Die Genese der charismatischen Führungsposition Hitlers


Trabajo de Seminario, 1999

28 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Stephan Rammelt

Die Genese der charismatischen Führungsposition Hitlers

0. Einleitung

Bei dem Versuch einer historischen Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft wird die zentrale Figur Hitlers immer wieder zum Thema oftmals konfligierender Erklärungsversuche.

Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit die Person Hitlers für die Entstehung der nationalsozialistischen Herrschaft und die damit verbundenen Folgen von Bedeutung ist und wie diese erklärt werden kann.

Zum einen entwickelte sich eine stark hitlerzentristische, biographische Sichtweise des dritten Reiches, der die Geschichtsschreibung bis heute noch in hohem Maße verhaftet ist. Die Legitimation des biographischen Ansatzes liegt, laut der Meinung der meisten Biographieautoren, in der Tatsache, daß die nationalsozialistische Epoche ohne Hitler nicht möglich gewesen wäre. Es wird hier also von den enormen Wirkungen der Person auf deren Ursächlichkeit geschlossen.

Zum anderen entstanden neomarxistische, gesellschaftstheoretische Auslegungen des dritten Reiches, die der Person Hitlers kaum Bedeutung beimessen und ihn nur als Mittelsmann der in Deutschland herrschenden anonymen Kräfte sehen.

Eine wissenschaftliche Analyse der Wechselwirkungen zwischen Volk und Führer wirft jedoch Fragen auf, die den Erklärungsgehalt sowohl der rein biographischen wie auch der rein gesellschaftstheoretischen Sichtweise einschränken. Der rein biographische Erklärungsansatz ist aufgrund seines Schwerpunktes nicht in der Lage die ungeheure Diskrepanz zwischen der so unbedeutenden und dürftigen persönlichen Lebensgeschichte und der großartigen politischen Wirkungskraft Hitlers erschöpfend zu erklären. Das Erklärungsdefizit des gesellschaftstheoretischen Blicks liegt in der Nichtbeachtung der Person Hitlers, seiner Rede- und Argumentationsweise und des damit zusammenhängenden Gedankenkonstrukts und der Propaganda der Nationalsozialisten.

Um die Entstehungsweise der nationalsozialistischen Herrschaft nahezu erschöpfend erklären zu können, muß man sowohl die vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Kräfte als auch die Art und Weise wie diese gebündelt, expandiert und in eine Herrschaft transponiert wurden, näher beleuchten. Eine Anwendung des Charismakonzepts von Max Weber auf die Entstehungsweise dieser Herrschaft bezieht beide genannten Erklärungskomponenten mit in die Betrachtungsweise ein, indem es das zwischen ihnen vermittelnde Medium des Charisma ins Zentrum seiner theoretischen Erläuterung stellt.

In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die reziproke Wirkungsweise von Volk und Führer auf der Basis der Anwendung des Charismakonzepts von Max Weber auf die Entstehungsweise der charismatischen Führungsposition Hitlers darzustellen und anhand exemplarischer Beispiele und Zitate zu illustrieren. Hierbei werden zuerst die gesellschaftlichen Grundvorausetzungen für die Errichtung einer charismatischen Herrschaft erläutert. Sowohl die politisch kulturellen wie auch die sozialen Dimension der damaligen Zeit und die daraus resultierende Hoffnung auf ein charismatisches Erlösungsangebot sollen dabei dargestellt werden.

Im zweiten Teil folgt eine Erläuterung in welcher Art und Weise Hitler es verstand, diese latent vorhandene charismatische Hoffnung zu bündeln und in sich gleichsam zu personalisieren. An dieser Stelle wird darauf eingegangen, wie der charismatische Führungsanspruch durch Hitler gestellt wurde und durch seine Persönlichkeit eine spezifische Ausformung erhielt. Weiterhin wird erläutert inwieweit die Definition der Situation, die Hitler den Menschen bot, seinen persönlichen Führungsanspruch festigte und die nationalsozialistische Bewegung als einzigen Ausweg aus dieser definierten Situation darstellte. Schließlich soll die aus dem charismatischen Anspruch resultierende Bewährungsproblematik in der spezifischen Art und Weise der damaligen Zeit veranschaulicht werden.

1. Die latente charismatische Situation

Um die Errichtung einer charismatischen Herrschaft möglich werden zu lassen muß eine latente charismatische Situation vorhanden sein. Eine latente charismatische Situation ist die Bereitschaft, sich im Glauben an ein Charisma einer unmittelbaren persönlichen Autorität zu ergeben. Diese Bereitschaft wird sowohl durch kulturelle Umstände als auch durch soziale Konstellationen determiniert.1

1.1 Kulturelle Dimension

Unter der kulturellen Dimension einer latenten charismatischen Situation ist der Glauben und die Vorstellung zu fassen, das Schicksal des Menschen oder einer Nation würde unmittelbar durch transzendentale Mächte, die sich in Form einer bestimmten Person manifestieren, designiert.2 Es muß also die Vorstellungskraft vorhanden sein, einer bestimmten Person zuzuerkennen, sie sei mit ,,spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften"3 ausgestattet. Diese ,,absolut einzigartige"4 und ,,deshalb Göttliche"5 Kraft erzeugt eine soziale Beziehung auf der Basis einer ,,leidenschaftlichen"6 und ,,rein persönlichen"7 Hingabe der Menschen. Die erhoffte und vorgestellte charismatische Kraft ist also keine objektiv meßbare Qualität, sondern der auf eine Person8 projizierte Glauben.9 Aus der persönlichen Hingabe und dem Glauben an eine transzendentale Kraft dieser Person resultiert für den betroffenen Menschen die Pflicht zur Anerkennung des Charismas und zum Gehorsam gegenüber dem Charismaträger, solange sich dieser bewährt.10

1.1.1 Glaube an transzendentale Mächte

Der Glaube an diese transzendentalen Mächte und Qualitäten in Gestalt eines Menschen war sehr stark in der deutschen Kultur verankert. Dies zeigt sich vor allem in der großen Bedeutung des Geniegedankens bei der Beurteilung der Leistungen einzelner Personen in der Geschichte. Beispielhaft hierfür ist die Idolisierung Friedrich II. von Preußen aufgrund seiner Erfolge im Siebenjährigen Krieg, die seinem Genie zuerkannt wurden, wie auch die Charismatisierung Bismarcks nach der Reichsgründung. Weiterhin verstärkten die Erfahrungen des Krieges die Bereitwilligkeit, an das Genie des Feldherrn zu glauben und sich deshalb diesem auch unterzuordnen. Hieraus entstand auch die Charismatisierung von Hindenburg und Ludendorff. Auch die Intellektuellen wurden von dem Phänomen des Geniekults in hohem Maße beeinflußt.11

Besondere Erklärungskraft für den Glauben an transzendentale Mächte in Form von Personen gewinnt auch die pseudo-religiöse Dimension des Führergedankens. Diese entstand zum einen aus einem traditionellen kirchlichen Autoritätsglauben und zum anderen aus der Säkularisierung christlicher Heilsvorstellungen, die vor allem im deutschen Protestantismus zu finden war und sich zum Teil zu einer völkischen politischen Idee mit dem Anspruch einer christlichen, volksmissionarischen Erweckungsbewegung wandelte. Hieraus entwickelte sich oftmals eine naive, politische Heilserwartung und die Projektion christlicher Glaubensbereitschaft auf einen nationalen, politischen Führer.12

Es war also die Bereitschaft gegeben, eine Person als Führer anzuerkennen und sich ihm unterzuordnen, da sie ,,mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem zugänglichen Kräften oder Eigenschaften"13 ausgestattet und deshalb ,,als gottgesandt oder als vorbildlich"14 anerkannt wird.

1.1.2 Die totalitäre Versuchung

Auf der Basis dieser Bereitwilligkeit konnte man in Deutschland auch eine Tendenz erkennen, historische Geschehnisse zu personalisieren und die Bedeutungs-und Funktionsweise von Institutionen zu entwerten. Es waren starke anti-institutionelle Strömungen und ein großer Glauben an die Entscheidungskompetenz einer offenen aber autoritären Elite auszumachen.15

Die Bereitschaft, die Hoffnung auf die Autorität eines Führers zu setzen, ist von bestimmten deutschen Traditionen und Mentalitäten bestimmt. Der Führergedanke findet sich schon in den romantisch-konservativen Vorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts eines deutsch- germanischen Volksführertums. In der Wilhelminischen Zeit wurden sie zum einen durch die Verklärung heroischen Germanentums und zum anderen durch die nostalgischen Folgen der Bismarck-Idolisierung begünstigt. Weiterhin bildeten Reste und Traditionselemente der absolutistischen Monarchie und das zum Teil noch immer fortbestehende monarchische Bewußtsein eine Grundlage für die Genese eines modernen Führerbildes in der Weimarer Zeit.16 Vor allem in den führenden Schichten wie dem höheren Beamtentum, den Offizierskorps der Reichswehr und der Hochschullehrerschaft aber auch in weitreichenden Teilen der ländlichen Bevölkerung herrschte eine monarchistische Grundeinstellung, die dem Wachsen eines neuen Staatsgefühls in der Republik entgegenstand. Auch die Übernahme von Strukturelementen der konstitutionellen Monarchie in der Weimarer Verfassungsordnung spricht für die starke monarchistische Prägung bestimmter Parteien und Verbände.17

Beispielhaft hierfür sind die Einstellungsmuster des größten Teils des Berufsbeamtentums. Sie verachteten die parlamentarische Demokratie und sympathisierten eher mit einem elitären und autoritären System zur Führung der überparteilichen Volksgemeinschaft. Somit waren auch sie empfänglich für einen Führergedanken, der die Überwindung des Parteienstaates als Ziel propagierte.18

In vielen gesellschaftlichen Bereichen, sowohl in der Politik und in der zivilen Gesellschaft als auch in den Wissenschaften und in der Kunst, war eine Tendenz zu erkennen, die totalitäre Lösung als Ausweg aus den Widersprüchen und Schwierigkeiten der gegenwärtigen Situation zu sehen. Auch in den Leitbildern der damaligen Zeit kam eine Gesinnung zum Ausdruck, die sich eher mit einer totalitären Diktatur als mit der Republik vereinbaren ließen. Dazu gehörte zum einen der Ingenieur als Wohltäter der Menschheit und Erfinder genialer Technik und zum anderen der starke, gesunde Mann, der einfach, arbeitsam und treu das Muster des zukünftigen Volkes darstellen sollte.19 Nach dem ersten Weltkrieg zeigte sich der Hang der deutschen Bevölkerung zu einem Volksführertum in der Skepsis gegenüber der neuen Verfassung, dem Parlamentarismus, der Parteienherrschaft und dem Einfluß der Interessensgruppen. Dieses neue System wurde im autoritären Lager der deutschen politischen Kultur als ineffizient und undeutsch verurteilt. Es war die Sehnsucht nach einem Führer zu erkennen, der in der Lage war, die Probleme zu bewältigen. Dies konnte jedoch ihrer Ansicht nach nur geschehen, wenn dieser Führer von den parlamentarischen Zwängen befreit werden würde und so gemäß seinen ,,übernatürlichen und übermenschlichen"20 Begabungen handeln könnte.21

Es war also zum Teil der Wunsch nach einem Führer vorhanden, der ohne ,, normative Regeln und Verfahrenskontrollen"22 agieren kann und ,,kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung23 " beachten muß.24

1.2 Soziale Dimension

Die soziale Determinante einer latenten charismatischen Situation ist die Perzeption einer Krise.25

Ein Zustand der ,,Not und Begeisterung"26 bildet die soziale Grundlage für die Anerkennung des Charismas. Dieser Zustand der Not kann ,,psychischer, physischer,ökonomischer,ethnischer, religiöser, politischer"27 Natur sein. Hierbei spielt es jedoch keine Rolle, ob diese Kondition objektiv feststellbar ist oder nur subjektiv als solcher interpretiert wird.28

1.2.1 Der kausale Zusammenhang zwischen einer Krise und Charisma

Um den kausalen Wirkungszusammenhang zwischen der Wahrnehmung einer Krise und der Bereitschaft zum Glauben an ein Charisma zu verstehen muß man das nach Weber genau Gegenteilige näher beleuchten: den Alltag.

Weber bezeichnet zum einen den Alltag als das ,,eingelebte", ,,traditionale"29 Handeln des Menschen und zum anderen als das zweckrationale Handeln. Dieses Alltagshandeln wird geprägt durch die geltenden Normen und Glaubensüberzeugungen und kann auch als Mentalität bezeichnet werden. Es ist geprägt durch ein hohes Maß an Stetigkeit und Kontinuität. Daraus kann man schlußfolgern, daß ,,Jedes aus dem Geleise des Alltags herausfallende Ereignis"30 diese gewohnten, routinisierten oder zweckrationalen alltäglichen Verhaltensweisen in Frage stellt. Dies hat wiederum zur Folge, daß damit zusammenhängende Mentalitäten und Herrschaftsstrukturen in ihrem Sinn und in ihrer Legitimation angezweifelt werden Da jedoch genau diese Mentalitäten und Herrschaftstrukturen die Alltäglichkeit darstellen steigt die Bereitschaft, an das diesem spezifisch entgegengesetzte Außeralltägliche zu glauben und sich ihm hinzugeben.31

Sobald der Alltag seine sinnstiftende Funktion verliert, sucht der Mensch die Außeralltäglichkeit,die ihrerseits wiederum ,,die Partikularismen des Alltags zu einem einheitlichen sinnvollen Ganzen zusammenzwingt und damit dem Leben Sinn gibt"32. Ein Zustand der Not und Begeisterung und die daraus entstehende Bereitschaft, an ein Charisma zu glauben, kann also im besonderen dann auftreten, wenn bis dahin geltende soziale Beziehungen, Gruppenzugehörigkeiten und soziale Milieus ihre Stabilität verlieren und somit die tradierten Wertvorstellungen an Verpflichtungs- und Integrationskraft einbüßen.33

Es muß also ein Zustand der gesellschaftlichen und politischen Labilität gegeben sein, der auf der Basis einer Krisenhaftigkeit entsteht und durch diese wiederum in reziproker Weise verstärkt wird.

1.2.2 Die Krisenwahrnehmungen in Deutschland und ihre Auswirkungen

Bei der Analyse der sozialen Voraussetzungen einer latenten charismatischen Situation in Deutschland lassen sich bei fast allen von Weber definierten Dimensionen des Zustandes der Not Krisenempfindungen und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung von bisherigen Mentalitäten und Herrschaftstrukturen erkennen.

Die besondere Situation in der Weimarer Republik und das damit zusammenhängende Potential für einen charismatischen Aufbruch läßt sich wie folgt charakterisieren:

,,Es gibt lange Zeiten, in denen alles mehr oder weniger gradlinig in eingefahrenen und geordneten Bahnen verläuft, in denen, abgesehen von diesem routinemäßigen Weiterdrehen der traditionellen Entwicklung, ,nichts zu machen ist`, und originelle Neuerer und Reformatoren sich an der Wand trägen Beharrens vergebens die Köpfe blutig rennen. Und es gibt andere, seltenere und meist auch kürzere Zeiten, die in höchstem Grade labil sind, wo nichts mehr fest ist, alles flüssig zu werden scheint, und wo derjenige, der die Gelegenheit zu ergreifen versteht, zum Guten oder zum Bösen, die ungeheuersten Wirkungen hervorbringen kann."34

Dieser gesellschaftlich und politisch labile Zustand wurde durch ein hohes Maß an fehlender Integration bzw. Desintegration erzeugt. Dieses Gefühl der Desintegration wurde durch die in besonders gravierender Art und Weise auftretenden, technischen und politisch- sozialen Wandlungen erzeugt. Die Entstehung immer modernerer Technik und der steigende Verlust eines vergleichsweise einheitlichen religiösen und politischen Orientierungshorizontes erzeugte eine brisante Kampfsituation der unterschiedlichen weltanschaulichen Organisation. Für den Einzelnen wurde so die Komplexität des Gesamtsystems immer opaker, und er wurde nur noch partiell als Träger von Funktionen und nicht mehr in seiner gesamten Wesenheit angesprochen. Die Menschen neigten aufgrund dieser fehlenden Integration zu einem Gefühl der Entwurzelung.35

Dieser allgemeine Zustand der Desintegration wurde durch besondere Faktoren noch zunehmend verstärkt. Der Erste Weltkrieg und die Revolution von 1918 und die darauf folgenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erzeugten eine Situation des dauerhaften Konflikts der verschiedenen Gruppen und entzweiten die deutsche Nation in mehrere ideologisch aufgespaltene Lager.36 Die entstehenden Interessenskonflikte wurden jedoch nicht innerhalb einer approbierten Verfassung ausgefochten, sondern formierten sich im Kampf, oftmals auch in einer paramilitärischen Auseinandersetzung. Es zeigte sich also kein verbindlicher Wertekonsens, keine verbindliche Ordnung, die die konfligierende Kraft der Interessen hätte überbrücken können.37 Die durch die Inflation und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 erzeugten und durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages verstärkten wirtschaftlichen Probleme verbanden sich mit einer existentiellen Legitimitätskrise des herrschenden politischen Systems38. Die wirtschaftliche Krise indizierte für die Bevölkerung und sogar für einen Teil der politisch Handelnden das Scheitern des politischen Experiments der Weimarer Republik.39

Die wirtschaftlich-materiellen Schwierigkeiten wirkten sich auch auf das Selbstwertgefühl der Menschen aus. Es entwickelte sich bei vielen ein Gefühl der Minderwertigkeit und der Frustration. Hieraus entstand eine Indentitätskrise der Deutschen und sorgte für ein Defizit an Selbstvertrauen und Selbstachtung. Dieses ethnische Identitätsproblem wurde durch die Mißachtung40 der Alliierten, die sich in der Versagung der internationalen Gleichberechtigung und den Bestimmungen des Versailler Vertrages darstellten, noch verstärkt und verletzte zunehmend das Selbstwertgefühl der Deutschen.41 Der Versailler Vertrag stellte die Deutschen in ihrer materiellen und moralischen Niederlage und in ihren Schwächen vor der ganzen Welt bloß und trieb sie in einen tiefen Minderwertigkeitskomplex.42

Das immer zunehmende Gefühl des Identitätsverlustes und der Desintegration und die großen Spannungen in der Sozialstruktur Deutschlands erweckten bei vielen Deutschen ein Gefühl der Ziellosigkeit, Unsicherheit und Gereiztheit, was dazu führte, daß Stimmungen und Handlungen folgten, die vernünftige Überlegungen negierten.43 Es entwickelte sich die Jagd und der Wunsch nach einer neuen Substantialität, neuen Werten, tiefen Gefühlen und großartigen Perspektiven.44

Aufgrund des Fehlens sozialer Stabilität zerbrach bei vielen Menschen die sichere Lebensorientierung und daraus resultierte die Bereitschaft, sich von einer Politik der irrationalen und psychologischen Appelle verführen zu lassen.45

Erst die Sogkraft des politischen Vakuums, die in der Krise erwachten Existenzängste, die weitreichenden Zukunftssorgen und die scheinbare Ausweglosigkeit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation bereitete die Disposition für ein charismatisches Erlösungsangebot.46

Es war also sowohl eine kulturelle Vorprägung in der Form einer grundsätzlichen Bereitschaft zum Glauben an eine Manifestation transzendentaler Mächte in der Gestalt einer Person wie auch eine soziale Konstellation in Form eines hohen Maßes an Desintegration und politisch-sozialer Ausweglosigkeit gegeben, die eine Bereitschaft zur Hoffnung auf eine charismatische Herrschaft erzeugen.47

2. Die manifeste charismatische Situation

Um eine latente charismatische Situation in eine manifeste charismatische Situation zu verwandeln muß ein Mensch in Erscheinung treten, der einen charismatischen Anspruch stellt und für diesen Anspruch, die Krise zu meistern, auch Glaubwürdigkeit erlangt.48

2.1 Die charismatische Natur des Anspruchs auf Führung

Soll der Anspruch charismatischer Natur sein muß nicht nur ein Anspruch erhoben werden, die Krise zu meistern, sondern er muß auch auf einem charismatischen Ursprung basieren. Das bedeutet, die artikulierte Berechtigung auf Führung muß sich aus den ,,übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften"49 begründen.

Hitler selbst sah die Begründung seines Anspruches in der Berufung durch Gott. Diese empfing er in der Zeit, als er kurz nach dem Ersten Weltkrieg verletzt in einem Lazarett lag. Die Tatsache, daß er wieder gesund und so sein gefährdetes Augenlicht erhalten wurde, interpretierte er als ,,supernatural calling"50. Er sah sich selbst sogar als der personifizierte Wille Gottes in der politischen Sphäre und somit als der Erlöser des deutschen Volkes.51 Hieraus resultierte sein Glaube in die eigene Unersetzlichkeit und Unfehlbarkeit seiner Person, seiner Vorhaben und seiner Entscheidungen.52 Er verknüpfte auch die zeitliche Struktur seiner Pläne mit der seiner Lebenszeit. Er plante nicht für die Zeit nach seinem Tod, weder in bezug auf die Frage seiner Nachfolge noch in bezug auf das Schicksal der deutschen Nation.53

,,Verhängnisvollerweise muß ich alles während der kurzen Spanne eines Menschenlebens vollenden Dort, wo die anderen über die Ewigkeit verfügen, habe ich nur einige armselige Jahre. Die anderen wissen, daß sie Nachfolger haben werden.." ,,Als letzten Faktor muß ich in aller Bescheidenheit meine eigene Person nennen: unersetzbar. Weder eine militärische noch eine zivile Persönlichkeit könnte mich ersetzen Das Schicksal des Reiches hängt nur von mir ab. Ich werde danach handeln."54

Hitler versuchte den Menschen zu vermitteln, er besitze einen tieferen Einblick in die politische Lage der deutschen Nation und sei deshalb für das Problem, diese zu verbessern, berufen. Er propagierte immer wieder seine prophetischen Gaben, die er aus seinem eigenen Glauben und seinem Sendungsbewußtsein begründete.55

,, Was wir jahrelang predigten, tritt nun ein, geht in Erfüllung Sie können ja nicht mehr ableugnen, daß wir vor dem Zusammenbruch stehen, und können auch nicht leugnen, daß wir als einzige das dauernd vorausgesagt haben. Ich kann Ihnen auch heute voraussagen, was nun in Zukunft kommen wird."56

Die immer wieder verbreitete Darstellung seines Werdegangs und seiner Berufung suggerierten Assoziationen mit der von Christus.57 So wurde er als einstmals unbekannter und heldenmütiger Gefreiter, der durch Kampf und Entbehrungen den Sieg über die Welt voller Feinde erreicht hatte, dargestellt und eine gewollte Assoziationen mit der Geburt Jesus in einem einfachen Stall und seiner Entwicklung zu einem Messias ermöglicht.58

Auch die persönliche Ausstrahlung Hitlers und die Selbstdarstellung bei seinen Reden unterstrich seinen charismatischen Führeranspruch. Hitlers Anziehungskraft resultierte aus der Fähigkeit, sein Selbstbewußtsein in außerordentlicher und gefangennehmender Weise zu vermitteln. Er verband anziehende Dinge wie das Vaterland und die Großtaten anderer so stark mit seiner Person, daß sie sich in ihm gleichsam personifizierten. So stellte er sich in vielen Reden als den Schöpfer der NSDAP dar, der die Organisation gegründet und alleine aufgebaut hatte. Weiterhin besaß er die Befähigung, sich vor einer Versammlung in eine Art Rauschzustand zu versetzen. Die Menschen wurden von ihm so sehr in seinen Bann gezogen und in einen so starken Zustand der Ekstase versetzt, daß er in der Lage war, sich der Masse als der Erlöser der Nation zu präsentieren und dafür bei ihr Glaubwürdigkeit und Enthusiasmus erzeugte.59

Auch in der Art und Weise wie nationalsozialistische Massenveranstaltungen organisiert und inszeniert wurden steigerten sie die Bereitschaft der Menschen, Hitler als eine Art Heilsgestalt zu sehen. Es wurde eine Spannungskurve entwickelt, die ihren Höhepunkt in dem Auftritt und der Rede Hitlers hatte und so seine Person exponiert wurde. Als beispielhaft ist eine Veranstaltung in Bremen zu sehen, bei der Hitler in einem Flugzeug mit beleuchteter Kabine einige Zeit über dem Weserstadion kreiste, um im Anschluß an diese Demonstration gefeiert empfangen zu werden. Mit der Parole ,, Hitlerüber Deutschland" wurde seine Person mit der eines Messias, der gekommen war, um Deutschland zu erretten, assoziativ verbunden.60

Die Begeisterung und die Faszination die Hitler auf die Menschen ausübte läßt sich wie folgt beschreiben:

,, Aber erstaunlich und nicht zu beschreiben ist die Atmosphäre der allgemeinen Begeisterung, in die die alte Stadt eingetaucht ist, dieser eigenartige Rausch, von dem Hunderttausende ergriffen sind, die romantische Erregung, mystische Ekstase, eine Art heiligen Wahns, dem sie verfallen. Während acht Tagen ist Nürnberg eine Stadt, in der die Freude herrscht, eine Stadt, die unter einem Zauber steht, ja fast eine Stadt der Entrückten. Es geht davon eine Wirkung aus, der viele nicht zu widerstehen vermögen, sie kehren heim, verführt und gewonnen, reif zur Mitarbeit Die Woge der Leidenschaft, die von ihm ausgeht, hebt ihn über sich selbst hinaus, sie brandet bis an den Rand der Arena, von wo sie im Sturm der Rufe und des Beifalls zu ihm zurückflutet."61

Hitler selbst glaubte also an den charismatischen Ursprung seines Anspruches auf Führung, versuchte diesen immer wieder in seinen Reden und durch die nationalsozialistische Propaganda den Menschen zu vermitteln und gewann dafür bei ihnen auch Glaubwürdigkeit und Anerkennung.

2.2 Das Charisma der Idee

Hitler stellte nicht nur einen charismatischen Anspruch auf Führung sondern gab den Menschen auch eine Definition der Situation und deutete ihnen einen Weg aus der gegenwärtigen Krise.62

Hierbei wird deutlich, daß dem personalen Charisma Hitlers ein ,,Ideencharisma"63 hinzugefügt wurde.

Die Trennung zwischen Ideencharisma und ,,Personalcharisma"64 ist rein heuristischer und idealtypischer Natur. In der Realität fließen diese zumeist zusammen und bestimmen so die historische Wirklichkeit. Auch wenn eine charismatische Bewegung zweifellos auf einen charismatischen Führer ausgerichtet ist wird dieses Bewegung oftmals mit einer spezifischen Mission oder Botschaft verbunden.65

Weiterhin ist festzustellen, daß die Verknüpfung einer spezifischen Mission mit der Person des Führers die Geltungskraft des personalen Charisma durch eine Personifizierung des Ideencharisma gleichsam erhöht. Eine charismatische Idee oder Mission kann sich nicht auf eine ,,rationale Zweck- und Mittelsetzung"66 gründen, sondern muß auf ,,der emotionalen Wichtigkeit und dem Wert einer Manifestation religiöser, ethnischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, politischer oder welcher Art immer"67 basieren.

Der Grund hierfür liegt wiederum im Spannungsverhältnis zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit.

Die charismatische Sendung manifestiert sich in dem Glauben, eine Aufgabe zu besitzen, die in absoluter und reiner Form gelöst werden muß. Die Selbstgerechtigkeit und die Notwendigkeit der Reinheit verhindert eine Verflechtung in den Alltag.68 Institutionelle und normative Zwänge und Bindungen mit den damit verbundenen Kompromissen und Konzessionen können nicht zugelassen werden, da sie die Reinheit der zu erfüllenden Mission beeinträchtigen. Diese völlige Herauslösung aus dem Alltag und die absolute ,,Unwirtschaftlichkeit"69 erklärt auch die ungebundene Radikalität der Sendung und den damit verbundenen Handlungen.70

Auch Hitler erkannte diesen Zusammenhang als er sagte:

,,Glaubst du, daß für deine Wirtschaft sich jemand totschießen lassen würde ? Für den Idealismus und in dem Idealismus hat Deutschland zehn Millionen Männer an der Front gehabt. Sie wußten, daß sie nicht für die Wirtschaft kämpften. Man stirbt für irgendein großes Ziel und dieses Ziel wird umso gewaltiger sein, je mehr es zum gemeinsamen Interesse der Allgemeinheit emporsteigt Diese Ideale lassen sie vergessen, was sie sonst untereinander trennt, und heben sie über den Alltag hinweg."71

,,Wer den goldenen Mittelweg gehen will, muß auf das Erreichen großer und größter Ziele verzichten. Bis auf den heutigen Tag ist das Halbe und das Laue auch der Fluch Deutschlands geblieben."72

Hitler bot den Menschen eine Definition der Situation und einen scheinbaren Weg aus der Krise in Form einer charismatischen Mission, die nicht über die Partikularismen des Alltags gebrochen werden kann.

2.2.1 Die Definition der Situation

Hitler gab den Deutschen eine Definition der gegenwärtigen Situation, die auf seine Person und die charismatische Mission zugeschnitten war.

Seine Erklärung und Beschreibung der gegenwärtigen Situation war ausschließlich von einer vollkommenen Negation der bestehenden politischen Verhältnisse charakterisiert. Diese Negation war geprägt von einer haßerfüllten, destruktiven Kritik und war also nur eine stringente Protesthaltung und kein wirkliches Auseinandersetzen mit den realen Problemen des Systems. Mit seinen Negationen verband Hitler zumeist Postulate, bei denen er sich eines äußerst breiten gesellschaftlichen Konsens sicher sein konnte, wie z.B. die Beseitigung der Reparationen, einen Rückgewinn der verlorenen Gebiete, eine militärische und politische Gleichberechtigung Deutschlands, Abschaffung des Kriegsschuldenparagraphs des Versailler Vertrags.73 Der Revisionismus fand sowohl in der Diplomatie, im Auswärtigen Amt, in der Reichswehr, im Bereich der Wirtschaft, in den großen Parteien und Verbänden als auch in deröffentlichkeit große Anerkennung und besaß somit außerordentlich starke Integrationskraft.74

Da viele Menschen in der damaligen Zeit dazu tendierten, dem Leiden einen Sinn zuzusprechen und aus einem seelischen Selbstschutzmechanismus heraus die vorhandene Aggressivität auf einen Gegner lenken zu wollen, waren es für Hitler möglich, die Zuhörer zu einer ,,Gemeinschaft im Nein"75 zu formen. Er apellierte an die Gefühle der Frustration und Desintegration und erzeugte bei den Menschen Antipathie und Ressentiments indem er ihnen ein Feindbild konstruierte.76 Die Konstruktion eines permanenten Gegners, einer ständigen Kampfsituation besitzt ihrerseits wiederum ein hohes Maß an Integrationskraft und stabilisiert somit die Gemeinschaft. Das fiktive Feindbild muß jedoch objektiv bleiben und darf nicht festgelegt oder abgegrenzt sein. Der Haß auf einen undefinierten, anonymen Feind ist stärker und leichter erzeugbar als der auf einen definierten, klar umrissenen, da dieser sich sonst allzu leicht personifiziert und somit der Haß von einer persönlichen Hemmschwelle begrenzt werden kann.77 Alle konstruierten innen- und außenpolitischen Feinde wurden in einem undefinierten ,,jüdisch-plutokratisch-bolschewistischen Antisymbol"78 zusammengefaßt. Dieses Feindbild knüpfte seinerseits wiederum an latent vorhandene Unterströmungen79 an, die die Konstruktion des Feindbilds erleichterten.80

Hitlers Definition der gegenwärtigen Situation war also auf mythische Weise allgemein gehalten. Durch die manichäische Simplifizierung der Fronten reduzierte er die Perzeption der Menschen auf die Option, sich entweder dem definierten Feind zu ergeben, oder seiner Führung anzuschließen.81

2.2.2 Der Weg aus der Krise

Hitlers propagierter Weg aus der Krise war ebenso mythisch allgemein formuliert wie seine Definition der Situation. Die vorgetragene Lösung sollte und konnte nicht durch seine Praktikabilität oder durch seine instrumentelle Korrektheit überzeugen, sondern bezog sich ausschließlich auf existentielle Werte.82

Die Aufgabe der charismatischen Sendung lag nicht in einer konstruktiven Reformation oder Revision der gegenwärtigen Verhältnisse, sondern in der Erschaffung von etwas völlig Neuem. Das Ziel war die sittliche Wiedergeburt und das Erwachen des deutschen Volkes, und dies konnte nur durch die Verfolgung bestimmter Ideale erreicht werden. Zu diesen hohen Idealen83 gehörten die Volksgemeinschaft, das Führertum, der rassische Antisemitismus, das Dogma vom Kampf als Lebensprinzip und die Eroberung von Raum im Osten Europas.84

Das Ziel wurde mit einer opaken Utopie, mit einem Mythos einer glücklichen Zukunft, der aus der Negation der Gegenwart entstand, verbunden und artikulierte so das diffuse, nur elementare Gefühl der Unzufriedenheit und Hoffnung. Hitler erzeugte den Eindruck, alle Erwartungen in der Zukunft erfüllen zu können und personifizierte somit die Hoffnung der Menschen auf eben diese.85

,,Der blinde, felsenfeste unerschütterliche Glaube an die unwiderstehliche Kraft des deutschen Volkes, an die Möglichkeit, wieder hoch zu kommen, an eine bessere Zukunft unseres Volkes muß wieder geweckt werden, aus ihm werden uns dann die Wege klar werden, die wir gehen müssen. Alle diese hohen Ziele sind es, die die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sich vor allem gesteckt hat."86

Auch die nationalsozialistische Bewegung war vollkommen auf den charismatischen Anspruch Hitlers auf Führung und auf die charismatische Mission ausgerichtet und wurde in dieser Art und Weise auch nach außen hin dargestellt.

Die nationalsozialistische Bewegung wurde als straff geführte Organisation präsentiert, die sich nicht an gruppenspezifischen Interessen orientierte, sondern nach einem ideellen Gesinnungswandel der Deutschen strebte. Sie wurde als eine Elite, eine verschworene Gemeinschaft dargestellt, die in einem Rausch von Massenagitation und Straßenkampf große Aktivität und Vitalität entfaltet.87 Sie trat als eine den alten Parteien entgegengesetzte, die Interessen des ganzen Volkes umfassende Bewegung hervor, eine Kraft der Erneuerung.88 Die innerparteiliche Darstellung der Bewegung als eine elitäre Minorität wirkte besonders auf die Menschen anziehend, die mangelhaft sozial integriert und gebunden waren. Immer wieder betonte man die Kontinuität und die Widerstandskraft trotz der Bedrohung durch die definierten Feinde. Dies wirkte nach außen als Beweis der Stärke und der Unanfechtbarkeit der Mission und nach innen als integrativer Faktor.89

Weiterhin wurden Mitglieder, die im Kampf für die Bewegung gestorben waren, als Märtyrer verehrt und durch die Reden Hitlers, durch Blutfahnen und Standarten immer wieder glorifiziert. Es wurde auch ein Bezug zwischen den Gefallenen des ersten Weltkriegs und den Märtyrern der Bewegung hergestellt und somit eine Übertragung der Verehrung für die gefallenen Frontsoldaten auf die Angehörigen der Bewegung ermöglicht. Bei der Überzeugungskraft einer Idee ist es von großer Bedeutung, ob man Menschen als Glaubenszeugen anführen kann, die für die Idee ihre Sicherheit, ihr Glück und ihr Leben opferten und somit die scheinbare Unanfechtbarkeit belegen, da im Gegensatz zur Argumentation kein rationales Verfahren des pro und contra möglich ist.90

,,Es ist etwas Wunderbares um eine Bewegung, die sich in einem 13jährigen Kampf ohnegleichen von einer Handvoll Menschen emporarbeitet zur Hoffnung einer ganzen Nation.

Es ist etwas Wunderbares um den Glauben, der eine solche Bewegung beseelen muß; etwas Wunderbares um die Opfer, die in einer solchen Bewegung gebracht werden; etwas Wunderbares um die Kampfkraft, um diese ewige Angriffskraft, die eine solche Bewegung ihr Eigen nennen muß und es ist nur zu verständlich, daß diejenigen, die den Kampf nicht führen, überhaupt das Wesen einer solchen Erscheinung gar nicht begreifen können."91

Die Definition der gegebenen Situation, die Hitler den Menschen vermittelte, verstärkte die Bereitschaft, auf ein charismatisches Erlösungsangebot zu hoffen. Dieses Erlösungsangebot wurde durch den charismatischen Führer Hitler, die nationalsozialistische Bewegung und die charismatische Mission bereitgestellt.

Sobald die Perzeption der Realität in hohem Maße durch scheinbar unumgängliche Alternativen beeinflußt wird steigt die Willfährigkeit, sich an existentiellen Werten festzuhalten. Die Orientierung an den determinierten ideellen und existentiellen Werten und die Hoffnung auf den definierten Mythos der Zukunft verstärkte die Bereitschaft, dem Führungsanspruch einer höchsten und autarken Macht zu folgen. Es entsteht eine Zirkularstimulation,in der die Krise, die durch den Charismatiker determiniert wurde, nur durch den Charismatiker selbst überwunden werden kann.92

2.3 Die Bewährung des charismatischen Anspruches

Die zentrale Handlungsbeschränkung des charismatischen Führers ist die Pflicht zur Bewährung. Das Ziel seines Handelns muß sein, die Perzeption seiner Bewährung durch die Anhänger konstant zu sichern, zu examinieren und zu steuern. Die Wahrnehmung kann durch bestimmte Faktoren beeinflußt werden. Zum einen durch einen Zustand der Not und Begeisterung, der die Handlungsausrichtung entrationalisiert und emotionalisiert, und zum anderen durch einen Mangel an alternativen Interpretations- und Handlungsoptionen.93 Durch die sozialen und politischen Konstellation der damaligen Zeit und durch die von Hitler den Menschen vermittelte Definition der Lage waren genau diese Voraussetzungen, die die Bewährung des charismatischen Anspruches erleichtern, wie oben erläutert worden ist gegeben.

Erst die Bewährung der charismatischen Führungsqualität legitimiert den Anspruch auf charismatische Führung. Am Anfang zeigte sich der Bewährungsbeweis des Anspruches in den eindrucksvollen Wahlerfolgen, da besonders die Wirkung Hitlers auf dieöffentlichkeit und sein Engagement bei den Wahlen beachtet wurden.94

Diese Kontinuität der Bewegung bewies jedoch nicht nur Hitlers charismatische Führungskraft durch die Herausstellung seines eigenen Einsatzes bei den Wahlen, sondern auch durch den scheinbaren Beweis der Richtigkeit der charismatischen Idee, die ja durch ihn personifiziert wurde.

Aus der latenten charismatischen Situation wurde während des Jahres 1932 eine manifeste charismatische Situation. Hitler hatte für seinen Anspruch auf charismatische Führung Glaubwürdigkeit und bei den Wahlen 40 % der Stimmen erlangt. Er hatte erfolgreich die vorhandene charismatische Hoffnung an sich gebunden.95

3. Schlußbetrachtung

Die Frage, die sich im Anschluß an diese Analyse stellt, ist ob eine solche massenhafte Bereitschaft, auf ein charismatisches Erlösungsangebot zu hoffen und auf der Basis dieser Bereitschaft einem charismatischen Führer zu folgen, auch in dem heutigen Deutschland vorhanden ist oder vorhanden sein könnte.

Bei der Beantwortung dieser Frage ist es notwendig zu analysieren, in welchem Maße und in welcher Art und Weise das Phänomen des Charisma in unserer jetzigen Gesellschaft auftaucht.

Die Mehrzahl der charismatischen Erscheinungsformen treten in versachlichter, entpersonalisierter Form auf. Das Charisma stellt sich nicht mehr als an eine Person gebundene, außeralltägliche Qualität, sondern immer mehr in Form des Ideencharisma dar. Die Versachlichung des Charisma hat neben der Entpersonalisierung auch eine Verwandlung der jenseitigen Natur der charismatischen Sendung in eine diesseitige zur Folge. Das Charisma ist für die Menschen also immer seltener eine transzendente, außeralltägliche Qualität, sondern manifestiert sich für sie als eine im Menschen potentiell angelegte Kraft. Hierbei ist vor allem das ,,Charisma der Vernunft96 " zu nennen. Dieses entstand durch die zuallererst französische Aufklärung und ist seit damals fester Bestandteil der elementaren Strukturen moderner Gesellschaften. In seinen spezifisch nationalen Ausformungen tritt es zum Beispiel als der Glaube an die universelle Gültigkeit der Menschenrechte und an die Demokratie als alleinigen legitimen Herrschaftstypus auf. Dieser Glaube beeinflußt in maßgeblicher Weise die Institutionen und Grundeinstellungen moderner Gesellschaften und ist somit zu einer a priori geltenden Sinngewißheit geworden, deren charismatische Wurzel in bestimmten Schriften wie den Menschenrechtserklärungen und den verschiedenen Staatsverfassungen symbolisiert und durch die verschiedenen Staatsfeiertage ritualisiert werden. Die Institutionalisierung und Veralltäglichung des Charisma traditionalisiert und routinisiert das originäre Charisma, bricht die Leidenschaft und die emotionale Hingabe an dieses und verwandelt es in eine unhinterfragt geltende, eingelebte Glaubensüberzeugung, die durch die institutionelle Manifestation zur Mentalität wird97.

Diese routinisierte und traditionalisierte Form des Charismas der Vernunft bestimmt mehrheitlich den Bereich der charismatischen Erscheinungsformen. Besonders die liberaldemokratische, individualistische Variante dieser charismatischen Bewegung scheint sich etabliert und in eine beinahe allgemeingültige Mentalität verwandelt zu haben98.

Demgegenüber bestehen und entstehen jedoch weiterhin andere nicht traditionalisierte Formen des Charisma. Zum einen treten diese als magisches und religiöses Charisma auf, das sich in den verschiedensten Erscheinungsformen, wie z.B. Teufelskulte, Okkultismus und Esoterik, äußern kann99. Zum anderen gewinnt die charismatische Idee der Nation wieder an Bedeutung. Dies zeigt sich vor allem in den ansteigenden Mitgliederzahlen rechtsextremer Organisationen und den sich mehrenden Übergriffen auf Ausländer. Die erkennbare Radikalität und Selbstgerechtigkeit dieser Bewegungen zeigt ihren originär charismatischen Ursprung.

Festzustellen ist jedoch, daß sich all diese nicht traditionalisierten Formen des Charisma als Randerscheinungen darstellen und durch ihren subkulturellen Charakter auf das Gesamtsystem kanalisierend und stabilisierend wirken. Da das jetzige Gesamtsystem sich auf der Basis einer sowohl traditionalisierten und entemotionalisierten als auch entpersonalisierten und diesseitigen Form des Charismas der liberaldemokratisch, individualistischen Vernunft gründet, kann trotz der sozial und wirtschaftlich angespannten Lage die Genese einer Bereitschaft, die auf ein personalisiertes und transzendentales charismatisches Erlösungsangebot abzielt, weitgehend ausgeschlossen werden.

Literaturverzeichnis

- Bach, Maurizio 1990

Die charismatischen Führerdiktaturen.

Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen, Nomos Verl.-Ges., Baden-Baden.

- Bibó, István 1991

Die deutsche Hysterie. Ursachen und Geschichte, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig

- Broszat, Martin 1983

Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München.

- Gebhardt, W. 1994

Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.

- Grieswelle, Detlef 1972

Propaganda der Friedlosigkeit. Eine Studie zu Hitlers Rhetorik 1920 - 1933, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart.

- Haffner, Sebastian 1978

Anmerkungen zu Hitler

Kindler Verlag GmbH, München.

- Hagemann, Jürgen 1970

Die Presselenkung im dritten Reich,

H. Bouvier u. Co. Verlag, Bonn.

- Herbst, Ludolf 1996

Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

- Jäckel, Eberhard 1981

Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.

- Kershaw, Ian 1980

Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im dritten Reich, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.

- Lepsius, M. Rainer 1993

Demokratie in Deutschland: soziologisch-historische Konstellationsanalysen,

Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.

- Peukert, Detlef J. K. 1987

Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.

- Rüstow, Alexander 1957

Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. III Eugen Rensch-Verlag, Erlenbach-Zürich.

- Schweitzer, Arthur 1986

Hitler's Dictatorial Charisma

in: Charisma, History and Social Structure

Ronald M. Glassman and William H. Swatos Jr.

- Weber, Max 1976

Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie Mohr, Tübingen.

- von Gaertringen, Friedrich Frhr. Hiller 1993

Monarchismus in der deutschen Politik.

in: Stürmer, Michael (Hg.), Die Weimarer Republik Hain, Frankfurt am Main.

[...]


1 Lepsius S. 100

2 eben da S. 100

3 Weber S. 140

4 eben da

5 eben da S. 658

6 eben da S. 140

7 eben da

8 Projizierter Glaube in Form des Charisma ist jedoch nicht nur auf Personen beschränkt, sondern kann sich auf Gegenstände und Ideen beziehen (vgl. Breuer S. 34ff).

9 Gebhardt S. 35

10 Weber S. 655

11 Lepsius S. 101

12 Kershaw S. 26

13 Weber S. 140

14 eben da

15 Lepsius S. 100

16 Kershaw S. 26

17 von Gaertringen S. 254

18 Broszat S. 27

19 Peukert S. 238f

20 Weber S. 140

21 Lepsius S. 100

22 Lepsius S. 96

23 Weber S. 141

24 Hierbei ist anzumerken, daß diese Bedingungen nur beim genuinen Charisma erfüllt sind. Die faktischen funktionalen Erfordernisse der staatlich-institutionellen Struktur des nationalsozialistischen Deutschlands verändern in besonderer Art und Weise den Charakter der charismatischen Führung. Darauf soll jedoch nicht näher eingegangen werden, da nur die Vision einer charismatischen Führung veranschaulicht werden soll.

25 Lepsius S. 101

26 Weber S. 657

27 eben da S. 654

28 Gebhardt S. 40

29 Weber S. 12

30 eben da S. 670

31 Gebhardt S. 39f

32 Gebhardt S. 40

33 Bach S. 21

34 Rüstow S. 485

35 Grieswelle S. 9

36 Grieswelle S. 9f

37 eben da S. 14f

38 eben da S. 9f

39 Peukert S. 243

40 Hierbei ist anzumerken, daß es sich politisch gesehen natürlich nicht um eine Mißachtung im eigentlichen emphatischen Sinn des Wortes gehandelt hat. Es soll jedoch damit zum Ausdruck gebracht werden, wie das Handeln der Alliierten von der deutsche Bevölkerung aufgenommen und interpretiert wurde.

41 Grieswelle S. 11

42 Bibó S. 123f

43 eben da S. 21

44 Peukert S. 238

45 Grieswelle S. 57f

46 Peukert S. 236

47 Lepsius S. 100f

48 eben da

49 Weber S. 140

50 Schweitzer S. 149

51 eben da S. 149f

52 eben da 154f

53 Haffner S. 28f

54 Haffner S. 29f

55 Grieswelle S. 45f

56 eben da S. 46

57 Bei einem Vergleich Hitlers mit Christus stellte sich für Hitler das Problem des Antagonismus der Inhalte und somit bestand für Hitler der Wert der scheinbaren Vergleichbarkeit nur in der Sendung durch Gott und der anfänglichen Schwierigkeiten und Aussichtslosigkeit der Mission. (vgl. Schweitzer S. 151ff)

58 Grieswelle S. 46

59 Schweitzer S. 10f

60 Grieswelle S. 38f

61 Andr´e Francois-Poncet, französischer Botschafter in Berlin, anläßlich eines Parteitages in Nürnberg. (siehe SPIEGEL - RETROSPECT ,,...ein eigenartiger Rausch, mystische Extase")

62 Lepsius S. 101f

63 Gebhardt S. 38

64 eben da

65 Gebhardt S. 37f

66 Weber S. 657

67 eben da

68 Hierbei ist anzumerken, daß sich die charismatische Mission nur in ihrer genuinen und idealtypischer Form jeglicher Verflechtung in den Alltag erwehren kann. Soll eine charismatische Sendung den Charismagläubigen vermittelt werden darf diese Verflechtung natürlich keinerlei Bedeutung beigemessen werden, da diese die Wirkungskraft der Sendung begrenzen würde.

69 Weber S. 142

70 Gebhardt S. 41ff

71 Grieswelle S. 50

72 eben da S. 54

73 Grieswelle S. 64ff

74 Herbst S. 25

75 Grieswelle S. 64

76 eben da S. 64f

77 Hagemann S. 4ff

78 Hagemann S. 119

79 zur Konsensfähigkeit des propagierten Rassismus und Antisemitismus vgl. Herbst S. 37ff

80 Hagemann S. 119

81 Lepsius S. 102

82 Lepsius S. 102

83 zu den Idealen und Zielen der Weltanschauung Hitlers vgl. Jäckel

84 Grieswelle 54ff

85 eben da S. 50f

86 Grieswelle S. 51

87 eben da S. 44ff

88 Kershaw S. 73

89 Grieswelle S. 44f

90 eben da S. 53

91 Grieswelle S. 44

92 Lepsius S. 102f

93 eben da S. 98

94 eben daS. 103f

95 Lepsius S. 104

96 Gebhardt S. 91

97 Gebhardt S. 98ff

98 eben da S. 103

99 eben da S. 102

Final del extracto de 28 páginas

Detalles

Título
Die Genese der charismatischen Führungsposition Hitlers
Calificación
1,7
Autor
Año
1999
Páginas
28
No. de catálogo
V97435
ISBN (Ebook)
9783638958875
Tamaño de fichero
490 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Genese, Führungsposition, Hitlers
Citar trabajo
Stephan Rammelt (Autor), 1999, Die Genese der charismatischen Führungsposition Hitlers, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97435

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