Die Antigone Pierre-Simon Ballanches


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

18 Seiten, Note: 1,5

Anonym


Leseprobe


Inhaltsangabe

Einleitung

1. Gesellschaftliche Umstände

2. Form und Handlungsrahmen

3. Zeichnung der Protagonisten

4. Einordnung in Ballanches Philosophie und Geschichtsverständnis

Zum Ende

Bibliographie

Einleitung

Die Antigone Pierre-Simon Ballanches ist schon deshalb interessant, weil mit ihr die einzige moderne Prosabearbeitung des antiken Stoffes vorliegt. Geschrieben im letzten Jahr der napoleonischen Herrschaft, wagt sie den Versuch, den Mythos im christlichen Sinn umzudeuten und zugleich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beziehen. Dies alleine wäre noch keine Besonderheit, hat doch schon Garnier eine christliche Antigone geschaffen und stehen andere Bearbeitungen ebenfalls unter politischen Vorzeichen. Die Art und Weise, wie dies jedoch geschieht, stellt einen Bruch mit der Tradition dar und kann durchaus als einzigartig bezeichnet werden.

In der folgenden Untersuchung werden wir das Werk zuerst in sein gesellschaftlich-geschichtliches Umfeld einordnen und zu klären versuchen, inwieweit es sich dabei um ein politisches Stück handelt. Im zweiten Kapitel wird untersucht werden, ob und wie die epische Form der Intention des Autors gerecht wird. Das dritte Kapitel ist den Protagonisten gewidmet, im vierten wird versucht, das Stück in die Geschichtsphilosophie Ballanches, die den weitaus größten Teil seines Werkes ausmacht, einzuordnen. Diese vier Punkte sollen uns genügen, um zu zeigen, das es sich bei der Antigone Ballanches um eine einzigartige Bearbeitung handelt, die vor allem durch ihre konzeptionelle Geschlossenheit besticht. Dem Leser diese Einschätzung näher bringen zu können, ist unsere Hoffnung.

1. Gesellschaftliche Umstände

Als Antigone 1814 veröffentlicht wird, blickt Frankreich auf zwei Jahrzehnte innerer und äußerer Unruhen zurück. Die Revolution von 1789 mit den aus ihr erwachsenden Kriegen und Gemetzeln, die blutige Herrschaft der Jakobiner und der Staatsstreich Napoleons, dessen Kriege in Europa, wenngleich von großen Teilen des Volkes unterstützt, Zehntausende von Menschenleben kosteten, haben sämtliche althergebrachte Gewissheiten zerstört und das Land in eine Krise gestürzt. Wirken nach dem Ende des Empires der Einfluss der liberalen Enzyklopädisten und grundlegende Forderungen der Revolution fort (so zum Beispiel der Ruf nach Demokratie und der gerechten Verteilung von Wohlstand), so sammeln sich auf der anderen Seiten die Konservativen, Royalisten und Katholiken, die auf dem Wiener Kongress die Restauration einleiten. Noch unter dem Schock des Vergangenen, steht Frankreich zwischen der Rückkehr in „geordnete Verhältnisse” und modernen Ideen, die sich nicht mehr verdrängen lassen. Die Antworten auf diese Zeit sind dementsprechend unterschiedlich und decken eine Bandbreite ab, die von der Weiterentwicklung liberalen Gedankenguts bis hin zum Versuch einer Erneuerung durch den „néo-catholicisme”[1] reicht. Geistige und gesellschaftliche Erneuerung ist als Ziel den Vertretern aller Schulen gemeinsam, die, eben durch die andauernde Erschütterung aller gewohnten Ordnung in der Zeit nach 1789, ihre Rolle als Künstler neu definieren. Der Dichter wird in seinem Selbstverständnis zu einer Art Prophet, der von der Zukunft der Menschheit Kunde gibt. Paul Bénichou formuliert das sehr treffend:

Poésie et Art sont le seul firmament du monde nouveau, l’unique couronne mystique de

l’Esprit dans le siècle commençant. Tous les fondateurs de doctrines ont voulu parer de cette couronne le nouvel ordre qu’ils annonçaient.[2]

Ballanche erscheint im Kontext dieser Zeit als gemäßigter Konservativer, als ein Mann zwischen den Stühlen, der versucht, religiös-konservative und liberale Ansätze zu verschmelzen. Einerseits Royalist und Christ, der an die göttliche Legitimität des Herrschers glaubt und der Französischen Revolution ablehnend gegenübersteht (er hatte die Belagerung Lyons durch die Convention als Jugendlicher miterlebt), verschließt er sich doch weder dem Fortschritt noch den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit - eine merkwürdige Mischung, die jedoch gut zu der Aufbruchsstimmung der Zeit passt.

In seinem Spätwerk entwickelt Ballanche eine eigene Geschichtsphilosophie, die „palingénésie sociale”, auf die wir im vierten Kapitel näher eingehen werden. Grundzüge dieses Geschichtsverständnisses finden sich allerdings bereits in der Antigone.

Kommen wir zu den politischen Bezügen des Stückes: Die Schlacht um Theben, in der Antigone-Bearbeitung von Sophokles ausgespart, wird im fünften Buch in epischer Genauigkeit beschrieben. Dem zeitgenössischen Leser dürften bei der Lektüre sowohl die Revolutionskriege als auch die napoleonischen Eroberungszüge vor Augen gestanden haben, und Ballanche selbst zieht den Vergleich im Epilog:

Le plus belle empire de la terre paraissait accablé sous le poids de la malédiction; un peuple remarquable entre tous les peuples expiait ses fautes nombreuses, ses coupables erreurs, de trop vastes triomphes. Un autre Œdipe, un nouveau roi de l’énigme, précipitait la malheureuse France dans la consternation et dans les larmes.[3]

Œdipe, das ist in diesem Zusammenhang Napoleon, und R. Troussier bestätigt, dass „il fut un temps où l’on identifiait sans hésiter (...) Œdipe (...) à Napoléon redevenu Buonaparte”[4]. Da aber der Œdipe Ballanches ein Schuldiger ist, wird auch Napoleon für sein Werk verantwortlich gemacht. Ballanche steht hier auf der Seite der Restauration: „Réligion des souvenirs, tu n’étais pas éteinte dans nos cœurs: tu préparais en silence le retour de cette famille qui semble être pour nous la patrie elle-même”[5].

Gleichzeitig rückt Ballanche in seinem Epilog Antigone in die Nähe der Dauphine, Tochter von Louis XVI, die 1814 nach Frankreich zurückkehrte. Er nennt sie eine „princesse née pour expier les fautes des hommes et pour consoler un grand monarque dans ses peines”[6] – womit wir bei einer anderen Figuration wären. P. Bénichou hat darauf hingewiesen, dass diese im Werk nicht angelegt sein konnte, da Antigone zum Zeitpunkt der Geschehnisse von 1814 bereits im Druck war[7]. Man sollte daher vorsichtig sein, allzu konkrete Bezüge herzustellen. Ballanche ordnet das Werk in seine Entstehungszeit ein, betont jedoch, dass „ce n’est pas une allégorie que j’ai prétendu faire”[8].

In Ballanches Gestaltung des Bruderzwistes stoßen wir auf ein Detail, das ebenfalls politische Bedeutung besitzt: Étéocle und Polynice losen um die Krone, schwören aber zuvor, abwechselnd jeweils ein Jahr zu regieren. Der Kommentar des Erzählers ist eindeutig: „Étrange convention, bien digne en effet de cette fatale couronne qui avait ceint le front d’Œdipe! Les Furies, sans doute, reçurent un serment destiné à être violé”[9]. Hält man sich die politische Entwicklung der Revolutionsjahre vor Augen, so fällt es nicht allzu schwer, das Misstrauen Ballanches in ein demokratisches Staatssystem zu verstehen. Der Bruderkrieg kann als Entsprechung zur Aufspaltung der französischen Gesellschaft betrachtet werden. Die Antigone ist nun einmal der politische Stoff par excellence.

Bei all dem fällt auf, wie wenig Ballanche von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten, die im Stück angelegt sind, Gebrauch macht. Die Figurationen, die im Epilog hervorgehoben werden, bleiben in ihrer Entsprechung zur Zeitgeschichte vage, das Streitgespräch zwischen Hémon und Créon über die Legitimität der Herrschaft, zentrale Stelle in den meisten Bearbeitungen, ist hier ausgespart. Gleichwohl der konservative Grundton unüberhörbar ist, handelt es sich bei Ballanches Antigone doch nicht um ein in erster Linie politisches Werk. Ausgehend von den gesellschaftlichen Erfahrungen seiner Zeit, und auf diese im Text anspielend, breitet Ballanche hier die Grundzüge seiner christlichen Geschichtsphilosophie aus, die wir im weiteren Verlauf der Untersuchung erörtern werden.

[...]


[1] Vgl. Bénichou, S. 69ff.

[2] Bénichou, S. 12

[3] Ballanche, Antigone (in der angeführten Ausgabe S. 17-89), S. 89/331. Um die Orientierung zu erleichtern, wird an erster Stelle auf die Paginierung des Reprints, an zweiter auf die der Originalausgabe von 1833 verwiesen.

[4] Trousson, S. 98

[5] Ballanche, S. 89/333

[6] Ebd., S. 88/330

[7] Vgl. Bénichou, S. 76

[8] Ballanche, S. 88/330

[9] Ballanche, S. 30/93

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Antigone Pierre-Simon Ballanches
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Romanistisches Institut)
Veranstaltung
Der Mythos als Widerstand. Antigone zwischen Antike und Moderne.
Note
1,5
Jahr
2002
Seiten
18
Katalognummer
V9744
ISBN (eBook)
9783638163637
ISBN (Buch)
9783640409549
Dateigröße
418 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antigone, Pierre-Simon, Ballanches, Mythos, Widerstand, Antigone, Antike, Moderne
Arbeit zitieren
Anonym, 2002, Die Antigone Pierre-Simon Ballanches, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9744

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