Politischer Extremismus als jugendliches Problemverhalten


Élaboration, 1999

15 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. DAS PHÄNOMEN DES EXTREMISMUS
2.1 Ausmaß des extremistischen Potentials
2.2 POLITISCHER EXTREMISMUS ALS PROBLEMVERHALTEN
2.3 Politischer Extremismus als Problemverhalten Jugendlicher?
2.4 Zusammenfassender Erklärungsansatz nach Preiser (1995)
2.4.1 Gesellschaftliche Bedingungen
2.4.2 Individuelle Bedingungen
2.4.3 Entwicklungspsychologische Bedingungen
2.4.4 Extremismus als komplexes Systemgeschehen

3. POLITISCHER EXTREMISMUS IN DER ENTWICKLUNG
3.1 Ausstieg
3.2 Die 68er-Studentengeneration

4. PRÄVENTION UND INTERVENTION

5. DISKUSSION

6. LITERATUR

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit referiert im wesentlichen die Arbeit von Siegfried Preiser (1995) zum politischen Extremismus im Jugendalter. Dabei wird den herkömmlichen eindimensionalen Erklärungsansätzen für das Phänomenen ein integrativer multidimensionaler Ansatz aus entwicklungspsychologischer Sicht gegenüber gestellt.

1 Einleitung

Das Phänomen des politischen Extremismus hat gerade in Deutschland eine enorme politische Brisanz, die durchaus auf die besondere historische Entwicklung rückführbar ist. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema findet darum stets auch auf dem Hintergrund des Nationalsozialismus, aber auch des Kalten Krieges und der deutschen Teilung statt.

Das öffentliche Interesse an diesem Thema ist stets leicht weckbar, zuletzt durch die Welle rechtsextremer Gewalttaten Ende de 80er und zu Beginn der 90er Jahre. Dabei ist der Disput zu diesem Thema häufig eher politisiert als wissenschaftlich orientiert. Auf diesem Hintergrund sind auch Erklärungsansätze zum politischen Extremismus zu sehen, wie sie von Politikern und Journalisten anläßlich solcher und ähnlicher Ereignisse geliefert werden. Siegfried Preiser (1995), auf dessen Aufsatz das vorliegende Referat beruht, versucht demgegenüber eine nüchterne Bestandsaufnahme und möchte die Frage beantworten, welche Erklärungsansätze weiterhin Bestand haben können, inwieweit entwicklungspsychologische Fragestellungen betroffen sind und welche Möglichkeiten zur Intervention und Prävention gegeben sind.

Obwohl es Hinweise auf strukturelle und demographische Unterschiede zwischen Links- und Rechtsextremisten gibt (z. B. Kaiser, 1997), lassen sich jedoch beide Phänomene gemeinsam behandeln, da zu vermuten ist, daß sich diese Unterschiede lediglich in den Valenzen der politischen Inhalte, nicht jedoch im Problembereich grundsätzlich widerspiegeln (vgl. Preiser, 1995, Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997).

2 Das Phänomen des Extremismus

Zunächst sollen einige für das Thema wichtige Begriffe geklärt und definiert werden. Eine erste Annäherung an das Phänomen versucht eine Einschätzung der quantitativen und qualitativen Relevanz.

Politischer Extremismus ist nach Backes & Jesse (1989; zitiert nach Preiser, 1995) gekennzeichnet durch:

- Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates
- Zurückweisung des politischen Pluralismus
- Alleinvertretungsanspruch für Weltanschauung und politische Deutungs- muster
- darüber hinaus Verbindung zu Gewaltbereitschaft
- Synonym: Radikalismus
- Sonderformen: Anarchismus und Terrorismus

Die hier gelieferte Definition ist in ihrem Kern lediglich Antithese zu den Grundsätzen der konstitutionellen Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland verstanden wird. Natürlich ist eine ahistorische und gesellschaftlich unabhängige Definition des Begriffes kaum möglich. Zur Festlegung eines Extrems bedarf es eines gesetzten Mittelpunkts. Dessenungeachtet weist auch Preiser (1995) daraufhin, daß Nonkonformität und Veränderungsbereitschaft nicht mit einem negativ bewerteten Extremismus gleichzusetzen ist. Denn Radikalität im Sinne eines Vorhandenseins extremer Einstellungen und Grundsätze sowie Rigorismus schließen die Toleranz demo-kratischer Grundwerte keineswegs aus.

21 Ausmaß des extremistischen Potentials

Laut einer Eingabe des Deutschen Jugendinstituts vom Juni 1993 bezeichneten sich ca. 3% der westdeutschen und 3.5% der ostdeutschen Jugendlichen als rechtsrextrem und erklärt gewaltbereit. Die latente Gewaltbereitschaft lag nach dieser Quelle mit 10 bzw. 16% deutlich höher (Preiser, 1995, S. 1078).

Allerdings sind diese Ergebnisse stark von der Interviewfragestellung und den aktuellen politischen Rahmenbedingungen abhängig.

Nach Angaben des Verfassungsschutzberichts für das Jahr 1998 (Bundesministerium des Inneren, 1999) ist das Potential gewalttätiger oder gewaltbereiter Mitglieder der extremistischen Spektren schwer zu bestimmen, da feste Organisationsstrukturen in aller Regel fehlen.

Die Ergebnisse der Shell-Studie 1997 legt nahe, daß die Mehrheit der Jugendlichen extremistischen Gruppen und den damit assoziierten Jugendstilen (Autonome, Skinheads) eher ablehnend gegenüber steht. Dasselbe läßt sich für entsprechende extremistische politische Aktivitäten aussagen.

Von den Befragten Jugendlichen gaben 76% an, keinerlei ,,Konflikthafte politischen Aktivitäten auszuüben oder ausgeübt zu haben", 13% eine, und 9% zwei oder mehr.

Insgesamt überwiegend die männlichen Jugendlichen (Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997, S. 339). Das gleiche Bild einer deutlichen Abneigung ergeben die sogenannten Hit- und Hasslisten, die im Rahmen der Studie erstellt werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 & 2: Beide aus Shell, 1997, S. 365 (15-24jährige Jugendliche)

22 Politischer Extremismus als Problemverhalten

Preiser (1995) nennt insgesamt sieben charakteristische Betrachtungsweisen des Phänomens, die explizit oder implizit in der Literatur zu diesem Thema zu finden sind:

1. Kriminologische Ebene

Extremistische Aktivität wird im Hinblick auf rechtliche Normen bewertet und diskutiert. Hierunter fallen auch kriminalistische und polizeitaktische Überlegungen.

2. Psychopathologische Ebene

Extremismus als Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit. Das Verhalten wird auf Grundlage der Pschopathologie oder Psychoanalyse als Ergebnis von Fehlentwicklungen und unbewältigter Konflikte angesehen.

3. Persönlichkeits- und motivationspsychologische Ebene

Kompensierung von Minderwertigkeitsgefühlen, Machtstreben, Suche nach Geborgenheit und Selbstbestimmung, Undifferenziertheit und Nonkonformität werden als Korrelate extremistischer Haltungen und Verhaltensweisen gefunden.

4. Politisch-gesellschaftliche Ebene

Fehlentwicklungen auf dieser Makroebene werden als Ursache für extremistische Tendenzen angesehen, beispielsweise Arbeitslosigkeit, politische Skandale etc.

5. Sozialstrukturelle und sozialpsychologische Ebene

Hierunter fällt insbesondere die Analyse des Verhältnisses von Binnen- zu Außengruppen, von gruppendynamischen Prozessen und rollentheoretischer Überlegungen.

6. Sozialisationstheoretische Ebene

Diese Ebene trägt familiären Einflüssen, ,,Schlüsselerlebnissen", spezieller Eltern-Kind- Interaktionen sowie Einstellungen und Phantasien von Jugendlichen gegenüber Autoritätspersonen Rechnung.

7. Entwicklungspsychologische Ebene

Thematisiert werden Zusammenhänge zwischen kognitiver und moralischer Entwicklung sowie die Bedeutung extremistischer Aktivitäten bei der Identitätsfindung (z. B. Merelman, 1977; zitiert nach: Preiser, 1995).

Keiner dieser Ansätze ist für sich allein in der Lage das Phänomen ausreichend zu erklären. Darüber hinaus enthalten sie oft, wie auch die eingangs gegebene Definition von Backes & Jesse, negative Wertungen und/oder Implikationen. Die Bewertung des Phänomens ist von jeher stark politisch und, insbesondere in der Bundesrepublik, auch stark historisch geprägt (Weimarer Republik/Kalter Krieg). Daraus ergab sich ein Demokratieverständnis des ,,Status-quo"(sogenannte Freiheitlich- Demokratische-Grundordnung). Innerhalb dieses Rahmens ist politisches Engagement Jugendlicher durchaus gewünscht, wenn nicht sogar gefordert (Stichwort: Politikverdrossenheit und angeblich nur ,,Fun-orientierte" Jugendliche). Wird dieses Wertesystem verlassen, erfolgt die Einschätzung von politischen Werthaltung als extremistisch bis hin zum gewaltbereiten oder gewalttätigen Terrorismus. Die Kategorisierung als Problemverhalten politisch extremer Einstellung bei Jugendlicher ergibt sich zumindest teilweise nachvollziehbar auf der kriminologischen Ebene.

Weiterhin erfolgt diese Einschätzung auf dem Hintergrund expliziter oder impliziter Zielvorstellung persönlicher Entwicklung. Der dogmatisch engstirnige und kognitiv wenig flexible Extremist steht beispielsweise im Gegensatz zu einem differenzierten und komplex politisch denkenden Nichtextremist (Demokrat) (vgl. Sidanius & Lau, 1989). Es wird sozusagen befürchtet, daß eine Hinwendung Jugendlicher zu extremistischem Gedankengut die Entwicklung einer ausgereiften Persönlichkeit behindert.

Inwieweit politischer Extremismus an sich als Problemverhalten anzusehen ist, bleibt meines Erachtens jedoch zunächst einmal eine offene Frage, da die oben genannten Ansätze von Preiser zu Recht in Frage gestellt werden.

23 Politischer Extremismus als Problemverhalten Jugendlicher?

Politischer Extremismus ist keinesfalls nur auf das Jugendalter beschränkt. Da er jedoch ein Mindestmaß an Verständnis für politische Prozesse und Strukturen voraussetzt, ist das Jugendalter der früheste Zeitpunkt, an dem er auftreten kann (Preiser, 1995). Preiser weist weiterhin daraufhin, daß Extremismus, insbesondere in seiner gewalttätigen Variante, eher dem frühen Erwachsenenalter zuzurechnen sei. Demgegenüber stellt Willems (1993, zitiert nach: Kaiser, G., 1997) heraus, daß rechtsextremistische Gewalttaten überwiegend von männlichen Tätern im Alter zwischen 15 und 20 Jahren begangen werden. Die Gewalttaten werden überwiegend in Gruppen, spontan und häufig unter Alkoholeinfluß begangen.

Allerdings ist hierzu auch anzumerken, daß die Altersverteilung der Kriminalitätsrate für die Jahre 16-25 ohnehin den steilsten Anstieg verzeichnet (Kaiser, 1997, S. 263), so daß sich die Frage stellt, ob politisch motivierte Gewalt unter Jugendlichen nicht lediglich ein besonderes Teilproblem jugendlicher Delinquenz darstellt. Leider kann diese interessante Fragestellung an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.

Darüber hinaus existieren weitere Unterschiedlichkeiten zwischen Links- und Rechtsextremismus sowohl hinsichtlich der Mitgliederstrukturen als auch der Umstände der Gewaltanwendung.

Einige Zahlen (Quelle: Verfassungsschutzbericht 1998. Herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach Einschätzungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz handelt es sich bei beiden exemplarisch genannten Jugendorganisationen trotz ihrer geringen Mitgliederzahlen noch um die relevantesten und einflußreichsten Verbände im jeweiligen Spektrum. Hierbei beträgt das Verhältnis der Mitglieder der Jugendorganisationen zu der Partei bei den JN 6.6% und bei der SDAJ1 4.6%.

Die Zahlen zeigen zumindest, daß Extremismus kein ausschließliches Jugendphänomen ist. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist politischer Extremismus jedoch als Spezialfall der allgemeinen politischen Sozialisation zu verstehen (Preiser, 1995).

24 Zusammenfassender Erklärungsansatz nach Preiser (1995)

Wie bereits oben ausgeführt, scheinen eindimensionale Erklärungsansätze als nicht ausreichend, um das Phänomen des politischen Extremismus im Jugendalter zu erklären. Während die Schwächen der soziologisch orientierten Ansätze darin bestehen, daß sie unterschiedliche politische Entwicklungsprozesse bei zumindest sehr ähnlichen allgemeinen Sozialisationsbedingungen nicht erklären können, gilt gleiches für individuenbezogene Ansätze im Hinblick auf das Auftreten von extremistischen Wellen.

Deshalb schlägt Preiser (1995) eine ,,Integration und eine systemtheoretische Perspektivenerweiterung" (S. 1080) vor. Auf die einzelnen Ebenen seines Ansatzes wird im folgenden näher eingegangen.

24.1 Gesellschaftliche Bedingungen

Hierzu zählen nach dem Stand der Forschung zunächst auch staatliche oder gesellschaftliche Ausgrenzung und Kriminalisierung, denn dadurch werden alternative Lebensperspektiven der Betroffenen blockiert und der Gruppenzusammenhalt der politischen Subkulturen gestärkt.

Als weitere gesellschaftliche Faktoren kommt den ökonomischen und ökologischen Lebensumständen eine wichtige Rolle zu. Dabei sind nicht die objektiven Umstände maßgeblich, sondern die tatsächliche oder wahrgenommene Diskrepanz zwischen der realisierbaren Lebensqualität und der Lebenssituation vergleichbarer Personengruppen oder den als berechtigt angesehenen eigenen Ansprüchen.

Ökonomische Schwäche für sich genommen ist demzufolge nicht der entscheidende Faktor, der eine Hinwendung zu extremistischen Ideologien begünstigt, sondern vielmehr deren Relativität zu anderen Gruppen oder Personen.

Gleiches gilt für politisches Versagen und politische Skandale: entscheidend sind die sich darin offenbarenden inneren Widersprüche der Gesellschaft. Die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Dabei versucht dieser Ansatz, die individuell unterschiedliche Verarbeitung gesellschaftlicher Realität, etwa eine wahrgenommene Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, zu berücksichtigen. Die Anfälligkeit für Extremismus mit ganz unterschiedlichem Hintergrund im Zusammenhang mit der individuellen Entwicklung in Krisensituationen kann auf diese Art erklärt werden. Dies betrifft Arbeitslose, Studien- bzw. Ausbildungsabbrecher, aber eben auch die extremistische Ausländerfeindlichkeit der sogenannten ,,Modernisierungsgewinner".

24.2 Individuelle Bedingungen

Nach weitverbreiteter Vorstellung des sogenannten ,,Ideologie-Modells" seien Rechts- und Linksextreme gleichermaßen autoritätsorientiert, intellektuell unerfahren und dogmatisch, neigten zu unpräziser politischer Wahrnehmung und vorschnellen Schlußfolgerungen und wiesen ein geringeres Niveau kognitiver Differenziertheit und begrifflicher Komplexität auf. Demgegenüber steht die ,,Kontext-Hypothese" von Sidanius (Sidanius & Lau, 1989): Der Zusammenhang zwischen Komplexität und Radikalismus hänge von politischen und historischen Rahmenbedingungen ab. Keinesfalls sei es möglich, alle soziopolitischen Aspekte über einen Kamm zu scheren.

Die Forderung nach dem Frauenwahlrecht oder politischer Emanzipation, heute zumindest dem Anspruch nach akzeptiert, wäre noch vor 100 Jahren als radikal zu bezeichnen gewesen. Sidanius führt weiter aus, daß Extremisten hohe Grade kognitiver Komplexität auf dem Gebiet aufwiesen, in dem sie eine entsprechende Position vertreten. Rassismus korreliert beispielsweise mit geringer Komplexität; dies wird erklärt über ein geringes Selbstwertgefühl; der Rassismus gewinnt die Stellung eines ich-verteidigenden Vorurteils; Extremistische Einstellungen im ökonomischen Bereich hingegen weisen demgegenüber eine hohe Komplexität auf.

Preiser (1995) merkt hierzu an, daß es für Mitläufer in extremistischen Subkulturen gleichwohl möglich sei, auch ohne kognitive Komplexität entsprechende Positionen zu vertreten. Dies gerade deshalb, weil sie zu differenzierten Urteilen unfähig seien.

Ein weiterer, die Radikalität begünstigender individueller Faktor, ist der Entwicklungsgrad des moralischen Urteils. Je höher der Entwicklungsgrad, desto größer ist die Neigung zu extremen Positionen. Offenbar entwickelt sich diese Beziehung jedoch erst in der Adoleszenz (Merelman, 1977, zitiert nach Preiser, 1995).

24.3 Entwicklungspsychologische Bedingungen

Preiser stellt die These auf, daß die Gefahr eine extremistischen Politisierung um so größer sei, je geringer die subjektiv wahrgenommenen Selbstbestimmungs- und Einflußchancen seien.

Dies sei eine Folge von sich gegensätzlich entwickelnden, zunehmenden Autonomiebestrebungen der Jugendlichen auf der einen, aber auch rigideren Anforderungen des beruflichen und sozialen Umfelds auf der anderen Seite. Hinzu trete eine verstärkte Suche nach Selbstbestimmung und Einfluß als weiteren Aspekten einer ,,Kontrollmotivation". Kurz gesagt: je geringer die Möglichkeiten die eigenen Fähigkeiten zur Kontrolle in Handeln und Urteilen auszuleben, desto eher wächst die Bereitschaft, diese Diskrepanz mittels extremistischer Ideologien zu kompensieren.

Gleichzeitig erlebt die ,,Geborgenheitsmotivation" im Jugendalter schwere Erschütterungen, die durch wachsende Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft bezüglich der Mobilität und Loslösung aus sozialen Bindungen bedingt ist. Dies führt dazu, daß Jugendliche aus familiären und lokalen Bindungen gelöst würden, was wiederum als überfordernde Vereinzelung erlebt werden kann.

Extremistischen Gruppierungen bieten sich hier Anknüpfungspunkte, indem sie Zugehörigkeit und verlorene Geborgenheit vermitteln.

Die Bedeutung dieser von Preiser (1995) genannten Motivationen legen auch Ergebnisse der Shell-Studie 1997 nahe.

Bei einer Analyse zu den Motiven und Bedingungen für ein mögliches politisches Engagement stehen drei Aussagen, die mit der ,,Kontrollmotivation" in Einklang stehen, auf den Rangplätzen 2-4 (Jugendwerk der Deutschen Shell, 1997, S. 325).

Eine ähnliche Rolle können die Peer-Gruppen spielen. Normalerweise erleichtern Gruppenbindungen den Ablöseprozeß vom Elternhaus; häufig vollzieht sich eine solche Gruppenbindung auch in Form von subkulturellen Modeströmungen, zum Beispiel Punks und Skins sowie gegebenenfalls in Form von extremen politischen Gruppierungen.

Nach Preisers These können diese Gruppierungen über spektakuläre und provokative Aktionen Jugendlichen das Gefühl von Kontrolle und Einfluß vermitteln und so an die Kontrollmotivation anknüpfen.

Fragen der Jugendlichen nach Sinn und Orientierung werden durch, zumeist einfache, Antworten und Ideologiemuster beantwortet bzw. überdeckt. Kameradschaft und Zugehörigkeitsgefühl, die häufig durch feste Gruppenstrukturen im extremistischen Spektrum transportiert werden, gleichen Defizite der Geborgenheitsmotivation aus (Preiser, 1995).

Ausgrenzungen und Anfeindungen durch die Gesellschaft fördern wiederum die Gruppenzugehörigkeit und fördern vielleicht auch das romantisierende Gefühl, der eigenen Überzeugung wegen verfolgt zu werden. Dies mag wiederum zu einem festeren Anschluß an die Gruppe führen.

24.4 Extremismus als komplexes Systemgeschehen

Mit diesem Systemgeschehen ist das Zusammenspiel individueller, historischer, gesellschaftlicher und kontextueller Faktoren gemeint.

Nach Preiser (1995) entwickelt sich und verändert sich Extremismus in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedingungen, konkreter sozialer Gruppen und Personenmerkmalen. Deshalb müssen bei der Erklärung stets historische, gruppendynamische und individuelle Entwicklungsprozesse berücksichtigt werden.

3 Politischer Extremismus in der Entwicklung

Hier soll schließlich die Frage nach Verläufen von extremistischen Orientierungen anhand zweier konkreter Fragestellungen kurz angerissen werden.

Zum einen anhand des Ausstiegs aus der Extremismus- bzw. Terrorismusszene, zum anderen am Beispiel der 68er-Studentengeneration.

Dabei kann auch deutlich gemacht werden, daß politischer Extremismus kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist und auch nicht am Endpunkt einer individuellen Entwicklung stehen muß.

31 Ausstieg

Für Jugendsekten, Psychosekten und destruktive Kulte stellt Roderigo (1994) fest, daß zwischen 50 und 90% der Mitglieder ihre Sekte innerhalb der ersten zwei Jahre durch freiwilligen Austritt, Ausschluß oder durch Zwang von außen verlassen.

Der freiwillige Austritt ist als Veränderungsprozeß mit zwei wesentlichen Phasen beschreibund erklärbar:

1. Entfremdungsphase

Allmähliche Abkehr von gruppenspezifischen Denk- und Verhaltensmustern.

2. Annäherung

Ineinander übergehend erfolgt nach diesem Einschnitt eine schrittweise Wiederannäherung an die konventionelle Gesellschaft.

Obgleich die Ausstiegsquote aus der terroristischen Szene wesentlich niedriger liegt, nach de Ahna (1982; zitiert nach Preiser, 1995) etwa bei 17%, dürfte der Prozeß des Ausstiegs ähnlich wie oben beschrieben ablaufen.

Bei allen Schwierigkeiten der empirischen Absicherung, wie etwa nur geringe Ausstiegszahlen, fehlende objektivierbare Angaben (nur wenige differenzierte Selbstdarstellungen von Aussteigern), gelangt de Ahna (1982) zu folgenden Ergebnissen: In mehr als der Hälfte aller Fälle war eine drohende oder erfolgte Festnahme Auslöser für den Ausstieg. Weitere Faktoren waren das Überschreiten individueller Toleranzen, im Sinne eines ,,bis hierhin und nicht weiter", Aussicht auf Strafminderung, Hafterleichterung oder Einstiegshilfen in die Normalität, Gemeinsamkeiten mit anderen Ausstiegswilligen, Unzufriedenheit mit der Gruppe und/oder deren Strukturen, fehlende Integration oder Akzeptanz in der Gruppe sowie Selbstreflexion.

Als Faktoren, die einem möglichen Ausstieg eher entgegenwirken, sind zu nennen:

Gruppenloyalität, kriminelle Verstrickungen und damit verminderte persönliche Perspektiven, Gegenmaßnahmen der Gruppe (Moralisierung, Kontrolle, Sanktionen) sowie zu erwartende strafrechtliche Konsequenzen.

Die Heterogenität der hemmenden und fördernden Faktoren zeigt nochmals, wie Komplex das Zusammenspiel und die Wechselwirkung bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung extremistischer Verhaltens- und Einstellungsmuster ist.

Dabei ist in diesem Zusammenhang auch von Interesse, daß Aussteiger aus der Terrorismusszene, den Eindruck von Kontinuität in der Entwicklung zu vermitteln suchen, wo es in Wirklichkeit einen radikalen Bruch der Biographie gab.

Etwa in dem Sinne, daß man stets der aufrechte Revolutionär geblieben ist und sich nur getäuscht hatte oder gar getäuscht wurde.

Dieses Eingeständnis ist offenbar leichter, als zuzugeben, daß man über einen längeren Zeitraum nur gefehlt hat oder gar abzulehnenden moralischen Wertvorstellungen anhing.

32 Die 68er-Studentengeneration

Durch die Erfahrung der 68er Studentenbewegung ist eine ganze Generation geprägt worden. Diese Bewegung war einerseits radikal im Vergleich zu vorangegangen Generation und zum gesellschaftlichen Umfeld.

Für Studenten der Jahre 1968 bis 1972 war es dagegen normal, ,,radikal" zu sein. Also keinesfalls ein Problemverhalten, sondern eher generationsspezifische Norm.

Entwicklungspsychologisch sind die Lebenswege dieser Generation interessant, weil deren Verläufe, nicht zuletzt in Ermangelung anderer qualifizierter Längsschnittstudien, anhand prominenter Protagonisten und anderer Fallbeispiele verfolgbar ist (Preiser, 1995). Nach Sichtung der geringen, relativ unsystematischen und verfälschungsanfälligen Datenbasis lassen sich nach Preiser (1995) folgende Erklärungen und Beschreibungen für die weitere Entwicklung der 68er-Studentengeneration abgeben:

1. Der Zeitgeist kann Entwicklungsgeschichten vereinheitlichen und das Denken und Handeln einer Generation in Richtung Radikalität prägen.
2. Diese Vereinheitlichung mündete aber in viele verschiedenartige weitere Entwicklungen, die auch diametral entgegengesetzt sein können.
3. Die weitere Entwicklung ergibt sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher früherer und späterer Erfahrungen im privaten und beruflichen Umfeld sowie im eigentlichen politischen Engagement.
4. Lebensereignisse, wie beispielsweise Familiengründungen, berufliche Karrieren sowie neue Kontakte können eine Veränderung der Werteorientierung bewirken. Gerade in das frühe und mittlere Erwachsenenalter fallen eine Vielzahl solcher Lebensereignisse.
5. Stabilisierend wirkt sich naturgemäß eine Etablierung im radikalen Milieu sowie eine wachsende gesellschaftliche Toleranz aus (Laufer, 1976; zitiert nach Preiser, 1995).
6. Eventuell Ablösung der extremen politischen Orientierungen durch alternative rigorose Orientierungen mit gewissem Trendcharakter wie beispielsweise New-Age-Esoterik oder pseudoreligiöse Kulte.
7. Auch hier zeigt sich die Tendenz der Betroffenen, die spätere Entwicklung auf dem Hintergrund zur Zeit der Bewegung gemachten Erfahrungen zu interpretieren. Dabei werden, um den Anspruch nach Kontinuität der Identität aufrecht erhalten zu können, teilweise auch schwer nachvollziehbare Erklärungen geliefert. Preiser (1995) nennt als Beispiel einen Mitbegründer der Yippie-Bewegung (einer internationalen Jugendpartei der Hippie-Zeit), der sich 1980 als Erfinder des Yuppie-Lebensstils karriere-orientierter Jung-Unternehmer hervortat. Diese Entwicklung wurde von diesem durchaus als konsequente Anpassung seiner früheren Überzeugungen an die veränderte gesellschaftliche Situation interpretiert. Das Erleben von Kontinuität wird häufig auch durch Bagatellisierungen und Relativierungen erreicht, beziehungsweise erleichtert.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der ,,Identitätsthematik" (Preiser, 1995, S. 1086) eine herausragende Bedeutung zu kommt.

Interessant ist, daß Konsistenz und Kontinuität im Mittelpunkt der Selbstwahrnehmung steht, auch, oder gerade wenn, sich die Person bezüglich Wertorientierungen und -haltungen radikal verändert hat.

4 Prävention und Intervention

Aus dem dargestellten Erklärungsansatz ergeben sich nach Preiser (1995) für die Prävention folgende Forderungen:

1. Zur Befriedigung der Kontrollmotivation müssen genügend Freiräume für Selbstbestimmung und Einflußmöglichkeiten gegeben werden.
2. In Sinn-, Wert- und Zukunftsfragen müssen Angebote zur Orientierung gemacht werden, die nicht konfektioniert vorgegeben sind, sondern selbständig angeeignet werden können, zum Beispiel im Rahmen schulischer, kirchlicher oder sonstiger institutionalisierter Jugendarbeit. Dies soll Defiziten in der Geborgenheits-motivation entgegenwirken.
3. Kommunikation statt Ausgrenzung: Jugendliche mit extremen politischen Positionen sollen nicht ausgegrenzt werden.

Für die Intervention schlägt Preiser (1995) einen Umgang mit den betroffenen Jugendlichen vor, der sich an den von Carl Rogers für die Klientenzentrierte Psychotherapie formulierten Grundsätze orientiert:

1. Akzeptanz: ernst nehmen und zuhören.
2. Authentizität: klare eigene Position beziehen und diese begründen.

Auf diese Weise sollen Verhärtungen aufgebrochen werden und differenzierende Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden.

Weiterhin seien öffentliche Dialoge mit gefangenen (Ex-)Terroristen zu fordern, von denen eine ähnliche Wirkung zu erhoffen sei.

Ebenso fordert Preiser (1995), daß Alternativen angeboten werden, welche den Ausstieg erleichtern. Es müsse erreicht werden, daß tolerante und gewaltfreie Aktionen eine positivere Perspektive für die Motive der Jugendliche bieten, als ein Verbleib in extremistischen Organisationen und Strukturen.

Dabei dürfen persönliche Biographien und Identitäten nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, damit der Anspruch subjektiver Kontinuität wie oben beschrieben aufrechterhalten werden kann.

5 Diskussion

Wenn eine eigenständige Erarbeitung politischer und weltanschaulicher Positionen als Bestandteil der Identitätsentwicklung Jugendlicher akzeptiert wird, so impliziert dies auch automatisch die Möglichkeit, extreme und nichtkonforme Haltungen und Grundsätze zu entwickeln.

Wie aus den Ausführungen zu schließen ist, ist eine solche Möglichkeit für sich noch nicht unbedingt als Problemverhalten zu sehen. Erst ein intoleranter, dogmatischer und gewaltbereiter Extremismus (Preiser, 1995, S. 1087) fordert Gegenmaßnahmen heraus. Zum Schutz der Gesellschaft, aber auch zwecks Unterstützung einer Identitätsentwicklung ist in diesem Falle Prävention und Intervention notwendig, nicht zuletzt um eine drohende Kriminalisierung abzuwenden, aber auch, um Schaden von anderen Menschen abzuwenden.

6 Literatur

¬ Der Bundesminister des Inneren (1999). Verfassungsschutzbericht 1998. Vorlage als PDF- Datei aus dem Internet: http://www.bmi.bund.de

¬ Kaiser, Günther. (1997). Kriminologie. 10. Auflage. Heidelberg: C. F. Müller Verlag.

¬ Preiser, Siegfried. (1995). Politischer Extremismus im Jugendalter. In: Oerter, Rolf & Montada, Leo (Hrsg.) (1995). Entwicklungspsychologie. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

¬ Jugendwerk der Deutschen Shell. (1997). Jugend '97. Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen. Opladen: Leske + Budrich.

¬ Roderigo, Beate (1994). Der Ausstieg aus einer Sekte - Strategien zur Problembewältigung: Beratung und Therapie. In: Gross, Werner (Hrsg.) (1996). Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag GmbH.

[...]


1 Hier muß der Korrektheit halber angemerkt werden, daß sich nur die JN vom Selbstverständnis her als ein ,,integraler Bestandteil der NPD" sehen, während die SDAJ formal von der DKP unabhängig ist. Dennoch ist die SDAJ sowohl inhaltlich als auch personell eng mit der DKP verknüpft.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Politischer Extremismus als jugendliches Problemverhalten
Université
University of Bonn
Cours
Psychologisches Institut
Auteur
Année
1999
Pages
15
N° de catalogue
V95931
ISBN (ebook)
9783638086097
Taille d'un fichier
436 KB
Langue
allemand
Annotations
Die vorliegende Arbeit referiert im wesentlichen die Arbeit von Siegfried Preiser (1995) zum politischen Extremismus im Jugendalter. Dabei wird den herkömmlichen eindimensionalen Erklärungsansätzen für das Phänomenen einintegrativer multidimensionaler Ansatz aus entwicklungspsychologischer Sicht gegenüber gestellt
Mots clés
Politischer, Extremismus, Problemverhalten, Psychologisches, Institut
Citation du texte
Wolfgang Dau (Auteur), 1999, Politischer Extremismus als jugendliches Problemverhalten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95931

Commentaires

  • invité le 15/6/2002

    Gute Arbeit.

    Gute Arbeit

  • invité le 8/4/2001

    Du tust mir leid!!!.

    schon lang nicht mehr so eine schlecht recherchierte hausarbeit gelesen!
    wieder einmal wird versucht mit hilfe der totalitarismustheorie links und rechts in einen topf zu werfen. wer so eine hausarbeit schreibt, sollte sich doch bitte schön mit inhalt und zielen, sowie der mitteln genau beschäftigen!!! allein die militanz der rechtsextremen gegen minderheiten und die damit verbundene autoritätsgeilheit der neonazis bildet einen klaren unterschied zu linksradikalen ansprüchen und utopien.
    ebenfalls ist es jämmerlich und offenbart deine schlechte recherche, die sdaj als exemplarische "linksextreme" organisation anzuführen. dieses häufchen leute als vertreterInnen linker politik aufzuwerten ist schon einen lacher wert!!! du hast sowohl weitere strömungen (bsp.Graswurzelrevolution, autonome; kommis und anarchistInnen) schlicht ignoriert, als auch ihre jeweilige motivation, bzw. ihr verhältnis zu militanz übersehen/übersehen wollen(?)
    naja vielleicht hilft dir mein einspruch und du findest das näxte mal mehr zeit zum recherchieren. früher anfangen und richtig schreiben als auf den letzten drücker mist verzapfen!!!

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