Arbeitsteilung und Moral. Emilé Durkheim über das Wesen von sozialem Austausch.


Seminar Paper, 1998

11 Pages


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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Gesellschaftstheorie Emile Durkheims
1.1. Der Ausgangspunkt der Beobachtung: Anomie
1.2. Die segmentäre Gesellschaft
1.3. Die organisierte Gesellschaft

2. Die Vertragssolidarität als ,,eine der bedeutends- ten Spielarten der organischen Solidarität"
2.1. Die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus Herbert Spencers
2.2. Vertragsbeziehungen

Zusammenfassung

Einleitung

Im Werk Emile Durkheims (1858-1917) nimmt die Auseinandersetzung mit Fragen der Moral einen zentralen Stellenwert ein.1 Durkheims 1893 erschienene Dissertation ,,Über Soziale Arbeitsteilung" gilt diesbezüglich als die umfassendste Arbeit. Sie stellt den Versuch dar, eine Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Situation vorzunehmen, was bereits aus dem Untertitel ,,Studie über die Organisation höherer Gesellschaften" erkennbar ist. Die Herausforderung, ein Konzept über die Ursachen der drängenden Probleme seiner durch politische Turbulenzen und die Folgen der Industriellen Revolution in der Tat bewegten Zeit zu finden, ist sicherlich eine Triebfeder für das Zustandekommen der ,,Arbeitsteilung" gewesen.2 Das krisenhafte Erleben dieser nach Lösungsvorschlägen verlangenden Prozesse war ein weitverbreitetes Phänomen, dem nicht nur von wissenschaftlicher Seite lebhaft begegnet wurde. So waren beispielsweise die Kulturkritik in Deutschland oder der Beginn der Lebensreformbewegung im wesentlichen Entgegnungen auf die sozialen Probleme der Zeit. Daß der Grad der Arbeitsteilung für die Erklärung sozialer Phänomene relevant sein kann, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts im wesentlichen von Karl Bücher, Georg Simmel und von Durkheim erkannt worden.3 Die Ausprägung sozialer Erscheinungen in ihren Abhängigkeiten vom System der Arbeitsteilung darzustellen, ist auch zentraler Gegenstand des behandelten Buches.

Durkheims Bedeutung liegt ferner in seiner methodischen Vorgehensweise, die explizit soziologisch ausgelegt ist. Er leitet die entscheidenden Aussagen seiner Gesellschaftsanalyse gemäß seinem Anspruch, soziale Phänomene nur durch Soziales zu erklären,4 ausschließlich aus der Untersuchung gesellschaftlicher Bedingungen - wie sie Moral, Rechtssystem oder der Grad der Arbeitsteilung darstellen - her. Sein soziologischer Anspruch tritt auch in der Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus Herbert Spencers hervor, dessen individualistische Gesellschaftstheorie Durkheim angreift. Wie sich zeigen wird, kommt der Diskussion um die Funktion von Austauschprozessen dabei eine zentrale Rolle zu. Bevor ich im zweiten Teil der Arbeit auf diese Problemstellung eingehe, wie Durkheim sie im wesentlichen im siebenten Kapitel seines Buches behandelt, soll zuvor einführend die Gesellschaftstheorie Durkheims umrissen werden, die auch für alle weiteren Betrachtungen den Rahmen abgibt.

1. Die Gesellschaftstheorie Emile Durkheims

1.1. Der Ausgangspunkt der Beobachtung: Anomie

Müller schreibt es Durkheims ,,tiefem moralischen Krisenbewußtsein"5 zu, seine Arbeit in den Dienst der Entwicklung einer ,,neuen Moral" zu stellen. Man kann davon ausgehen, daß die oben genannten sozialen Probleme und politischen Unwägbarkeiten in ihm die Gewißheit schufen, die zeitgenössische Gesellschaft befände sich im Zustand eines aus dem Lot gekommenen Sozialgefüges. Dieser Zustand, den es zu überwinden gilt, wird mit dem Begriff der Anomie benannt. Anomie ist ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand. In einer Gesellschaft ist sie ,,überall dort unmöglich, wo die solidarischen Organe in hinreichendem und genügend langem Kontakt miteinander stehen."6 Durkheim ist der Überzeugung, daß es sich auch um die seinerzeit herrschende Anomie so verhält und daß sie in der Hauptsache der Radikalität der vor sich gehenden Entwicklung geschuldet sei. Die weitreichenden gesellschaftlichen Transformierungsprozesse hatten seiner Auffassung zufolge ein altes Sozialgefüge aus dem Gleichgewicht gebracht, bevor noch ein neues eine gewisse Stabilität wiedererreichen konnte.

1.2. Die segmentäre Gesellschaft

Durkheims Theorie postuliert zwei Gesellschaftstypen, von denen in den sich entwickelnden modernen Industriegesellschaften der eine den anderen im Laufe der Zeit abgelöst hat. Sein Konzept benennt den älteren, zugleich primitiveren Gesellschaftstypus als segmentären Typ, den man in archaischen Gesellschaften beobachten kann. Die Gesellschaft setzt sich aus einander gleichenden Segmenten zusammen. Die Familienstrukturen der Stammesgesellschaft, die aus einzelnen Klans und Horden besteht, sind beispielgebend. Starke Ähnlichkeit zeichnet die einzelnen Segmente aus. Sie sind funktional noch nicht ausdifferenziert, der Grad der Arbeitsteilung ist gering. Auch unter den Mitgliedern der archaischen Gesellschaft selbst besteht weitgehende Gleichheit, was sowohl für ihre eigene als auch für die moralische Verfaßtheit der Gesamtgesellschaft prägend ist. Kennzeichen dieser Gleichheit ist das ausgeprägte Kollektivbewußtsein der Individuen archaischer Gesellschaften. D.h., das Bewußtsein jedes Einzelnen stellt im Grunde ein Abbild der einheitlichen Moralvorstellungen der Gesellschaft dar.

Jede sich im Gleichgewicht befindende Gesellschaft hat ihre entsprechende Moral, die die Funktion hat, die soziale Ordnung zu sichern. Den moralischen Charakter der jeweiligen Gesellschaftsform bringt Durkheim mit dem Begriff der ,,Solidarität" zum Ausdruck. In der segmentierten Gesellschaft herrscht das Prinzip der ,,mechanischen Solidarität". Ihr Wesen wird bei der Betrachtung des juristischen Apparates deutlich. Moral und Solidaritätsformen finden in einer Gesellschaft ihren offensichtlichsten Ausdruck in dem ihnen entsprechenden Strafsystem, denn ,,die Verpflichtungen, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, nehmen, wenn sie nur einige Bedeutung und Dauer haben, eine Rechtsform an."7

Mechanischer Solidarität entspricht ein repressives Strafrecht, d.h. aufgrund des ausgeprägten Kollektivbewußtseins werden Regelverstöße in diesen Gesellschaften zugleich als Angriff auf das Wertefundament der Gesamtgesellschaft gedeutet, hart bestraft und somit das Kollektivbewußtsein in seiner Geltung bestätigt.

1.3. Die organisierte Gesellschaft

Wodurch wird nun der segmentäre Gesellschaftstyp abgelöst? Durkheim führt vor allem sozialstrukturelle Gründe ins Feld. Eine steigende Zahl der Bevölkerung, die gemäß der Darwinschen Evolutionslehre verstärkten Kampf ums Dasein nach sich zieht, steuert auch die gesellschaftliche Organisation von Arbeit. Sozioökonomische Faktoren, die mit steigender Bevölkerungszahl eine gewisse Ausprägung annehmen (verbesserte Infrastruktur, Urbanisierung etc.), steigern den Zwang zur Differenzierung und damit vor allem den Grad der Arbeitsteilung.8 Es kommt zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, beispielsweise in Berufsgruppen, und zu Interdependenzen zwischen den ausdifferenzierten Teilen. Es gibt nun kein allen gemeinsames Kollektivbewußtsein mehr, denn das einzelne Individuum kann nicht mehr wie noch in der segmentierten Gesellschaft ein Abbild des Kollektives sein, da die einzelnen Gesellschaftsmitglieder in der aufgefächerten Struktur der Lebensbereiche je unterschiedlichen Sphären zugewiesen sind und sich folglich nicht mehr in jedem Punkt gleichen. In den durch Arbeitsteilung entstandenen sozialen ,,Organen" bilden sich Ungleichheiten auch in moralischer Hinsicht. Die Berufsethik eines Landwirtes beispielsweise unterscheidet sich von der eines Industriearbeiters. Das hat zur Folge, daß sich die Qualität gesellschaftlichen Zusammenhalts ändern und anstelle der mechanischen Solidarität eine neue Form treten muß - die ,,organische Solidarität". Im Strafrecht wird den veränderten Gegebenheiten Rechnung getragen. Regelverletzungen gelten nun nicht mehr als Angriff auf ein nicht mehr existentes einheitliches Wertegefüge. Demzufolge wird auch nicht mehr die Persönlichkeit global sanktioniert. Das der organischen Solidarität entsprechende restitutive Recht ist in der Lage, differenziert zu urteilen. Es ist vorrangig auf Wiedergutmachung ausgerichtet. Durkheim findet die Züge restitutiven Rechts in den Gesetzbüchern moderner Staaten schon ausgeprägt, stellt aber auch fest, daß die organische Solidarität als moralisches Prinzip der organisierten Gesellschaft zur Zeit noch nicht in genügendem Maße fundiert ist. Noch herrschen vielerorts anomische Zustände. Die mangelnde Integrationskraft der modernen Gesellschaft resultiert letztlich aus der ihr noch fehlenden Moral. Die ,,organische Solidarität" muß sich erst durchsetzen, um das gesellschaftliche Gleichgewicht wiederzuerreichen. Durkheims Werk, das noch einen ausgewiesenen sozialreformerischen Anspruch hat, schließt mit Blick auf die zeitgenössische Situation mit den Worten: ,,Wichtig ist, daß diese Anomie endet und daß man die Mittel zur Herstellung eines harmonischen Zusammenspiels derjenigen Organe findet, die sich noch unharmonisch aneinander stoßen ... Unsere erste Pflicht besteht heute darin, uns eine neue Moral zu bilden."9

Die heutige Durkheim-Rezeption bemängelt vor allem, daß die eng miteinander vernetzten Zentralbegriffe Kollektivbewußtsein, Arbeitsteilung und Solidarität in eine Kausalkette gebracht werden, die als solche nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist.10 Die Autoren Müller und Schmid liefern ein diesbezüglich gut handhabbares Schaubild, das ich an dieser Stelle einfügen möchte:

G1: SD KB MS RPR I

G2: FD AT OS RSR I

Bedingungsfolge bei E. Durkheim nach M ü ller / Schmid 11

Abkürzungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2. Die Vertragssolidarität als ,,eine der bedeutendsten Spielarten der organischen Solidarität"

2.1. Die Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus Herbert Spencers

Der Sozialphilosoph Herbert Spencer (1820-1903) ist in Durkheims ,,Arbeitsteilung" der meistzitierte Autor. Rüschemeyer weist nach, daß Durkheims Thesen weitgehend mit denen Spencers korrespondieren, ja zu großen Teilen sogar direkt auf dessen Ideen basieren. ,,Beide wollten die Sozialformen der Moderne verstehen, und beide suchten nach moralischer Orientierung auf der Basis dieses Verständnisses."12 Durkheims Beschreibung der homogenen Sozialstruktur historisch älterer Gesellschaften finden sich bereits bei Spencer; dieser weist ebenfalls schon vor Durkheim auf den organischen Charakter moderner Gesellschaften hin.13 Dennoch unterscheiden sich beide Autoren in ganz wesentlichen Punkten. So mangelt es in der ,,Arbeitsteilung" nicht an heftiger Kritik gegenüber Herbert Spencer. Bei der Frage nach den Gründen gesellschaftlichen Zusammenhalts beispielsweise vertreten beide gänzlich unterschiedliche Grundpositionen. Es sind hierbei vor allem Auffassungen Herbert Spencers, die seine Sozialtheorie als utilitaristisch ausweisen, welche von Durkheim bekämpft werden. In Spencers Gesellschaftsideal kommt dem freien, unabhängig handelnden Individuum absolute Priorität zu. Der gemäß utilitaristischen Vorstellungen handelnde Mensch richtet sein Leben nach nützlichen Kriterien ein und vertritt souverän seine Interessen in einer Gesellschaft, die diesem Persönlichkeitsideal entspricht und dem Menschen von daher auch erstrebenswert erscheinen muß. Menschliche Vergesellschaftungen sind in den Worten Spencers ,,aggregate results of the desires of individuals who are severally seeking satisfaction"14.

Es erscheint nicht verwunderlich, daß Spencer mit Vorstellungen dieser Art gerade bei Emile Durkheim auf strikte Ablehnung trifft. Durkheims Gesellschaftsauffassung, der nicht selten Überhöhung gesellschaftlicher Determination menschlichen Handelns vorgeworfen worden ist15, fällt bekanntlich anders aus. Der Einschätzung Rüschemeyers ist sicherlich zuzustimmen: ,,Die Gesellschaft ist für Durkheim mehr als bloßes Instrument individueller Bedürfnisbefriedigung, mehr als die Resultante individueller Nutzenkalküle."16 Diese Einstellung entspricht im übrigen auch Durkheims Programm der Soziologie, die vornehmlich durch ihn in seinem Land zum Durchbruch gelangte.

2.2. Vertragsbeziehungen

Die Auseinandersetzung mit utilitaristischen Vorstellungen spielt bei Durkheims auch dort eine gewichtige Rolle, wo es um die soziale Funktion von Vertagsbeziehungen geht. Prozesse des Austausches sind im Zuge der Entwicklung der Arbeitsteilung von einiger Bedeutung, wenngleich ihnen Durkheim eine andere Relevanz beimißt als Herbert Spencer. Beide stimmen noch darin überein, daß die Teilung der Arbeit zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher, oft voneinander abhängiger Gesellschaftsbereiche führt und Tauschvorgänge im Verlauf dieses Prozesses häufiger werden.17 Daraus resultieren zunehmende soziale Kontakte - sogenannte soziale Bande werden geknüpft. Bei Herbert Spencer beruhen nun die Prinzipien gesellschaftlichen Zusammenhalts wesentlich auf der Annahme, daß die Häufigkeit von Tauschprozessen den Integrationsgrad der modernen Gesellschaft beeinflußt. Durch die zunehmende Fülle privater Verträge wird sich das zweckorientierte Individuum seiner sozialen Umgebung, das heißt in Spencers Sinne vor allem, der Unentbehrlichkeit seiner Vertragspartner bewußt. Der Zusammenhalt moderner Gesellschaften steht und fällt also mit der Häufigkeit von Tauschprozessen.

Hier provoziert Spencer Durkheims entschiedenen Widerspruch. Durkheims Auffassung nach kann der Tausch als Vertrag allein nie gesellschaftsstiftend sein, da er in erster Linie Ausdruck egoistischer Interessen ist. Da Interessenlagen divergieren, können durch sie geknüpfte soziale Bande in der Regel nur von geringer Beständigkeit und kurzer Dauer sein. Eine auf dem ,,unermeßlichen System privater Verträge"18 beruhende Gesellschaft wäre folglich die denkbar instabilste, denn ,,das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige in der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbünden, morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind."19 Durkheims Aussage, die ,,Gesellschaft wäre, mit einem Wort, nur die Zusammenfassung von Individuen, die die Produkte ihrer Arbeit austauschen, ohne daß im eigentlichen Sinne ein soziales Handeln diesen Austausch regelte"20, bringt seine Kritik am utilitaristischen Menschenbild auf den Punkt und deutet bereits an, wohin seine Vorstellungen vom Wesen der Vertragsbeziehungen zielen. Da sich Verträge nicht allein genügen und die sich auf sie gründende Solidarität ,,nur eine höchst gebrechliche"21 ist, muß eine soziale Kraft zu ihrer Regulierung vorhanden sein, die den konfliktfreien Austausch garantiert.22 Die Ausbildung der organisch strukturierten Gesellschaft fördert den Austausch, verlangt aber zugleich nach einer ihn regelnden Instanz. Durkheim bringt im Verlauf seiner Argumentation Analogien aus Biologie und Medizin bei, um diesen evolutionären Vorgang in seiner Prozeßhaftigkeit zu belegen. Bei der im Zuge der Philogenese fortschreitenden Ausdifferenzierung unterschiedlicher Organe kommt der Ausprägung des Gehirns als der den transorganen Stoffkreislauf überwachenden Instanz bei Wirbeltieren eine immer immensere Bedeutung zu. Er überträgt dieses biologistische Modell auf gesellschaftliche Phänomene, wenn er dem Staat einen ebenfalls zunehmenden Stellenwert bei der Koordination gesellschaftlichen Austausches zuschreibt.23 Wesentlich ist m.E. dabei die Erkenntnis, daß Verträge gesellschaftlicher Intervention unterliegen, d.h. in modernen Gesellschaften über ein ausgeprägtes Rechtssystem staatlich gesteuert werden: ,,Nicht alles ist vertraglich beim Vertrag"24 - dem Individuum sind in seiner Tauschtätigkeit Grenzen gesetzt, die den reibungslosen und möglichst gerechten Tauschverkehr garantieren sollen. Das soll heißen, daß der Tausch in einer funktionierenden Gesellschaft moralisch gebunden ist.

In der Vertragssolidarität organischer Gesellschaften muß sich diese Moral dereinst - nach Überwindung anomischer Verhältnisse - manifestieren. Das sich ausdifferenzierende Rechtssystem, die wachsende Rolle des Staates, die Durkheim in den modernen Gesellschaften beobachtet, weisen bereits in die entsprechende Richtung. In der arbeitsteiligen Gesellschaft muß die Moral zudem individuell verinnerlicht werden. Das stellt an den Einzelnen hohe Ansprüche. Nicht immer werden die Einzelinteressen in den aufgefächerten gesellschaftlichen Bereichen einander gleichen. Die Moral der arbeitsteiligen Gesellschaft muß nach Durkheims Ansicht darin bestehen, aus der Einsicht in die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Koordinierung die Bereitschaft zu entwickeln, den Individualinteressen Opfer zu bringen. Nur so wird ein solidarischer Zusammenhalt der unterschiedlichen gesellschaftlichen Organe möglich. Der Altruismus, verstanden als Einfühlungsvermögen in den sich nunmehr verschiedener denn je präsentierenden Anderen, wird demnach ein wichtiger Wesenszug des Menschen sein müssen.25 Die Fähigkeit zu altruistischem Handeln bezeichnet Durkheim sogar als ,,Grundlage [...] unseres sozialen Lebens."26 Jenes entspringt heute nicht mehr, wie in den eingangs skizzierten archaischen Gesellschaften, der Gleichheit der Bewußtseinszustände, sondern der Teilung der Arbeit.27

Durkheim ist sich gewiß, daß eine Gesellschaft in der Lage ist, auch unter derart veränderten Umständen eine Moral hervorzubringen, die ihren Zusammenhalt garantiert. Zur Bedeutung dieser neuen Moral resümiert er am Ende des siebenten Kapitels wie folgt: ,,[Die Regeln] verpflichten das Individuum zum Handeln in Hinblick auf Ziele, die nicht seine Ziele sind, zu Konzessionen, zu Kompromissen, zur Berücksichtigung höherer Interessen als seiner eigenen. Selbst dort, wo die Gesellschaft völlig auf Arbeitsteilung beruht, löst sie sich folglich nicht in eine Wolke von isolierten Atomen auf, zwischen denen es nur äußerlich und vorübergehende Kontakte geben kann. Die Mitglieder sind vielmehr untereinander durch Bande verbunden, die weit über diese allzu kurzen Augenblicke hinausgehen, in denen sich der Austausch vollzieht."28

Zusammenfassung

Durkheims Auseinandersetzung mit Wesen und Funktion gesellschaftlicher Austauschprozesse sind Teil seiner Gesellschaftstheorie. Er zeigt, daß moderne Gesellschaften, deren Sozialität der Teilung der sozialen Arbeit entspringt, auf die Ausbildung einer Moral angewiesen sind, die den Erfordernissen der sich neu formierenden sozioökonomischen Verhältnisse entspricht. Durkheim weist nach, daß dauerhaft konfliktlose Austauschprozesse nur in derjenigen Gesellschaft möglich sind, die über eine funktionierende moralische Ordnung verfügt. Wer ehrlich tauscht, agiert vor dem Hintergrund eines sozialen Regelsystems. Fehlen die moralischen Rahmenbedingungen für den konfliktlosen Austausch, wird der Tausch riskant, was auf die Gesellschaft eine destabilisierende Wirkung hat. So wird verständlich, daß Durkheim die Vertragssolidarität auch als ,,eine der bedeutendsten Spielarten der organischen Solidarität"29 bezeichnet.

Literatur

Bernsdorf, Wilhelm; Knospe, Horst (Hg.): Internationales Soziologenlexikon. Bd. 1: Beiträge über bis Ende 1969 verstorbene Soziologen. Stuttgart 1980.

Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt / Main 1992.

Luhmann, Niklas: Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie. In: Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt / Main 1992, S. 19-40.

Müller, Hans-Peter; Schmid, Michael: Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche Einführung in die ,,Arbeitsteilung" von Emile Durkheim. In: Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt / Main 1992, S. 481-521.

Müller, Hans-Peter: Gesellschaft, Moral und Individualismus. Emile Durkheims Moraltheorie. In: Bertram, Hans: Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Frankfurt / Main 1986, S. 71-103.

Rüschemeyer, Dietrich: Spencer und Durkheim über Arbeitsteilung und Differenzierung: Kontinuität oder Bruch? In: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opladen 1985, S. 163-180.

Sieburg, Heinz-Otto: Geschichte Frankreichs. Stuttgart, Berlin, Köln 1989.

[...]


1 Vgl. Müller, S. 71.

2 Die typischen Probleme um die Jahrhundertwende, die in Europa im Zuge der Industrialisierung auftraten und in Deutschland als ,,Soziale Frage" behandelt wurden, traten auch in Frankreich auf, wenngleich auf ökonomischem Sektor in abgeschwächter Weise (vgl. Sieburg, S. 364 f.). In Frankreich wirkte insbesondere die politische Lage beunruhigend, die seit der Französischen Revolution permanent wechselvollen Einflüssen unterlegen war und um die Jahrhundertwende in der Dreyfus-Affäre zu heftigen Spannungen geführt hatte (vgl. Müller, S. 99 f.).

3 Vgl. Bornschier, S. 440.

4 Vgl. Bernsdorf / Knospe, (Hg.): S.105.

5 Müller, S. 71.

6 Vgl. Durkheim, S. 437.

7 Ebd., S. 261.

8 Zunehmende Konkurrenz muß dabei nicht zwangsläufig gesellschaftliche Arbeitsteilung nach sich ziehen. Denkbar ist schließlich auch der gegenteilige Fall, daß sich Konkurrenz gerade in egoistischer Weise äußert. Durkheim trägt diesem Einwand nur insofern Rechnung, als daß er das Ausbleiben integrativer Effekte als eine der Hauptgefahren für Anomie anerkennt. Vgl. Rüschemeyer, S. 168.

9 Durkheim, S. 480.

10 Vgl. Luhmann, S. 24 ff.

11 Müller / Schmid, S. 512.

12 Rüschemeyer, S. 171.

13 Vgl. ebd., S. 170.

14 Spencer, Herbert: The Man versus the State. Zit. nach Rüschemeyer, S. 171. Müller / Schmid weisen in einer Fußnote darauf hin, daß die Bandbreite utilitaristischen Denkens häufig zu Unrecht auf derlei einfache, sicherlich leicht zu kritisierende Formeln gebracht wird. Intensivere Auseinandersetzung mit Vertretern des Utilitarismus wäre für eine umfängliche Beurteilung dieser Geistesströmung freilich unumgänglich.

15 Vgl. Müller, S. 100.

16 Rüschemeyer, S. 172.

17 Durkheim, S. 256, S. 263.

18 Ebd., S. 259.

19 Ebd., S. 260.

20 Ebd., S. 259.

21 Ebd., S. 270.

22 Ebd., S. 272.

23 Ebd., S. 275.

24 Ebd., S. 267.

25 Ebd., S. 285.

26 Ebd., S. 285.

27 Vgl. Durkheim, S. 283.

28 Durkheim, S. 284. Diese Passage erscheint mir auch in Hinblick auf eine abschließende Beurteilung von Spencers utilitaristischer Vorstellung vom Wesen des Tausches interessant.

29 Durkheim, S. 450.

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Details

Title
Arbeitsteilung und Moral. Emilé Durkheim über das Wesen von sozialem Austausch.
College
University of Potsdam
Author
Year
1998
Pages
11
Catalog Number
V97603
ISBN (eBook)
9783638960557
File size
432 KB
Language
German
Keywords
Arbeitsteilung, Moral, Emilé, Durkheim, Wesen, Austausch
Quote paper
Joachim Joe Scholz (Author), 1998, Arbeitsteilung und Moral. Emilé Durkheim über das Wesen von sozialem Austausch., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97603

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