Wahrnehmungspsychologie - Skript zur Vorlesung


Skript, 1994

47 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung und Uberblick uber die Veranstaltung

1. Wahrnehmung als dimensionale Transformation: Empfindungsmessung

2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung

3. Wahrnehmung als Konstruktion: Raumwahrnehmung

4. Wahrnehmung als direkte Informationsentnahme: Okologische Optik

5. Der neurophysiologische Ansatz der Wahrnehmung

6. Der computerwissenschaftliche Ansatz der Wahrnehmung

... ach ja: dieses Skript erhebt weder den Anspruch auf Vollstandig- noch auf 100%ige Richtigkeit des Inhaltes.

Als ausschlieRliche Prufungsvorbereitung ist es daher nur sehr bedingt zu empfehlen!

Einleitung: Grundlagen der Allgemeinen Psychologie

Die Allgemeine Psychologie befaRt sich mit der Erforschung der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedachtnisses, der Motivation, der Emotion und des Lernens.

Dabei hat die Wahrnehmungspsychologie die Rolle der Grundlage der experimentellen Psychologie inne; wichtige Punkte sind:

- Sinnesphysiologie (Wie hangen objektiv meRbare physikalische Ereignisse mit den subjektiven Wahrnehmungsereignissen zusammen?)
- Suche nach Erkenntnis (Wie hangen Denken und Wahrnehmung zusammen?)
- Experimente der Wahrnehmungspsychologie sind leicht erfaRbar, Umgebungen physikalisch meRbar

Fragen in diesem Zusammenhang sind:
- 1st die Wahrnehmung die Basis aller psychischen Aktivitat?
- Entstammen vielleicht alle Inhalte menschlicher Erfahrung, aller Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung?

Geht man von Wertigkeitsunterschieden der einzelnen psychischen Funktionen aus, so ist die Wahrnehmung dominant gegenuber allen anderen Funktionen.

Nach Gibson, E.J. & Spelke, E.S. („The Development of Perception", 1983) ist „Wahrnehmung [...] der ProzeR, durch den Lebewesen Kenntnis uber ihre Umgebung und uber sich selbst in Beziehung zur Umgebung gewinnen. Sie ist der Anfang allen Wissens und somit ein wesentlicher Teil aller Erkenntnis."

Nach der „Klassischen Tradition" untersucht die Wahrnehmungspsychologie den Zusammenhang zwischen physischen Reizen und psychischer Wahrnehmung, d.h.: Wie werden die physischen Eigenschaften der Welt psychisch wahrgenommen? Diese Richtung wird auch Psychophysik genannt. Vom vorherrschenden Zeitgeist ausgehend, wird, dem „Atomismus" folgend, angenommen, alle komplexen Probleme der Welt konnten zerlegt werden; aus den Einzelteilen lieRen sich die Eigenschaften erkennen. Die Wahrnehmung sei mosaikartig aus Empfindungen zusammengesetzt, wobei „Empfindung" ein einzelner Reizwert ist. Die korrespondierende Kunstrichtung ist die des „Pointillismus".

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Im Rahmen der „Neuen Methode" (seit ca. 1950) wird nach dem Zusammenhang der Wahrnehmung mit anderen Funktionen gesucht. Dabei wird Empfindung als direkter Reizeingang mit physiologischer Dimension, als Leistung des Sinnessystems definiert, Wahrnehmung als Leistung des Erkennungssystems.

Nach Thomas Reed, ca. 1780, bezieht sich Wahrnehmung auf externe Objekte, Empfindung auf innere Vorgange ohne Bezug auf externe Objekte.

Im Verhaltnis Empfindung-Wahrnehmung gibt es auch Verschiebungen; so nahmen die blinden Versuchspersonen bei der von Bach-y-Rita entwickelten Sehhilfe (optische Reize wurden mit Hilfe von auf einer Platte fixierten Vibratoren „fuhlbar“ gemacht) die Reize zunachst als Empfindung (Kribbeln), spater als Wahrnehmungen (Erkennen von Objekten) auf.

Auch aus den Forschungen im Wahrnehmungsbereich bei blindgeborenen Patienten vor und nach der Operation war diese Verschiebung von Empfindung zur Wahrnehmung zu beobachten. Daraus wurde die Theorie abgeleitet, daft es sich bei dieser Verschiebung um eine allgemeine menschliche Entwicklung handle. Uberblick: Theorien der visuellen Wahrnehmung

1. Wahrnehmung als dimensionale Transformation: Empfindungsmessung

Die Wahrnehmung wird als produktiver ProzeR gesehen: In der Wahrnehmung treten Objekte auf, die in der Reizvorlage nicht vorhanden sind (nach Alexius Meinong). S. hierzu: Vexierbilder, Amodale Bilder.

„Gestaltqualitat“ (Christian v. Ehrenfels): Eigenschaften, die in den wahrgenommenen Objekten liegen, entstehen aus dem Kontext, d.h. der Kontext bestimmt die Identitat der Objekte.

2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung (Gestaltpsychologie)

3. Wahrnehmung als Konstruktion: Raumwahrnehmung

Konstruktivismus (v. Helmholtz): Die Wahrnehmung beruht nicht nur auf Sinnes- eindrucken; die Willensanstrengungen („Efferenzen“, z.B. bei Augenbewegungen) flieRen mit in die Wahrnehmung ein.

Da das Abbild der Umwelt auf der Retina zweidimensional erscheint, die Umwelt aber in drei Dimensionen wahrgenommen wird, mussen zwischen Empfindung und Wahrnehmung umfangreiche Umrechnungsprozesse und Konstruktionen stattfinden.

4. Wahrnehmung als direkte Informationsentnahme: Okologische Optik

Das Licht tragt genug Informationen, um dreidimensionale Orientierung zu ermoglichen (Gibson).

5. Der neurophysiologische Ansatz der Wahrnehmung

6. Der computerwissenschaftliche Ansatz der Wahrnehmung

Wahrnehmung ist ein der Informationsverarbeitung beim Computer vergleichbarer ProzeR, bei dem es zwei Ebenen (die formale und die neurophysiologische) gibt.

1. Wahrnehmung als dimensionale Transformation: Empfindungsmessung

In der klassischen Psychophysik wird der Zusammenhang zwischen physischer AuRenwelt und psychischer Verarbeitung erforscht (Fechner [1801-1887] bzw. Weber). Ziel ist es, psychische Vorgange mit der gleichen Genauigkeit messen zu konnen wie physikalische; man geht davon aus, daR im Korper nur physikalische und chemische Krafte herrschen. Als Geburtsstunde der Psychophysik kann man das Jahr 1879 bezeichnen, in dem Wundt in Leipzig das erste experimentalpsychologische Labor einrichtet.

Fechner unterteilt die Psychophysik in eine innere und eine auRere. Die innere Psychophysik gilt dabei als Gegenstuck zur Leib-Seele-Metaphysik; die Kernfrage lautet: Wie hangen Wahrnehmungen und die ihnen zugrundeliegenden neurologischen Mechanismen zusammen?

Leichter zu erforschen ist das Gebiet der auReren Psychophysik, das die Zusammenhange der Eigenschaften der Wahrnehmungswelt (psychisch) mit der Erregungsverteilung auf die Rezeptoren (physikalisch) erforscht.

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Innerer Kasten: Prozesse im Beobachter; äußerer Kasten: kausal interpretierbarer physikalisch-physiologischer Zusammenhang.

Der proximale Reiz (z.B. Reizverteilung auf der Retina) ist direkt auf den distalen Reiz (Gegenstand) bezogen.

In welcher Beziehung stehen objektive und wahrgenommene Auspragung einer Reizdimension (z.B. Lange von Bleistiften, Anderung der Amplitude eines Tones und Lautstarkenveranderung) zueinander?

Die Suche nach einem funktionalen Zusammenhang (f) von Empfindung (E) und physikalischem Reiz (s) fuhrt zu folgender Formel: E=f(s).

Da es beim Messen von Empfindungen erfahrungsgemaR Schwierigkeiten gibt, wahrend sich physikalische GroRen leicht messen lassen, vertauscht Fechner fur den Augenblick des Messens die Dimensionen und bildet die Empfindungen so auf den physikalischen GroRen ab: s=f(E). So kommt man zu einer Empfindungsskala, die (da es sich um eine Verhaltnisskala handelt) einen Nullpunkt und eine MaReinheit benotigt. Als Nullpunkt bietet sich der physikalische Reiz, bei dem noch keine Empfindung ausgelost wird (Absolute Schwelle), an (z.B. Horschwelle; fruher wurde der Nullpunkt auch „eben merkliche Empfindung" genannt). Als MaReinheit benutzt man denjenigen Unterschied zwischen zwei Reizen, den man eben entdecken kann (Unterschiedsschwelle, fruher „eben merklicher Unterschied"; engl. just noticeable difference [jnd]). Den Empfindungseinheiten entsprechen unterschiedlich groRe Abschnitte auf der physikalischen Skala; die Differenzen nehmen mit dem Abstand vom Nullpunkt zu (z.B. Schwierigkeiten beim Feststellen von Unterschieden bei groRen Lautstarken oder schweren Gewichten).

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Das Verhaltnis s - s ist konstant; fur verschiedene Reizdimensionen gibt es unterschiedliche Unterschiedsschwellen.

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Es handelt sich bei der sich ergebenden Funktion um eine negativ beschleunigte Logarithmus-Funktion mit der Formel E=log s x c (das psychophysikalische Gesetz bzw. Weber-Fechnersche Gesetz).

Methoden zur Ermittlung der Absoluten Schwelle und der Unterschiedsschwelle

- Herstellungsmethode:

Die Versuchsperson selbst manipuliert den Reiz so, daft er mit den vorgegebenen Empfindungen ubereinstimmt.

- Grenzmethode:

Die Reizmanipulation wird durch den Versuchsleiter vorgenommen; dabei gibt es das auf- und das absteigende Verfahren fur unter- bzw. uberschwellige Reize.

- Konstanzmethode:

Auch hier wird die Reizmanipulation durch den Versuchsleiter vorgenommen; dieser variiert den Reiz nach zufalligen Bedingungen. Die Versuchsperson sagt aus, ob sie den Reiz wahrnimmt oder nicht bzw. ob sie einen Unterschied zwischen den Reizen feststellt.

Kritik an der Fechnerschen Methode:

- die empirische Gultigkeit der Aussagen ist nur fur den Mittelbereich der Werte gegeben; am oberen und unteren Rand ergeben sich Fehler

- das theoretische Konzept der „Schwelle“ ist zu einfach, da lediglich ja/nein- Antworten moglich sind (da die Schwelle der Punkt ist, an der entschieden wird, ob ein Reiz bewuRt wird oder unbewuRt bleibt)

Webersche Konstante fur verschiedene Reize:

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Zur Beachtung: Eine psychometrische Funktion (z.B. Schwellenfunktion) ist ein Datenpunkt der psychophysischen Funktion (die psychische Skala dient als Funktion der physischen Skala). Die Schwelle variiert um einen mittleren Wert; leitet man die kumulierte Schwellenfunktion ab, so ergibt sich eine Normalverteilung.

Ein Kritikpunkt am Fechnerschen Schwellenkonzept ist, daft nicht beachtet wird, daft die Versuchsperson ja nicht nur ihre Empfindung reflektiert; die Reaktionsneigung muft isoliert werden, um die Leistungen des Wahrnehmungsapparates allein betrachten zu konnen.

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Frage: Wird ein Ton, der 20 Unterschiedsschwellen vom Nullpunkt entfernt ist, doppelt so laut wahrgenommen wie ein Ton, dessen Differenz vom Nullpunkt 10 Unterschiedsschwellen betragt? Ist die Schwelle nur eine Empfindungsvariable, oder spielt die Entscheidungsvariable auch in die Wahrnehmung hinein?

Fechner erkennt, daft Instruktionen das Ergebnis beeinflussen konnen; um dieses Phanomen zu eliminieren, werden sog. Catch-Trials (Durchgange ohne Reiz) eingeschoben.

Blackwell (1953): Hochschwellentheorie

1. Annahme der Hochschwellentheorie uber die Empfindung:

Bei Catch-Trials wird die Schwelle niemals uberschritten, d.h. keine Reizempfindung ausgelost.

2. Annahme der Hochschwellentheorie uber die Entscheidung:

Wenn der Reiz die Schwelle uberschreitet, antwortet die VP stets mit JA.

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Es besteht eine Konvention, nur JA-Antworten (Treffer/falscher Alarm) anzugeben, weil man den jeweils korrelierenden Wert leicht errechnen kann (Treffer+Verpasser=1, falscher Alarm+korrekte Zuruckweisung=1). Die Trefferquote gibt die Anzahl der Treffer geteilt durch die Anzahl der Reize an.

Fur die Hochschwellentheorie gilt:

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Die Hochschwellentheorie ergibt eine lineare Funktion, bei der die Sensitivitat des Wahrnehmungssystems am Achsenabschnitt ablesbar ist.

Tanner, Swets & Green fuhren 1956 einen Versuch durch, bei dem eine Vp einen Ton von der Dauer 100 msec in einem Beobachtungsintervall (vor dem eigentlichen Reiz wird ein Signal gegeben) aus einem Hintergrundrauschen heraushoren soil. Dabei zeigen sich unterschiedliche „Ratebereitschaften", wenn man bestimmte Vorgaben macht (z.B.: Ton kommt in 10% der Falle vor, in 90% nicht). Es zeigt sich, daft haufig Tone „gehort" werden, die „nicht da" sind bzw. vorhandene Tone „uberhort" werden.

Swets, Tanner & Birdsall belohnen 1961 bei einem Versuch die Vpn mit je 10 0 pro Treffer und je 5 0 pro korrekte Zuruckweisung. Dabei zeigt sich, daft die Vpn eher Treffer angeben, da ihr Gewinn dadurch erhoht wird.

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Theorie der niedrigen Schwelle oder Theorie der zwei Zustande (Luce, 1963)

1. Annahme der Theorie der niedrigen Schwelle uber die Empfindung:

Auch bei Catch-Trials wird die Schwelle manchmal uberschritten, d.h. obwohl kein Reiz dargeboten wird, kommt es zu einer uberschwelligen Empfindung.

2. Annahme der Theorie der niedrigen Schwelle uber die Entscheidungsoperationen:

Wenn der Reiz die Schwelle uberschreitet, dann antwortet die Vp manchmal auch mit NEIN.

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p und q charakterisieren Wahrscheinlichkeiten; p gibt die Wahrscheinlichkeit an, zutreffend mit JA zu antworten, q die Wahrscheinlichkeit, mit JA zu antworten, obwohl kein Reiz vorliegt (falscher Alarm).

Die Trennscharfe ist an (q/p) ablesbar; je grower q, desto scharfer ist die Wahrnehmung; je grower p, desto mehr Neigung zum falschen Alarm.

Signalentdeckungstheorie

Die Signalentdeckungstheorie geht davon aus, daft es keine Schwelle der Empfindung gibt, sondern die Aussagen letztlich auf der Entscheidung der Vp beruhen. Sowohl Catch-Trials als auch Reize konnen zu Empfindungen auf dem Kontinuum fuhren.

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Versuchspersonen setzen ihre Kriterien ( ), nach denen sie entscheiden, wann sie einen Reiz wahrnehmen und wann nicht, nach den Angaben im Versuch. Abhangig von der Lage des Kriteriums verandert sich auch die Treffer- und die FA-Quote.

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LaRt man das Kriterium auf der Sensorische-Aktivitat-Skala wandern, verandern sich die Werte q und p so, daR sich die empirisch ermittelte ROC-Kurve (s.o.) ergibt.

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Am Abstand von (q/p) von der zero sensitivity line kann man die Differenz in den Empfindlichkeiten der Wahrnehmung ablesen.

Kritik am Schwellenkonzept:
- Reaktionsneigung der Versuchsperson
- Catch-Trials
- Schwellenkonzeption:
- Annahme uber die Empfindungsoperation und
- Annahme uber die Entscheidungsoperation

Manfred Velden (Signalentdeckungstheorie in der Psychologie, 1983): Es gibt gar keine Wahrnehmungsschwelle, sondern nur eine Entscheidungsschwelle. Die Signalentdeckungstheorie ist das Verfahren, mit dem man Sensitivitat und Reaktions­neigung trennen kann.

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Die psychophysische Reaktion (Fechner) wird quasi uber einen Umweg definiert, indem die Empfindungen fur den Augenblick des Messens auf den physikalischen GroRen abgebildet werden.

Bei der direkten psychophysischen Skalierung (Engen, 1971) soll eine VP ein Standardgewicht beurteilen und anschlieRend ein Vergleichsgewicht erstellen, das genau halb so schwer ist wie das Standardgewicht.

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Stevens (1957) ist der Ansicht, die entscheidenden Funktionen seien nicht, wie bei Fechner, Logarithmus-, sondern Potenzfunktionen:

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Stevens sagt also aus, der subjektive Reizwert wachse um einen bestimmten Faktor, wenn der objektive Wert um einen bestimmten Faktor wachse; Weber & Fechner fuhren aus, daft der subjektive Reizwert um einen bestimmten Betrag wachse, wenn der objektive Wert um einen bestimmten Faktor wachse.

2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung

Empfindungsdimensionen sind nicht unbedingt Objekte der Wahrnehmung (z.B. Helligkeitskonstanz: Ein in der Sonne liegendes Stuck Kohle, das mehr Licht reflektiert als ein im Schatten liegendes Stuck Papier, wird dennoch als dunkler wahrgenommen). Titchener sagt, in einer solchen Situation liege ein Reizfehler vor, d.h. man wendet das, was man uber das wahrgenommene Objekt weiR, auf die Wahrnehmung an. Solche Phanomene kann man mittels eines Reduktionsschirms (Schirm mit einem Loch) feststellen; wenn man durch einen Reduktionsschirm eine vorher homogen erscheinende Flache betrachtet, fallen vorher nicht bemerkte Helligkeitsunterschiede auf.

Anhand des Phi-Phanomens (das der Bewegungswahrnehmung beim Film zugrundeliegende Prinzip) kann man sich die Frage stellen, welche physikalischen Verhaltnisse vorliegen, wenn die Wahrnehmung Dinge erkennt, die so gar nicht vorhanden sind, bzw. wie es dazu kommt, daR Eigenschaften, die nicht den Reizen zugeordnet werden konnen, dennoch wahrgenommen werden.

In der Phanomenologie berichtet der Betrachter ganz naiv und unverfalscht uber das, was er sieht (im Gegensatz zur Introspektion, die das Innere zum Objekt der Beobachtung macht). Diese Richtung fuhrt zur Gestaltpsychologie (auch „Berliner Schule" genannt), die im Streit mit dem Elementarismus (zerlegt alles Seiende in kleinste Teile) und dem Behaviorismus liegt.

„Gestalt" bedeutet soviel wie Einheit, Figur (ein Begriff von Christian v. Ehrenfels; „Gestaltqualitat": Wahrnehmungseigenschaften, die sich nicht aus der Summe der Reize ergeben [„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile", Ubersummativitat]), z.B. kann man eine Melodie transponieren, so daR kein Ton mehr die gleichen Qualitaten besitzt, und dennoch erkennt man die Melodie wieder. Die einzelnen Teile des Ganzen sind auch haufig in ihren Eigenschaften abhangig vom Ganzen.

Theoretische Analyse (Kurt Koffka, 1935): Warum sehen die Dinge so aus, wie sie aussehen?

Die Dinge sehen so aus, wie sie aussehen,
- weil sie so sind, wie sie aussehen => falsch
- weil die durch die Dinge erzeugten lokalen Reizverhaltnisse an den Rezeptoren so sind => falsch
- weil die Gesamtstruktur der jeweiligen Reizverhaltnisse so ist (die Rolle des Teils im Kontext andert sich nicht, die Wahrnehmung wird durch die Bedeutung des Objektes definiert) => RICHTIG

Letztlich nimmt man die Organisation der Objekte wahr; dadurch entstehen neue, nicht ursprunglich in den Objekten enthaltene Eigenschaften (Bischof, 1966: produktive Psychophysik).

Welches sind die Gestaltgesetze, die der Organisation zugrundeliegen?

Rubin erforscht 1921 die Figur-Grund-Glieder: gewisse Teile der Reizvorlage treten vor dem (Hinter)Grund hervor und gruppieren sich zu sinnvollen Organisationen (Figuren). Der Hintergrund erstreckt sich dabei hinter der Figur weiter und wird nur sekundar wahrgenommen (Rubinscher Becher: weiRe Vase auf schwarzem Grund bzw. zwei schwarze Silhouetten gegen einen weiRen Hintergrund).

Figurale Wahrnehmung liegt z.B. vor, wenn man bei gesprochenen Satzen Pausen zwischen den einzelnen Worten wahrnimmt, die der Gliederung dienen, aber lt. Spektrogramm nicht vorhanden sind (die Stellen mit der niedrigsten Lautstarke finden sich innerhalb der Worter).

Die Fahigkeit, zwei parallel gespielte Melodien einzeln erkennen zu konnen, hangt von der Geschwindigkeit und dem Frequenzunterschied der beiden Melodien ab (PASS- Phanomen: Primary auditory stream segregation). Erkennt man die eine Melodie, d.h. wird diese Melodie Figur, wird die zweite Melodie automatisch zum Grund, verliert den Zusammenhang und wird nur noch nebenbei wahrgenommen.

Beispiele fur Gestaltgesetze der Figur-Grund-Gliederung
- Geschlossenheit: Das Geschlossene bildet sich bevorzugt zur Figur heraus.
- das Kleine: Das Kleine bildet sich bevorzugt zur Figur heraus.
- Symmetrie: Das Symmetrische bildet sich bevorzugt zur Figur heraus.
- Nahe: Benachbarte Teile bilden sich bevorzugt zur Figur heraus.

Nicht nur die figurale Gliederung (was Figur wird), sondern auch die Zergliederung der Figur in sich ist wichtig; vgl. das Gesetz der durchgehenden Linie (Linien behalten am Schnittpunkt bevorzugt ihre Richtung bei) vs. Gesetz der Geschlossenheit. Mit der Entwicklung des Menschen andert sich bei ihm auch die Rangfolge der Gesetze.

Hat man sich erst einmal bei einem Reizgegenstand fur eine Organisation entschieden, wird diese fest verwirklicht, obwohl es sich bei dieser speziellen Organisation nur um eine von unendlich vielen Moglichkeiten handelt. Nur durch eine Willensanstrengung ist eine Umorganisation und Umdeutung des Wahrgenommenen moglich. Gruppierungsgesetze (z.B. das Gesetz der Nahe) besagen, daft sich ahnliche Objekte zu Gruppen zusammenschlieften.

Allen Gestaltgesetzen liegt das Gesetz der Pragnanz (bzw. das Gesetz der Guten Gestalt) zugrunde: Organisationen sollen immer so pragnant wie moglich sein.

Metzger differenziert 1963 in seinem Buch „Psychologie", einem Standardwerk der Gestaltpsychologie, zwischen disjunktivem (Einzelfiguren stechen hervor) und konjunktivem (Figuren gruppieren sich) Begriff. Es setze sich immer das Gesetz durch, das die pragnanteste Organisation erzeuge; aus den gegebenen Elementen sollen moglichst einfache Gebilde entstehen. Pragnant sei eine Figur, wenn sie ausgezeichnet und infolgedessen bestandig sei.

Bei der Wahrnehmung kommt es nicht zum Vergleich des Wahrgenommenen mit gespeicherten Informationen; es wird stattdessen die im Gebilde enthaltene Information wahrgenommen. So nimmt man zweidimensionale Darstellungen dreidimensionaler Korper raumlich wahr, weil die dritte Dimension Ordnung schafft (Klopfermann, 1930; bei einem Wurfel ergeben sich durch den Wechsel zur dritten Dimension rechte Winkel und gleich lange Seiten). Nur pragnante zweidimensionale Darstellungen von raumlichen Korpern werden auch zweidimensional wahrgenommen; hier erfordert es eine Willensanstrengung, die Raumlichkeit zu erkennen.

Amodale Wahrnehmung liegt vor, wenn in der Wahrnehmung Dinge erganzt werden, die in der Reizvorlage nicht enthalten sind.

Die Gestaltpsychologie befaRt sich nicht nur mit Wahrnehmungsfragen; Bartlett definiert z.B. Vergessen als einen ProzeR der Organisation: Es werde eine bessere Pragnanz erzielt.

Kohlers Theorie der psychophysischen Gestalten (1924, 1933)

- Das Isomorphie-Prinzip des psychophysischen Zusammenhangs
Jeder raumzeitlichen Organisation der Wahrnehmungswelt entspricht eine gleichgestaltete (isomorphe) Organisation der physiologischen Tragerfunktion der Wahrnehmung.
- Das Prinzip der physischen Gestalten
Die nach Ganzheitlichkeit strebenden Organisationsprozesse sind Eigenschaften der physischen Welt uberhaupt (z.B. Magnetfelder, Seifenblasen, Tiefdruckgebiete); sie organisieren sich selbst, wenn ein Medium, das einen vollstandigen Krafteausgleich ermoglicht, vorhanden ist.
- Das Feldprinzip des psychophysischen Niveaus
Das psychophysische Niveau funktioniert, wie Felder funktionieren (Krafteausgleich).

Kritik: Den neurophysiologischen raumzeitlichen Strukturen im Gehirn entsprechen die raumzeitlichen Strukturen in der Wahrnehmung nicht; die Zeit der Wahrnehmung ist ungleich der wahrgenommenen Zeit.

Restle (1979) halt Relationen fur relevant fur die Wahrnehmung. Er beschaftigt sich mit der Bewegungswahrnehmung und fragt sich, wie man Punktbewegungen objektiv beschreiben kann und wie sich die objektiven Beschreibungen zur Wahrnehmung verhalten. Er kommt darauf, daft man letztlich diejenige Organisation sieht, die einer objektiven Reizbeschreibung mit der geringsten Anzahl von Parametern entspricht.

Gunnar Johansson stellt im Rahmen seiner Perceptual Vector Analysis die These auf, das visuelle System analysiere die Reizinformation nach Regeln der Vektoranalyse; Wahrnehmung funktioniere also so, daft alle Vektoren, die fur verschiedene Teile gleich seien, ein Bezugssystem definierten, und daft auf dieser Basis neue Vektoren die Bewegung eben dieser Teile auf dem entstandenen Hintergrund beschrieben.

Pro und Contra Gestaltpsychologie in der Wahrnehmung

Karl Dunker: Das Gesetz der induzierten Bewegung kommt zur Anwendung bei einer unbewegten Figur auf einem sich bewegenden Grund, bei der man bevorzugt eine sich auf einem fixen Grund bewegende Figur wahrnimmt.

Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals lautet: Figuren, die sich in gleicher raumzeitlicher Richtung bewegen, werden zu Gruppen zusammengefaftt.

Ein besonderes Phanomen ist die Strukturierung der Wahrnehmung im blinden Fleck (dem Punkt der Retina, an dem der Sehnerv austritt und an dem daher keine optische Wahrnehmung erfolgt); auf den blinden Fleck wird ein Teil des Grundes projiziert, so daft das Sichtfeld vollstandig erscheint. Dabei ist die Erganzung immer so organisiert, daft die Figur einfacher (pragnanter) wird.

Errungenschaften der Gestaltpsychologie:
- Der phanomenologischer Ansatz wird auch anderen Zweigen zuganglich gemacht
- Die Gestaltgesetze sind allgemein gultig
- Unendlich viele Organisationen, von den sich die personliche Wahrnehmung eine aussucht, sind moglich

Kritik:
- Es wird nicht klar, warum man sich fur diese spezielle Organisation entscheidet
- Der Pragnanzbegriff ist nicht eindeutig definiert
- Man geht von einem falschen Hirnmodell aus (Kohler)

3. Wahrnehmung als Konstruktion: Raumwahrnehmung

Wahrend die klassische Psychophysik von der dimensionalen und die Gestaltpsychologie von der strukturellen Wahrnehmung ausgeht, nehmen andere Richtungen den Vorgang der Wahrnehmung in erster Linie als einen Konstruktionsvorgang an; v. Helmholtz geht von einem instrumentellen Charakter der Wahrnehmung aus, d.h. man nimmt die Welt wahr, um darin handeln zu konnen.

Die Information muR, um sinnvoll mit der Umwelt interagieren zu konnen, so zuganglich gemacht werden, daR sie nutzbar ist. Dazu reicht die visuelle Information allein nicht aus; zusatzlich wird die Bedeutung des Wahrgenommenen benotigt. Die Hinweisreize (die nicht unbedingt Abbildungen der Objekte sein mussen) dienen als Zeichen von realen Objekten.

In die Konstruktion der Wahrnehmung flieRen neben den Daten der Sinnesorgane auch alle weiteren verfugbaren Informationen (z.B. auch Erinnerungen, Deutungen...) mit ein.

Bewegungswahrnehmung

Die Bewegungswahrnehmung dient insbesondere der raumlichen Orientierung in der Umwelt. Bewegt sich ein beobachtetes Objekt, und man folgt ihm mit den Augen, kommt es zu standigen Veranderungen der Wahrnehmung. Mit in diese Orientierungswahrnehmung gehen auch Informationen uber die eigene Lage im Raum und uber eigene Bewegungen mit ein (extraretinale Informationen).

Zu extraretinalen Informationen gehoren:
- Propriorezeption: Bewegung und Lage des eigenen Korpers (uber Muskelspindeln, Sehnen, Gleichgewichtsorgan...)
- Exterorezeption: uber die Sinnesorgane ablaufende Wahrnehmung der AuRenwelt
- Enterorezeption: organische Wahrnehmungen v.a. unbewuRter Natur (z.B. Barorezeptoren)

Neben den Propriorezeptionen dienen auch die Kommandofunktionen an die Muskeln als Quelle der extraretinalen Wahrnehmung. Man kann die extraretinalen Informationen auch in Afferenzen (Sensorik => ZNS [zentripetal]) und Efferenzen (ZNS => Motorik [zentrifugal]) unterteilen.

So sorgen z.B. nur efferente Informationen fur eine Veranderung der Wahrnehmung, wenn man das Auge einer Vp festhalt, diese aber gleichzeitig versucht, es nach rechts zu bewegen (die wahrgenommenen Gegenstande wandern nach rechts).

Das Reafferenzprinzip (v. Holst & Mittelstaedt)

Reafferenz: Die (Ruck)Afferenz, die durch die Eigenbewegung erzeugt wird.

Exafferenz: Die afferente Anderung, die durch Bewegungen in der AuRenwelt verursacht wird.

Wie kann das visuelle System Re- und Exafferenz unterscheiden? Nach dem Reafferenzprinzip erfolgt die Unterscheidung durch die Berucksichtigung der Efferenz bei der Interpretation des gesamten afferenten Ruckflusses (d.h. uber die Bewegung hinaus bestehende Informationen uber die efferenten Kommandos [Efferenzkopie] flieRen mit ein): Exafferenz = Gesamtafferenz - Efferenzkopie.

Bei einer gehinderten Bewegung des Auges besteht keine Gesamtafferenz, sondern nur die Efferenzkopie (als intendierte Bewegung); die Exafferenz ist in diesem Fall die (negative) Efferenzkopie.

Ahnliches kann man beim negativen retinalen Nachbild beobachten: Hat man langere Zeit einen hellen Gegenstand auf dunklem Grund betrachtet und lenkt dann den Blick auf eine helle Wand, erkennt man einen dunklen Fleck, dessen Position abhangig ist von der Augenbewegung. Es gibt also hier keine Afferenzen, nur die Efferenzkopie bewegt den Fleck in der Wahrnehmung.

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Sperry spricht 1950 von der „Corollary Discharge" („begleitende Entladung"), die im Prinzip dasselbe aussagt wie die Ausdrucke „Efferenzkopie" und „Willensanstrengung" (v. Helmholtz).

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Reafferenzmodell nach Hein & Held (1962).

Das Reafferenzprinzip besagt, daft die retinale Gesamtafferenz mit der Efferenzkopie verglichen wird und die Differenz zwischen der aufgrund des Kommandos zu erwartenden Reafferenz und der tatsachlichen Afferenz die Wahrnehmung bestimmt.

Bridgeman, B. (1986); Leibowitz, H. et al. (1986): Nicht jede Efferenz ruft eine Anderung der Wahrnehmung hervor; es stehen zwei Systeme zur Steuerung der Blickbewegung zur Verfugung:

- Stier-System (OKN: optokinetischer Nystagmus oder VOR: Vestibular-Okular- Reflex)
- phylogenetisch alter
- Stabilisierung der Augen relativ zur Umgebung
- sensitiv gegenuber
- Bewegungen der gesamten Retinastruktur
- Reizung des Vestibular-Organs

Eine Veranderung der gesamten Retinastruktur lost den optokinetischen Nystagmus (OKN) aus, eine Beschleunigung des Kopfes aktiviert den Vestibular-Okular-Reflex (VOR).

- Schau-System (Pursuit-System)
- phylogenetisch junger
- Stabilisierung des zentralen Fixationsobjektes
- sensitiv gegenuber
- Abweichungen des retinalen Abbildes des Fixationsobjektes von der Forea

Nur das Schau-System wirkt sich auf die wahrgenommene Bewegung und Richtung der Dinge aus. Bewegungstauschungen sind auf Konflikte der beiden Systeme zuruckzufuhren, z.B. scheinbar feststehende Wolken und ein sich bewegender Mond: Die sich wirklich bewegenden Wolken werden vom Stier-System erfaRt, der feststehende Mond vom Schau-System. Der Input des Stier-Systems ist nicht kongruent mit dem des Schau-Systems und muR kompensiert werden; der Mond scheint sich zu bewegen.

Bridgeman: Dissoziation zwischen Wahrnehmung und Motorik

Bei einer Vp wird eine Bewegungswahrnehmung induziert; die Informationen uber die Bewegung steht der Motorik, nicht aber dem BewuRtsein zur Verfugung: In einem dunklen Raum zeigen Vpn trotz der Tatsache, daR sie ihre Hand nicht sehen konnen (fehlende Ruckmeldung), immer auf ein leuchtendes Objekt.

In die bewuRte Wahrnehmung gehen nur die Efferenzen des Schau-Systems ein; der Motorik stehen alle Efferenzen zur Verfugung. Dies ist fur eine Interaktion mit der Umwelt auch sinnvoll, da dort immer nur Bewegungen einzelner Figuren vorkommen (Fixation uber Schau-System), fur die eigentliche Interaktion uber die Motorik aber die Relationen wichtig sind, so daR beide Systeme zusammenarbeiten mussen.

Der von Hein & Held angenommene Korrelationsspeicher beinhaltet fortwahrend Efferenzen und Reafferenzen; eine Einpassung in eine neue Umgebung ist ihrer Ansicht nach nur moglich, indem man sich vorher dort bewegt. Bei fehlender aktiver Bewegung kommen keine Efferenzen uber die Koordination der Bewegungen und somit keine Umweltkontrolle zustande.

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Bei inkongruenten Informationen (Afferenzen-Reafferenzen, z.B. durch Prismen- oder Umkehrbrillen) lernt die Vp, diese Effekte auszugleichen; nach Ausschalten der Dekorrelation werden eine Zeitlang entgegengesetzte Erscheinungen wahrgenommen. Der Mechanismus, der die Wahrnehmung leitet, halt sie auch standig aufrecht; es gibt die Moglichkeit des Verlernens ebenso wie die des Zusammenbruchs der Wahrnehmungswelt. Letzteres kann man daran erkennen, daft Objekte, wenn man sie lange ansieht (retinale Stabilisierung), verschwinden (das visuelle System reagiert nur auf Bewegungen). Normalerweise nimmt man die Kapillarschatten, d.h. die Schatten, die die die Netzhaut versorgenden Blutgefafte werfen, auch nicht wahr; leuchtet man allerdings mit einem bestimmten Winkel ins Auge, so fallen sie auf.

Der Augenabstand ist ausschlaggebend fur das raumliche Sehen (perspektivische Abweichungen der Informationen der beiden Augen voneinander). Wallach machte Versuche mit einem Telestereoskop, das den Eindruck eines weiten Abstandes der Augen erzeugte; zunachst wurden Gegenstande verformt wahrgenommen, doch nach ca. 10 min. hatte sich die Wahrnehmung angepaftt.

Campos entdeckte das Phanomen des „Eating the Prism" bei Schielern. Zur Korrektur des Schielens bestehen zwei Moglichkeiten: Die Sehleistung des kranken Auges wird durch eine Linse korrigiert, oder die Lange der Augenmuskeln wird operativ angepaftt, so daft es zur Korrektur des Augenabstandes kommt. Das von Campos beobachtete Phanomen bestand darin, daft zahlreiche Vpn nach der Korrektur wieder zu ihren alten Fehlstellungen zuruckkamen.

Wallach & Canal (1976)

1. Wie genau ist der Kompensationsprozeft?

Eine Vp wird in eine dunkle Trommel gesetzt; auf dem Kopf tragt sie einen Gitter­kafig mit einer darin enthaltenen Lampe. Zwischen Kopf und Gitterkafig ist ein Getriebe eingebaut, mit dem ein „Verschiebeindex" eingestellt werden kann; bei einem Verschiebeindex von 0 bewirkt eine Kopfbewegung keine Anderung, bei 1 kommt es zur parallelen Bewegung von Kopf und Gitterkafig (und damit des von der Lampe durch die Gitter geworfenen Lichtscheins). Gemaft der Schwellentheorie wurde der Verschiebeindex so lange verandert, bis die Vp keine bzw. gerade eine Anderung der Wahrnehmung verzeichnen konnte.

Der Verschiebeindex ist damit die Wahrnehmungsschwelle fur Umweltbewegungen wahrend der Kopfbewegungen. Es wurde ein Unbeweglichkeitsbereich von 0,015-0,03 festgehalten, d.h. Umweltbewegungen kleiner als 1,5-3% der Kopfbewegungen werden nicht als Bewegungen wahrgenommen.

2. Kann man sich an die veranderte Kopfbewegungsreafferenz anpassen?

Nach langerem Tragen einer Prismenbrille hatten Vpn einen negativen Nacheffekt, der eine Wahrnehmungsanderung von 34% bewirkte. Der Kafig muRte sich nun um 50% der Adaptationsbewegung, d.h. 17%, in Gegenrichtung bewegen.

3. Wie verandert sich der KompensationsprozeR durch Adaptation?

Die Weite des Unbeweglichkeitsbereichs bleibt erhalten, d.h. (siehe 4.)

4. Welche Signale werden neu bewertet?

Zwei Moglichkeiten:
a) Signale aus dem visuellen System uber die Relativbewegung der Umgebung (Exterozeption)
b) Signale aus der Halsmuskulatur uber die Relativbewegung des Kopfes (Propriozeption)

Austesten uber die raumliche Ortung akustischer Reize ergab, daft die Reize des visuellen Systems neu bewertet werden.

5. Welcher Art ist die neu bewertete Information aus dem visuellen System?
a) retinale Information: Die mit der Kopfbewegung einhergehende retinale Afferenz (Reafferenz) wird neu bewertet.
b) kompensatorische Augenbewegungen: Neubewertung der mit den

Augenbewegungen einhergehenden Informationen uber die kompensatorischen Augenbewegungen

Durch Austesten konnte festgestellt werden, daft beide Prozesse beteiligt sind. Es liegen kompensatorische Augenbewegungen in genau dem der Adaptation entsprechenden Betrag vor.

Es gibt also zwei Anpassungseffekte: den motorischen und den der Neubewertung retinaler Reafferenz.

Mono- und binokulare Tiefencues

Wahrend die Gestaltpsychologie davon ausgeht, daft die Raumwahrnehmung von Natur aus dreidimensional erfolgt („homogenes Ganzfeld"), sehen die Verfechter der „Wahrnehmung als Konstruktion" die Notwendigkeit des ..Enrichments", .d.h. der Anreicherung der visuellen Informationen mit weiterem Wissen (Efferenzen oder Hintergrundwissen).

Monokulare Tiefencues

Mittels eines Stereoskops kann man beiden Augen getrennte Informationen zukommen lassen; monokulare Tiefencues dienen dazu, auch bei einaugiger Sichtweise einen raumlichen Tiefeneindruck zu erhalten.

- Linearperspektive, Verdeckung: Objekte, die andere Objekte (teilweise) verdecken, erscheinen naher als die verdeckten Objekte
- Grofte von Objekten: kleinere Objekte erscheinen weiter entfernt als groftere
- Luftperspektive: Objekte erscheinen uber groftere Distanzen noch weiter entfernt, als sie es sind
- Texturgradienten: Texturdichte gibt Verlauf und Neigung des Gegenstands wieder; so deuten parallele waagerechte Linien auf ein frontal vor dem Betrachter stehendes Objekt hin, nach oben hin „fluchtende“ Linien auf ein geneigtes Objekt
- Bewegungsparallaxe: bei Bewegung des Korpers andert sich die Wahrnehmung der Perspektive; Objekte vor dem Fixationspunkt scheinen ihre Position in Gegenrichtung der Bewegung zu verandern, Objekte hinter dem Fixationspunkt in Richtung der Bewegung => raumliche Staffelung der Wahrnehmung

Binokulare Tiefencues

Die Fovea centralis, ein Punkt mit ca. 0,2mm Durchmesser und einer Flache von weniger als 1mm2, ist der Punkt der hochsten raumlichen Auflosung. Bei Fixation auf einen Gegenstand fallt das Bild des Gegenstands auf diesen Punkt. Bei einer Verlagerung des Fixationspunktes kommt es zu Kon- oder Divergenzbewegungen (nicht nur abhangig von der Entfernung, sondern auch vom Winkel des Gegenstands zum Betrachter). Folgende Einstellungen dienen als Quelle extraretinaler Informationen:
- Konvergenzwinkel (Stellung der Augen zueinander): bei Entfernungssehen kleiner, bei Nahsehen groRerer Winkel (Schielen); liefert efferente oder afferente Informationen; wird evtl. benutzt fur Berechnung der Entfernung des fixierten Objektes
- Akkomodation (Scharfstellen der Linse): bei Entfernungssehen entspannter, bei Nahsehen: kontrahierter Ciliarmuskel

Von der „Ruhe-“ oder „Dunkelvergenz“ spricht man bei der „Auslage“ des Auges, d.h. der Ruhestellung. Bei einer Adaptation auf eine andere als die ursprungliche Ruhevergenz kommt es zu Fehleinschatzungen bei Entfernungen.

Die binokulare Disparitat (retinale Breitenabweichung => Querdisparation) beschreibt das Phanomen, daR derselbe Raumpunkt in den beiden Augen auf unterschiedliche Bereiche projiziert wird; allerdings gibt es auch korrespondierende Netzhautstellen, bei denen die Bilder einiger weniger Objekte des Blickfeldes auf die entsprechenden Netzhautbereiche in beiden Augen geworfen werden (=> keine Querdisparation).

Die Breitenabweichung und die Raumrichtung gegen AufschluR uber die Entfernung anderer Objekte vom Fixationspunkt.

Konsequenzen der Querdisparation sind Doppelbilder und gesehene Tiefe. Dabei ist die Entfernung der Objekte vom Fixationspunkt ausschlaggebend dafur, ob man Doppelbilder sieht oder nicht; im sog. Panumschen Bereich rufen Objekte trotz Querdisparation keine Doppelbilder, sondern nur fusionierte Bilder hervor.

Erwahnen sollte man noch die komplexen Zellen, die sensitiv auf jeweils bestimmte Dimensionen von Querdisparation reagieren.

Bei der Wahrnehmung lauft nun folgender ProzeR ab: Die Objekte werden monokular wahrgenommen und identifiziert, anschlieRend sorgt die binokulare Wahrnehmung per Stereosehen fur die raumliche Ortung der Objekte.

Zur adaquaten Interpretation der Informationen des Wahrnehmungsapparates sind allerdings zusatzliche Informationen „aus dem Wissen des Organismus uber die Welt“ (D. Marr) notig.

Dazu gibt es zwei Annahmen:
- Eindeutigkeitsannahme: Ein Punkt hat auf einer Oberflache immer nur eine Position.
- Kontinuitatsannahme: Oberflachen andern sich nur kontinuierlich; Texturelemente, die in einem Auge benachbart sind, sind es wahrscheinlich auch im anderen.

Spiegelstereoskopexperiment von Wheatstone: Obwohl beide Augen auf einen Punkt in einer definierten Entfernung eingestellt sind, „sehen“ sie unterschiedliche Bilder.

Die Querdisparation ist ein MaR fur die raumliche Staffelung; Objekte werden jeweils monokular wahrgenommen, die beiden Bilder anschlieRend fusioniert, damit der Tie- feneindruck entsteht. Die Theorie des Konstruktivismus ist z.Z. vorherrschend in der Wahrnehmungspsychologie.

4. Wahrnehmung als direkte Informationsentnahme: Okologische Optik

Direkte Wahrnehmung

Die These der direkten Wahrnehmung wird von Gibson und den Neogibsonianern (Turvey, Carello, Michaelis, Lee, Johannson) vertreten. Diese Forscher gehen davon aus, daft es nicht notig ist, die wahrgenommene Information zusatzlich mit extraretinalen Daten oder Wissen anzureichern: Die benotigten Informationen uber das Objekt sind vollstandig in der Umwelt enthalten und mussen nur aufgenommen werden (Gibson: ..Information pick-up"). Die Eigenschaften der Umwelt sind nur

Interaktionseigenschaften; Gibson behauptet, jedes Objekt beinhalte die Informationen zu seiner Benutzung (Affordences: Eignung, Anbietung, Angebot).

In der Forschung wird diese reine Information als falsch und unzureichend angesehen, weil man aus der Perspektive des Augenarztes heraus lediglich das vom Objekt verursachte Bild auf der Retina betrachtet (geometrische Optik: Lichtstrahlen dienen als Reiz). Im Gegensatz dazu geht die okologische Optik davon aus, daft im Licht enthaltene Reize wahrgenommen werden. Dabei spielt das umgebende Licht, das ambient light, eine wichtige Rolle: Es wird von Objekten begrenzt und von Oberflachen in spezifischer Art und Weise strukturiert und gebrochen. Oberflachen haben einen bestimmten Texturgradienten, dessen Wechsel auf einer Oberflache einer Veranderung der Dichte entspricht. Haben zwei Oberflachen die gleiche Neigung zum Betrachter, so haben sie den gleichen Gradienten: a a'

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das optical arrange, die optische Anordnung,
- enthalt die Informationen, die fur die Wahrnehmung notig sind
- ist in unendlich vielen Varianten moglich
- kann vom Menschen nicht aus allen Beobachterpositionen heraus wahrgenommen werden (wie es z.B. ein Vogel kann)
- kann helfen, Invarianzen (im Wechsel von verschiedenen optischen Anordnungen) zu erkennen; Invarianzen spezifizieren die stabilen Eigenschaften der Objekte

Das optische System erfaftt die Informationen und verarbeitet diese.

Der optical flow; der optische Fluft, findet statt, wenn man sich oder wenn die Umwelt sich um einen bewegt (optisches Flieftmuster). Optische Invarianzen entsprechen nicht zeitlichen, sondern raumlichen Veranderungen (reversibel). Wenn Eigenschaften der Umwelt invariant sind, ist der Fluft der optischen Anordnungen ausschlaggebend fur die Wahrnehmung der Eigenbewegung (visuelle Kinasthesie, visuelle Propriozeption). Dies zeigt sich z.B. bei optischen Tauschungen, bei denen es der Vp meist gelingt, sie durch Bewegung des Objektes oder Veranderung des Blickwinkels aufzuheben.

Lee: Invarianzen zur Steuerung des Verhaltens werden durch einen invarianten Parameter (Tau; gibt Zeitspanne bis Kontakt wieder) gesteuert: Bewege ich mich auf ein Objekt zu (bzw. das Objekt auf mich), wird das retinale Abbild grower:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein Vogel, der sich von Fischen ernahrt, steuert mit mehr als 30 km/h auf die Wasseroberflache zu und nimmt weniger als eine Sekunde vor dem Kontakt Stromlinienform an, um nicht stumpf aufzuprallen. Wie erkennt der Vogel, wann die entsprechende Form angenommen werden muR? Hangt die antizipatorische Bewegung von der Geschwindigkeit oder von der Fallhohe oder von ab?

Bei fallen die Kurven zusammen (z.B. zwischen Kniebewegung und -Kurve).

Bei Gibson fehlt der Aspekt der motorischen Steuerung des Verhaltens; es lassen sich uber seine Theorien auch optische Tauschungen nicht zufriedenstellend erklaren: Er sagt lediglich, daR die notigen Informationen nicht ausreichend verfugbar seien.

Nach Untersuchungen von Shebilski (1986) richtet sich der Blick nach einer langeren Phase eines exzentrischen Blickwinkels viel intensiver und ausschweifender in die vorherige Blickrichtung, in die andere Richtung tritt das Gegenteil ein (abweichende Blickrichtung). Er folgert daraus, daR Wahrnehmung efferenzvermittelt ist.

Bisher betrachtete man Invarianzen, die sich mittels der projektiven Geometrie erklaren lieRen und quantifizierbar waren; jetzt liegt der Schwerpunkt auf dem qualitativen Aspekt: Durch eine Handlung erzeugt man optisches FlieRen, die Variation des Flusses verandert sich bei der Bewegung. Etwas wissenschaftsphilosophisch betrachtet, ist das vollstandige Wissen uber alles im Universum an jedem Punkt des Universums verfugbar, wenn man von groberen und daher groReren Schritten im FluR ausgeht.

5. Der neurophysiologische Ansatz der Wahrnehmung

Nach Gibson dient das Gehirn der Informationsextraktion aus dem optischen Reiz.

Auf der Retina finden sich Zapfen und Stabchen. Die Stabchen sind fur das Nachtsehen (scotopisch), die Zapfen fur das Tagsehen und die Farben (photopisch) verantwortlich; die Stabchen sind ca. 500 Mal lichtempfindlicher als die Zapfen.

Der feinste Zapfen hat einen Durchmesser von 1/1.000.000 m; in der Forea befinden sich keine Stabchen, sondern ca. 2.000 sehr eng gepackte Zapfen (deshalb kann man bei Nacht kaum fokussieren). In ca. 57 cm Entfernung kann man ein Objekt mit der Oberflache 3 mm2 genau erkennen.

Ein einzelner Lichtpunkt ist wenig aussagekraftig. Im Auge gibt es Verzerrungen, Farbrander und Einschlusse im Glaskorper; auch zwei gleiche Informationen sprechen nicht unbedingt spezifisch fur die Umwelt. Wichtiger sind Abgrenzungen, Helligkeitssprunge, Konturinformationen fur die Strukturierung.

Auf der Netzhaut befinden sich ca. 126 Mio. Rezeptoren, aber nur ca. 800 Nervenfasern verlassen das Auge, d.h. die eingehende Information wird gemittelt.

Die fur das okologische Wahrnehmen wichtigen Punkte Konturinformation erkennen, Rauschen eliminieren, Unterschiede finden laufen schon im retinalen System ab.

Bei Versuchen, bei denen man eine einzelne Ganglienzelle mit einer feinen Elektrode angestochen und gleichzeitig feine Lichtpunkte auf die Retina gesetzt hat, hat man das rezeptive Feld gefunden. Es handelt sich hierbei um den (runden) Bereich von Sinneszellen, der in der gleichen Nervenzelle eine Antwort hervorrufen kann. Die rezeptiven Felder uberlappen sich; verschiedene Partien des rezeptiven Feldes konnen eine unterschiedliche Aktivitat der Ganglienzelle hervorrufen - so gibt es sowohl ON- Zentrum-OFF-Peripherie-Zellen (d.h. ein Lichtreiz auf der Peripherie wirkt inhibitorisch, einer auf das Zentrum exitatorisch) also auch OFF-Zentrum-ON-Peripherie-Zellen (vice versa). Werden sowohl Peripherie als auch Zentrum gereizt, so ist die Aktivitat der Nervenzelle sehr gering.

Bei Farb- und Graustufenabstufungen erscheinen haufig an den Ubergangen hellere Linien zur Konturenverstarkung. An der Kontur liegt eine hohe Aktivitat vor, jenseits eine geringe. Die Kontur wird von ON-OFF- und OFF-ON-Strukturen wiedergegeben.

Die Information „zwischen den Konturen" (Flachen: Farben, Helligkeiten) wird von den sog. amakrinen Zellen erstellt, deren Aufgabe darin besteht, zwischen den Nervenzellen „lauffeuerartig" Fullinformationen weiterzugeben. Dieses Verfahren ist fehleranfallig; befindet sich zwischen zwei gleichfarbigen Flachen eine Kontur, so fuhrt diese dazu, daft die Flachen als unterschiedlich farbig wahrgenommen werden. Die Farbe wird durch die Kontrastverhaltnisse an der Kontur bestimmt.

Bei Blockbildern (z.B. Dalis „Gala, am Fenster stehend und in 10 m Entfernung eine Erscheinung Abraham Lincolns betrachtend") fuhrt das Unscharfstellen dazu, daft starke Ubergange wegfallen; durch die weicheren Ubergange ist ein Wiedererkennen des Gesichts moglich: Die groben Farbunterschiede fallen weg, und es ergibt sich ein einheitliches Bild.

Das System glattet (integriert) innerhalb von bestimmten Feldern, um Zufallsrauschen zu eliminieren. Grofte Felder fuhren dabei zu groben Unterschiede, also Ungenauigkeit, kleine Felder zu feineren Unterschieden, wobei aber groRe Strukturen nicht mehr zu erkennen sind. Glucklicherweise gibt es beide Sorten von Feldern.

Raumfrequenzanalysen und einfache, komplexe und hyperkomplexe Zellen

Jeder Ton und jedes Gerausch laRt sich als Summe von Sinusschwingungen unterschiedlicher Frequenz und Amplitude darstellen (Synthesizer-Prinzip); auf die Optik ubertragen bedeutet dies, daR sich jedes zweidimensionale Bild von jedem Punkt aus in jede Richtung zerlegen laRt (in Bezug auf den Kontrastverlauf auf dieser Strecke). Das zugrundeliegende Verfahren heiRt Raumfrequenzanalyse.

Der Unterschied zwischen einem abrupten und einem sanften Farbubergang besteht darin, daR an einer Kontur hohe und niedrige Raumfrequenzen meRbar sind, wahrend bei einem weichen Ubergang nur niedrige Raumfrequenzen auftreten.

Die Informationen der linken Retinahalften werden in der rechten Hirnhalfte (und vice versa) verarbeitet. Im Geniculatem laterale, einer (im seitlichen Kniekorper) dem Cortex vorgelagerten Struktur, findet man ahnliche rezeptive Felder wie auf der Retina.

Einfache Zellen

Hubel & Wiesel haben mittels einer Mikroelektrode die Potentiale einzelner cortikaler Neuronen bei der Katze abgeleitet. Durch dieses Verfahren kann man prazise lokalisieren, wo optische Reize verarbeitet werden. Sie fanden rezeptive Felder, die eine andere Struktur aufweisen als die Felder auf der Retina; auf diese Felder (als Ganzes) wirken bestimmte Lichtreize exitatorisch oder inhibitorisch. Der optimale Reiz liegt bei maximaler Exitation vor. So wird z.B. die GroRe der s/w-Partien eines Objektes durch unterschiedliche rezeptive Felder optimal erkannt:
- Randdetektoren bestehen zur Halfte aus Zellen, die auf Lichtreize exitatorisch reagieren (A) und solchen, bei denen Licht eine inhibitorische Wirkung hervorruft (B). Optimal feuern diese Strukturen, wenn die A-Halfte einen Lichtreiz erhalt, B aber unbelichtet bleibt. Sie dienen der Erkennung von Randern und Konturen; es gibt sie in AB- und BA-Kombination.
- Schlitzdetektoren weisen eine ABA- oder BAB-Struktur auf; sie dienen der Erkennung von Lichtlinien und -schlitzen.

Mehrere rezeptive Felder „beliefern" eine Nervenzelle, bei dieser kommt also quasi ein Mittelwert an. Die Aktivitat der Detektorzellen richtet sich danach, ob sie optimal gereizt werden. Das Feuern nimmt mit Abnahme der optimalen Reizung ab; eine vertikal orientierte Zelle feuert also stark bei einem vertikalen Reiz, weniger bei einer Schrage und stellt die Aktivitat bei einem horizontalen (oder keinem) Reiz ein.

Kontrastreduktion fuhrt zur Reduktion der Aktivitat der Zelle.

Kanten und Konturen werden durch die Interpretation der Summe der Aktivitat aller Zellen erkannt.

Im Cortex sind alle Zellen einer Richtung (Schlitz-/Randdetektoren) vertikal ubereinander in sog. Kolumnen angeordnet; die Nachbarschaft verschiedener Kolumnen korreliert mit der Ahnlichkeit/Neigung.

Eine Hyperkolumne ist eine Organisation aller Kolumnen mit einer bestimmten Funktion in ihren Auspragungen (fur das rezeptive Feld: Hyperfeld).

Am Fixationspunkt besteht die groRte Analysetiefe.

Komplexe Zellen

Komplexe Zellen arbeiten wie einfache Zellen, sind jedoch richtungsspezifisch (d.h. sie antworten auf Bewegungen in nur einer bestimmten Richtung). Fruher nahm man an, komplexe Zellen seien moglicherweise Verschaltungen mehrerer einfacher Zellen; heute geht man von einer Theorie verschiedener Ganglienzellen auf der Retina aus.

Hyperkomplexe Zellen

Sie sind unabhangig von der Stelle des Erscheinens, aber sensitiv gegenuber der Lange eines Reizes. Bewegt man Bilder streifenweise horizontal und vertikal uber das rezeptive Feld und setzt fur jede Aktivitat der betrachteten Zelle einen Punkt (in Relation zur Position der Abtastung), so stellt man fest, daft die ON-OFF-Zentrum- Zellen konturenerkennend, die einfachen Zellen hoch richtungsspezifisch und die komplexen Zellen auch hoch richtungsspezifisch, aber nicht so fein auflosend arbeiten, wahrend die hyperkomplexen Zellen v.a. fur die Endpunkte von Linien zustandig sind.

Psychologische Methode

Die psychologisch Methode beschaftigt sich - im Gegensatz zum neurophysiologisch arbeitenden Forscher, der direkt an den Nervenzellen Potentiale miftt - mit der Messung von Nachwirkungen („Mikroelektrode des Psychologen"):Wenn es fur Eigenschaften der Vorlage Detektorzellen gibt, muft eine langere Beschaftigung mit der Vorlage zu einer neuronalen Ermudung fuhren, die uber Defizite und Nachwirkungen meftbar ist (z.B. negativer Nacheffekt beim langeren Blick auf einen hellen Fleck oder der Wasserfalleffekt: Langes Betrachten eines Wasserfalls fuhrt dazu, daft das Wasser hochzufallen scheint). Interessant ist in diesem Zusammenhang der McCollough-Effekt: Sieht man sich langere Zeit abwechselnd getrennte Vorlagen mit roten horizontalen und grunen vertikalen Streifen an, so wirkt ein s/w-Muster hinterher farbig (waagerecht grun, senkrecht rot).

Selfish geht davon aus, daft es fur die Analyse der Einzelmerkmale eines Objektes Spezialisten gibt (Merkmalsanalyse). Nach der Analyse werden die Reize wieder zusammengesetzt (Ubereinstimmung Merkmal - Kategorien). Bei den Makaken, einer Affenart, gibt es spezielle Zellen, die auf den optischen Reiz einer Hand sowie auf alles Eftbare reagieren.

6. Der computerwissenschaftliche Ansatz der Wahrnehmung

Adaptationen, Detektorzellen und „Machine Vision"

Es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Leuchtdichte und Kontrast: Je hoher die Leuchtdichte, desto hoher auch der Kontrast. Adaptiert man eine Vp an eine hohe Kontrastschwelle, so kann sie spater niedrige Kontraste nicht erkennen.

Der Mensch hat eine hohe Empfindlichkeit fur waagerechte und senkrechte Muster, eine niedrige fur Schragen. Diese Empfindlichkeiten bilden sich mit dem Heranwachsen aus: Zieht man eine Katze im Dunkeln auf und prasentiert ihr in den Hellphasen eine entweder nur aus horizontalen oder nur aus vertikalen Streifen bestehende Umwelt, so entwickelt sie nur Detektoren fur diese Ausrichtung.

In der mangelnden Ausbildung von Detektorzellen liegt eines der moglichen Hauptrisiken beim nicht korrigierten Astigmatismus (Verkrummung des Auges); hier wird eine der Orientierungen korrekt, die andere verschwommen wahrgenommen.

Adaption fuhrt zu einer hohen Kontrastschwelle in diesem Bereich, dafur nimmt die Kontrastempfindlichkeit ab: Auf diesem Wege kann man psychophysisch die Richtungsspezifitat neuraler Zellen nachweisen. Es zeigt sich, daft die Neigung bevorzugt wird, die durch die hochste Aktivitat gekennzeichnet ist.

Erstaunlich ist das Phanomen der blind sight (Weiftkrautz), das durch eine Lasion im gestreiften Cortex hervorgerufen werden kann: Die Menschen sind blind, konnen sich aber im Raum orientieren, d.h. haben Informationen daruber, wo sich die Gegenstande befinden.

Binoculare Neuronen zeigen die hochste Aktivitat, wenn der gleiche Reiz auf korrespondierende Stellen auf den Retinae fallt; sie melden die Tiefenentfernung des Objektes von der Fixationsgrundlage.

Der Therapieversuch, das Schielen durch Zukleben des starkeren Auges zu korrigieren, wird angesichts des folgenden Ergebnisses zweifelhaft: Katzen, bei denen

abwechselnd immer nur ein Auge zur Exploration der Umgebung zur Verfugung stand, entwickeln keine binocularen Neuronen und damit keinen Tiefeneindruck, kein raumliches Sehen.

Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung merkmalsspezifischer Interpretationen fur Psychologen; bei der Identifikation der neuronalen Einheiten mit den psychophysischen Mechanismen begeht man den Fehler, Instrument und Verarbeitung zu verwechseln. Wichtig ist meist eher die Interaktion.

Machine Vision

David Marr befaftte sich mit der Problematik der Simulation von Verarbeitungsprozessen auf dem Computer; im Bereich der Machine Vision v.a. mit der visuellen Wahrnehmung. Er fand sich dabei schnell mit groften, nicht erwarteten Schwierigkeiten konfrontiert: Die Umschreibung und Realisation der Problematik, z.B. wie ein Objekt erkannt wird, zeigte sich als aufterordentlich kompliziert. Er entwickelte daraufhin ein Modell, wie man sich der Aufgabe nahern konnte. Der erste Schritt ist dabei die Beschreibung und Erklarung der Wahrnehmungsleistung als Informati- onsverarbeitungsprozeft, weil die Umwandlung in einen Logarithmus von dieser Ebene aus leichter ist. Ein komplexes System laftt sich nicht durch Verhalten der Einzelsysteme erklaren; eine Metaebene ware angebracht. Dabei soll die mikro- skopische Beschreibung konsistent mit der Makroebene sein.

Z.B. Registrierkasse im Supermarkt:
- Was tut sie? - Addition
- Theorie der Addition
- Warum tut sie das? - Algorithmus

Allgemein:
- Was tut ein System?
- Wie tut es das? (Algorithmus, kann mit verschiedenen Theorien realisiert werden)
- Wodurch (Hardware) tut es das?

Man unterscheidet drei Ebenen:
- Leistungsanalyse (..Computational analysis"): Input-Output-Ebene, okologischer Aspekt
- formale Algorithmen: Wie sieht ein Programm aus, das diese Leistung bringt? formaler Aspekt
- neurale Mechanismen: physikalischer/materieller Aspekt

Ein Versuch, die psychophysische Leistung direkt durch den Ruckgriff auf neurale Leistungen zu erklaren, ist ungefahr so aussichtsreich wie die Analyse des Vogelflugs uber die Feder. Wichtig ist, bei der Erklarung das richtige Niveau zu benutzen (z.B. Nachbilder: neurale Mechanismen).

Leistungsanalyse ist im Sinne Gibsons okologischer Optik: Was nehmen wir wahr?

Marr zeigt zwei elementare Fehler in Gibsons Theorie auf:
- Gibson geht von der Pramisse aus, daft Invarianzen unabhangig von der Retina
beschrieben werden konnen; Marr meint, daft die Erregungsausbreitung auf der Retina wichtig sei; okologisch relevante Informationen wurden auf den Eigenschaften der Retina beschrieben
- Gibson behauptet, die Information werde entnommen, weil sie da sei (Entnahmeprozeft sehr unterschatzt); Marr sieht die Entnahme bereits als einen Verarbeitungsprozeft, der hochst komplex und schwer auf Computern realisierbar sei.

Literatur: Optische Tauschungen

Wahrnehmung und visuelles System

Mittels eines Algorithmus werden alle Pixel eines Bildes mit ihren Helligkeiten mit einem bestimmten Gewichtungsprofil (2. Ableitung der Normalverteilung; .Sombrero") in die Mittellung aufgenommen. Dadurch wird das Rauschen eliminiert. Hat das Gewichtungsprofil eine kleine Kurve, so liegen hinterher eine hohe Auflosung und feine Konturen vor, ist die Kurve groft, ist die Auflosung grob (das Bild ist besser erkennbar). Am Computer laftt sich zeigen, daft sich aus der Mittelung das Originalbild rekonstruieren laftt. Die Vermutung liegt nahe, daft bei eben jenem Vorgang in den rezeptiven Feldern die formale Struktur durch die Struktur der Felder und der Ganglienzellen geleistet wird.

Nach Marr erfolgt die Wahrnehmung uber zwei Formen von „Erstskizzen":
- rohe Erstskizze: Konturen und benachbarte Elemente werden zu groReren Einheiten zusammengefaRt
Ebene 1: „symbolische Representation": neuronale Einheiten feuern, weil Objekte gleicher Richtung erkannt werden
Ebene 2: Grenzen und Endpunkte von Konturen werden erkannt
- fertige Erstskizze: Zusammensetzung der Wahrnehmungsergebnisse der einzelnen, mit unterschiedlichen Auflosungen arbeitenden rohen Erstskizzen

Im VerarbeitungsprozeR steckt ein gewisses „Weltwissen“ (Wissen uber die Organisation der Umwelt). Die Gestaltgesetze spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie Eigenschaften von Verarbeitungsprozessen, die „Weltwissen“ beinhalten, wiedergeben; sie werden daher - nach Hinterfragung - in den computerwissenschaftlichen Ansatz ubernommen.

Allerdings sieht Marr zwei MiRverstandnisse in der Gestaltpsychologie:
- mathematische Ignoranz: die Herleitung einer Bewegungsbeschreibung ist auch auf mathematischem Wege uber die Interaktionen der Elemente erklarbar
- Organisation der Wahrnehmungswelt wird nicht als ProzeR wahrgenommen; das Pragnanzprinzip wird - falschlicherweise - benutzt, als handle es sich um ein physikalisches Gesetz

Die Leistungsanalyse fuhrt allerdings wieder zu den Gestaltgesetzen, da darin wichtige Annahmen uber die Welt enthalten sind.

Marr geht davon aus, daR die Wahrnehmung eine „2^-D-Skizze“ liefert; sie sei zweidimensional, weil sie aus der binocularen Fusion hervorgehe, Informationen uber Orientierung und Ausbreitung von Oberflachen beinhalte, und raumlich insofern, als sie Angaben uber die raumliche Erstreckung der Objekte enthalte, aber nicht dreidimensional, weil sie beobachterzentriert sei: Uber verdeckte Flachen konnten keine Aussagen gemacht werden. Dieser Schritt (zur 3D-Position) erfolge uber eine Sichtweise, die von der Beobachterposition unabhangig sei und „Weltwissen“ beinhalte.

Das Gehirn differenziert die Entfernungen von binocular dargebotenen Reizen uber im Netzwerk enthaltene spezielle Detektorzellen fur Tiefenreize (arbeiten uber unterschiedliche Disparitat). Die Aktivitat einer bestimmten Zelle reprasentiert „symbolisch“ den Ort des Objektes.

Zwei Annahmen zum „Weltwissen“:
- Eindeutigkeitsannahme: ein Objekt im Raum hat zu einem Zeitpunkt nur eine Position
- Kontinuitatsannahme: Oberflachen sind i.d.R. undurchsichtig, haben Ausdehnung und andern sich nur allmahlich (keine groRen Sprunge), d.h. Disparitaten verschieben sich nur gleitend

[...]

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmungspsychologie - Skript zur Vorlesung
Hochschule
Universität Osnabrück
Veranstaltung
Allgemeine Psychologie
Autor
Jahr
1994
Seiten
47
Katalognummer
V97457
ISBN (eBook)
9783638959094
Dateigröße
489 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrnehmungspsychologie, Skript, Vorlesung, Allgemeine, Psychologie
Arbeit zitieren
Michael Hatscher (Autor:in), 1994, Wahrnehmungspsychologie - Skript zur Vorlesung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97457

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