zum Westen kann sich das Machtungleichgewicht, das zwischen Russland und Westen bereits besteht, noch weiter verschlechtern, da Russland den postsowjetischen Raum als eigene Einflusssphäre beansprucht. Darunter wird verstanden, „dass [Russland] hier die Spielregeln definieren, die Aktivitäten externer Akteure begrenzen und die außenpolitische Handlungsfreiheit der Staaten, allen voran die Bündnisfreiheit, beschränken darf.“6 Putin versucht mit allen Mitteln das Machtungleichgewicht mit dem Westen auszugleichen, daher wurde 2014 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet, Putins Gegenmodell zur Europäischen Union. Die Ukraine sollte, als zweitgrößtes Land Europas, eine wichtige Rolle darin einnehmen, wendete sich allerdings dem Westen zu. Unter der Führung Putins strebt Moskau danach, anstelle der unipolaren Ordnung unter der Führung der USA7, ein multipolares System zu etablieren, in dem Russland als einer der führenden Pole vertreten ist. Bis jetzt rechtfertigt Russland seinen Großmachtanspruch eigentlich fast ausschließlich durch sein riesiges Atomwaffenarsenal, welches noch aus der Zeit der Sowjetunion besteht. Aus neo­realistischer Sicht sind allerdings die zur Verfügung stehenden Zwangsmittel und eine überlegene Technologie maßgeblich für die Durchsetzung außenpolitischer Interessen. Russland, die Hegemonialmacht im postsowjetischen Raum, ist auch heute noch eine militärische Supermacht mit einer Verfügungsgewalt über ein gewaltiges Potential an Kernwaffen, das ausreichen würde, die Welt mehrmals zu vernichten. Aus neo-realistischer Sicht steht Russland trotz wirtschaftlicher Unterentwicklung auf einer Stufe mit der NATO, eben aufgrund seiner nuklearen Überrüstung. Die jüngsten Entwicklungen, Aufrüstung des Atomwaffenarsenals beispielsweise, weisen immer mehr auf einen erneuten Rüstungswettlauf hin, ein weiteres Merkmal des Neo-Realismus. Durch das Machtstreben Russland und dessen Aggressivität was die Durchsetzung anbelangt, erhöht sich das Sicherheitsbedürfnis sämtlicher Länder die der NATO angehören. Logische Schlussfolgerung des Machtstreben Russlands ist also die Aufrüstung der NATO Mitgliedsländer, insbesondere im mittel- und osteuropäischen Raum, wie im ausgewählten Artikel beschrieben. Dies ist auch unter der „Tit-for-Tat“- Spieltheorie bekannt und in letzter Zeit durchaus empirisch belegbar, so setzte Russland Ende Mai plötzlich 12000 Soldaten in Alarmbereitschaft, die NATO hielt vor zwei Wochen das größte Manöver ihrer Geschichte an ihrer Ostgrenze ab, die USA verlegen schweres Militärgerät nach Osteuropa und Russland droht neuerdings mit der Erweiterung seines Atomwaffenarsenals.

[...]


1 Im März 2014 bezeichnete Barack Obama Russland als „regional power that is threatening some of its immediate neighbors —not out of strength but out of weakness“ (Link: https://www.washingtonpost.com/world/national-security/obama-dismisses-russia-as-regional-power-acting-out- of-weakness/2014/03/25/1e5a678e-b439-11e3-b899-20667de76985_story.html ; Tag des Aufrufs: 01.08.2015)

2 Die Ukraine weist seit ihrer Unabhängigkeit 1991 eine ausgeprägte Spaltung auf, so ist der Westen eher prorussisch ausgerichtet, der Osten hingegen orientiert sich mehrheitlich an Russland. Der russische Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent.

3 Exakte Bezeichnung: Very High Readiness Joint Task Force

4 Insbesondere verwiesen die westlichen Regierungen auf das Budapester Memorandum vom Dezember 1994. Darin hatte sich u.a. die Ukraine verpflichtet ihre Nuklearwaffen abzugeben, im Gegenzug garantierten die USA, Russland und Großbritannien die Souveränität und territoriale Integrität der sowjetischen Nachfolgestaaten.

5 Hellmann, Gunter (2015): Faktoren erweiterter Sicherheit http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/bU7BDoIwFPsiNpZoDN4kePCqMYoX84DneGFs5PGAix_vOBgvt k0vbZrqh470MJMFoeDB6bsua9pXi6r62aqR6ha5RZJxCI6EOgXeYhüEFSM0yM8_FZO8oJPA6BPkJSbIücmv qawLFTgaCXnyVt_WGw2qOniü1QW9üHTLEHfüEFjcmkwcR0VRo8vüFHlq0i_MO7tmx0u22W2Lü37WQ 98fPkCk9b8!/ (02.08.2015)

6 Klein, Margarete (2015): Russland - Wohin steuert die ehemalige Weltmacht? In: Informationen zur politischen Bildung. Internationale Sicherheitspolitik. Nr.326, S.44 - 50

7 Diese Annahme ist kritisch zu betrachten und es gibt keinen Konsens über die derzeitige Polarität im internationalen System.

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Die Rolle Russlands in der Ukraine-Krise 2013. Neorealistischer und konstruktivistischer Blickwinkel
Université
University of Augsburg
Note
1,3
Auteur
Année
2015
Pages
13
N° de catalogue
V958981
ISBN (ebook)
9783346307903
ISBN (Livre)
9783346307910
Langue
allemand
Mots clés
Ukraine, Kalter Krieg, Ost West Konflikt, Krim, Russland, Internationale Beziehungen, Annexion
Citation du texte
Samuel Kohnle (Auteur), 2015, Die Rolle Russlands in der Ukraine-Krise 2013. Neorealistischer und konstruktivistischer Blickwinkel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958981

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