Großstadtlyrik in Naturalismus und Expressionismus

"Großstadtmorgen" von Arno Holz und "Städter" von Alfred Wolfenstein im Vergleich


Dossier / Travail, 2019

14 Pages, Note: 1,0

Lana Karim (Auteur)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Großstadt als literarisches Motiv

3. Die Lyrik des Naturalismus

4. Der Expressionismus als Krisenreaktion

5. Vergleichende Gedichtanalyse
5.1. Großstadtmorgen (Holz)
5.2. Städter (Wolfenstein)
5.3. Vergleich

6. Fazit

1. Einleitung

Die Großstadt inspirierte Literaten schon seit der Entstehung dieser neuen Lebensräume im Zuge der Industrialisierung. Die Großstadt wurde im Zuge der Literaturgeschichte sowohl als Raum für Möglichkeiten, Entfaltung und Abenteuer wahrgenommen, wie auch als bedrohlicher, lebensfeindlicher Moloch, in dem die Massen im Elend leben. Und so vielseitig wie die Großstadt selbst ist auch ihre Darstellung in der Literatur. Dem will die vorliegende Arbeit am Beispiel der Darstellung der Großstadt in der Gattung der Lyrik um 1900 nachspüren. Verglichen werden soll die Art und Weise der Darstellung der Großstadt in den Epochen des Naturalismus (ca. 1880 bis 1900) und des Expressionismus (ca. 1905 bis 1925) am Beispiel zweier Gedichte: Großstadtmorgen (1886) von Arno Holz (Naturalismus) und Städter (1914) von Alfred Wolfenstein (Expressionismus). Leitend soll dabei die folgende Forschungsfrage sein: Auf welche Weise wird die Großstadt im Naturalismus, auf welche Weise im Expressionismus dargestellt - und worin unterscheiden sich diese beiden Darstellungsweisen?

Hierfür bedarf es zunächst einer kurzen und überblicksartigen Einführung die Geschichte der Großstadt als Motiv der Literatur (Kap. 2). Danach sollen schlaglichtartig die wesentlichen Merkmale der Epochen des Naturalismus (Kap. 3) und des Expressionismus (Kap. 4) beleuchtet werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus steht die Lyriktheorie von Arno Holz; der Expressionismus wird im Sinne von Anz (2010) als eine Reaktion auf eine epochenspezifische Krisenerfahrung verstanden. Das fünfte Kapitel widmet sich schließlich der vergleichenden Gedichtanalyse unter gegebener Fragestellung. Ein Fazit fasst zuletzt die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammen und gibt Ausblick auf weiterführende Fragestellungen.

2. Die Großstadt als literarisches Motiv

Spätestens seit der Umbruchsphase um 1900, der sogenannten Klassischen Moderne, ist die Großstadt als literarisches Motiv in nahezu allen Gattungen virulent.1 Dabei meint der Begriff Großstadt in diesem Kontext weitaus mehr, als lediglich eine Ansammlung vieler Menschen, Häuser und Verkehrsmittel, sondern bezeichnet ein soziokulturelles, demographisches und wirtschaftliches Phänomen, welches sich grundsätzlich von den Metropolen der Antike, des MIttelalters und anderer vorindustrieller Epochen unterscheidet:

“Aus einer Konzentration politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kräfte an einem Ort hervorgegangen, bildet die moderne Großstadt einen Mikrokosmos von intensiver, ganz eigener Strahlkraft. [...] Die Großstadt ist nicht einfach nur eine vergrößerte Stadt, sondern ein Erfahrungsraum von eigener Qualität.”2

Dies hängt vor allem auch damit zusammen, dass die Moderne Großstadt eng verknüpft ist mit zwei wesentlichen Entwicklungen der europäischen Moderne: Literatur wird im Zuge des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zu einem eigenständigen gesellschaftlichen Subsystem, einem “eigenständigen Kulturphänomen, dass sich nun, im Sinne einer Autonomie der Kunst, eigene Regeln setzt”, was konkret eine Loslösung von den ursprünglichen Zwecken der Kunst - Nachahmung der Natur (mimesis) und Erbauung - bedeutet.3 Zeitgleich sind die europäischen Metropolen auch Austragungsort der großen sozialen Emanzipationsbewegungen, zunächst des Bürgertums und schließlich, im Zuge der Industrialisierung, auch der neu entstandenen Arbeiterklasse, des Proletariats.4 In diesem Sinne kann die Großstadt als genuiner Lebensraum und Schauplatz der Klassischen Moderne verstanden werden: “Die moderne Großstadt und die [moderne, Anm. d. V.] Literatursind im Verständnis der Moderne gleichsam Geschwister, hervorgegangen aus der Emanzipationsbewegung der europäischen Aufklärung, beide mit neuer Freiheit versehen, deren Reiz und deren Risiko.”5 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Fokus des Interesses der vorliegenden Arbeit zur Literatur der Großstadt eben auf dieser Epoche liegen soll.

Die ersten und maßgeblichen literarischen Auseinandersetzungen mit der Modernen Großstadt fanden schließlich auch in der Gattung der Lyrik statt, womit nicht nur die weithin bekannte und gut erforschte expressionistische Großstaqdtlyrik gemeint ist, sondern auch ihre Vorläufern, wie der Naturalismus eines Arno Holz oder die Ästhetik des Hässlichen eines Charles Baudelaire.6 Lyrische Auseinandersetzungen mit Großstädten gibt es zwar schon seit der Antike,7 aber erst die Autonomisierung der Literatur und ihre Loslösung von jedweder Form der Regelpoetik im Zuge von Neuzeit und schließlich Moderne führen zu einer “Großstadtlyrik im engeren Sinne, die den jeweiligen Ort nicht nur poetisch einkreist, sondern auch die eigenen Kunstmittel dem Gegenstand entlehnt.”8

Frühe Großstadtdarstellungen in Gedichten orientieren sich hingegen noch an der romantischen Naturlyrik und versuchen deren Verfahren auf den neuen Gegenstand zu übertragen.9 Erst im Zuge des 19. Jahrhunderts rückte schließlich auch das Elend der Städte in den Fokus; beispielhaft ist hier Emile Verhaerens Gedichtzyklus “Les villes tentaculaires” (1896, dt.: Die tentakelhaften Städte) zu nennen, in welchem die aus Fabrik und Arbeit bestehenden Großstadtmoloche die Menschen in ihr Verderben ziehen.10 Das so umrissene Sujet wirkt im Zuge seiner literarischen Bearbeitung auch auf die einstmals “schöne” Gattung Lyrik zurück: “Durch die Darstellung der Großstadt gewinnt die Lyrik einen neuen, so gar nicht mehr ‘lyrischen’ Ton. Heftig und bizarr werden Bilder des Schreckens entworfen, die über ihre Inhalte, ‘Motive’ hinaus zu zu höchster Prägnanz kommen.”11

3. Die Lyrik des Naturalismus

Die Literatur des 19. Jahrhunderts war, und zwar nicht nur in Deutschland, von einem starken gesellschaftlichen Interesse geprägt: Dies galt sowohl für Vertreter des Bürgerlichen Realismus (von bis) wie Theodor Fontane als auch für die prägende Autoren dieser Zeit wie den Franzosen Emile Zola, der mit scharfem Blick das Pariser Kleinbürgertum analysierte und kritisierte. Von diesen Strömungen ließ sich der Naturalismus ebenso inspirieren, wie er sich auch von ihnen abzugrenzen suchte:

“Der Naturalismus, der in Deutschland in den 1880er Jahren begann und etwa zehn Jahre dauerte, im 20. Jahrhundert aber immer wieder als Darstellungsform auftauchte, stellt eine Gegenposiion zum Realismus dar, der seinen milden poetischen Glanz auch über die hässlichen, rohen, unbequemen Wirklichkeiten breiten wollte. Dagegen wenden sich die Naturalisten ausdrücklich den sozialen Themen der Großstadt zu und nehmen sich vor, soziale Verhältnisse ungeschminkt zu zeigen [...].”12

Der Naturalismus nimmt hier eine Gegenposition zu verklärender Literatur wie bspw. des Bürgerlichen Realismus ein: In “kämpferische[r] Opposition gegen die Welt des schönen Scheins”13 rückten sie “gesellschaftliche Schichten in den Wahrnehmungsfokus der Literatur, die vordem übersehen oder gezielt ausgeklammert worden waren: Fabrikarbeiter, Tagelöhner und Prostituierte”.14 Hintergrund für diese Veränderungen in der Literatur waren die massiven sozialen Umwälzungsprozesse des langen 19. Jahrhunderts.15 Um mit der als verlogen empfundenen Literatur des Bürgertums zu brechen, bedurfte es allerdings mehr, als lediglich eines Wechsels der Sujets: Während die Literatur des Realismus, des Biedermeier und der Gründerzeit sich im großen und ganzen der (Selbst-)repräsentation des Bürgertums widmete, ergriff der Naturalismus Partei für die neu entstandene Klasse des Proletariats. Als Beispiel hierfür kann Arno Holz’ Gedicht “An die oberen Zehntausend” gelten:

“Und wieder rollt nun sterbend ein Jahrhundert dem Abgrund zu, drin uns die Zeit verschlingt, und ihr seid immer noch nicht abgeplundert, nicht hinter die Kulissen abgehinkt? Wollt euch nicht länger freventlich vermessen, denn euer Lebensnerv ist abgestumpft, denn eure Kronen sind von Rost zerfressen und eure Stammbaumwälder sind versumpft. Ein neu Geschlecht, schon wetzt es seine Schwerter, schon webt die Sonne ihm den Glorienschein, und glaubt: es wird kein veilchenblauer Werther, es wird ein blutiger Messias sein!”16

Das “neu Geschlecht”, von dem die Rede ist, ist die neu entstandene Klasse des Proletariats, antizipiert wird hier, inspiriert von den Theorien und politischen Manifesten des Karl Marx, die Revolution des Proletariats. Die drohende Ankündigung, das bereits die Schwerter wetzende neue Geschlecht sei “kein veilchenblauer Werther”, eine Anspielung auf Goethe, kommt hier einer kämpferischen Absage an das Bürgertum gleich, die Gleichsetzung der revolutionären Arbeiterklasse lässt sich zudem auch als Kritik an dem immer noch mächtigen Christentum lesen. Grundsätzlich entnimmt der Naturalismus seine Sujets aber primär dem noch jungen Lebensraum Großstadt:

“Weder allegmeine Begleitphänomene der zunehmend voranschreitenden Industrialisierung (wie die einsetzende Massenproduktion von Lebensmitteln und Konsumgütern, die Entstehung von Metropolen bei gleichzeitiger Veränderung der überkommenen urbanen Strukturen, die Herausbildung einer eigenen Schicht von - oftmals proletarisierten Industriearbeitern) und Technisierung [...] noch spezifisch moderne, meist an den Lebensraum der Großstadt gekoppelte Erfahrungen (wie wachsende Kriminalität, Prostitution und Alkoholismus) fanden in nennenswertem Maß Eingang in die zeitgenössische Literatur, so dass diese von der nachwachsenden Generation von Autoren als überholt, rückwärtsgewandt und verlogen empfunden wurde.”17

Neben der Wahl neuer Sujets und einer von der bisherigen Literatur ihrer Zeit abweichenden politischen Positionierung machten sich die naturalistischen Schriftsteller auch auf die Suche nach neuen, adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten. Diese finden sie u.a. im “Sekundenstil”, dh. der detaillierten, eben sekündlichen Abbildung der Wirklichkeit sowie in der Einbeziehung von Umgangssprache, Dia- und Soziolekten mit dem Ziel einer nicht überformten, natürlichen Sprache und einer Simulation der mündlichen Rede.18 Hierhin spiegelt sich auch die Orientierung der Naturalisten an den wissenschaftlichen Revolutionen ihrer Zeit. So wird die lyrische Sprache des Arno Holz auch als eine Naturwissenschaftliche bezeichnet und zwar in dem Sinne, dass sie eine reine Abbildung der prosaischen Wirklichkeit anstebt, bspw. im Gegensatz zu einer romantischen Überhöhung: Das berühmte Kunstgesetz von Arno Holz lautet: “Kunst = Natur - x” und wurde entwickelt in seiner programmatischen Schrift “Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze” (1891/1893).19 Grundaufgabe der Kunst ist also die Mimesis, die Nachahmung der Natur. Dieser Anspruch bleibt Holz zufolge alleridngs deshalb immer nur ein Ideal, weil Material und künstlerische “Handhabung” für nie ganz zu überbrückende Distanz zwischen Kunstwerk und Natur sorgen. Freilich solle es Holz zufolge allerdings darum gehen, dieses “X” in der Kunstformel so gering wie möglich zu halten. Dies mündet allerdings auch in eine “fast vollständige Ausschaltung der künstlerischen Subjektivität”.20

[...]


1 vgl. Scherpe 1988: 13ff

2 Corbineau-Hoffmann 2003: 7ff

3 vgl. ebd.: 9

4 vgl. ebd.

5 ebd.: 10

6 vgl. ebd.: 129

7 vgl. ebd.: 7

8 vgl. ebd.: 129f

9 vgl. ebd.: 130ff

10 vgl. ebd.: 134

11 ebd.: 136

12 Jeßing/Köhnen 2007: S73f

13 Münchow 1968: S. 161

14 vgl. Benzel 2008: S. 59f

15 vgl. ebd.: S. 17ff

16 Holz 1970: S. 48

17 ebd.: S. 17

18 vgl. Bunzel 2008: S. 87

19 Holz 1891: 60

20 Neumeyer 1999: 173

Fin de l'extrait de 14 pages

Résumé des informations

Titre
Großstadtlyrik in Naturalismus und Expressionismus
Sous-titre
"Großstadtmorgen" von Arno Holz und "Städter" von Alfred Wolfenstein im Vergleich
Université
Free University of Berlin
Note
1,0
Auteur
Année
2019
Pages
14
N° de catalogue
V977579
ISBN (ebook)
9783346326812
ISBN (Livre)
9783346326829
Langue
allemand
Annotations
Ausführliche und gut lektorierte literaturwissenschaftliche Arbeit über die Lyrik des Naturalismus und Expressionismus. Und ebenso der Darstellung der Großstadt dort.
Mots clés
Naturalismus, Expressionismus, Moderne, Lyrik, Großstadt
Citation du texte
Lana Karim (Auteur), 2019, Großstadtlyrik in Naturalismus und Expressionismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/977579

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