Die Sexualberatung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Zusammenhang und Herausforderungen

Wenn Normalismus auf Diversity in der Sozialen Arbeit trifft


Bachelorarbeit, 2020

63 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Offene Kinder- und Jugendarbeit
2.1 Jugendberatung
2.2 Beratung in der OKJA in Form von Tür- und Angelgesprächen
2.3 Sexualpädagogik in der OKJA
2.3.1. Sexualität und ihre Bedeutung damals und heute
2.3.2. Sexualität im Jugendalter

3. Normalismus
3.1 Normen
3.1.1. Normativität und normative Normen
3.1.2. Normalität und normalistische Norm
3.2 Normalistische Strategien
3.2.1. Protonormalismus
3.2.2. Flexibler Normalismus

4. Diversity
4.1 Begriffsbestimmung Diversity
4.2 Diversity Ansätze
4.2.1. Diversity Management
4.2.2. Managing Diversity
4.2.3. Antidiskriminierungspolitik
4.3 Diversity Dimensionen
4.4 Diversity in der Erziehungswissenschaft und in pädagogischen Handlungsfeldern
4.4.1. Affirmative Diversity-Ansätze
4.4.2. Machtsensible Diversity-Ansätze

5. Diversity und Normalismus in der Sozialen Arbeit
5.1 Diversity in der Sozialen Arbeit
5.1.1. Diversity in der OKJA
5.1.2. Partizipative Offenheit
5.1.3. Benachteiligungsabbau durch intersektionale und queere Ansätze
5.2 Die Soziale Arbeit und die Reproduktion von Normalität
5.3 Diversity und Normalismus in der Sexualberatung der OKJA
5.3.1. Auswirkungen auf die Sexualberatung in der OKJA
5.3.2. Konsequenzen für die Fachkräfte der OKJA

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

Darstellung 1: Wahrnehmung von Eigenschaften als Definitionskriterium von Diversity nach Voigt (eigene Darstellung)

Darstellung 2: „Big 6“ nach Vinz & Schiederig (eigene Darstellung)

Darstellung 3: Modell der "4 Layers of Diversity“ nach Gardenwartz & Rowe

1. Einleitung

„Wir leben in einer Welt der Normen. Jeder von uns strebt danach, normal zu sein oder versucht umgekehrt, diesen Zustand zu vermeiden. Wir ziehen in Erwägung, was die durchschnittliche Person tut, denkt, verdient oder konsumiert. Wir bringen unsere Intelligenz, unseren Cholesterinspiegel, unser Gewicht und die Körpergröße, den sexuellen Antrieb und andere körperliche Dimensionen anhand eines Konzeptes in eine Rangordnung von subnormal bis überdurchschnittlich“ (Davis, 1995, S. 23, zitiert nach Dederich, 2010, S. 179).

Die Auseinandersetzung damit, was als „normal“ gilt und was nicht, ist schon immer Inhalt philosophischer, politischer, religiöser sowie sozialer Diskurse gewesen. Der Begriff „normal“ hat mittlerweile viele Bedeutungen, jedoch wird darunter im Allgemeinen all das verstanden, was einer bestimmten Norm entspricht. Nicht immer ist hierbei eindeutig, wie diese Normen zustande kommen, wie sie begründet werden oder welche Wirkung sie haben (vgl. Leufke, 2016, S. 11). Explizite gesellschaftliche Normen dienen dem menschlichen Handeln nicht nur als Orientierung, sondern begründen zudem das Fundament von Normalität (vgl. ebd., S. 7). Zum einen kann die Normalität als Richtschnur zum Maßstab für die Bestimmung von Abweichungen werden, zum anderen in Normalisierungsprozesse münden, in denen Selbst- und Fremdnormalisierung letztlich unentwirrbar miteinander verschränkt sind (vgl. Dederich, 2010, S. 179). Erstere wird in dem vorangestellten Zitat von DAVIS veranschaulicht, indem das Ergebnis des menschlichen Strebens danach trachtet, normal sein zu wollen, und die selbstbestimmte Anpassung an die bestehenden Normen meint. Noch im selben Satz des Zitats macht DAVIS jedoch auch auf den Kontrast hierzu aufmerksam: das Begehren danach, den Zustand des „normal-seins“ zu vermeiden. Doch was bedeutet es ein Leben abseits der Norm zu führen und folglich „nicht normal“ zu sein?

Spielt man etwas mit dem Begriff „nicht normal“ und begibt sich auf die Suche nach einem Synonym hierfür, findet man viele Wörter, die in Frage kommen könnten: unnormal, anormal, abnormal, normwidrig, anders, besonders, verschieden… oder auch Vielfalt (vgl. WOXIKON o.J.). Das letzte Wort ist uns nicht fremd, da wir in einer Zeit der raschen Veränderung Vielfalt in fast allen Lebensbereichen begegnen. Die Vielfalt der Weltanschauung und Identitäten durch Globalisierung, demographischen Wandel, Mobilität und Migration, die uns zu neuen gesellschaftlichen Erfahrungen führen und uns vor die Herausforderung stellen, mit dieser Vielfalt, ihren Chancen und auch Risiken sowohl im Privat- als auch im Berufsleben, umzugehen (vgl. van Keuck et al., 2011, S. 7). Um den vielfältigen Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden und die Menschen mit ihren Stärken und Ressourcen sowie ihren Gemeinsamkeiten zu erkennen, braucht es sowohl einen kompetenten Blick, als auch die Wahrnehmung und die innere Haltung (vgl. Skowron, 2016, S. 5), kurz gesagt: Diversität (engl. Diversity) als Kompetenz wie auch als Ansatz.

Fraglich an der soeben durchgeführten Darstellung der beiden Thematiken ist jedoch, wie Normen existieren können, die unserem Handeln Orientierung bieten und zeitgleich den Grundstein der Normalität bilden, wenn uns die Vielfalt bereits in vielen Bereichen unseres Lebens begegnet. Wenn Vielfalt so präsent ist, kann es doch gar keine einheitliche Normalität mehr geben, die unserem Handeln Orientierung bietet und uns eine Anpassung möglich macht – oder etwa doch?

In Gesellschaften werden Menschen oft im Kontext von vereinheitlichenden Konstruktionen als „Großgruppen“ wahrgenommen und unterschieden, wobei es auch um Fremd- und Selbstzuschreibungen geht, die beispielsweise auf die Bedeutung von Geschlecht und sexueller Orientierung (folglich entlang von Homosexualität beziehungsweise Heteronormativität) verweisen. Die soeben genannten Großgruppenkonstruktionen tragen zu Differenzlinien bei, die oftmals mit Problemlagen, Benachteiligungen und Negativbewertungen verschiedener Art, aber ebenso – auf der jeweils „anderen“ Seite – mit Privilegien und Begünstigungen einhergehen. Um Menschen in prekären Lebensverhältnissen und kritischen Situationen gerecht zu werden und zugleich das Ziel eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit nicht aus den Augen zu verlieren (vgl. Leiprecht, 2011, S. 7), hat die Soziale Arbeit, verstanden als eine Theorie und Praxis, die sich auf Probleme der Lebensführung in der modernen Gesellschaft bezieht (vgl. Scherr, 2002, S. 35), diversitätsbewusste Ansätze entwickelt (vgl. Leiprecht, 2011, S. 7). Als ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit sieht sich ebenso die Offene Kinder- und Jugendarbeit mit der Herausforderung konfrontiert, eine Perspektive zu entwickeln, die an den Potenzialen von Kindern und Jugendlichen in ihrer biographischen Unterschiedlichkeit anknüpft (vgl. Leiprecht, 2008, zitiert nach Struck & Schröer, 2015, S. 809) und gleichzeitig gegen soziale Benachteiligung eintritt (vgl. Struck & Schröer, 2015, S. 809), weshalb auch hier vielfach Diversity-Ansätze verfolgt werden.

Die Verfasserin dieser Arbeit ist selbst in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit tätig, und auch hier fordert und fördert der Träger, bei dem sie beschäftigt ist, durch Fort- und Weiterbildungen einen diversitätsbewussten Umgang mit den Kindern und Jugendlichen. Beratende Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen zu führen stellt einen großen und wichtigen Teil ihrer täglichen Arbeit dar, wobei auffällt, dass die Sexualität wiederkehrend zum Themenschwerpunkt wird, dessen Inhalte sich laufend verändern und vielfältiger werden. Wenn zum Beispiel in den Gesprächen mit den Kinder und Jugendlichen die Frage aufkommt „Ist es „normal“, dass…“, stößt die Verfasserin häufig an die Grenzen ihrer Kenntnisse, denn wird die eigene Vorstellung von sexueller Normalität reflektiert, weicht diese gelegentlich von dem ab, was die Kinder und Jugendlichen heute für „normal“ halten. In solchen Situationen ist es der eigene Anspruch, der danach verlangt, den Anliegen, Fragen und Themen der Kinder und Jugendlichen professionell zu begegnen und darauf eingehen zu können, sowie den Forderungen des Trägers, einen diversitätsbewussten Umgang zu pflegen, gerecht zu werden. Gleichzeitig sollen Werte und Normen an die Kinder und Jugendlichen vermittelt werden, wofür es zunächst wichtig ist, sich selbst dessen bewusst zu werden und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was die heutige sexuelle Normalität darstellt. Basierend auf der aufgezeigten Schwierigkeit in der täglichen Arbeit der Verfasserin ist es notwendig, Normalität und Diversity zu vereinen und hiermit einen geeigneten Umgang zu finden. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage: Welcher Zusammenhang von Normalismus und Diversity ist in der Sozialen Arbeit überhaupt erkennbar und welche Herausforderungen sind hierdurch schließlich für die Sexualberatung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit abzuleiten?

Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ist auf dem Interesse begründet, die soeben gestellten Fragen zu beantworten. Um sich dem Tätigkeitsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, für welches aus den gesammelten Erkenntnissen Konsequenzen hergeleitet werden sollen, zu nähern, wird dieses zunächst mit seinen Aufgaben und Schwerpunkten in Kapitel 2 abgebildet. Ebenso soll zur Verdeutlichung der vorgestellten Problematik in diesem Kapitel aufgezeigt werden, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit der Sexualität verändert hat. In Kapitel 3 wird der Normalismus dargestellt. Hierfür wird zunächst die Definition von Normen vorgenommen, welche mit den Arbeiten von JÜRGEN LINK ergänzt wird, um den Unterschied von Norm und Normalität zu verdeutlichen. Nachdem ein Verständnis von Normen und Normalität hergestellt wurde, soll sich im darauffolgenden Kapitel mit dem Kontrast der Vielfalt auseinandergesetzt werden, weshalb in Kapitel 4 Diversity als zweites Thema dieser Arbeit betrachtet wird. Um verstehen zu können, was hiermit überhaupt gemeint ist, erfolgt zunächst eine Begriffsdefinition sowie die Darstellung des Entstehungskontextes, welcher durch die zusätzliche Abbildung verschiedener Ansätze aufgezeigt wird. Zudem werden in diesem Kapitel die Diversity-Dimensionen dargestellt, obgleich der Schwerpunkt in dieser Arbeit hauptsächlich auf der Kategorie der sexuellen Orientierung liegt. Um den Bezug von Diversity und Sozialer Arbeit aufzuzeigen, endet das Kapitel mit der Vorstellung der Ansätze, die in pädagogischen Handlungsfeldern angewendet werden. In Kapitel 5 kommt es schließlich zum Zusammentreffen vom Normalismus und Diversity in der Sozialen Arbeit. Zunächst wird hier aufgezeigt, wie mit Diversity in der Sozialen Arbeit, beziehungsweise vertiefend dargestellt in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, konkret umgegangen wird. Daran anschließend wird der Bezug zwischen der Sozialen Arbeit und dem Normalismus beleuchtet, sowie die Verknüpfung der beiden Themen in der Sexualberatung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und deren Konsequenzen hergestellt. Mit Bezug auf die ausgearbeiteten Inhalte findet im Kapitel 6, dem Fazit, eine kurze Zusammenfassung der Kapitelinhalte sowie die Darstellung der Ergebnisse statt. In diesem Zuge soll die Frage nach dem Zusammenhang der beiden Themen in der Sozialen Arbeit beantwortet werden sowie weitere Herausforderungen für die Praxis und die darin tätigen Fachkräfte aufgezeigt werden.

2. Offene Kinder- und Jugendarbeit

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) bildet eines der Arbeitsfelder Sozialer Arbeit ab und versteht sich als Teil der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Marenke, 2019, S. 13). Nach DELLER ist „Soziale Arbeit eine weltweit zu findende, aber gesellschaftlich unterschiedlich verankerte Profession“ (Deller & Brake, 2014, S. 13), die im Juli 2014 von der International Federation of Social Workers (IFSW) definiert und 2016 aktualisiert und wie folgt ins Deutsche übersetzt wurde:

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein.“ (DBSH, 2016).

Die Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind im Sozialgesetzbuch (SGB), achtes Buch (VIII), gesetzlich verankert. Sie sind vielfältig und dienen kurz gefasst dem Schutz des Kindeswohls, der Förderung der Entwicklung, dem Abbau von Benachteiligung, der Beratung und Unterstützung der Eltern sowie der Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und deren Familien. Die Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe variiert mit ihren Leistungen und Aufgaben. Somit richten sie sich im Kern an Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, jedoch können auch bestimmte Leistungen bei Bedarf von jungen Volljährigen bis 21 Jahren und in begründeten Einzelfällen sogar bis 27 Jahre in Anspruch genommen werden (vgl. Nöthen, 2018). In § 11 des SGB VIII wird die Jugendarbeit definiert, zu der auch die OKJA gezählt wird. Sie kann in angemessenem Umfang auch von Personen in Anspruch genommen werden, die das 27. Lebensjahr vollendet haben. Angeboten wird sie vornehmlich von Vereinen und Verbänden sowie Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, das heißt von Ländern, kreisfreien Städten, Kreisen und Gemeinden in Einrichtungsformen von offenen Jugendhäusern und -treffs, Jugendgruppen, mobilen Ansätzen, themenbezogenen Einrichtungen wie Kulturzentren oder Abenteuerspielplätzen und zielgruppenbezogenen Angeboten für Mädchen und Jungen oder Jugendliche mit Migrationshintergrund (vgl. Sturzenhecker & Richter, 2012, S. 469). Im Gegensatz zur Jugendsozialarbeit, die sich ausschließlich an sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte Kinder und Jugendliche wendet (vgl. ebd.), richtet sich die OKJA an keine konkrete Zielgruppe, sondern ist vielmehr für alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zugänglich (vgl. Marenke, 2019, S. 13), die die Angebote der OKJA vielfach als ein nicht fremdbestimmtes Lern- und Handlungsfeld nutzen (vgl. Deinet, 2005, S. 20f.). Bezeichnend für die OKJA sind Einrichtungen, welche neben inhaltlichen Angeboten wie Kurse oder Fahrten einen Offenen Treff in Form eines Jugendcafés oder ähnlich benannten vorhalten, die grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen offen zugänglich sein sollen und somit eine Treffmöglichkeit für Kinder und Jugendliche bieten (vgl. Schmidt, 2011, S. 15). Die OKJA stellt einen Teilbereich der professionellen Sozialen Arbeit mit einem sozialräumlichen Bezug und einem sozialpolitischen, pädagogischen sowie soziokulturellen Auftrag dar und versteht sich als wichtige Akteurin der außerschulischen Bildung (vgl. Bolle et al., 2018, S. 3). Strukturell ist die Arbeit der OKJA laut STURZENHECKER dadurch charakterisiert, dass sie auf Freiwilligkeit, Interessenorientierung und Partizipation basiert und auf inhaltliche Curricula und Leistungserwartungen verzichtet (vgl. Sturzenhecker, 2004, zitiert nach Sturzenhecker & Richter, 2012, S. 469).

Der gesetzliche Auftrag der OKJA ist es, junge Menschen zur Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Mitverantwortung zu befähigen sowie zu sozialem Engagement anzuregen, womit die Förderung von Engagement, Partizipation und Demokratiebildung ein zentrales Handlungsfeld der Jugendeinrichtungen abbildet (vgl. Sturenhecker, 2015, S. 7). Gemeinsam mit anderen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit erfüllt die OKJA den Auftrag des Kinder- und Jugendhilfegesetztes (SGB VIII), das mit § 11 den Bereich der Jugendarbeit besonders in den Blick nimmt und die allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen festlegt (vgl. Dieterle et al., o.J., S. 4) und das Ziel der Angebote innerhalb des Arbeitsfeldes wie folgt beschreibt: „[…] Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mit bestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“ (vgl. SGB VIII, § 11, Absatz 1). Die Arbeit der OKJA soll inhaltlich vor dem Hintergrund der Prinzipien der Offenheit, Freiwilligkeit, Partizipation, Lebenswelt- und Sozialraumorientierung sowie Geschlechtergerechtigkeit ausgestaltet werden (vgl. Dieterle, et al., o.J., S. 9f.). Zudem sind die Schwerpunkte der Jugendarbeit gesetzlich im zweitem Kapitel – „Leistungen der Jugendhilfe“ - unter § 11 Absatz 3 des SGB VIII verankert und lauten (vgl. SGB VIII, § 11, Absatz 3):

1. „außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung,
2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit,
3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit,
4. internationale Jugendarbeit,
5. Kinder- und Jugenderholung
6. Jugendberatung“.

Zusammenfassend setzt sich die OKJA zum einen aus einem offenen zugänglichen Treffpunkt mit verschiedenen offen zugänglichen Vorhalteangeboten zusammen sowie andererseits wie bereits erwähnt, aus differenzierten strukturierten Angeboten beispielsweise in Form von AG´s, Workshops, Gruppenarbeit und Projekten. Sie stellt sich als sehr komplexes pädagogisches Handlungsfeld dar und ist gekennzeichnet durch einen beständigen Veränderungsprozess, der auf die sich wandelnden Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, ihre Fragen und Probleme immer neu antworten muss (vgl. Deinet, 2005, S. 20). Die in § 11 Absatz 3 benannten Schwerpunkte der Jugendarbeit benennen in Satz 6 die Jugendberatung (vgl. SGB VIII , § 11, Absatz 3, Satz 6), die nach SCHMIDT ein wichtiger Angebotsschwerpunkt in der OKJA geworden ist (vgl. Schmidt, 2011, S. 34f.). Im nächsten Abschnitt soll deshalb zunächst ein Verständnis für die Jugendberatung im Allgemeinen geschaffen werden soll, um anschließend auf die Beratung in der OKJA eingehen zu können.

2.1 Jugendberatung

Die Jugendberatung fand ihre ersten Ansätze in den 1970er Jahren in der therapeutischen Arbeit mit jungen Drogenabhängigen. Heute bildet die Jugendberatung ein Schwerpunktfeld der Jugendarbeit ab und umfasst alle Beratungsangebote für junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren (ausgenommen der begründeten Einzelfälle). Sie orientiert sich an den Interessen und Bedarfen junger Menschen, wodurch sie stetigen Veränderungsprozessen unterliegt und ein vielfältiges Themenspektrum hat, welches sich an den Problemlagen der jungen Menschen orientiert. Die Jugendberatung berücksichtigt die besonderen Bedingungen des Jugendalters mit seinen spezifischen Herausforderungen im Ablösungs- und Verselbstständigungsprozess. Angebote wie diese sind immer freiwillig, so dass die jungen Menschen selbst entscheiden können, ob sie das Beratungsangebot annehmen wollen oder nicht. Die Beratung ist lösungsorientiert, wobei Partizipation und Selbsthilfe handlungsleitend sind und auch die spezifischen Lebenswelten werden in der Beratung berücksichtigt, wodurch die Beratung in der Regel einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt. Mit der Freiwilligkeit, Partizipation, Selbsthilfe und Lebensweltorientierung sind die Prinzipien abgebildet, von denen die Jugendberatung geleitet wird (vgl. Leymann, 2017, S. 465).

Dadurch, dass die Jugendberatung keine eigene institutionalisierte Form wie beispielsweise die Erziehungs- oder Berufsberatung hat, gestaltet sich die Organisationsform vielfältig und oftmals in unterschiedlichen Trägerschaften (vgl. ebd.), wie beispielsweise in der OKJA.

2.2 Beratung in der OKJA in Form von Tür- und Angelgesprächen

Kurze Interaktionen gehören in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zum effektiven professionellen Handwerkszeug. Tür- und Angelgespräche gelten als eine wichtige Form der Kommunikation in der OKJA und bilden - bewusst oder unbewusst – einen elementaren Teil der täglichen Arbeit der Sozialarbeiter_innen ab. Einerseits handelt es sich bei diesen Gesprächen um professionelle Angebote in einem institutionellen Rahmen, wie etwa der Schule oder offenen Jugendarbeit, andererseits ist der Formalisierungsgrad weniger hoch als in klassischen Beratungsstellen (vgl. Eckert, 2017, S. 19f.). Bei Beratung wird zwischen drei Formalisierungsgraden unterschieden:

- informelle alltägliche Beratung, wie beispielsweise zwischen Freunden und Angehörigen (vgl. Sickendiek et al., 2002, S. 23, Abb.1),
- halbformalisierte Beratung als Bestandteil unterschiedlicher, angrenzender beruflicher Handlungsvollzüge (vgl. Schubert et al., 2019, S. 203),
- formalisierte Beratung von professionellen Berater_innen mit ausgewiesener Beratungskompetenz in Beratungsstellen (vgl. Sickendiek et al., 2002, S. 23, Abb. 1).

Die Beratung in offenen Settings, zu welchen auch die Tür- und Angelgespräche zählen, lässt sich in die zweite Kategorie der halbformalisierten Beratung einordnen. Tür- Angelgespräche ergänzen die formalisierten Beratungsangebote und setzen dabei die Maximen der Niedrigschwelligkeit, der Sozialräumlichkeit und der Partizipation um (vgl. Eckert, 2017, S. 20). Da ein Besuch in einer Beratungsstelle für Jugendliche und andere Zielgruppen mit Widerständen verbunden sein kann, stellt die niederschwellige Beratung ein interessantes und sinnvolles Angebot dar. In der OKJA bietet die niederschwellige Beratung andere Ansatzpunkte, Qualitäten sowie Vorzüge und entspricht daher eher dem jugendlichen Lebensgefühl (vgl. Neumann, 2016, S. 114f.) und somit auch dem Konzept einer lebensweltorientierten Sozialarbeit, welches auch in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit praktiziert wird (vgl. Thiersch, 2014, S. 120). Ziel ist es hierbei, die strukturellen Veränderungen der gegenwärtigen Gesellschaft, mit all ihren Widersprüchen und (Über-) Forderungen, mit den subjektiven Lebens-, Lern-, und Bewältigungsansprüchen zu verbinden, womit die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt (vgl. Eckert, 2017, S. 20). Da die lebensweltorientierte Soziale Arbeit im Alltag ihrer Klient_innen agiert, können die Tür- und Angelgespräche als lebensweltorientierte Beratungsform angesehen werden. Die Adressat_innen treffen in den Tür- und Angelgesprächen als Expert_innen ihres Lebens und ihrer Lebenswelt auf die Berater_innen, welche die Rolle als Expert_innen für Methoden und Vernetzung einnehmen, um gemeinsam festgelegte Ziele umzusetzen und Probleme zu lösen (vgl. ebd., S. 24).

Die OKJA bietet viele Möglichkeiten für niederschwellige Beratung von jungen Menschen an. Niederschwellig steht in diesem Zusammenhang für einen Zugang mit wenigen Hürden und ist in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verankert. Das hierzu gehörige Angebot des Tür- und Angelgesprächs bildet, wie bereits erwähnt, einen kleinen aber mitunter wichtigen Teil der ganzen Angebotspalette der OKJA ab. Vordergründig ist in der OKJA eine Ausrichtung am Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen gegeben. Die Kinder und Jugendlichen lernen die Sozialarbeiter_innen in diesem Freizeitbereich kennen und es entstehen Beziehungen zwischen ihnen und den Sozialarbeiter_innen, welche die Grundlage für die niederschwellige Beratung bildet. Die Tür- und Angelgespräche in der OKJA finden beispielsweise beim gemeinsamen Spiel statt, wodurch die Kinder und Jugendlichen weder auf einen bestimmten Termin noch auf eine definierte Zeitdauer angewiesen sind und somit selbst entscheiden können ob, wann und wie sie ihr Anliegen ansprechen (vgl. Neumann, 2016, S. 114f.).

Wird das Beratungsangebot lebenszyklisch betrachtet, handeln die Themenschwerpunkte beispielsweise von Krisen und Problemen in typischen Schwellensituationen aber auch von Fragen der Berufssuche und Partnerwahl sowie um die der Identitätsentwicklung (vgl. Haid-Loh & Lindemann, 2014, S. 989), weshalb auch Themen und Fragen bezüglich der Findung der sexuellen Identität oder Orientierung, zum Schwerpunkt der Beratung werden können.

Die OKJA stellt als ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit einen Bereich dar, in dem Sozialarbeiter_innen zu Vertrauenspersonen von Kindern und Jugendlichen werden (vgl. Marenke, 2019, S. 2). SIELERT (2015) meint, wenn Sozialarbeitende zu Ansprechpartner_innen werden, die akzeptierend, begleitend und beratend tätig sind, so können sie erheblich zur Selbstannahme von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen beitragen (vgl. Sielert, 2015, S. 94, zitiert nach Marenke, 2019, S. 2), weshalb auch die Sexualpädagogik eine wichtigen Beratungsschwerpunkt in der OKJA darstellt.

2.3 Sexualpädagogik in der OKJA

Im Rahmen der OKJA werden sexualpädagogische Angebote häufig anlassbezogen durchgeführt und auch die Methode, das Setting und die eingesetzten Materialen richten sich nach dem Bedarf. Die Teilnahme der Mädchen und Jungen an diesem Angebot der OKJA ist überwiegend freiwillig. Die Kinder und Jugendlichen nehmen aus unterschiedlichen Gründen an diesen Angeboten teil, beispielsweise weil sie das Thema interessiert, sie diesbezüglich Fragen haben oder aus reiner Neugier. Die Spannbreite der Angebote geht zum Beispiel über ein Angebot nur für Mädchen in Form eines Mädchentages zum Thema körperlichen Veränderungen in der Pubertät bis hin zu einer Informationsveranstaltung für ältere Jugendliche zum Thema Verhütungsmittel (vgl. Thömmes & Brand, 2013, S. 799). Angebote wie diese können meist der Sexualerziehung zugeordnet werden, die darauf abzielt, die sexuellen Ausdrucks- und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zu formen (vgl. Marenke, 2019, S. 21). Die OKJA leistet mit ihren pädagogischen Fachkräften gegenwärtig schon viel zum gelungenen Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in den Bereichen Beziehung, Liebe und Sexualität bei. Themen wie diese werden im Gegensatz zu früheren Jahren weniger verheimlicht, unterdrückt oder ignoriert. Eine selbstbestimmte und verantwortete Sexualität birgt aber auch Herausforderungen (vgl. Gesellschaft für Sexualpädagogik, 2015, zitiert nach Heßdörfer 2015).

2.3.1. Sexualität und ihre Bedeutung damals und heute

Die Sexualität der Menschen ist ein umfassendes Geschehen, welches von biologischen, psychologischen und soziologischen Faktoren bestimmt wird und ganz unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hat. In erster Linie hat die Sexualität entwicklungsgeschichtlich gesehen, die Fortpflanzungsfunktion. Darüber hinaus war die Sexualität jedoch auch immer eine wesentliche Form des zwischenmenschlichen Kontaktes. Weil gerade letzterer Aspekt in der neueren Zeit entscheidend in den Vordergrund gerückt ist, gilt die Sexualität nicht nur als eine wichtige, die Partnerschaft fördernde sowie erhaltende Kommunikationsform, sondern vielmehr auch als eine Möglichkeit des körperlichen Ausdrucks der Persönlichkeit (vgl. Vetter, 2007, S. 3).

Entstanden ist der Begriff „Sexualität“ Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts und umfasste in dieser Zeit noch alles Sexuelle, worin auch Schwangerschaft und Geburt inbegriffen waren. Leidenschaftliche Sexualität und Liebe waren hier noch nicht in die Eheschließung eingebunden. Ehen wurden eher aus Vernunftgründen geschlossen und intensive sexuelle Gefühle waren in der Regel außerehelichen Beziehungen vorbehalten. Heute ist es hingegen üblich geworden, die Sexualität vor der Eheschließung genauso zu überprüfen, wie seinerzeit die Vermögensverhältnisse, womit Ehen heute nicht mehr durch Ausgrenzung sexueller Lust gekennzeichnet sind, sondern im Gegenteil durch die Qualität sexueller Fähigkeiten, über die ein Paar verfügt (vgl. ebd.). Nach dem zweiten Weltkriegt trat die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sexualität erstmals in den USA und später auch in den europäischen Ländern in ein neues Stadium. Der „RALF-Report“ („Repräsentative Analyse sexueller Lebensformen“) aus dem Jahr 1978 von EICHNER und HABERMEHL, wurde als Antwort auf den amerikanischen Hite-Report (1977) veröffentlicht und konnte zeigen, dass Sexualität in allen Varianten selbstverständlich praktiziert wird und dass es breite Übergänge vom „Normalen“ zum „Abnormen“ gibt. Solche Publikationen führten letztlich zu einer Art kollektiver Entlastung von schlechten Gewissen und der Grundstein für die sexuelle Befreiung war in der westlichen Welt gelegt, da die Menschen nun wussten, dass andere genau das machten, was sie sich selber wünschten. Gleichzeitig führte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sexualverhalten zu einem neuen Problem, denn einerseits half sie zwar Verbote aufzugeben, andererseits schuf sie aber auch neue Gebote: Das, was vorher als „abnorm“ galt, wurde nun zur Norm erhoben. Somit wurden diejenigen, die ein vorher als „abnorm“ bezeichnetes sexuelles Verhalten nicht praktizierten, zu Außenseitern und gerieten in den Verdacht verklemmt, gehemmt oder anders und folglich „nicht normal“ zu sein, was bei beiden Geschlechtern zu den größten Ängsten gehörte (vgl. ebd., S. 7).

Der von SIGUSCH (2001) als dritter sexueller oder auch neusexuelle Revolution bezeichnete Wandel des Sexualverhaltens steht mit einem weiteren Phänomen im Zusammenhang, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass mit der zunehmenden äußeren Sexualisierung, die sich durch eine mit Sexualreizen überfrachtete Außen- und Medienwelt ausdrückt, gleichzeitig eine innere Desexualisierung stattfindet, welche zu einem Überangebot an sexuellen Reizen und Verführungsmöglichkeiten führt (vgl. ebd., S. 9). Beispielsweise werden Konsumgüter oder das Einkaufen als solches sexualisiert (vgl. Walder, 1995, zitiert nach ebd.) sodass DANNECKER (1985) über die Diskrepanz schreibt, dass die Menschen sich in einem Meer von Sex bewegen, jedoch ohne die Empfindungen, die einmal als sexuelle Lust bezeichnet wurden, womit die „Pornographisierung des Alltagslebens“ beschrieben wird (vgl. Vetter, 2007, S, 9).

In Gesellschaften existieren sexuelle Normen, deren Abweichung zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen führt, da es hier kulturelle Unterschiede gibt. So kann etwas in einer Kultur als sexuell angepasst gelten und in einer anderen als sexuelle Abweichung aufgefasst werden. Beispielsweise war es im 19. Jahrhundert „normal“, dass „anständige“ Frauen keinen Orgasmus hatten und wenn sie diesen dennoch hatten oder darauf bestanden, wurden sie oft als unmoralisch oder sogar als krank bezeichnet. Heute hingegen gilt die Frau, die keinen Orgasmus hat als „nicht normal“ beziehungsweise als funktionsgestört und behandlungsbedürftig (vgl. ebd., S. 13). In den sogenannten permissiven Gesellschaften; toleranten Gesellschaften, sind sexuelle Normen dagegen sehr weit gefasst, sodass viele Varianten zugelassen sind (vgl. ebd.). Heutzutage wird allmählich von dem binären Verständnis der sexuellen Orientierung (entweder Homo- oder Heterosexuell) abgewichen (vgl. Skowron, 2016, S. 42). Mittlerweile wird in unserer Gesellschaft eine sexuelle Vielfalt gelebt, womit vermehrt akzeptiert wird, dass Menschen unterschiedliche sexuelle Orientierungen haben, für deren Beschreibungen eine Menge verschiedener Begriffe bereitstehen, wie beispielsweise Asexualität, Bisexualität oder auch Pansexualität (vgl. Könnecke & Klesch, 2020). Ebenso werden unterschiedliche Formen sexueller beziehungsweise geschlechtlicher Identität gelebt, wie Transsexualität, Transgender und Intersexualität, welche ebenfalls unter dem Begriff der sexuellen Vielfalt zusammengefasst werden (vgl. Frank-Bögner, 2019). Im Zusammenhang mit sexueller Vielfalt wird häufig die Abkürzung LSBTTIQ (in einigen Fällen auch einfach nur LSBT) verwendet, welche sich ursprünglich im englischen Sprachraum zusammengesetzt (vgl. Marneke, 2019, S. 8) und sich in diesem Jahrhundert als Sammelbegriff für Menschen durchgesetzt hat, die außerhalb der heterosexuellen und zweigeschlechtlichen Norm stehen. Die einzelnen Buchstaben der Abkürzung stehen für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer (vgl. Plötz & Reusch, 2020). Obwohl die unterschiedlichen Formen der Sexualität oder geschlechtlichen Identität heute von einigen Menschen gelebt werden und hierfür eine anerkannte Abkürzung bereitsteht, erfahren diese Menschen nach wie vor Ausgrenzungen und Diskriminierungen, was es vielen Menschen schwer macht, ihre eigene Sexualität und geschlechtliche Identität zu akzeptieren und offen zu leben (vgl. Frank-Bögner, 2019).

2.3.2. Sexualität im Jugendalter

In Deutschland gehören seit Bestehen der Bundesrepublik sexuell aktive Jugendliche zu einer gesellschaftlichen Normalität. Heute sind Jugendliche sexuell deutlich früher aktiv, als noch vor 30 Jahren (vgl. Sielert, 2013, S.159). Die Lebensphase Jugend ist wesentlich durch eine Vielfalt an Zugehörigkeiten, Identitäten und Orientierungen gekennzeichnet. Neben der Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz und der Bewältigung der Anforderungen in der Schule, stehen die Jugendlichen vor den Entwicklungsschritten wie der Entwicklung eines inneren Bildes von der eigenen sexuellen Identität und des Ausprobierens und Eingehen von Partnerschaften (vgl. Krell & Oldemeier, 2015). Jugendsexualität spiegelt gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, Stimmungen, Meinungen sowie den Zeitgeist einer Epoche wider, sodass die Sexualität neben der persönlichen Entwicklung auch immer von gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst wird (vgl. Krause, 2009, S. 6) und zur Folge hat, dass die Jugendlichen dieser Tage gefordert sind, sich innerhalb verschiedener Rahmenbedingungen zu positionieren. Inner- und außerhalb der Familie müssen sie ihren Platz finden. Inbegriffen sind hier die Autonomieentwicklung und die Loslösung von den Eltern, eine Konfrontation mit den vielen möglichen Beziehungsmustern, sowie mit einer nahezu allgegenwärtigen Sexualität und unterschiedlichen Vor- und Leitbildern (vgl. ebd., S. 9).

Bezüglich der Sexualität bestehen in der Gesellschaft nach wie vor unterschiedliche Wahrnehmungen und Haltungen. Auf der einen Seite wird die Vielfalt akzeptiert, was auf ein neues Verständnis und eine neue „Normalität“ sexueller und geschlechtlicher Vielfalt hindeutet und auf der anderen Seite verstärken sich erneut konservative Standpunkte, die an heteronormativen Vorstellungen und Zweigeschlechtlichkeit festhalten. Wenn die geschlechtliche Identität oder das sexuelle Begehren der Menschen nicht dieser Norm entsprechen, werden diese immer noch als Andere oder Abweichende gesehen und sind gesellschaftlichen Exklusionsrisiken ausgesetzt (vgl. Krell & Oldemeier, 2015).

3. Normalismus

Mit der OKJA werden Kindern und Jugendlichen Räume geschaffen, in denen sie zum einen ihre Freizeit verbringen und auf ihre Freunde treffen können, und zum anderen Orientierungshilfen für ihre schulische, berufliche aber auch persönliche Entwicklung durch den Austausch mit anderen jungen Menschen und den Sozialarbeiter_innen oder die Angebote der Einrichtung bekommen können (vgl. Chaikhoun, o.J.). Diese Orientierungshilfen und Möglichkeiten des Austauschs, welche einen Teil der Beratung darstellen können, werden in der OKJA unter anderem durch die Angebote der Tür- und Angelgespräche geboten, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, in den Sozialarbeiter_innen Berater_innen für ihre Probleme und Anliegen zu finden. Das Themenspektrum orientiert sich hierbei an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen, weshalb auch Themen bezüglich der Sexualität hiervon nicht ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang macht SIELERT (2015) darauf aufmerksam, dass Sozialarbeiter_innen erheblich zur Selbstannahme verschiedener Geschlechtsidentitäten oder sexueller Orientierungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beitragen können (vgl. Sielert, 2015, S. 94, zitiert nach Marenke, 2019, S. 2), weswegen sexualpädagogische Angebote auch in der OKJA ihren Platz finden (vgl. Thömmes & Brand, 2013, S. 799).

Auf die Bedeutungsentwicklung der Sexualität blickend wird deutlich, dass sich nicht nur der Umgang mit der Sexualität verändert hat, sondern auch dass diesbezüglich Normen bestanden, die vereinzelnd auch heute noch bestehen und kulturelle sowie gesellschaftliche Unterschiede aufweisen (vgl. Vetter, 2007, S, 9). Dennoch wird sich allmählich von diesen Normen und Normalitätsvorstellungen gelöst, sodass vermehrt eine sexuelle Vielfalt gelebt wird. Um verstehen zu können wie Normen und Normalitäten und somit auch sexuelle Normen und Normalitäten entstehen, wird im folgenden Kapitel dargestellt, was Normen sind und wie Normalität produziert wird.

3.1 Normen

Normen begründen in der Theorie Wissenschaft, Technik, Sprache, Logik und sämtliche anderen Bereiche durch Ordnungsschemata, festgesetzte Reihenfolgen und spezifische Regeln (vgl. Leufke, 2016, S. 12). Bei Normen handelt es sich um einen aus der Soziologie stammenden, allgemeinen Grundbegriff. Sie sind als eine Form der Verhaltensregulation zu verstehen, die bereits über Prozesse der Sozialisation gelernt und übernommen werden und ohne jene Interaktionen und gesellschaftliches Leben undenkbar sind (vgl. Groenemeyer, 2017, S. 604). Normen sind unterschiedlichen Ursprungs und konstituierten Weltbilder, die jeweils als absolut und selbstverständlich angesehen werden (vgl. Leufke, 2016, S. 14). Allen Normen ist daher gemeinsam, dass sie die Menschen in zwei Gruppen einteilen und zwar in diejenigen, die sich den Normen anpassen und somit als die „normalen Menschen“ gelten und diejenigen, die von diesen Normen abweichen und folglich als die „nicht normalen“ oder „devianten Menschen“ gelten (vgl. Vetter, 2007, S. 13). In ihrer klassischen Form bezeichnen Normen Verhaltensanforderungen beispielsweise als Gebote oder Verbote für bestimmte, wiederkehrende Situationen. Wirksam werden sie durch verschiedene Formen von sozialer Kontrolle, weshalb die Definition von Normen häufig auch an die Existenz von Sanktionen gebunden ist, welche aber wiederum selbst normativen Regelungen unterliegen (vgl. Groenemeyer, 2017, S. 604).

Normen treten in unterschiedlichen Formen auf, wie beispielsweise als Recht (Rechtsnorm) oder als Verhaltenserwartung in der Interaktion. Durch sie wird typisches Handeln für bestimmte Situationen festgelegt, welches über die in ihnen herrschenden Normen definiert werden kann. In verschiedenen Situationen nehmen die handelnden Personen unterschiedliche Positionen ein, welche dem Handeln als Bündel normativer Verhaltenserwartungen Sinn geben, Handlungssicherheit, erwartbare Regelmäßigkeiten im Handeln und soziale Integration erzeugen. Dennoch variiert der Inhalt der Verhaltensforderungen je nach Situation, sodass nahezu keine Norm gefunden werden kann, die immer, überall und für jede Situation Gültigkeit für sich beanspruchen kann. Gleichwohl gibt es allgemeine Normen, die zu einer bestimmten Zeit und Situation als allgemein verbindlich angesehen werden und in Bezug zu gesellschaftlichen Wertvorstellungen stehen. Normen treten den Individuen in dieser Vorstellung als äußere Macht und als gesellschaftlicher Zwang gegenüber, die ihnen eine Anpassung unausweichlich macht (vgl. ebd., S. 605).

Aus juristischer Sicht entsprechen Normen einem Imperativ, unter welchen „normative“ Verhaltensvorschriften in Form von Geboten oder Verboten zu verstehen sind. Normen stellen in der Praxis sowohl rechtliche als auch moralische Grundsätze dar, die Gesellschaftsmitglieder oder auch die Gesellschaft als Ganzes zu einem bestimmten Tun auffordern. Rechtsunterworfene Gesellschaftsmitglieder werden durch rechtliche, präskriptive Normen, die einen „Du sollst“- Charakter haben, zur Befolgung einer Rechtsnorm verpflichtet (vgl. Leufke, 2016, S. 13). LINK zufolge handelt es sich bei Normen um explizite oder implizite, durch Sanktionen verstärkte Regulative, die material oder formal bestimmten Personengruppen ein bestimmtes Handeln vorschreiben. Daher sind Normen dem Handeln stets prä-existent (vgl. Link, 2006, S. 254).

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Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Die Sexualberatung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Zusammenhang und Herausforderungen
Untertitel
Wenn Normalismus auf Diversity in der Sozialen Arbeit trifft
Hochschule
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie - Das Rauhe Haus
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
63
Katalognummer
V975060
ISBN (eBook)
9783346317858
ISBN (Buch)
9783346317865
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Diversity, Diversität, Normal, Normalismus, Soziale Arbeit, OKJA, Vielfalt, Jürgen Link
Arbeit zitieren
Cindy Klein (Autor:in), 2020, Die Sexualberatung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Zusammenhang und Herausforderungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/975060

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