Das Geschlechterverhältnis im koedukativen Sportunterricht in der Grundschule aus der Lehrersicht


Masterarbeit, 2020

75 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhalt

Kurzfassung (Deutsch)

Abstract (English)

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Einführung in das Thema
1.2 Begründung der Leitfrage
1.3 Aufbau der Masterarbeit

2. Theoretische Grundlagen zum Umgang mit Geschlecht im Sportunterricht
2.1 Zur Kategorie Geschlecht
2.1.1 Das Geschlecht im biologischen Sinn
2.1.2 Das Geschlecht im soziologischen Sinn
2.2 Koedukation im Schulunterricht
2.2.1 Geschichtlicher Hintergrund zum Umgang mit Geschlecht im Unterricht
2.2.2 Die Debatte um die Koedukation im Sportunterricht
2.2.3 Geschlechtersensibilität im Sportunterricht
2.2.4 Reflexive Koedukation
2.2.5 Geschlechtergerechtigkeit
2.2.6 Koedukation im Sportunterricht – pro und contra
2.3 Genderkompetenz im Schulunterricht
2.3.1 Definition Genderkompetenz
2.3.2 Genderkompetenz von Lehrerinnen und Lehrern
2.4 Formulierung von Grundannahmen

3. Methodik
3.1 Methodendiskussion
3.2 Das Leitfaden-Interview
3.3 Grounded Theory
3.4 Kodierverfahren der Grounded Theory
3.5 Untersuchungsfeld
3.6 Gang der Untersuchung

4. Ergebnisse
4.1 Koedukative Aspekte
4.1.1 Bevorzugung geschlechtergemischten Unterrichts
4.1.2 Geschlechtergemischter Unterricht als Chance für positive Entwicklungen
4.1.3 Gleichberechtigte Förderung von Mädchen und Jungen
4.2 Monoedukative Aspekte
4.2.1 Phasenweise Trennung zwischen Jungen und Mädchen
4.2.2 Geschlechtergetrennter Unterricht wird von Schülerinnen und Schülern selbst organisiert
4.3 Umgang mit Klischees
4.3.1 Klischeehafte Äußerungen werden wahrgenommen
4.3.2 Klischeehafte Äußerungen werden thematisiert und behandelt
4.4 Umgang mit Geschlecht
4.4.1 Dem Umgang mit Geschlecht wird keine hohe Relevanz beigemessen
4.4.2 Unsicherheiten im Umgang mit Geschlecht
4.5 Reproduktion von Rollenverhalten
4.6 Kulturelle Vielfalt als Ursache für verstärkte Rollenverhalten

5. Diskussion

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Kurzfassung (Deutsch)

In der Schule bildet Genderarbeit einen wichtigen Bestandteil, weil die Schule eine besonders einflussreiche Institution im Hinblick auf Beziehungen zwischen den Geschlechtern darstellt. Das Ziel dieser Masterarbeit ist es zu bestimmen, welche Geschlechterverhältnisse im koedukativen Sportunterricht bestehen. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: Wie erleben und deuten Sportlehrkräfte Geschlechterbrücken und -barrieren im Sportunterricht? Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurden Leitfaden-Interviews bei Sportlehrkräften an der Grundschule X geführt. Die Antworten der befragten Lehrkräfte zeigen, dass aus Sicht der Sportlehrkräfte der koedukative Unterricht einen wichtigen Bestandteil im Umgang mit dem Geschlecht ausmacht. Diese sind jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, die von den drei Genderkompetenz-Komponenten aus Wissen, Wollen und Können abhängen. Die Genderkompetenz-Komponenten haben gezeigt, dass sie einen zentralen Bestandteil im koedukativen Unterricht bilden und sich deshalb Sportlehrkräfte mit dem eigenen Verhalten im Umgang mit dem Geschlecht befassen sollten, um stereotypisches Verhalten gemeinsam mit Schülerinnen und Schüler zu reflektieren.

Abstract (English)

Gender forms are an important part of the school because the school is a particularly influential institution with regard to relations between the sexes. The aim of this master's thesis is to determine which gender ratios exist in coeducational physical education. To this end, the following research question is asked: How do sports teachers experience and interpret gender connection and difficulties in physical education? In order to answer the research question, interviews were conducted with physical education teachers at the X primary school. The responses from the teachers surveye show that, from the point of view of the sports teachers, co-educational teaching is an important component in dealing with gender. However, these are associated with difficulties that depend on the three gender competence components of knowledge, willingness and ability. The gender competence components have shown that they form a central part of coeducational teaching and that sports teachers should therefore deal with their own behavior when dealing with gender in order to reflect on stereotypical behavior together with students.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zirkel der geltenden Geschlechterordnung (Grünewald-Huber & von Gunten 2009, S.33)

Abbildung 2: Mädchenarbeit im Sportunterricht (Kugelmann 2002, S. 17)

Abbildung 3: Jungenarbeit im Sportunterricht (Kugelmann 2002, S. 17)

Abbildung 4: Der Balanceakt-Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht (Hoven 2017, S. 56)

Abbildung 5: Drei Dimensionen der Genderkompetenz Wollen, Wissen und Können (Hoven 2017, S. 40)

Abbildung 6: Wie oft wurde im letzten Schuljahr von den befragten Lehrkräften Sport unterrichtet? (eigene Darstellung)

Abbildung 7: Anzahl von Jungen und Mädchen in den Sportklassen von den befragten Lehrkräften (eigene Darstellung)

1. Einleitung

1.1 Einführung in das Thema

„Die Theorie schreitet voran, die Praxis bleibt zurück“ (Kugelmann 2006, S. 262). Anhand dieser Aussage von einer renommierten deutschen Sportpädagogin aus der Geschlechterforschung wird verdeutlicht, dass sich die wissenschaftliche Debatte und die praktische Gestaltung des koedukativen Sportunterrichts auf einem unterschiedlichen Stand befinden. Einerseits wurde auf der wissenschaftlichen Ebene intensiv nach einem Lösungsansatz für den konstruktiven Umgang mit der hohen Erwartungshaltung der Leistungs- und Interessensgesellschaft der SchülerInnen im geschlechtergemischten Sportunterricht erarbeitet. Andererseits werden die praktischen pädagogischen Möglichkeiten nicht umgesetzt (vgl. ebd.).

Die Relevanz von Bewegung, Spiel und Sport im Schulunterricht wird inzwischen in der Sport- und Bewegungswissenschaft durch diverse Sichtweisen begründet. Besonders in der Grundschule wird durch den Sportunterricht der natürliche Bewegungsdrang der Kinder geweckt und bildet nicht nur die Fähigkeiten und Fertigkeiten in Bewegungsfeldern aus, sondern auch vielfältige Kompetenzen (vgl. Scherer 2008, S. 31). Ziel des Sportunterrichts soll damit nicht nur die Erziehung zum Sport, sondern zudem die Persönlichkeitsentwicklung und damit die Erziehung im und durch Sport sein (vgl. ebd.). Die Verantwortung für den Erfolg der Umsetzung der Theorie in die Praxis dieser erzieherischen Konzepte trägt die Sportlehrkraft.

Die Gender-Thematik weist in Bezug auf den koedukativen Sportunterricht, wie er derzeitig in den Grundschulen praktiziert wird, Überlegungen im Hinblick auf sportpsychologische, sportsoziologische und sportpädagogische Bereiche auf. Aufgrund der geschlechtergemischten Sportkultur kommt es unvermeidlich auch im Sportunterricht zu Konflikten mit geschlechterbezogenen Stereotypen und Rollenverhalten (vgl. Gieß-Stüber & Sobiech 2006, S. 8). Mädchen sollen jedoch nicht als das benachteiligte Geschlecht angesehen werden. Jungen, die sich für eher weiblich-dominierte Sportarten interessieren oder in männlich-dominierten Sportarten nicht erfolgreich sind, werden unter Umständen noch stärker mit Stereotypen und Rollenklischees konfrontiert. Die Ansätze dieser wissenschaftlichen Arbeit basieren somit nicht auf feministischen Betrachtungsweisen, sondern sollen auf eine emanzipatorische Herangehensweise im Hinblick auf gleichberechtigten, geschlechtergerechten und gendersensiblen koedukativen Sportunterricht analysiert werden. Es stellt sich somit die Frage, wie ein gleichberechtigter und chancengleicher koedukativer Sportunterricht aussehen kann. Nach Dahmen (2006) ist Chancengleichheit dort gegeben, „wo Frauen und Männer ihre persönlichen Fähigkeiten und Interessen frei entwickeln können, ohne durch geschlechtstypische Rollenmuster oder sonstige Normen und Regelungen eingeschränkt zu werden“ (Dahmen 2006, S. 311). Damit Jungen und Mädchen diese Möglichkeiten gegeben werden, müsse man im Sportunterricht einen Rahmen schaffen, in dem sportliche Stereotypen abgebaut und die freie Entfaltung gefördert werden können. Als Grundlage dieser Überlegung im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit geht es im Methodenteil um die Rekonstruktion von Koedukation im Sportunterricht. Hierzu widmet sich die vorliegende Masterarbeit folgender Leitfrage:

Wie erleben und deuten Sportlehrkräfte Geschlechterbrücken und -barrieren im Sportunterricht?

1.2 Begründung der Leitfrage

Die Leitfrage zur Rekonstruktion von Geschlechterverhältnisse in der Grundschule sowie die Genderkompetenz von Lehrkräften stehen in Verbindung zu den oben genannten Aspekten eines geschlechtergemischten Sportunterrichts. Im koedukativen Sportunterricht kommt es zwangsläufig zu Handlungssituationen von Seiten der Lehrkraft im Hinblick auf Genderaspekte. Um diese erlebten Situationen professionell und unter Berücksichtigung einer reflektierten Koedukation (siehe Punkt 2.2.4) behandeln zu können, muss eine Basis des Wissens über Genderaspekte, ein Interesse im Umgang mit Genderaspekten und eine Handlungsfähigkeit bezüglich Genderaspekten bestehen.

Es geht dabei nicht darum, die in der Ausbildung oder Fortbildungen gelernten Genderkompetenzen der Lehrkräfte aufzudecken, denn ein geschlechtersensibler Sportunterricht kann gleichermaßen durch andere Aspekte, beispielweise in Bezug auf die Persönlichkeit der Lehrkraft und deren Kompetenzen stattfinden. Durch die Genderkomponenten Wollen, Können und Wissen wird auch ein eher eingeschlossenes und situatives Handeln beurteilt.

Aus diesen Überlegungen gehen folgende zwei Unterfragen hervor:

- Wie beurteilen Lehrkräfte Mono- und Koedukation?
- Welche Genderkompetenz weisen die Sportlehrkräfte an der „Schule X“ im Bereich des Wollens, Wissens und Könnens auf?

1.3 Aufbau der Masterarbeit

Die vorliegende Masterarbeit lässt sich strukturell in zwei Hauptteile gliedern. Im theoretischen Teil werden Grundlagen zum Umgang mit dem Geschlecht im Sportunterricht dargestellt. Dabei wird zunächst die Kategorie des Geschlechts genauer definiert. Die Koedukation wird aus historischer Sicht betrachtet und es wird auf die Debatten um den koedukativen Sportunterricht eingegangen. Darüber hinaus werden Thematiken vertieft, die für die nachfolgende Untersuchung von grundlegender Bedeutung sind, wie die Geschlechtersensibilität im Sportunterricht, Reflexive Koedukation sowie die Geschlechtergerechtigkeit, die unter anderem in Bezug zur Genderkompetenz der Lehrkräfte gesetzt werden. Der zweite Teil der Masterarbeit setzt sich mit der qualitativen Herangehensweise zur Untersuchung auseinander. Hierzu gehören die Einstellung der Sportlehrkräfte in Bezug auf die koedukative Unterrichtsform sowie ihre Genderkompetenz. Zu diesem Zweck wurden Sportlehrkräfte an der Schule X anhand des Leitfaden-Interviews nach Hopf (1978) befragt. Die Leitfaden-Interviews werden nach Strauss und Corbin (1996) mittels der Grounded Theory ausgewertet und im nächsten Schritt diskutiert.

2. Theoretische Grundlagen zum Umgang mit Geschlecht im Sportunterricht

2.1 Zur Kategorie Geschlecht

Eine wichtige Grundlage für diese wissenschaftliche Arbeit bilden die Begriffe des weiblichen und des männlichen Geschlechts. Es stellt sich zunächst die Frage, was unter diesen Begrifflichkeiten verstanden wird und welche Merkmale als Indikatoren für eine Geschlechterzuweisung dienen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Geschlecht in den Kategorien männlich und weiblich unterschieden. Im Grunde können zur Definition und Abgrenzung dieser Kategorie zwei Ebenen unterschieden werden: das Geschlecht im biologischen und das Geschlecht im soziologischen Sinn.

2.1.1 Das Geschlecht im biologischen Sinn

In der Literatur zur Gender- und Sozialforschung wird das Geschlecht im biologischen Sinn als sex charakterisiert. In der rein naturwissenschaftlichen Sichtweise definiert sich das Geschlecht sex über die Geschlechtschromosomen, welche in jedem Menschen vererbt werden (vgl. Rosenkranz 2019). Die Körperzelle der Frau enthält zusätzlich zu den 44 Chromosomen (Autosomen) zwei X- Chromosomen als Geschlechtschromosomen (Gonosomen). Die Zellen des Mannes hingegen enthalten ein Y-Chromosom und ein X-Chromosom. Für die Fortpflanzung und somit für die Geschlechtsbestimmenden Faktoren sind die Chromosomenzahlen in den Eizellen und Spermien relevant. Sie enthalten nur die Hälfte an Chromosomen und damit auch nur ein Geschlechtschromosom. Für die biologische Geschlechterzuweisung ist das 23. Chromosomenpaar maßgebend, welches die Chromosomen XX für weiblich oder XY für männlich aufweist (vgl. ebd.). Inwiefern sich diese natürlichen Gegebenheiten auf unsere Handlungen und unser Empfinden auswirken, wird in verschiedenen Bereichen auf Basis unterschiedlicher Forschungsansätze wissenschaftlich untersucht. Diese Untersuchungen erweisen sich jedoch als komplex, da soziologische Faktoren, die das Geschlecht beeinflussen, einen wichtigen Bestandteil unserer Sozialisation bilden und nicht einfach ignoriert werden können.

2.1.2 Das Geschlecht im soziologischen Sinn

In der aktuellen Forschung herrscht eine übereinstimmende Meinung darüber, dass sich das Geschlecht eines Menschen nicht nur durch den biologischen Aspekt sex definiert (vgl. Diketmüller 2008, S. 244). Die Soziologie beschreibt den Begriff mit dem Terminus Gender, welcher das Produkt aus der Gesellschaft darstellen soll. Der Begriff Gender wurde aus dem englischen übernommen und bedeutet „soziales Geschlecht“, und hat sich in der deutschen Sprache fest etabliert. Im Deutschen wird der Begriff von den meisten Menschen eher mit dem biologischen Geschlecht in Verbindung gebracht, welches im Englischen als „sex“ bezeichnet wird (vgl. ebd., S. 244). Da im Deutschen für das soziale und für das biologische Geschlecht gleiche Begriffe genutzt werden (im Gegensatz zu Sex vs. Gender), kann es zu Unklarheiten kommen (vgl. Frohn & Süßenbach 2012, S. 3-4). Diketmüller (2008) formuliert das Verständnis von Geschlecht im soziologischen Sinn folgendermaßen: „Die Abkehr von der rein naturwissenschaftlichen und damit meist bipolaren Sichtweise von Geschlecht („sex“) hin zu einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedeutung von Geschlecht („gender“) kann als Meilenstein und Paradigmenwechsel für die Forschung und die Praxis gesehen werden. Geschlecht ist damit nicht mehr bloß naturgegeben, sondern gilt als sozial konstruiert und somit als veränderbar und gestaltbar.“ (Diketmüller 2008, S. 245).

Gender im Sinne des sozialen Geschlechts soll über die tatsächlichen Unterschiede des biologischen Geschlechts hinaus verdeutlichen, dass mit diesem bestimmte gesellschaftliche Erwartungen an Erscheinungsformen, Verhaltensweisen oder Wesenszüge von männlichen oder weiblichen Individuen einhergehen: „die Natur bestimmt, ob wir männlich oder weiblich sind, die Kultur legt fest, was es bedeutet, männlich oder weiblich zu sein“ (Schmolze 2012, S.14). Damit soll gezeigt werden, dass das Geschlecht durch äußere Umwelt Faktoren beeinflusst wird (doing-gender) und dadurch veränderbar ist (vgl. Diketmüller 2008, S. 245).

Eine wichtige Komponente bildet die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, die beim Heranwachsen unterschiedliche geschlechtliche Identitätszuweisungen erleben und sich mit dem eigenen Geschlecht1 befassen. Schon im Bildungsplan der Grundschule werden Anforderungen zum Benennen und Unterscheiden biologischer Geschlechtsunterschiede formuliert (vgl. Bildungsplan Grundschule Hamburg 2001, S. 26). Themen wie zum Beispiel Geschlechterrollen oder Lebensformen werden bereits thematisiert. Diese formulierten Anforderungen dürfen sich jedoch nicht auf die Entwicklung und die Anerkennung existierender Rollenzuweisungen beziehen. Diese sollten gezielt geleichberechtigtes Lernen fördern, bei dem es möglich ist, sich unabhängig seines Geschlechts entwickeln zu können und zu reflektieren.

Dieses spaltende Verständnis von männlich und weiblich beeinflusst unter anderem die Alltagsinteraktion und auch das Handeln im Sportunterricht (vgl. Kugelmann 2002, S.14).

2.2 Koedukation im Schulunterricht

Der Begriff Koedukation stammt aus dem Lateinischen (con = zusammen / educare = erziehen) und bezeichnet im Allgemeinen das gemeinsame Unterrichten und Erziehen von Schülerinnen und Schüler ihres Geschlechts (vgl. Sinning 2003, S.135). Nach Kugelmann (1980) sollen Jungen und Mädchen gleichberechtigt und gleichgestellt gelten und lernen. Außerdem sollen sie gemeinsam, selbständig und selbstbestimmt sportlich handeln (vgl. Kugelmann 1980, S. 10). Auch Scheffels (1996) teilt diesen Ansatz der Koedukation, bei der es wichtig ist, die Probleme der Geschlechtsrollenkultur zu behandeln (vgl. Scheffel 1996, S. 50-51). Wenn die gemeinsame Erziehung nicht berücksichtigt wird, ist statt von Koedukation von Koinstruktion die Rede (vgl. Voss 2002, S. 62).

2.2.1 Geschichtlicher Hintergrund zum Umgang mit Geschlecht im Unterricht

Historisch betrachtet handelt es sich beim gemeinsamen Unterrichten von Jungen und Mädchen um ein Phänomen, welches bereits bei der Einführung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert in preußischen Volksschulen begonnen wurde (vgl. Pfister 1983, S. 13). Es wurde zu dieser Zeit jedoch angezweifelt, ob Mädchen eine schulische Ausbildung nötig hätten. Pädagogische Reformer des 17. Jahrhunderts (z. B. Ratke und Comenius) haben sich für die obligatorische Schulpflicht von Jungen und Mädchen eingesetzt. „In den Schulordnungen ging man in der Regel vom gemeinsamen Schulbesuch beider Geschlechter aus“ (Pfister 1983, S. 14). Die Schulpflicht wurde während des 18. Jahrhunderts immer mehr institutionalisiert, wobei die Bedeutung der Mädchen in diesem Zusammenhang immer wieder hervorgehoben werden musste: „Die Mägdlein sollen ebensowohl Schreiben lernen wie die Knaben, indem es eine unbegründete und törichte Meinung ist als wenn die Mägdlein des Schreibens nicht sonderlich vonnöten hätten…“ (Dietrich & Klink 1972, S. 134, zit. nach Pfister 1983, S. 14).

Grundsätzlich wurde eine Trennung der beiden Geschlechter befürwortet, obwohl zahlreiche pädagogische Reformer, wie z.B. Pestalozzi, Jean Paul, Fichte u.a., sich für das gemeinsame Unterrichten einsetzten. Im 19. Jahrhundert wurde nach einem Elementarschulwesen verlangt, das dann gesetzlich festgelegt wurde. Dieses Gesetz bestimmte die Pflicht der Eltern, ihren Kindern eine elementare Bildung zu ermöglichen. Im Rahmen der Verbesserung des Schulwesens wurde immer wieder die Geschlechtertrennung in „ Knaben- und Mädchenschulen“ gefordert (vgl. Pfister 1983, S 15). Aus ökonomischen Gründen konnte dies nur in den großen Städten durchgeführt werden, da die Gemeinden die Schulen finanzieren mussten. Untersuchungen zeigten, dass der Koedukative Unterricht zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder abnahm: 1886 wurden 72,59 % der Kinder in gemischten Klassen unterrichtet, im Jahre 1906 waren es 63,81 % (vgl. ebd., S. 16). In höheren Schulklassen wurden die Geschlechter jedoch immer getrennt, da Mädchen nur die elementare Volkschulbildung erhielten (vgl. Scheffel 1996, S.38).

Im Jahre 1908 wurde im Rahmen einer Schulreform ein Gesetz entworfen, welches besagte, dass höhere Mädchenschulen anerkannt werden und so auch Frauen die Zulassung zu Universitäten gewährte. Der Erfolg in Richtung Gleichberechtigung stellte sich als rein formelle Errungenschaft heraus, denn in der Praxis schritt die Veränderung nur langsam voran: 1911 waren es in Preußen 34 Studienanstalten für Mädchen und 540 höhere Lehranstalten für Jungen. Dementsprechend wirkte sich die Chance auf Bildung für Mädchen negativ aus (vgl. Scheffel 1996, S.41).

Die Auseinandersetzung mit der Koedukation endete vorerst während der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Scheffel 1996, S. 37). Mädchen und Jungen sollten nicht nur an separaten Schulen, sondern auch fächerspezifisch unterschiedlich unterrichtet werden, mit Inhalten, die den Werten und Vorstellungen des Nationalsozialismus entsprachen (vgl. ebd., S. 42). Aus organisatorischen und finanziellen Gründen konnte eine Geschlechtertrennung im Bereich der Volksschule nicht umgesetzt werden (vgl. ebd., S. 43). Die höhere Schulbildung war eher für Jungen vorgesehen und beschäftigte sich mit dem Leitbild des Heldenhaften. Die Schulbildung der Mädchen beinhaltete Themen, die in ihrem späteren Verlauf des Lebens den rollenspezifischen Aufgaben der Frauen entsprachen, wie zum Beispiel Hausfrau sein und Kinder betreuen (vgl. Scheffel 1996, S. 43).

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland orientierte man sich noch größtenteils an der Praxis der Weimarer Republik und trennte Jungen und Mädchen im Unterricht bis in die 1960er Jahre (vgl. Jantz & Brandes 2006, S. 32). Obwohl während der Weimarer Republik überwiegend monoedukativ unterrichtet wurde, setzen sich pädagogische Reformer für gemischte Klassen ein. Jedoch gab es schon in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren einzelne Länder wie Hamburg, Bremen, Berlin und Hessen, in denen die koedukative Unterrichtsform Eingang gefunden haben. Erst ab 1950 wurde der Koedukative Unterricht in allen Bundesländern in die Schulverfassung aufgenommen (vgl. Scheffel 1999 S.44). Doch es stellte sich heraus, dass bei der Einführung des koedukativen Unterrichts weniger die gesellschaftlichen und pädagogischen Aspekte eine Rolle spielten, sondern vielmehr pragmatische Gründe (vgl., ebd.).

Erst die Koedukationsdebatte in den 1970er und 1980er Jahren sorgte für eine Auseinandersetzung und neue Erkenntnisse zu einer bewussten Koedukation und machte Ziele der geschlechtsdifferenten Lehr- und Lernstrategien zum Thema (vgl. Jantz & Brandes 2006, S. 33). Diese Debatte wurde als „heimlicher Lehrplan“ bekannt. Die Koedukation konnte zu diesem Zeitpunkt die geschlechterbezogenen Nachteile nicht ausgleichen, da sich die Lerninhalte an den Interessen von Jungen orientierten (vgl. Budde et al. 2016, S. 27). Untersuchungen während dieser Zeit zeigten, dass die bis zu diesem Punkt organisatorisch begründete Form der Koedukation eher einer Stabilisierung der geschlechtlichen Struktur dienen sollte (ebd., S.27).

Im Jahre 1991 veröffentlicht Hannelore Faulstich-Wieland (1991) ihr Werk „Koedukation – enttäuschte Hoffnungen“, in dem eine neue Form der Koedukation thematisiert wird, die „reflexive Koedukation“ genannt wird. Dies zeigt erstmals Perspektiven zum Umgang mit gleichberechtigtem Lernen und Konzepte für einen gleichberechtigten Unterricht (vgl. ebd. S. 27).

2.2.2 Die Debatte um die Koedukation im Sportunterricht

Der Schulsport ist eines der Fächer, in dem sich die Tradition des geschlechtergetrennten Unterrichtes den Neuerungen am stärksten widersetzte (vgl. Scheffel 1996, S. 49). Erst ab dem Jahre 1970 wurde Koedukation im Schulsport zu einem relevanten Thema. Seit den Anfängen des gemeinsamen Unterrichtes im Schulsport herrschen Meinungsunterschiede zwischen GegnerInnen und BefürworterInnen. Die anfänglichen Leitbilder und rollenspezifischen Vorstellungen von Mann und Frau haben in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion an Bedeutung verloren.

Kritiker des gemeinsamen Unterrichtens im Schulsport sind der Auffassung, dass in dieser Organisationsform kein förderlicher Rahmen für die Leistungsverbesserung und die Entfaltung des jeweiligen Geschlechts geschaffen werde (vgl. Diketmüller 2008, S. 246). Dies habe zur Folge, dass der heutige koedukative Schulsport dafür sorge, die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse beizubehalten und führe somit zu Benachteiligungen beider Geschlechter (vgl. ebd., S. 246). Somit hätten Mädchen im geschlechtergemischten Sportunterricht nicht die Möglichkeit, sich durchzusetzen oder eigene Interessen und Wünsche auszudrücken. Die Jungen wiederum hätten den Nachteil, ihre Durchsetzungskraft und Dominanz beweisen zu müssen (vgl. Sinning 2003, S. 140). Besonders im Fach Sport sehen Befürworter des gemeinsamen Unterrichtens die Möglichkeit, dieser Art von Klischees und genderspezifischen Hierarchien entgegenzuwirken. Die Vorzüge des Faches Sports, wie zum Beispiel der Einsatz des eigenen Körpers und das Interagieren der SchülerInnen miteinander, können dazu verhelfen, sportartenspezifische Klischees zu überbrücken. Doch das Fach Sport schafft auch Strukturen, dank derer „die geltende Geschlechterordnung in Spiel, Sport und Bewegung besonders effektiv durchgesetzt wird, weil sie spürbar und sichtbar in den Erfahrungsfeldern Leiblichkeit und Sich-Bewegen weitervermittelt wird“ (Kugelmann 1999, S. 289).

Eine Studie von Gieß-Stüber & Gramespacher (2004) hat ergeben, dass für den Abbau stereotyper Hierarchien und das Mindern von geschlechterbezogenen Nachteilen noch keine deutlichen Erfolge zu verzeichnen sind, seitdem alle Geschlechter gemeinsam unterrichtet werden. Dies ist jedoch den Schulen anzulasten, da in der Praxis keine Koedukation praktiziert wird, sondern eher Konstruktion den Schulalltag dominiert. Zwar befinden sind Mädchen und Jungen zur gleichen Zeit am selben Ort, jedoch werden sie nicht motiviert, gemeinsam Sport zu treiben oder sich mit Problematiken des jeweiligen Geschlechts zu beschäftigen (vgl. Diketmüller 2008, S. 248). Eine Lösung zur Vermeidung von geschlechtsbedingten Konflikten im koedukativen Schulsport wäre der Versuch, die Geschlechter zeitweise zu trennen. Die Trennung soll dazu führen, diese geschlechtsbedingten Problematiken bei bestimmten Unterrichtsinhalten im Schulsport zu vermeiden und die Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu fördern. Diese Trennung garantiert jedoch genau so wenig wie auch der koedukative Unterricht, dass ein reflexiver Umgang mit der Kategorie Geschlecht stattfindet (vgl. Frohn 2002, S. 27).

2.2.3 Geschlechtersensibilität im Sportunterricht

Der Terminus „sensibel“ (Dudenredaktion (o.J.) „sensibel“ auf Duden online) wird im Duden mit „von besonderer Feinfühligkeit; empfindsam“ definiert. Nach Drosdowski (1989) wird Unterricht als die „planmäßige, regelmäßige Unterweisung eines Lernenden“ (Drosdowski 1989, S. 1616) beschrieben. Demnach ist eine Lehrkraft, die ihren Unterricht geschlechtersensibel gestaltet, den unterschiedlichen Geschlechtern feinfühlig und empfindsam gegenüber und berücksichtigt diese auch in der Unterrichtsvorbereitung, Durchführung und Reflexion.

Nach Kugelmann (2002) ist Geschlechtersensibilität die Fähigkeit, sich in die Probleme von Jugendlichen einfühlen zu können. Dabei sollen Bewegung, Sport und Spiel dazu verhelfen, die eigene Vorstellung von Weiblichkeit oder Männlichkeit zu finden und zu entwickeln. Der Sportunterricht soll dafür Strukturen schaffen, klischeehafte Verhaltensweisen von LehrerInnen und SchülerInnen zu thematisieren und grundsätzliche Verhaltensweisen aufzubrechen (vgl. Kugelmann 2002, S. 16). Grünewald-Huber & von Gunten (2009) beschreiben die Begriffe „Geschlechtersensibilität“ und „geschlechtersensibel“ folgenderweise:

„Geschlechtersensibilität bedeutet, ein Bewusstsein für die Geschlechterthematik haben: sensibel sein dafür, welche Rollen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den Frauen und Männern in einem bestimmten beruflichen oder privaten Kontext wichtig sind; darauf achten, wo Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten bestehen und wie diese vermindert werden können. (Gegenteil: -> geschlechterblind). Geschlechtersensible Personen haben ein Bewusstsein für die Relevanz der Genderthematik entwickelt.“ (Grünewald-Huber & von Gunten 2009, S. 194)

Um gendersensibel im Unterricht zu handeln, müsse man folglich alle pädagogischen Tätigkeiten reflektieren, um die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse zu stabilisieren oder einen Rahmen zu erschaffen, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, um Veränderungen zu ermöglichen (vgl. Schneider 2005, S. 8). Um die aktuelle Geschlechterordnung aufzubrechen, haben Grünewald-Huber & von Gunten (2009) den Zirkel der geltenden Geschlechterordnung graphisch dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Zirkel der geltenden Geschlechterordnung (Grünewald-Huber & von Gunten 2009, S.33)

Die Graphik soll darstellen, wie die soziale Geschlechterordnung sich selbst stabilisiert und die Entwicklung der Kinder beeinflusst. Durch die Sozialisation im sozialen Umfeld werden von den Jugendlichen geschlechterspezifische Interessen und Fähigkeiten entwickelt. Diese bilden die Grundlagen für die zukünftigen Berufe und sozialen Positionen. Als Ursachen werden die vermeintlich unterschiedlichen biologischen Faktoren der beiden Geschlechter angesehen, sodass die geltende soziale Geschlechterordnung bestehen kann und anerkannt wird. Der Zirkel verdeutlicht, wo die Institution Schule eingreifen kann, um Stereotypen abzubauen und um individuelle Entfaltungen der Persönlichkeiten zu bewirken.

2.2.3.1 Mädchenarbeit

Mädchenarbeit bzw. Mädchenparteilichkeit wird im geschlechtergemischten Sportunterricht häufig missverstanden und als Nachteil von Jungen angesehen. Da es von LehrerInnen bzw. SchülerInnen häufig so empfunden wird, ist es ratsam, individuelle „Mädchenthemen“ in geschlechtergetrennten Rahmenbedingungen anzugehen (vgl. Diketmüller 2008, S. 251). Sollte der Sportunterricht Ziele einer reflexiven Koedukation verfolgen, dann sollte geschlechtersensibles Handeln im Vordergrund stehen (vgl. Kugelmann 2002, S. 16). In Bezug auf die Mädchenparteilichkeit bedeutet dies, einen Rahmen zu schaffen, in welchem die Schülerinnen die Möglichkeit haben, ihre Stärken zu entfalten und zu entwickeln. Dies lässt sich sowohl auf die Entwicklung grundlegender Fertigkeiten in Sportarten übertragen, die Mädchen eher vermeiden oder die als nicht „weiblich“ genug angesehen werden, oder auch auf die Berücksichtigung individueller Interessen. Letzteres wird mit den verschiedenen Herausforderungen für Mädchen in Verbindung gebracht, die davon abhängen, wie sehr sie an konservativen Mädchenrollen orientiert sind (vgl. ebd., S. 17). Nach Kugelmann (2002) ist es notwendig, sowohl die Einstellung zum Rollenverständnis der Mädchen zu akzeptieren als auch Neuerungen zu unterstützen, die den persönlichen Handlungsspielraum der Mädchen vergrößern (vgl., ebd., S. 18). Die Methoden der Mädchenarbeit sollen einen positiven Effekt auf ihre Entwicklung im Bereich Sport, Körper und Bewegung zeigen. In einem Schaubild von Kugelmann (2002) werden die wichtigsten Aspekte der Mädchenarbeit anschaulich dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Mädchenarbeit im Sportunterricht (Kugelmann 2002, S. 17)

Mädchenparteilichkeit kann gewiss dazu verhelfen, den Sportunterricht geschlechtersensibler zu gestalten. Wenn aber Ziele wie Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter im Vordergrund stehen, bilden mono- und koedukative Unterrichtsformen ebenso wie Unterrichtsprinzipien von der „Erziehung zur Gleichstellung von Männern und Frauen“ (Klees, Marburger & Schumacher 2007, S. 39) die Basis für eine geschlechtergerechte Erziehung.

2.2.3.2 Jungenarbeit

Gerade in der Identitätsentwicklung von Jungen kommt dem Sport eine wichtige Rolle zu. Wenn man an Jungen- und Männersportarten denkt, sind diese durch Wettkampf, Einsatz, Risiko und Härte gekennzeichnet (vgl. Diketmüller 2008, S. 252). Nach Kugelmann (2006) führt der „Männlichkeitszwang“ und der „Überlegenheitsimperativ“ zur Gegenwehr zu den „weiblich“ gekennzeichnete Sportarten (vgl. Kugelmann 2006, S. 267). In Bezug auf einen geschlechtersensiblen Sportunterricht geht es nicht darum, die bestehenden Vorstellungen und Interessen, die sich ans konservative Verständnis männlicher Sportarten anlehnen, drastisch zu verändern. Jedoch sollen die einseitig vermittelten Geschlechterrollen angegangen werden, damit sich Jungen uneingeschränkt entfalten können (vgl. ebd., S. 252). Wichtig zu beachten ist dabei, dass es bei einer reflektierten Jungenarbeit nicht darum geht, alles zu verweiblichen und typische Verhaltensmerkmale von Jungen im Sport automatisch als Defizite anzusehen. Es geht vor allem um die Stärkung des Selbstwertgefühls, indem die vernachlässigten Verhaltenskompetenzen gefördert werden und das „Verhaltensrepertoire“ ausgebaut wird (vgl. Kugelmann 2006, S. 253). Kugelmann (2002) veranschaulicht auch die einzelnen Aspekte der Jungenarbeit anhand eines Schaubildes:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Jungenarbeit im Sportunterricht (Kugelmann 2002, S. 17)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Schulischen Kontext sowohl Mädchen- als auch Jungenarbeit nicht komplett durchzusetzen sind, sondern nur einzelne Methoden in die Sportpraxis einzubeziehen sind (vgl. Kugelmann 2002, S. 17).

2.2.4 Reflexive Koedukation

Im Sportunterricht sollen die SchülerInnen zu vielfältigen Bewegungs-, Spiel- und Sportkulturen Zugang finden (vgl. Bräutigam 2003, S. 73-74). Im Gegensatz zur Mädchen- und Jungenarbeit, bei der man versucht, Defizite auszugleichen und Geschlechterannäherung bzw. Unterschiedsverringerung anzustreben, handelt es sich bei der reflexiven Koedukation um die individuelle Entwicklung der Jugendlichen, auch über die Geschlechter-Debatte hinaus (vgl. Wolters 2002, S. 181). Faulstich-Wieland & Horstkemper (1996) definieren reflexive Koedukation folgendermaßen: „Reflexive Koedukation heißt, dass alle pädagogischen Maßnahmen daraufhin durchleuchtet werden sollen, ob sie bestehende Geschlechterverhältnisse eher stabilisieren oder ob sie eine Auseinandersetzung und damit ihre Veränderung begünstigen“ (Faulstich-Wieland & Horstkemper, 1996). In diesem Konzept werden die LehrerInnen zur Selbstreflexion bezüglich ihres eigenen Handelns an den Strukturen von Geschlecht in der Schule angeregt. Dabei sollen die Lehrkräfte ihr eigenes Handeln kritisch reflektieren, ob sich beispielsweise im Unterricht geschlechtsbezogene soziale Nachteile ergeben (vgl. Herwart-Emden, Schurt & Waburg 2012, S. 93). Dafür müssen die LehrerInnen geschlechtersensibel handeln, also die soziale Komponente von Geschlecht kennen und stereotype Zuschreibungen entweder absichtlich vermeiden oder aktiv unterbinden. Um stereotypen Verhaltensweisen entgegenzutreten, können Klischees angesprochen werden, wie beispielsweise Jungen, die sich nur für Ballspiele interessieren und sich in Gegenwart von Mädchen respektlos verhalten, die wiederum keine Fangspiele spielen wollen, aber dafür tanzen können (vgl. Frohn & Süßenbach 2012, S. 5). Der reflektierte Umgang mit Geschlechterrollen kann nur mit einer angemessenen Berücksichtigung beider Geschlechter gelingen. Nun könnte man meinen, wenn Mädchen Fußball spielen und Jungen zum Tanzen animiert werden, um ihre weibliche Seite kennenzulernen, dass man reflexiv koedukativ handelt. Jedoch sind beide Sportarten sinnvoll, wenn darauf abgezielt wird, die Methoden und die Selbständigkeit der SchülerInnen zu fördern und damit neue Fertigkeiten, Urteils- und Handlungsfähigkeiten selbständig erarbeiten zu lassen. Die Differenzen der Geschlechter sollten erkannt und akzeptiert werden, ohne eine Klassifizierung oder Bewertung von je besonders geeigneten Sportarten vorzunehmen.

Wenn die möglichst individuelle Differenzierung das Ideal repräsentiert, dürfen für die Realisierung einer gleichberechtigten Teilhabe die faktisch bestehenden geschlechterspezifischen Hierarchien und Benachteiligungen nicht ignoriert werden (Kaletsch 2004, S. 209). Nach Budde et al. (2006) solle man in drei Schritten individualisieren: dramatisieren, binnendifferenzieren und schließlich entdramatisieren (vgl. Budde et al. 2016, S. 20-21). Die Dramatisierung heißt in diesem Kontext, dass die Geschlechtszugehörigkeit im Sportunterricht als bedeutsam darzustellen ist, um Genderaspekte deutlich zu unterstreichen. Die Binnendifferenzierung (= „innere Differenzierung“) ist ein situationsbezogenes Unterrichtsprinzip, bei dem eine Lerngruppe von SchülerInnen über einen bestimmten Zeitraum hinweg in kleineren homogenen Gruppen gezielt gefördert wird (vgl. ebd.). Die Entdramatisierung stellt keine wichtige geschlechtsbezogene Besonderheit dar. Der gelungene Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Vorgehensweisen wird auch als Genderkompetenz bezeichnet (vgl. Frohn & Süßenbach 2012, S. 4-6). Um erfolgreich den Stereotypen entgegenzutreten, kann auch eine zeitweise Trennung der Geschlechter sinnvoll sein (vgl. Kastrup & Kleindienst-Cachay 2016, S. 3). Phasenweise geschlechtergetrennter Unterricht ist auch dann geeignet, wenn beispielsweise sehr ausgeprägte stereotype Rollenverteilungen erst deutlich gemacht werden müssen, sodass auf Basis dieser Sensibilisierung im Nachhinein erfolgreicher koedukativer Unterricht stattfinden kann (vgl. Gieß-Stüber 2009, S. 309).

Alles in allem bedeutet reflexive Koedukation das ausführliche und gleichwertige Fördern aller Schülerinnen und Schüler über die bestehenden Geschlechterrollen hinweg. Das didaktisch-methodische Handeln ist dahingehend zu hinterfragen. Geschlechtsbezogene Konflikte im Unterricht sollten gemeinsam angesprochen und behandelt werden (Frohn 2009, S. 192).

2.2.5 Geschlechtergerechtigkeit

In der pädagogischen Fachliteratur wird häufig der Terminus „Geschlechtergerechtigkeit“ oder „Gendergerechtigkeit“ verwendet, um die Zielperspektive zu beschreiben (vgl. Hoven 2017, S. 41). Geschlechtergerechtigkeit wirkt zunächst einmal eindeutig, jedoch stellt sich diesbezüglich ein komplexer Zwiespalt heraus: Einerseits wird Geschlechtergerechtigkeit für die verschiedenen Geschlechter als Zielsetzung verfolgt. Damit ist gemeint, dass die Geschlechter durch das Vermeiden der Reproduktion herkömmlicher Stereotypen über gleiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten verfügen (vgl. ebd.). Andererseits versucht man den Geschlechtern gerecht zu werden, indem das Besondere an einem Individuum akzeptiert und auf Differenzen Rücksicht genommen wird. Die Absicht von Chancengleichheit ist es, zu individualisieren, wobei man durch Anerkennung von Differenzen die Vielfältigkeit fördert. Die Problematik von Geschlechtergerechtigkeit wird in Wolters (2008) Frage verdeutlicht:

„Soll Gleichheit der Geschlechter angestrebt werden, weil gleiche Rechte am ehesten dann zu realisieren sind, wenn die Beteiligten “gleich“ sind? Oder ist es Erfolg versprechender, gerade auf die Differenz zu setzen, Unterschiede zu wahren, ohne dass dies identisch mit Hierarchie ist?“ (Wolters 2008, S. 97).

In den nächsten Punkten soll eine praktische Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit dargestellt werden. Aus Sicht der Sportdidaktik wird zwischen zwei Phänomenen unterschieden, die in verschiedenen Bildungsplänen formuliert werden: Erziehung zum Sport und Erziehung durch Sport.

2.2.5.1 Geschlechtergerechte Erziehung zum Sport

Die Erziehung zum Sport verfolgt den Auftrag, Jugendliche an den Sport heranzuführen, die Neugierde an Sport zu wecken. Die SchülerInnen sollen Zugang zum Sport haben und sportspezifischer Kompetenzen vermittelt bekommen (vgl. Baur, Burrmann & Krymanski 2002, S. 31). Obwohl in den Schulen die Gleichstellung klar definiert wird, führen diese Faktoren zu Ungleichheiten und beschränken die Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen und Mädchen durch die soziale Komponente. Dies ergibt sich auch für einen genderinsensiblen Sportunterricht, da auch dieser an das vorherrschende Rollenverständnis anknüpft.

Durch die Einführung des Pflichtfaches Sport für beide Geschlechter wurde eine Basis für Geschlechtergerechtigkeit geschaffen. Nun muss den SchülerInnen klar gemacht werden, dass die sportlichen Leistungen geschlechtsunabhängig von gleichem Wert sind (vgl. Hoven 2017, S. 47).

Aufgrund unterschiedlicher Erziehungseinflüsse und des sozialen Umfelds ist das Interesse an bestimmten Sportarten an das Geschlecht geknüpft („Mädchen- und Jungsportarten“). Um die unterschiedlichen Interessen der SchülerInnen im koedukativen Unterricht zu berücksichtigen, müssen diese Differenzen bei der Gestaltung des Sportunterrichts beachtet werden. Die Schwierigkeiten entstehen dann, wenn für Mädchen und Jungen die stereotypen Vorstellungen von Sportarten nicht erfüllt werden. Dies kann dann zu Ablehnung seitens der SchülerInnen führen, die sich dann vom Sport distanzieren. Ebenso darf sich der Sportunterricht nicht auf eine Seite beschränken und sich an konservativen Vorstellungen vom männlichen oder weiblichen Sportverständnis orientieren. Dem traditionellen Rollenverständnis soll aktiv entgegengewirkt und die Entscheidungsfreiheiten für individuelles Sportinteresse vergrößert werden (vgl. ebd.).

Nach Gramespacher (2008) könne man unterschiedliche Sportarten kennenlernen und erproben lassen, um den Bewegungshorizont der Jugendlichen zu erweitern und stereotype Verhaltensweisen nachhaltig zu behandeln. Erst dann ermöglicht es den heranwachsenden, Sportarten frei von Klischees zu erproben, die den individuellen Interessen entsprechen (vgl. Gramespacher 2008, S.35). Damit wird nicht das Ziel verfolgt, durch ein breites Angebot von Sportarten in Einklang mit den SchülerInnen zu bringen. Vielmehr sollen die Lehrkräfte die SchülerInnen an eine für sie persönlich geeignete Sportart heranführen (vgl. Hoven 2017, S. 48).

Allerdings ist auch die an Gender ausgerichtete Erziehung zum Sport in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit kritisch zu betrachten. Eine einseitige Kompetenzförderung der Geschlechter kann sich negativ auf die motorische Entwicklung auswirken. Somit sollte Geschlechtergerechtigkeit im Sportunterricht nicht den Schwerpunkt auf die Vermittlung gendertypischer Handlungskompetenz legen. Die Entwicklung unterschiedlicher motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten führt zu einer höheren Beteiligung im Sportunterricht für Jungen und Mädchen. Daher führt eine gleichmäßige Förderung verschiedener sportlicher Aktivitäten eher zu einer geschlechtergerechten Erziehung zum Sport (vgl. ebd.).

2.2.5.2 Geschlechtergerechte Erziehung durch Sport

Die Erziehung durch Sport verfolgt den Auftrag, die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen zu fördern (vgl. Baur, Burrmann & Krysmanski 2002, S.34). Man nimmt an, dass durch die sozialen Eigenschaften in den Sportarten, soziale Faktoren, wie zum Beispiel „Leistungsbereitschaft, Wettkampffreude, Selbstdisziplin, Kooperationsbereitschaft, Mut und Fairness positiv fördern kann“ (Hoven 2017, S. 49).

Die Studie von Budde (2011) zeigt anhand einer Lehrerbefragung und Beobachtungen im Sportunterricht die unterschiedlichen Sichtweisen der LehrerInnen auf Mädchen und Jungen (vgl. Budde 2011, S.35): Mädchen brauchen demnach Übungen zum Schutz, Jungen dagegen brauchen wettkampforientierte Sportarten. Dadurch wird angenommen, dass es Mädchen generell an Selbstbewusstsein mangelt. Im Gegenzug wird den Jungen ein höherer Bedarf an Bewegung und Aggressionspotential unterstellt (vgl. Budde 2011, S. 35). Das beeinflusst auch das Handeln der Lehrkraft, indem der Sportunterricht fürsorglich gegenüber Mädchen, und „Machen-lassen“ (Budde 2011, S.36) gegenüber Jungs gestaltet wird. Diese ungleiche Förderung von Sozialverhalten wird auch von Faulstich-Wieland & Horstkemper (1995) kritisiert. In der heutigen Gesellschaft haben Konfliktfähigkeit und Empathie unabhängig vom Geschlecht einen hohen Stellenwert. Somit muss die geringe Bereitschaft des Unterbindens seitens der Lehrkräfte als problematisch angesehen werden. Dies würde Unterrichtsstörungen verursachen, wenn im Sportunterricht lautes und rücksichtloseres Verhalten der Schüler im Vergleich zu den Schülerinnen toleriert wird, während in anderen Schulfächern dieses Verhalten zu einer schlechteren Note führt. Aufgrund dieser geschlechtsbezogenen sozialen Einflüsse im Sportunterricht haben Mädchen eine geringere Motivation, wettkampfbezogene Sportarten zu betreiben (vgl. Hoven 2017, S. 50).

Der Einblick aus der Perspektive der Erziehung durch Sport zeigt die aktuelle Haltung der Lehrkräfte, die den meisten nicht bewusst ist. Da dieses Lehrerhandeln zu Schwierigkeiten führt, müssen LehrerInnen dafür sensibilisiert werden, geschlechtsbezogene Sozialeinflüsse reflektieren zu können. Es stellt sich nun die Frage, wie eine gezielte Erziehung durch Sport zu einem geschlechtergerechten Sportunterricht führen kann. Nach Hoven (2017) sollte in einem geschlechtergerechten Sportunterricht die Förderung des Leistungsgedanken und der Freude an Wettkämpfen höher angesehen werden, da diese Robustheit und Durchsetzungsfähigkeit fördere und somit auch zum persönlichen Erfolg in Beruf und Alltag beitrage (vgl. Hoven 2017, S. 53). „Somit ist die geschlechterunabhängige Förderung personaler Kernkompetenzen wie Wettkampffreude, Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft sowie Kooperationsfähigkeit, Fairness und Rücksichtnahme Anliegen einer rechten Erziehung durch Sport“ (Hoven 2017, S.53).

Damit die Lehrkräfte sensibler agieren können, müssen sie ihre Haltung gegenüber Stereotypen erkennen und den Unterricht zielgerichtet gendersensibel gestalten. Außerdem müssen spezifische Räume zur Entfaltung von Werten und Verhalten geschaffen werden, wie zum Beispiel Interessen, Familien- und Berufsorientierung, Freizeitverhalten etc. (vgl. ebd.). Durch die Toleranz und Akzeptanz von Unterschieden ist eine selbstbestimmte Entwicklung zu fördern. Die Jugendlichen sollen dazu angeregt werden, sich mit der Vielfalt von Handlungsoptionen zu beschäftigen und eigene Verhaltensnormen zu entwickeln (vgl. ebd.). In dem folgenden Schaubild soll die Bedeutung von Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht veranschaulicht werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Der Balanceakt-Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht (Hoven 2017, S. 56)

Alles in allem trägt geschlechtergerechte Erziehung zum Sport dazu bei, dass SchülerInnen ermöglicht wird, eine große Auswahl an Bewegungsangeboten kennenzulernen und dass Jungen und Mädchen trotz ungleicher Voraussetzungen bestmöglich unterstützt werden. Eine geschlechtergerechte Erziehung durch Sport hingegen soll dazu beitragen, dass Mädchen und Jungen in Bezug auf personale Kernkompetenzen (wie oben beschrieben „Wettkampffreude, Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft sowie Kooperationsfähigkeit etc.“) und die Entfaltung von Werten und Verhaltensweisen (wie oben beschrieben „Interessen, Familien- und Berufsorientierung, Freizeitverhalten“) auf gleiche Weise gefördert werden (vgl. ebd. S. 54).

[...]


1 in dieser Arbeit wird das deutsche „Geschlecht“ im soziologischen Sinne von „Gender“ verwendet

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Das Geschlechterverhältnis im koedukativen Sportunterricht in der Grundschule aus der Lehrersicht
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,3
Jahr
2020
Seiten
75
Katalognummer
V973933
ISBN (eBook)
9783346312440
ISBN (Buch)
9783346312457
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechterverhältnis, sportunterricht, grundschule, lehrersicht
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Das Geschlechterverhältnis im koedukativen Sportunterricht in der Grundschule aus der Lehrersicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/973933

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