Zu Heinrich Wittenwilers "Ring". Freilegung einer semantischen Tiefenschicht und Gattungsanalyse anhand des Theorems von der Karnevalisierung


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 1997

70 Pages, Note: Sehr gut


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Karnevalistische Strukturelemente im "Ring"
1.1. Vorbemerkungen: Zum Forschungsstand
1.2. Die Verwendung des Terminus 'Narr' und seiner Synonyme
1.3. Bertschi Triefnas - der Prototyp des Karnevalsnarren
1.4. Die non-lineare Struktur der erzählten Zeit des "Ring"und der traditionelle Verlauf des Karnevals
1.5. Aspekte der "verkehrten Welt" des Karnevalfestes
1.6. Die sprechenden Namen
1.7. Überlieferte Gestalten des Karnevals als Vorbilderzu literarischen Figuren Wittenwilers
1.8. Die Verleihung eines Narrenkönigtums und anderer Titel im "Ring"

2. Bachtins Konzept zur Karnevalisierung der Literatur als möglicher Schlüssel für die Neubewertung der Gattungszuordnung des "Ring"
2.1. Vorbemerkungen
2.2. Kurz-Einführung in die Literaturtheorie Bachtins
2.3. Die Karnevalisierung der Literatur und ihr früher Höhepunkt: "Der Ring"
2.4. Begriffspräzisierung der 'Groteske' bei Bachtin
2.4.1. Zur etymologischen Herleitung des Terminus
2.4.2. Bachtins semantische Ausdehnung des Terminus 'Groteske'
2.4.3. Die Besonderheiten des Darstellungsmodus der 'grotesken Körper'

3. Der groteske Körper im "Ring"
3.1. Das Maul als oberer Zugang zur Körperhölle
3.2. Wechselseitig sich verschlingende Leiber
3.3. Autonome Körperteile als erniedrigte Doppelgänger
3.4. Sex, Drugs and Rock 'n' Roll
3.5. Der Grotesk-Leib des Festgiganten

Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

Abstract zur Arbeit über den "Ring" Heinrich Wittenwilers

Die Arbeit versucht nachzuweisen, daß wittenwilers universelle Deutung "der welte lauff" zu einem Großteil nach den Ordnungskriterien des Karnevals funktioniert.

Dazu werden die vielen Anklänge des Textes an karnevalistische Festaktivitäten der Zeitgenossen wittenwilers aufgezählt und kategorisiert.

Die Arbeit zieht bachtins Literaturtheorie von der Karnevalisierung der Literatur in der Renaissance (v. a. bei Rabelais) heran und wendet diese auf den "Ring" an, da sich dies aufgrund der karnevalistischen Schreibweisen des spätmittelalterlichen Textes aus Gründen der Logik aufdrängt.

Durch das Knüpfen dieser Querverbindung und den daraus resultierenden Schlußfolgerungen versucht die Arbeit zur wissenschaftlichen Lösung der offenen Frage nach der Gattungszuordnung des "Ring" einen diskusionsfähigen Beitrag zu leisten.

Im wesentlichen geht die vorliegende Arbeit von der Hypothese aus, Wittenwilers Werk k ö nne als einheitlich erkannt und begriffen werden, vorausgesetzt, es gelinge, in jene tiefere Schicht vorzustossen, in welcher seine k ü nstlerische Koh ä sion sich manifestiert [...] [um im folgenden]1 die Frage aufzuwerfen, wie das vielfach schillernde, oft r ä tselhafte Werk zustande gekommen sei, welche Prinzipien es durchwalten, formen und zusammenhalten. 2

andreànszky:

Topos und Funktion

Einleitung

Nachdem die wissenschaftliche Welt des Westens den russischen Literaturwissenschaftler Michail M. bachtin (1895-1975) und seine spektakulären, mit den Methoden des Strukturalismus und des Formalismus operierenden Forschungsarbeiten3 auf dem Gebiet der Theorienbildung ab den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts 'entdeckt' und seine Texte vor allem im Ausland für Furore sorgen, bleibt die bachtin-Rezeption in der 'alten' Bundesrepublik bis zum Ende der achtziger Jahre einer wissenschaftlichen Minorität überlassen.4 Zu Beginn der neunziger Jahre wenden erstmals Mediävisten bachtins literaturtheoretische Ideen auf mittelalterliche Texte an.5 Dabei böte eine kritische Beschäftigung mit bachtins Ideen meines Erachtens überaus fruchtbare Perspektiven bei der Neubewertung mancher ins Pejorative verdrängter Textgattungen des ausklingenden Mittelalters wie beispielsweise der Fastnachtsspiele oder der immer wieder als Didaxe einseitig (beinahe selbst auf grotesk zu nennende Weise miß-) gedeutete Text "Der Ring" von Heinrich wittenwiler.6

Vor allem die Frage der Gattungszuordnung des "Ring" bleibt ein über Jahrzehnte ungelöstes wissenschaftliches Problem, an dessen Lösung nicht gearbeitet wird.7 Entweder drängt die Fachwissenschaft den "Ring" ab in den Bereich pejorativer Bewertung bzw. ignoriert ihn kurzerhand ganz, oder es befleißigen sich Germanistinnen und Germanisten im 'Überlesen' der für sie ethisch, ästhetisch und moralisch inakzeptablen oder schwer zuordenbaren Textpassagen,8 die bei wittenwiler allerdings Legion sind. Oft führt dies zu einer krassen Fehlbeurteilung (s. o.), da der Text in eine Reihe mit der mittelalterlichen Erbauungsliteratur als Lehrgedicht, Moral-, Negativdidaxe und als praktische Lebenslehre gestellt wird.9 Damit würdigt ein großer Teil der Fachwissenschaft die Besonderheit, die außerordentlich komische Qualität dieses Textes in keiner Weise. Mit tempozentrischen und im Rahmen einer bürgerlichen Moral unreflektierten Urteilsrastern ist dem tieferen Verständnis des "Ring" und seiner gpauren 10 -Handlung auf jeden Fall nicht beizukommen.

Erst bachorski und z. T. czerwinski weisen im Lauf der neunziger Jahre nach, wie fruchtbar es sein kann, den "Ring" oder andere von der 'seriösen' Wissenschaft verschmähte Texte einer Neubewertung zu unterziehen. bachtins Theorie einer Karnevalisierung der Literatur11 (vgl. Kap. 2.2.ff.) ab dem sechzehnten Literatur ließe sich auf den rund 130 Jahre vorher verfassten "Ring" enorm verständnisfördernd anwenden, um v. a. die ausstehende Frage nach einer angemessenen Gattungszuordnung des "Ring" neu zu stellen . Dieser Richtung folgend, versucht die vorliegende Hausarbeit Erhellendes beizutragen.

Ausgangspunkt des Unterfangens ist eine Auflistung der im "Ring" auftauchenden fastnächtlichen - oder besser: karnevalistischen - Elemente anhand einer deskriptiven, textimmanenten Interpretation der zahlreichen Textstellen, die sich hierfür bei wittenwiler anbieten. Damit soll die erste Hypothese dieser Arbeit befestigt werden, die die epischen Passagen des "Ring" im wesentlichen als von karnevalistischen Strukturen und inhaltlichen Bestandteilen der mittelalterlichen Fastnachtsfeste alemannischer Tradition geprägt sieht. Demnach bestehen zwischen diesen und der narrativen Struktur des Epos weitgehende Parallelen, die die Schlußfolgerung nahelegten, daß wittenwiler mit der Produktion des "Ring" ein literarisches Karnevalsspektakel hoher Güte gelingt, in dessen Rahmen auch die didaktischen Passagen deutlich relativiert gesehen werden können (vgl. Kap. 2.1.). Beim Versuch des Nachweises der Karnevals-Elemente lege ich besondere Betonung auf die Gestaltung der Figur des Fastnachtsnarren, der meiner Ansicht nach in zahlreichen Varianten den Grundtypus des wittenwilerschen Figuren-Ensembles stellt.

In einem zweiten Schritt bemühe ich mich, die für meine Interpretation relevanten Bestandteile von bachtins12 Literaturtheorie - unter besonderer Berücksichtigung der Darstellungsart des 'grotesken Körpers' - für die Deutung des "Ring" in knapper, aber für das Verständnis ausreichender Form vorzustellen.

In einem dritten Schritt versuche ich nachzuweisen, daß jenseits des schlichten deskriptiven Aufzählens karnevalistischer Gestaltungselemente im "Ring" - mit wittenwilers Rekurs auf das Narrentum seiner Zeit und seiner regionalen Umgebung als Träger eines epischen "Weltentwurfs"13 von der erzählerischen, unterhaltenden und künstlerischen Qualität dieser epischen Großform - ein möglicher Schlüssel zur jahrzehntelang brachliegenden Beantwortung der Frage nach der Gattungszugehörigkeit des "Ring" gefunden werden kann. Meine Kernthese lautet also: wittenwilers Werk ist ein im Bezugsrahmen der deutschen Literaturgeschichte einzigartiger Vertreter der Gattungsform des karnevalistischen Epos, - ein ästhetisch vollständig ausgeformter Vertreter der karnevalistischen Literatur im Sinne der Literaturtheorie Michail bachtins. Der "Ring" läßt sich explizit nicht der didaktischen Literatur und auch nicht dem Bauernschwank im Rahmen einer herkömmlichen Gattungsbestimmung zuordnen.

Die Methodik, derer ich mich beim Versuch der Erbringung dieses Nachweises bediene, ist am besten als eine historisch-anthropologisch interpretierende und textimmanente Auslegung des "Ring" umrissen.

1. Karnevalistische Strukturelemente im "Ring"

1.1. Vorbemerkungen: Zum Forschungsstand

Die Forschungsthese, daß sich das epische Geschehen des "Ring" von Heinrich wittenwiler im Rahmen einer "Fasnet"14 abspielt, stellt boesch15 im Jahre 1965 auf. Frühere Mutmaßungen bezüglich des Vorhandenseins fastnachtlicher Elemente, die den "Ring" strukturieren könnten, finden sich in den zwanziger Jahren, als singer16 Überlegungen anstellt, ob der momentan noch keiner spezifischen literarischen Gattung zuschreibbare "Ring" mit den mittelalterlichen Fastnachtsspielen vergleichbar sei. Inzwischen hat sich die These, daß im wesentlichen der Karneval die gpauren -Handlung des "Ring" gliedert, zu einem einvernehmlichen Standpunkt unter dem Gros der an der Diskussion beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgewachsen. So sprechen sich in der neueren Forschung sowinski, schmidt-wiegand, andreànszky, knühl, ruh, mueller, riha und brunner17 für eine dahingehende Deutung des epischen Gerüsts im "Ring" aus. Lediglich puchta-mähl liefert mit ihren definitorischen Vorbehalten eine explizite, aber nur partiell zutreffende Gegendarstellung.18

Erstes Ziel dieser Arbeit wird sein, wesentliche Aspekte der karnevalistischen Strukturelemente im "Ring" zusammenzufassen, um die Stichhaltigkeit meiner Ausgangsthese zu prüfen. Soweit möglich, werde ich die im Text auftauchenden Elemente chronologisch benennen.

1.2. Die Verwendung des Terminus 'Narr' und seiner Synonyme

Heinrich wittenwiler definiert im vierten Abschnitt des "Ring"-Prologes denjenigen Protagonisten des gpauren -Ensembles als Narren, welcher sich nicht von trewer Arbeit nert (V. 46), stattdessen unrecht lept und l ä ppisch tuot (V. 44). "Läppisch" findet hier als Synonym zu "närrisch" Verwendung.19 Folglich stammen die "Lappenhausener" aus dem Dorf, in dem die "Lappi"20 hausen, und damit sind sie allesamt als Narren gekennzeichnet, als jene Kernprotagonisten des Karnevals, um die sich m. E. das epische "Ring"-Karussell dreht. Im letzten Abschnitt des Textes stoßen die Narrenhaimer (Vv 7969 - 7972) und die Torenhofener 21 (Vv. 7975f.) zu den Schlachtteilnehmern - allesamt durch den Namen ihres Herkunftsortes eindeutig als Vertreter der närrischen Zunft gekennzeichnet. Die Narrenheimer sind im Text zusätzlich durch ihre Eselsohren (V. 7971) exponiert - einem auf Holzschnitten, Kupferstichen und Zeichnungen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit ikonographisch fungierenden Attribut des fastnächtlichen Narrentums.22 Tatsächlich taucht das Motiv der Eselsohren bis auf den heutigen Tag in den Schnitzereien einiger Masken (oder präziser: einiger "Häs") städtischer und dörflicher Fastnachtsumzüge in katholisch geprägten Regionen Südwestdeutschlands auf.23 Durch die Vielzahl der textlich signifikanten Zuschreibungen der Protagonisten als Vertreter der närrischen Zunft findet die Hypothese, daß ein Großteil des Figuren-Ensembles von vornherein sowohl durch die Ortszuschreibungen als auch durch ihr soziales Verhalten als närrisches Personal in die Handlung eingefädelt wird, genug Nahrung, um als nachhaltig befestigt bestehen zu können.

1.3. Bertschi Triefnas - der Prototyp des Karnevalsnarren

Vor allem die Hauptfigur des Bertschi Triefnas präsentiert sich in ihrem Gebaren als exponierter Fastnachtsnarr. Wittenwiler selbst definiert Bertschi bereits relativ früh - durch den Gebrauch des Possesivpronomens - emphatisch, ja liebevoll als solchen:

VV. 1410-1415 Triefnas der was fr ö den vol:

In daucht, er hiets geschaffet wol. Wie oft so ward min n ä rrel jehen: 'Sim, so mier ein surt, ich han sei gsehen!' Sein akergen was gar da hin; Gen M ä tzellein stuond im der sin.

Auch durch Bertschis Gestammel, Geschrei und Gestotter, seiner eruptiven Mimik und Gestik, die er im Verlauf der Kampfhandlungen des Turniers (Vv. 526ff.) an den Tag legt, verweist sein literarischer Erzeuger Wittenwiler auf das typische Verhalten der Fastnachtsnarren seiner Zeit. Bertschis Haltung wechselt "stets zwischen Protzertum mit kraftvollen Gesten, lautem Schreien und aufgeregten Stottern, kläglichem Versagen mit Jammern und Fluchen [...]".24 Mit seinem claffen (V. 547) und unartikuliertem Herumschreien sowie mit dem Aufsetzen eines wilden, unsteten Blickes (u. a. Vv. 528, 5724, 7511) verkörpert Bertschi Triefnas den Narren des späten Mittelalters par excellence25 und tritt als typologisch ausgeformter Vertreter der anderen närrischen Protagonisten der "Ring"- Handlung in den Mittelpunkt.

Triefnas besticht zusätzlich als literarische Sprachwerdung des sogenannten Liebes- oder Venusnarren seiner Entstehungszeit.26 Für dessen Gefühlslage finden sich einige bemerkenswerte Textbeispiele:

Vv. 1282-1291 Doch wolt er nicht entlassen ab

Und dient frawn M ä tzen nacht und tag Mit sinnen und gedenken Von ier mocht er nicht wenken. Des nahtes gie er alweg aus Und schlaich hin zuo irs vattern haus. Den laim den raiss er von der maur Und peiss dar in: es was nicht saur Fegend ward er her und hin, Zuom t ü rlein ein stuond im der sin.

Offenbar ist Bertschi (vorübergehend) vollkommen besessen vom Gedanken an die geistige, seelische und körperliche Vereinigung mit Mätzli Rürenzumph. Er benimmt sich wie ein notorischer Satyromane, wie die Psychiatrie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts seine Gemütslage betiteln würde. Diese Art von 'närrischer' Triebverfallenheit und eine Reduzierung der Persönlichkeit auf den Drang nach essentieller Befriedigung der vitalsphärischen Triebbedürfnisse zeichnet den stilisierten, oftmals vergeblich buhlenden Venusnarren im karnevalistischen Treiben aus.27

Eine des Zitierens angemessene Textstelle, die die Wucht der Triefnasschen Geilheit auf Mätzli verdeutlicht, liest sich folgendermaßen (zuvor ereignet sich eine amüsierende Verwechslung, die Bertschi beinahe zum Lachen reizt, aber dann):

Vv. 1325-1328 Bertschi hiet do schier gelacht:

Do martret in der minne gluot So ser, daz im die nas pluot . Do daz verran, do schluog er an;

Die Erregung des vegetativen Nervensystems von Triefnas ist dergestalt literarisch hyperbolisiert geschildert, daß ihm wegen zu hohem Blutdruck die feinen Kapillargefäße in der Nasenwand platzen. Das Ergebnis ist Nasenbluten aufgrund übersteigerter Brünstigkeit. Seine Begierde brennt so ekstatisch, daß sie alle normativen Formen des (neuzeitlichen) Körperbildes sprengt. Dies ist ein erster Anklang auf die Konzeption des 'grotesken Körpers', die im textuellen Diskurs des "Ring" nachzuweisen ist (vgl. Kap. 2.4.1. ff.).

1.4. Die non-lineare Struktur der erzählten Zeit des "Ring" und der traditionelle Verlauf des Karnevals

Einige Autoren der Sekundärliteratur vergleichen den Verlauf des epischen Geschehens im "Ring" plausibel mit dem realen Verlauf des fastnächtlichen Zyklus.28 Vor allem ruh entwickelt eine einleuchtende und detaillierte Erklärung.29

Die sogenannte Herrenfastnacht am Sonntag Exurge (Sexagesima)30 , so ruh, setzt den Startpunkt der "Ring"-Handlung mit dem stechen und turnieren (V. 104) der gpauren. In der Historie des ausklingenden Mittelalters ist dieser Sonntag dem Abhalten spaßhafter Turniere zu Ehren der dörflichen oder städtischen Nobilität gewidmet, die unter anderem mit dem urkundlich mehrfach bezeugten Kübelstechen bestritten werden.31 Zum darauffolgenden Sonntag, der allermans fasnacht (Estomihi) ereignet sich das Hochzeitsfest samt nächtlichem Beilager im "Ring", am geilen Montag folgen - so Ruh -

[...] die Kriegsvorbereitungen, die lappenhausenerseits als Gaudi bestritten werden, am Dienstag, dem eritag, die große Schlacht - als letzter überbordender Fastnachtsulk mit den Masken der Vorzeit -; der Schluß mit dem Eremitenleben Bertschis signalisiert Aschermittwoch.32

Die Angaben der geschichtswissenschaftlichen Fastnachtforscher und Mediävisten stimmen mit dem chronologischen Ablauf der wittenwilerschen Handlungskonstruktion überein. Die literarisch beschriebenen und historisch begangenen Ereignisse verlaufen kongruent. Solange nicht eine diese geschichtswissenschaftlich verifizierbaren Einschätzungen zuwiderlaufende Beweisführung angetreten wird, ist diese These als zutreffend anzunehmen. Ein "entscheidendes Gliederungselement für die Bauernhandlung dürfte damit höchstwahrscheinlich aufgedeckt sein",33 äußert die wissenschaftlich ausgesprochen penibel arbeitende riha.

Weitere Züge des spielerischen Karnevals sind hinter den zum Teil irrealen Zeitabläufen in der epischen Struktur des "Ring" zu vermuten.34 Zum Beispiel ist der Verlauf der Schwangerschaft und deren Symptomatik bei Mätzli derart gerafft geschildert, daß im Verlauf der literarisch erzählten Zeit Monate zu Tagen und Stunden eliptisch 'zusammenschnurren' ( vgl. Vv. 2187-2204). Dies erinnert an die Logik des Traumes oder einer komplexen filmischen Erzählstruktur, in welchen gleichfalls Handlungsvorgänge verdichtet werden.

Selbiges gilt für das Aussenden der lappenhausener Boten mit der Bitte um den Rat und militärischen Beistand der großen Städte beim Ringen um die Ehre der rivalisierenden Dörfer. Tatsächlich kommen politische Vertreter der bedeutendsten Städte des ausklingenden Mittelalters zusammen und halten Rat über die heikle, hochwichtige Angelegenheit, um nach der salomonischen Kongreßentscheidung wiederum einige Boten nach Lappenhausen zu senden (Vv. 7604-7868). Realistisch betrachtet müssen angesichts der damals verfügbaren Transportmittel zum Teil Monate verstreichen zwischen der Abreise der Boten und dem Überbringen der städtischen Botschaft nach Lappenhausen. In der erzählten Zeit des "Ring" vergeht aber allenfalls das Dreiviertel eines Tages. Zwischen Montagfrüh - dem Ende der Hochzeitsnacht samt ihrer erotischen Ausschweifungen - und dem Dienstagmorgen der Schlacht vollziehen sich die diversen 'Botengänge', der flugs einberufene, beratende Städtekongreß, den keine andere Sorge umtreibt, als sich bezüglich der lappenhausener Problematik schier (V. 7690) zu konstituieren, das Abhalten des Kriegsrates in beiden Dörfern und alle anderen Kriegsvorbereitungen.

wittenwilers augenzwinkerndes Erzähler-Ich - immer um die Aufmerksamkeit seines Auditoriums bemüht - meint dazu lapidar:

Vv. 7683-7688) Preussen und auch ä ndreu land

Sein mir nicht so wol bekannt; Dar umb ich nicht genennen chan Ier stett und ker hin wider an, Da ich der gpauren botten liess, Ch ü rtzleich, daz euch nicht verdriess.

Geschickt und mit einer gehörigen Portion selbstreferentieller Ironie35 gespickt, schließt wittenwilers Erzähler-Ich den Bogen zurück zum epischen Geschehen und läßt wider alle narrative Logik den Städtekongreß stante pede zusammentreten, um hinterher den Lappenhausenern durch einen Boten in Windeseile die Ergebnisse ihrer Beratung kund zu tun.

1.5. Aspekte der "verkehrten Welt" des Karnevalfestes

Zuerst möchte ich die Besonderheiten des Karnevalsfestes bzw. der Fastnacht (vgl. Kap. 1.1.) des späten Mittelalters näher erläutern (s. a. den entsprechenden Passus in Kap. 2.2.). Prinzipiell beruht das karnevalistische Fest auf dem 'Lach-Prinzip' - dem

Verlachen, Verhöhne[n] und Verspotten des Ernstes, der heiligen Handlung u. ä. Der Karneval erscheint als universales Fest des Volkes, in welchem für eine begrenzte Zeit der offizielle Ernst überwunden und ins Gegenteil verkehrt wird. [...] Charakteristisch für diese Volkskunst des Mittelalters sei auf der einen Seite ihre De-Hierarchisierung und Verhöhnung jeglicher Autoritäten, auf der anderen Seite die Entgrenzung des Festes und vor allem der Feiernden selbst zu einer ursprünglichen Einheit mit der Natur.36

Andere Aspekte, wie z. B. die Stiftung von Gemeinschaft im Festakt, werde ich aufgrund ihrer marginalen Bedeutung für die Fragestellung dieser Arbeit beiseite lassen.

Semiotische Kennzeichen für das Auftreten des Phänomens der 'verkehrten Welt' im "Ring" finden sich zuhauf: Zu nennen sind erstens die Beschreibungen der absurden bäurischen Wappen im stechen und turnieren (V. 104),37 zweitens die ausufernde Charakterisierung (Vv. 76-96) der im ersten Halbsatz 'liebreizend' geschilderten Gestalt Mätzli Rüerenzumphs und der im zweiten Teilsatz nachgeschobenen Beschreibung ihrer geradezu überbordenden Häßlichkeit,38 was auf absurde Weise dem Tatbestand widerspricht, daß sie offensichtlich ausgesprochen sexy ist.39 Drittens ist Bertschis nächtliches Häuten des Esels statt der Kuh zur Vorbereitung des Feiertagsbratens40 aufzuzählen (Vv. 5372-5380), viertens das grotesk übersteigerte Düpieren der gängigen Tischsitten41 durch die feiernden gpauren - jene Tischsitten - die zu der Zeit allmählich beginnen, auch in den bäurischen Lebenskreis Einzug zu halten (im "Ring" taucht allerdings keine explizite 'positivdidaktische' tischzucht auf), die im "Ring" Züge einer Re-Animalisierung der gpauren annehmen.

Das narrative Element der "topsy-turvey world"42 als Bestandteil des Karnevals erhält in wittenwilers "Ring" einen breiten Spielraum.43 Auch dies spricht nachhaltig für die These, daß der Karneval das zentrale Gliederungsprinzip des epischen Gerüsts des "Ring" abgibt.

1.6. Die sprechenden Namen

Entsprechend der Tradition der Fastnachtspiele, der frühen Schweizerspiele, der geistlichen Spiele und dem Drama des Spätmittelalters operiert wittenwiler mit sogenannten redenden oder sprechenden Namen.44 Diese sprechenden Namen determinieren in ihrer Semantik die Charaktereigenschaften und das Verhalten der jeweiligen Figuren zu einem hohen Grad. Sie charakterisieren die gpauren analog der ihrem Verhalten zugewiesenen Rolle als literarische Figuren, die ganz auf das Ausleben ihrer animalischen Anteile zugespitzt sind.45

So gibt es siebzehnmal Verknüpfungen der Figuren mit Tieren und mit Dreck wie bei Farindkuo, Fleugensch ä s, Scheissindpluomen, V ö llipruoch etc.; fünfzehnmal wird in Namen wie Blasind ä schen, Sch ü renprand, Siertdasland, Varindwand etc. Aggression personifiziert; fünfzehnmal bestehen Figuren wie F ü llenmagen, Hafenschlek, L ä renchroph, Lekdenspiss, Trinkaviel etc. nur aus ihrer Lust am Fressen und Saufen; sechzehnmal reduzieren sie sich auf Sexualität in allen Formen wie Ch ü tzeldarm (Anspielung auf Analverkehr), Farindkuo, Futzenpart, Grabinsgaden, Nabelraiber, Peter Stumph, Vallinstro, etc.46

Ein weiteres besonderes Kennzeichen des Karnevals ist seine Eigenschaft, alles Erhabene, Heilige und Autoritäre zu profanisieren (vgl. Kap. 2.2.), zu entthronen, also auf eine Ebene zu ziehen, die bachtin den "geb ä rende [n] Grund" 47 (vgl. Kap. 2.4.2.) nennt. Die sprechende Namensgebung der gpauren wittenwilers benennt im wesentlichen "den materiell-leiblichen Bereich", taucht ein "[...] in die Sphäre des Essens, Trinkens, der Sexualität und damit verbundener körperlicher Phänomene."48 Es ist als typisch und stimmig für die Darstellungsart des Grotesk-Karnevalesken49 (vgl. v. a. Kap. 2.4.2.) anzusehen, wenn die sprechenden Namen des "Ring"-Textes "auf körperliche Häßlichkeit und Gebrechen, Schmutz, unkultiviertes Verhalten auf allen Gebieten, übersteigerte Sexualität, mangelnde Kontrolle der Körperfunktionen und negative Charaktereigenschaften aller Art"50 anspielen. Einerseits lustvoll verbal im Unrat wühlen und damit die Standesunterschiede zwischen den Menschen kenntlich zu machen und andererseits simultan diese einzuebnen, ist eine konstituierende Eigenschaft des karnevalistischen Festes.51 Dieses Motiv wird in wittenwilers Text als strukturierendes Element in Form der sprechenden Namensgebung vielfältig ausgenutzt.

1.7. Überlieferte Gestalten des Karnevals als Vorbilder für literarischen Figuren Wittenwilers

Die Hypothese ruhs, daß im "Ring" Träger von Fastnachtsmasken explizit die Rolle einiger Protagonisten verkörpern, stößt in der Forschung auf ein vielfältiges positives Echo.52 Es kristallisiert sich die Annahme heraus, das gpauren- Stereotyp bilde die beliebteste Motivgrundlage für karnevalistische Maskenschnitzer (da das Bauern-Bild aufgrund hartnäckig sich haltender Klischeevorstellungen durch eine Nähe zum Dumpf-Animalischen assoziiert wird),53 neben der weiteren Annahme einer allgemeinen Kongruenz von Fastnachtsnarr und Bauer im "Ring",54 gibt es konkrete Hinweise, daß einige Figuren des Textes in direkter Verwandtschaft zu den Masken des karnevalesken Treibens im Spätmittelalter stehen.

Vor allem im dritten Teil, in dem es zur Schlacht geht, treten eine Reihe klassischer alemannischer Fastnachtsgestalten in den Brennpunkt der Lektüre. Fro H ä chel (V. 8650) ist die erste, die zu nennen ist. Als zauberkundige Anführerin der Hexenschar tritt sie bei wittenwiler auf, im Basel des Spätmittelalters ist die gleiche Figur unter dem Namen H ä chel- Gauggele als ein festes Bestandteil der hochrheinischen Fastnacht bezeugt.55 Bei wittenwiler trägt diese Gestalt auch dämonische Züge:56 ihr Auswurf ist hochgradig giftig und führt in Windeseile zu schneckenhausgroßen Ekzemen auf der Gesichtshaut des Getroffenen (vgl. Vv. 8827f.). Außerdem reitet sie auf einem verzauberten, sich ekstatisch gebärdenden, durch Hiebe unverwundbaren Wolf, der tödlichen, flammenartigen Dampf speit (Vv. 8831f.). An brauchtümliche Vorstellungen erinnert der ganze Auftritt der Hexen, die auf Wölfen und Geißen durch die Lüfte zur Schlacht reiten (Vv. 8657f; 8787, 8797f.) - ein Auftritt, der eine Affinität mit der wilden Jagd von W ü etis Heer (Wotans Heer) aus der alemannischen Volkssage aufweist.57 carlo ginzburg weist nach, daß die mythischen Vorstellungen von einer großen Gruppe nächtlich auf Waldtieren reitenden Frauen über einen sehr großen geographischen und zeitlichen Raum in nicht direkt verwandten Kulturen auftreten.58

Als Fastnachtsfigur par excellence gilt "der Wilde Mann [ V. 8719ff ],59 wohl deswegen von wittenwiler eingeführt, um die große Schlacht als Maskentreffen zu charakterisieren."60 Seine Erscheinung beschränkt sich nicht auf den Karneval, auch im Volksglauben, im Märchen und in der Heldendichtung - selbst in der höfischen Epik Hartmann von Aues, im Iwein - und in der bildlichen Darstellung des späten Mittelalters taucht diese furchteinflößende Gestalt auf.61 Der Wilde Mann wird als kolbenschwingender Waldmensch beschrieben62 und macht sich damit als Grenzgänger zwischen der Zivilisation und der rohen, elementaren Gewalt der Wildnis kenntlich. Im "Ring" ist er charakterisiert durch zwei sehr lange Fangzähne (was ihn in die Nähe der Vampir- und Werwolfslegenden bringt), mit denen er reihenweise Zwerge totbeißt (Vv. 8725f.), bevor sie in seinen gigantischen Schlund63 wandern. Außerdem reitet er auf einem riesigen Hirsch, dessen Hörnern die Zwerge in Scharen zum Opfer fallen (Vv. 8749f.). Eine solche Schilderung rückt ihn dicht an die

"Kindlifresser" der Volkssage. Im Wolfdietrich wird ein Ungeheuer mit einem riesigen Maul64 geschildert, und ein Holzschnitt von Lukas Cranach trägt den Titel: Ein wilder Mann raubt Kinder. Im Nürnberger Schembartlaufen tritt er auf wie in der heutigen Hegauer Fasnacht, hier oft vermischt mit der Gestalt des hoorigen B ä ren. 65

Was meines Erachtens in diesem Zusammenhang beachtenswert ist und durch die vielen Parallelen klar zutage tritt, ist die Verflochtenheit des Karnevals mit den dämonischen Gestalten des Brauchtums,66 eine Verflochtenheit, die vielerorts auf vorchristliche Kulte zurückgeht.67

Eisengrein, dessen unbedachte und handverletzende Tat aus Minnesbrunst für Gredel Erenfluoch (Vv. 6449-6455) das apokalyptische Dörfergemetzel initiiert, hat einen literarischen Vorläufer im Alsfelder Passionspiel, der dort als Grabwächter fungiert;68 zugrunde liegt jedoch ein H ä s (vgl. Kap. 1.2.) der hochalemannischen Fastnacht. Dessen Name lautet

Isengrim, das zu grim 'tierköpfige Maske' zu stellen ist. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß im Brauchtum der Ostschweiz das Tragen des Isengrind bei Maskenzügen ausrücklich [sic !] verboten gewesen ist. Heinrich Wittenwiler mochte auch hier wieder das Mas kenbrauchtum der Fasnacht im Auge gehabt haben, wenn er (darin über seine Quelle hinausgehend) der Gestalt des Eisengrein Züge tierischer Wut verlieh. Eisengrein wird so als snauferman (V.136), als ein 'vor Zorn Schnaubender', charakterisiert [...].69

Die ekstatische, archaische Befindlichkeit der Feiernden als Merkmal rauschinduzierter70 Fruchtbarkeitsriten der Vorzeit scheint hier deutlich durch in der Beschreibung dieser im Spätmittelalter bereits aus dem öffentlichen Raum verbannten Fastnachtsfigur.

Erst gegen Ende des Textes gibt sich Chuoni von Stochach (V. 8631) ein Stelldichein, der vom inzwischen zum Kaiser von Lappenhausen gesprochenen R ü efel Lech[den]spiss 71 (Vv. 7260f; 8623) mit einigen anderen zusammen den Ritterschlag erhält (vgl. Kap. 1.8.). Für ihn ist die historische "Identität mit Kuoni von Stocken, einem Hofnarren Leopolds IV. von Österreich, der sich am Bodensee und in der Schweiz großer Beliebtheit erfreute, gesichert."72 Mit Chuoni stößt ein institutionalisierter, professioneller Fastnachtsnarr, der in der Historie zu politischen Würden als kaiserlicher Hofnarr gelangt, zu den literarisierten fastnachtlichen Maskenträgern in wittenwilers "Ring".

Die vielen historischen Sedimente,73 die im "Ring"-Geschehen nachzuweisen sind, legen den Schluß nahe, daß wittenwiler in seinem (famosen) Text sehr viel häufiger auf die historisch erlebte Realität rekurriert als bislang vermutet. Ich ziehe es deshalb vor, wittenwiler als grotesken Realisten (vgl. Kap. 2.4.2.) anzusehen (auch wenn ich aus Gründen der mangelhaften Überlieferung das nicht bis ins letzte Detail zu belegen wagen kann).

1.8. Die Verleihung eines Narrenkönigtums und anderer Titel im "Ring"

Ab Vv. 7258f. verleiht Lienhart mit dem phlegel (V. 7245) vor der Schlacht einigen profilierten Lappenhausenern folgende Ehren-Titel: Lechdenspiss bekommt die Kaiserinsignien ü ber all gewiss zugesprochen, Walther Fleugenschaiss erhält die königliche Regentschaft über den ganzen Graussner chraiss, Futzenpart darf sich künftig Hertzog zuo des streites vart nennen und bekommt als Stammsitz in dem anter tal dem land übertragen, der Held des Epos Pertschi Triefnas wird zum Marchgraf bis von Nienderthaim/ Ü ber alz daz gpiet gemain gekürt, alle anderen Anwesenden mutieren kraft der Ansprache zu freige[n] herren. Nicht genug: es heißt, wer zum Ritter geschlagen werden will, der chum anderntags zuom streit! Da macht manr vil. So spricht Lienhart. Vor allem die jüngeren streitbaren Lappenhausener sind von dieser einmütigen Rede hellauf begeistert, selbst Ruoprecht lacht und meint, dem sei also,/ daz doch nicht gewesen mag,/ Die weil du lebest einen tag! (Vv. 7285f.) So überschneidet sich an dieser Stelle das epische "Ring"-Geschehen erneut mit dem historisch bezeugten Karneval, weil selbst die heutzutage sich ereignenden fröhlichen Tage im 'Hier und Jetzt' stattfinden, dabei aber in einen strikt zeitlich begrenzten Rahmen eingefaßt sind.

Wie in wittenwilers Text durch diesen Ruoprecht-Passus artikuliert, existiert der Ausnahmezustand mit der Ernennung der lappenhausener Würdenträger und Herrscher über ihre ganze bekannte Welt nur in diesem genau definierten Zeitraum (vgl. parallel hierzu den Begriff der 'Raumzeit' in Kap. 2.2.). Das Regiment der gerade gekürten Würdenträger ist eine Utopie, aber solange die Gemeinschaft der Versammelten nach den entsprechenden Maßstäben agiert und die Vorstellung auf begrenzte Zeit in die Tat umsetzt, auch wenn nur für einen Tag, an dem (der gewöhnliche, in seiner Alltagsrolle befindliche) Lienhart nicht existiert (Vv. 7286f.), ist es eine gelebte Utopie.

Gleiches ereignet sich im Geschehen der historischen und sogar noch in der aktuell geschehenden Fastnacht. Bis auf den heutigen Tag werden in der närrischen Zeit Königs-, Königinnen-, Prinzessinnen- und andere Titel verliehen74, und in mancher deutschen Stadt katholischer Konfession übernehmen alljährlich die Narren physisch unmittelbar und im Sturmangriff die Macht in den Rathäusern, nehmen die legitimen Standespersonen in Gefangenschaft und rufen die Herrschaft des Königs Karneval aus. Damit beginnt die Suspendierung des gewöhnlichen Alltags, in dem v. a. im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft Armut, Not und Beschränkung herrschen - genau wie bei den Figuren wittenwilers75 - so findet eine "Aufhebung der alltäglichen sozialen Wirklichkeit"76 zugunsten der Umkehrung aller Werte-Hierarchien und "zivilisatorischen und ästhetischen Normen des Alltags"77 statt. Die zeitlich exakte Begrenzung des Festes bzw. des Ausnahmezustandes und seiner modifizierten Verhaltensregeln als "Moratorium des Alltags"78 sowie die darin eingebettete traditionelle Errichtung eines närrischen Königtums und anderer Würden sind weitere konstituierende Kennzeichen, welche die literarische Bauernhandlung bei wittenwiler und der historisch bezeugte Karneval miteinander gemeinsam haben.

Diese Feststellungen fügen neue Bausteine in die Untermauerung der These, daß ein essentielles Strukturelement des Textes von Heinrich wittenwiler das Karnevalistische (vgl. Kap. 2.3.) bildet - durchaus im Sinne des gleichlautenden Begriffs bei Michail Bachtin, dem unkonventionellen russischen Literaturwissenschaftler, der diesen Begriff aus einem anderen Kontext herleitet. Hier stellt sich ein Zusammenhang her, dem das folgende Kapitel nachspürt.

2. Bachtins Konzept zur Karnevalisierung der Literatur als möglicher Schlüssel für die Neubewertung der Gattungszuordnung des "Ring"

2.1. Vorbemerkungen

Aus Platzgründen begnüge ich mich mit einem knappen Aufriß der Funktionsmechanismen karnevalistischer Schreibweisen nach bachtin und gehe präziser auf die literarische Darstellungsart des so genannten 'grotesken Körpers'79 ein, die in wittenwilers Text vor allem bei der Schilderung der Vorgänge auf dem Hochzeitsmahl und dem anschließenden Tanzfest in erstaunlicher Vielfalt nachgewiesen werden können. Auf einige der zahlreichen Beispiele im Text nehme ich später Bezug (vgl. dazu das ganze 3. Kapitel).

Zunächst einmal bleibt an dieser Stelle zu klären, weshalb es derart schwierig ist, für den "Ring" eine befriedigende Gattungszuordnung zu treffen. Eine solche zu finden, würde mit großer Wahrscheinlichkeit das Problem entschärfen, den "Ring" angemessen in eine mittelalterliche, frühneuzeitliche Literaturgeschichtsschreibung einordnen können zu wollen. Dies scheint das Hauptproblem bei der uneinheitlichen ästhetischen und literaturgeschichtlichen Beurteilung dieses schillernden Epos zu sein,80 denn zwei gänzlich unterschiedliche Textarten 'konkurrieren' miteinander in ein- und demselben Werk: einerseits belehrender Vortrag aus dem Munde literarischer Figuren und andererseits die sympathetisch geschilderte Handlung ebendieser Figuren im Rahmen eines um mehrere Sujets bereicherten Bauernschwanks mit einer komplikationsreichen Brautwerbung und anschließenden apokalyptischen Ereignissen. Diese beiden unterschiedlichen Textarten zeichnen sich durch eine (oberflächlich gesehen) disparate ästhetische Beziehung zueinander aus.

Es zeigt sich, daß die ältere Forschung Schwierigkeiten hat, die unterschiedlichen Textgattungen im "Ring" synchron wahrzunehmen und so als eine künstlerische Einheit zu begreifen. Sie erkennt in ihrer Rigidität entweder nur das eine oder nur das andere an. Beurteilt man den Text ausschließlich nach ästhetischen Kategorien, so läßt sich der Alltagsnutzen der sittlichen Belehrung durch die Protagonisten wittenwilers nicht erfassen. Liest man den Text jedoch unter literaturhistorischen Gesichtspunkten als ein großes Lehrgedicht,

stösst [sic] man sogleich auf eine andere Schwierigkeit. Zwar werden die Werke didaktischen Gehaltes mitunter in der Kategorie des lehrhaften Schrifttums zusammengefasst, zugleich verweist man sie aber als 'zweckbestimmte' und daher nicht 'autonome Literatur' auf den zweiten Platz. Aber selbst diese behelfsmässige [sic] Kategorie der Didaxe versagt vor Werken wie der Ring [sic!]; Wittenwilers Anspruch auf künsterlische Gestaltung kann so rigoros nicht geleugnet werden.81

"Der Ring" ist nun in der Tat beides gleichzeitig: er ist ein Werk von hoher künstlerischer Dichte, großem Formwillen und hierzu synchron existieren jene lehrhaften Passagen, die manch nützliche Information zum spätmittelalterlichen Alltagswissen der 'einfachen' Leute beitragen können. Aber vielleicht liegt genau an diesem Punkt 'des Pudels Kern' begraben: unter Umständen dienen die didaktischen Passagen gar keinem hehren moralischen Zweck, wollen vielmehr bloß informieren, auf das sich ein jeder Zuhörer oder Leser sein eigenes Bild machen kann.82 Was für diese Deutung spricht, ist die überaus verwirrende Verwendung der die Textstränge ler und gpauren gschrai (Vv. 36f.) voneinander zu trennen vorgebenden Farblinien.83 Es scheint so, als ob sich hier ein der Ironie zuneigender, 'aufgeklärter' Mensch über die bornierte, rigide, belehrende 'eindeutige' Zuordnung von Ernst und Unterhaltung seitens der Herrschenden gehörig ins Fäustchen lachen würde. wittenwiler versucht zu verstehen zu geben, daß eine schlichte Zuordnung der welte lauff (V. 11) in Gutes und Böses, Hohes und Niedriges, Teures und Billiges nicht so einfach zu vollziehen ist, daß die Dinge mitunter etwas konplizierter liegen und die Welt so eindeutig und moralisch klar aufgeteilt nicht zu verstehen ist. 'Ein Narr sei der, wer Böses dabei denkt.'84

Durch das vom Textumfang her ungefähr gleich verteilte Gewicht von Belehrung und gpauren -Abenteuer kann davon ausgegangen werden, daß es vornehmlich diese Ambivalenz ist, die das Epos auszeichnet. Gleichzeitig wird die belehrende Rede, das autoritäre Wort der Vortragenden einem entschiedenen Prozeß der Familiarisierung, Dialogisierung, wenn nicht gar Profanisierung im Kontext der gpauren -Abenteuer ausgesetzt, sodaß ihr vielleicht vormals missionarischer Belehrungston einer konsequent komischen Brechung unterliegt.85 Die soeben aufgeworfenen Begriffe, deren literarische Schreibweisen in der Karnevalisierung der Literatur zusammenlaufen,86 möchte ich im folgenden Kapitel inhaltlich klären.

2.2. Kurz-Einführung in die Literaturtheorie Bachtins

Prinzipiell geht bachtin von einer alle seine theoretischen Überlegungen überlagernden Prämisse aus: in jeder Gesellschaft existiert neben einer ernsten (und folglich weitgehend humorlosen), offiziellen 'Hoch'-Kultur eine 'Lachkultur', die aus dem gemeinen Volk hervorwächst. Während die offizielle Obrigkeit zumeist versucht - falls sie nicht von hohen humanistischen Idealen getragen ist (dies gilt besonders, aber nicht ausschließlich für die europäischen Kulturkreise) - eine funktional repressive Monopolkultur zugunsten der herrschenden sozialen Schichten zu verewigen, indem diese Eliten ihre Macht dazu ausüben, die Lachkultur des gemeinen Volkes möglichst weitgehend zurückzudrängen, verkörpert die Volkskultur all das, was die reglementierende Kultur auszuschließen trachtet. Sie relativiert durch ihre zeitweiligen Durchbrüche (u. a. zu festlichen Anlässen wie dem Karneval) die offizielle Kultur und destruiert so deren monologischen Anspruch auf alleinige Gültigkeit. Dadurch schafft die Volkskultur eine Dialogizit ä t 87 , die auf die offizielle Kultur regenerativ wirken kann - so wird eine relative Beweglichkeit der offiziellen Kultur induziert, die als eine Impulsgeberin der offiziellen Kultur für deren kreatives Fortbestehen sorgt, denn offizielle Kultur und Volkskultur bilden entsprechende Sprach- und Zeichensysteme, wobei die offizielle immer nur ein Teil der inoffiziellen Sprache sein kann. bachtin versieht die reglementierte Sprache der offiziellen Kultur mit dem Begriff der Monologizit ä t, die im Gegensatz zu den polyphonischen Sprachgesten der Volkskultur steht.

Im Zeitalter der Renaissance kommt es zu einer historisch einmaligen Periode der Annäherung von Volkskultur und offizieller Kultur, so bachtin.88 Dabei spielt der Karneval eine zentrale Rolle: mit der "Lachkultur der Renaissance"89 - topographisch im sich vollziehenden Karnevalsfest auf öffentlichen Plätzen und chronologisch im kollektiven Karnevalsgelächter, das immer auch ein schallendes Spottgelächter über die allzumenschliche Menschlichkeit, sprich die Fehlbarkeit, der Herrschenden ist90 - läßt sich die 'Raumzeit'91 benennen, in der sich die Volkskultur verbal, gestisch und rituell zu artikulieren weiß.92 Gemäß bachtin findet eine Transposition des Karnevals in die Literatursprache statt, wie sie im "Ring" von Heinrich wittenwiler vor allem im epischen Aufbau des Handlungsgerüsts um die Abenteuer des Fastnachts- n ä rrel (V. 1412, vgl. Kap. 1.3.) Bertschi Triefnas nachzuweisen ist,93 also eine Karnevalisierung der Literatur (vgl. Kap. 2.3.).94

Diese vollzieht sich laut Bachtin durch vier verschiedene Kategorien: die der Familiarit ä t, der Exzentrizit ä t, der karnevalistischen M é salliance und der Profanisierung, die damit nicht nur für die Funktionsmechanismen karnevalistischen Raum- und Zeitempfindens des synchronistisch betrachteten Festaktes im Sinne der Phänomenologie sondern analog hierzu auch als Gattungsmerkmale karnevalistischer Literatur gelten können. Der besondere Zeichencode des zeitlich begrenzten Karnevalsfestes kann sich in die literarische Sprache konkret-sinnlicher Bilder übertragen. Die offizielle Sprache bietet hierfür selten Raum. Im Gegensatz dazu bildet literarische Sprache, die in unserem Fall in eine epische Form gegossen vorliegt, die Fähigkeit zur (aktiven) Dialogizit ä t heraus, die also nicht nur der Lachkultur des gemeinen Volkes vorbehalten ist - zwischen beiden Kulturebenen sind Überlagerungen und Kommunikationsprozesse möglich.

Doch zurück zu den vier Gattungsmerkmalen karnevalistischer Literatur, die uns hier vornehmlich interessieren: Familiarit ä t beschreibt die Berührungen auf einer literarischen Handlungsebene, die sich von einer Vertikale der sozialen Hierarchie in eine Horizontale des Gleichseins unter Gleichen transformieren: hohe ethische Konzepte werden unter "unzüchtiger Nähe"95 behandelt; für den konkreten Karneval gilt das zwangsläufige Resultat aus der Massenhandlung im Festakt, der ursprüngliche, freie und intime zwischenmenschliche Kontakt, der an die Stelle der sozialhierarchischen ungleichmäßigen Distanz des Alltags tritt.

Exzentrizit ä t beschreibt auf der literarischen und festlichen Ebene einen Prozeß des Hervordrängens des Verdrängten, die Veröffentlichung des Verborgenliegenden im Herausdringen des Individuums auf einen Raum der transindividuellen Gemeinschaft, der "[...] Teil eines Festes ist, des Festes der 'alles vernichtenden und alles erneuernden Zeit'96 ".97 Es findet eine Ent-Hierarchisierung (Familiarität) und Ent-Rigidisierung des gesellschaftlichen Geschehens statt.

Die karnevalistischen M é salliancen beschreiben das Miteinander-in-Kontakt-treten aller Hierarchien und abgetrennten Bereiche, wodurch sich die Vermischung von oben und unten, Heiligem und Profanem, innen und außen, Erhabenem und Verachtetem, Weisem und Dummem usw. ermöglicht, durch eine 'familiäre Berührung' im Ausnahmezustand, die sich auf gesellschaftliche Werte und Bereiche ausdehnt. Der Terminus der M é salliance korrespondiert mit einem der zentralen Begriffe des Denkens von bachtin, der regenerativ wirkenden Ambivalenz. Deren Bedingung ist es, daß es neben dem offiziellen gesellschaftlichen Leben, welches nur einen Teil der menschlichen Lebensbereiche abdeckt, immer mindestens noch ein anderes Ordnungsystem gibt. Die Ambivalenz bedingt also das Vorhandensein mindestens zweier unterschiedlicher Zeichensysteme, die dialogisch einander relativieren und sich auf diese Weise wechselseitig erneuern.

Übrig bleibt die Profanisierung: diese beschreibt den Vollzug der verkehrten Welt (vgl. Kap. 1.5.) im karnevalistischen Fest, das heißt die lästernde, parodistische, bloßstellende, obszöne oder gar skatologische Umkehrung aller Werte, Dinge und Hierarchien der offiziellen Kultur innerhalb einer genau begrenzten Zeit, in der die "Suspendierung des Alltags" durch das Fest der verkehrten Welt (vgl. Kap. 1.8.) erfolgt.

2.3. Die Karnevalisierung der Literatur und ihr früher Höhepunkt: "Der Ring" bachtin konstatiert:

Wir haben [...] die auffallende Verbindung scheinbar absolut heterogener und unvereinbarer Elemente entdeckt: den philosophischen Dialog, Abenteuer und Phantastik, derben Naturalismus, Utopien u. a. Jetzt können wir sagen, daß das verbindende Prinzip, das alle diese heterogenen Elemente in das organische Ganze der Gattung integriert hat, der Karneval und das karnevalistische Weltempfinden war. Auch in der späteren Entwicklung der europäischen Literatur hat die Karnevalisierung ständig die Zerstörung der Barrieren zwischen den Gattungen, zwischen in sich geschlossenen Gedankensystemen und verschiedenen Stilen begünstigt, sie hat jede Abgeschlossenheit und wechselseitige Nichtachtung zunichte gemacht, Fremdes einander angenähert, Getrenntes vereint. Darin besteht die große Bedeutung der Karnevalisierung für die Literaturgeschichte.98

Die Beschreibung dieses Prozesses in der Literaturgeschichte läßt sich auf eindeutige Weise anhand der Lektüre des "Ring" illustrieren. So ist die epische Handlung bei wittenwiler durchströmt von derbem Naturalismus, der besonders beim Bauernturnier (Vv. 105-1281), bei der Schilderung der abenteuerlichen Reise Bertschis zu Mätzlis mutzen (vgl. Kap. 3.4.), bei Mätzlis Verführung und Entjungferung durch Chrippenkra (Vv. 2091-2247), bei der Schilderung der Hochzeitsfestereignisse (Vv. 5359-6681) und beim abschliessenden Völkerschlachtengetümmel, das durch das Auftreten der sagenhaften Gestalten und der Masken der Vorzeit dezidiert phantastische Züge annimmt. Hier manifestiert sich ein (vollmundiger) Naturalismus, der in einer für die deutsche Literaturgeschichte ungewöhnlich drastischen, auskomponierten Form auftritt.

Auch der philosophische Dialog kommt m. E. bei wittenwiler nicht zu kurz. Besonders in der Ehe- (Vv. 2669-3534) sowie der Kriegsdebatte (Vv. 6740-6860, Vv. 7288-7566. Vv. 8100- 8574) tragen verschiedene Figuren verschiedene Standpunkte und 'philosophische' Perspektiven vor, ohne daß sich am Ende eine bestimmte Auffassung durchsetzen kann, oder gar eine Synthese zwischen den verschiedenen vorgetragenen (Lehr-)Meinungen zustande käme. Bei diesen Debatten um praxis- und lebensnahe Themen handelt es sich für mich in jedem Fall um lebensphilosophische - auch wenn die Schwelle zum politischen Dialog hier nahtlos überschritten wird - Dialogisierung en (vgl. Kap. 2.2.) und nicht um theologische oder gar juristische Auseinandersetzungen. Die Themen sind zwar keine hehren, elementar philosophischen99, aber dies ist für mich nur eine weitere Bestätigung des Greifens eines bachtinschen Theorems im Text: dem der Familiarit ä t (vgl. Kap. 2.2.) im Sinne des Herabziehens großer philosophischer Themen auf profane Probleme wie z. B. die des erstrebenswerten Umgangs zweier Partner im Ehealltag.

Das Geschehen im "Ring" reißt permanent die Barrieren zwischen den verschiedenen klassischen Gattungen ein. Über die Hälfte des Werkumfangs bestreitet wittenwiler mit dem Kolportieren kanonischer Didaxe-Literatur. Da ist die Form des lehrhaften mündlichen Vortrags, die von Figuren bestritten wird, die jeweils durch die methodische Namensgebung wittenwilers entsprechend pejorativ gekennzeichnet sind und das salbungsvoll Referierte auf das heftigste desavouieren (vgl. Kap. 1.6.). Dazwischen montiert wittenwiler virtuos schwankhafte Episoden (den roten Faden der Epos-Handlung100 nimmt er dabei nie aus der Hand), in denen die Protagonisten das eben aufgestellte vorbildliche Verhalten mit fulminanter Lust am Ausagieren wie ein kompliziertes Spielkartenhaus sofort wieder über den Haufen werfen.101 Weil wittenwiler in seiner Sujet-Wahl heterogenes, ja disparates Material zusammenträgt und sagenhafte Gestalten, Hexen, Zwerge, Recken, Riesen, Neithart und prominente Persönlichkeiten aus seiner Zeitgeschichte102 für den "Ring" auffährt, irrlichtert das epische Geschehen durch mancherlei unterschiedliche Text-Gattungen wie den Bauernschwank, das Fastnachtsspiel, das groteske Epos, ein (auf jeden Fall ironisch gebrochenes) Laiendoktrinal, die Burleske, Farce, Parodie, Persiflage, Posse, Satire und zuletzt mündet das fabulöse Geschehen gar im religiösen Bild einer Apokalypse des von wittenwiler aufgetischten Mikrokosmos im tal ze Grausen (V. 55).

Um ein Resumee ziehen zu können, halte ich es für angemessen, die Besonderheiten der von bachtin der karnevalistischen Literatur zugeordneten Gattungsmerkmale aufzuzählen, denn es ist nötig, am Ende ein bewertendes Urteil zu treffen, ob mit der von bachtin aufgeworfenen Gattung einer grotesk-karnevalistischen Literaturform (vgl. hierzu Kap. 2.4.2.) nicht das Zuordnungsproblem des "Ring" erhellt werden kann.

Meine Hypothese lautet folglich: der "Ring" ist ein in der deutschen Literaturgeschichte einzigartiger Vertreter103 der Gattungsform des karnevalistischen Epos. Jene dieses außerordentliche Genre strukturierenden Merkmale,

[...] die nicht immer gekoppelt und mit unterschiedlicher Dominanz auftreten können, sind das Parodistische (als Schaffung eines 'erniedrigten Doppelgängers', als Erzeugung der 'umgestülpten Welt'), das Lachelement selbst, die experimentielle Phantastik, die gewissermaßen freie, ummotivierte, sich an keinem Wahrscheinlichkeitscode orientierende Wahl des Sujets, der Synkretismus der Form, die Exzentrik der Thematik: Behandlung der letzten Fragen, Darstellung von Schwellensituationen, Beschreibung von Anomalien, Manien, Psychopathien, Skandalen; sodann die utopische aufs Universale zielende Ausrichtung[,]104

lassen sich im ganzen Verlauf von wittenwilers "Ring" auffinden. Parodistische Züge durchziehen den ganzen Text, angefangen vom stechen und turnieren (Vv. 104ff.) der gpauren, die eine erniedrigte Variante der ritterlichen Lanzengänge mit diversen bäuerlichen Ersatzutensilien veranstalten, bis zum Topos der verkehrten Welt,105 welcher im Verlauf des Epos an mehreren Text-Stellen breit ausgespielt wird (vgl. Kap. 1.5.). Der Synkretismus der äußeren Form des "Ring" findet sich einige Zeilen weiter oben anhand der Vielzahl von Gattungen und Genres nachgewiesen, zwischen denen das epische Geschehen bei wittenwiler oszilliert. Die Behandlung der letzten Fragen taucht völlig überraschend in den letzten Versen des komischen Epos auf und hält Einzug in den umfangreichen Text-Korpus, als die kleine Welt in dem tal ze Grausen (V. 55ff.) untergeht und Bertschi als künftiger Einsiedler in den Schwarzwald aufbricht, um dort mit sich und seiner Welt ins Reine zu kommen (vgl. Vv. 9641-9700). Was ihm - dem Erztölpel und Königsnarren - nie ein nüchterner Rezepient zugetraut hätte, gelingt mit selbstverständlicher Leichtigkeit: Bertschi Triefnas findet über den Weg des memento mori seinen inneren Frieden und geht als von allem irdischen Zwang geläuterter, meditierender Weiser in Gottes Himmelreich ein (vgl. Vv. 9674-9696) - was für ein ungeheuer disparater Ausklang nach all der konsequenten Diesseitigkeit des vorherigen Gestaltentreibens, ein dissonanter Ausklang, der eindeutig letzte Fragen der menschlichen Existenz aufwirft.106

Eine psychogenetische Schwellensituation par excellence stellt sich im Zwiegespräch Mätzlis mit ihrer mutzen dar (vgl. Vv. 1564-1620):107 Nachdem Mätzli ihre durch die mutzen verkörperte genitale Sexualität zuerst rundheraus und haßerfüllt ablehnt und dies auf rabiate Weise zum Ausdruck bringt, geschieht nahtlos ab V. 1587 eine vollständige Kehrtwende in Mätzlis Gemütshaltung.

Vv. 1588-1591 Hiet sei vor geschulten ser,

Zartend ward sei dreistund mer Mit streichen und auch salben Die mutzen allenthalben.

Wo sie das Organ vorher nach allen Regeln der Kunst mißhandelt, behandelt sie es jetzt zärtlich und hingabevoll. Sie beginnt überraschenderweise mit einem Male Sehnsucht, Verlangen und Liebe zum Verursacher ihres Leids - Bertschi Triefnas - zu entwickeln, indem sie in einer Art psychogenetischem 'Quantensprung' die Integration der genitalen Sexualität in dieser absurden Schwellensituation der Wandlung zwischen 'unreifem', Sexualität ablehnendem, jungem Mädchen und erwachsener, sexuell 'reifer' Frau vollzieht. Anhand dieser Episode schildert wittenwiler in skandalös vorzivilisatorischem Stil eine sexuelle Anomalie, die aufgrund ihres wahnhaften Charakters (Mätzli spricht zu ihrer mutzen wie selbstverständlich zu einer unabhängigen Persönlichkeit) Züge einer temporären Psychopathie trägt.108

Die utopische, aufs Universale zielende Ausrichtung in den Ausführungen von der welte lauff (V. 11) des "Ring" findet sich bereits im vom Autor gegebenen Prolog ein, der dem epischen Geschehen vorgerückt steht:

Vv. 0049-0052 Secht es aver ichts hie inn,

Das weder nutz noch tagalt pring , So m ü gt irs haben f ü r ein m ä r , Sprach Hainreich Wittenweil ä r.

Den Rezepienten steht also frei, ob nur nutz oder nur tagalt interessieren soll bei der Lektüre. Natürlich kann der Text auch als Synthese gelesen werden, dann bildet sich aber aus den beiden abgetrennten Bereichen etwas Neues, das wittenwiler als m ä r bezeichnet. Dieser Ausdruck kann mit Deutung, Darstellung der Welt oder Weltentwurf ins Neuhochdeutsche angemessen übersetzt werden.109 Gemeint ist eine Weltschau mit durchaus aufs Universale zielender Ausrichtung, wenn man bedenkt, was für existentielle Stationen des Lebens im Epos durchlaufen und durchlitten werden, oder zumindest durch die zahlreichen 'belehrenden' Passagen vor das innere Auge rücken: es handelt sich in der Tat um eine Gesamtschau der menschlichen Existenz.110 Nur trägt diese keine utopischen sondern vielmehr dystopische Züge - zumindest wenn der Text vordergründig rezepiert wird111 - denn die Weltschau endet im gigantischen Scheitern des apokalyptischen Schlachtengetümmels, aus dem von den Lappenhausenern allein Bertschi lebend hervorgeht [jedoch nur deshalb, weil er aus berechtigter Feigheit vom Schlachtfeld flieht (vgl. V. 9542) ]. Auch die Gegenpartei der Nissinger Streitmacht erleidet ungeheure, nicht zu verschmerzende Verluste.

Gestützt durch die vielen erbrachten textimmanenten Belege läßt sich zusammenfassend festzustellen: Wenn in einem Werk der deutschen Literatur der Prozeß der Karnevalisierung nachzuweisen ist, dann ist dies Werk der "Ring" von wittenwiler.

Im folgenden Abschnitt wende ich mich demzufolge der literarischen Ausgestaltung karnevalistischer Denkweisen in der Erscheinungsform des Grotesken zu (vgl. v. a. Kap. 2.4.2. f.).

2.4. Begriffspräzisierung der 'Groteske' bei Bachtin

2.4.1. Zur etymologischen Herleitung des Terminus

Der Begriff des Grotesken läßt sich auf Zeugnisse spätantiker Ornamentik zurückführen, die in römischen Thermen und Kaiserpalästen gefunden werden können. Als natürliches 'setting' der Thermen dienten die Grotten der sieben Stadthügel Roms. Von dem italienischen Wort für Grotte 'grotta'112 - läßt sich der Terminus 'Groteske' etymologisch herleiten. Im Gegensatz zu Satire und Karikatur, mit der die Groteske ansonsten viele Berührungspunkte teilt, zielt sie nicht in erster Linie auf einen kritischen Kommentar an normativen Zeiterscheinungen im Gesellschaftsleben der jeweiligen literarischen Entstehungsepoche ab, ihr Fokus ist vielmehr auf einen nur schwer umreißbaren, dunklen und anonymen Untergrund des menschlichen Daseins gerichtet. "Die Dinge erscheinen in Verwirrung, das Natürliche erweist sich als monströs, das Wirkliche wird fremd, unheimlich, bodenlos, Grauen steigt aus dem bedrohlich Hereinwirkenden, das sich nicht identifizieren läßt"113, wenn Vorgänge oder Geschehnisse aus einer grotesken Sichtweise geschildert werden. Auf nicht näher erklärbare Weise verkehren sich die normalen Wahrnehmungsgewohnheiten zu einer grotesken Perspektive.114 Die eben angeführten Erklärungsbemühungen betreffen kanonisierte Bestrebungen der Literaturgeschichte zur Begriffsklärung, deren Blick zurück in die Literaturgeschichte - was das Groteske in der Literatur betrifft - nicht weiter als bis zu den Werken der Romantik streift.115 Die Entstehungszeit des "Ring" fällt auf die Schwelle zwischen ausklingendem Mittelalter und der heraufdämmernden Neuzeit, des keimenden frühen Humanismus und damit in einem rund 400 Jahre vorher stattfindenden Zeitraum, in dem andere Konventionen, Gepflogenheiten, Sprech- und Sprachcodes als Ausgangsbasis für die geltenden Kommunikationssysteme Relevanz besitzen.

2.4.2. Bachtins semantische Ausdehnung des Terminus 'Groteske'

bachtins Blick reicht über die Epoche der Romantik hinaus zurück in die Vergangenheit. Besonders interessieren ihn Spielarten des Grotesken in der frühen Neuzeit. Dabei erweckt das fünfbändige Werk françois rabelais', die Geschichte von Gargantua et Pantagruel 116 - ein Text, in dem grob gesagt zwei Generationen eines Geschlechts von Riesen und einige Mitstreiter sich die Zeit damit vertreiben, alle hehren Autoritäten dieser Welt nach allen Regeln der Kunst degradierend zu verspotten und dabei den Globus in ein erotisches, fröhliches, aber gründliches Chaos zu stürzen - sein Interesse und dient ihm als vortreffliches Anschauungsobjekt, eine Theorie über das Eindringen der karnevalistischen Volkskultur in die Sph ä re des Literarischen eindrucksvoll vorzustellen.117

bachtin gibt dem mindestens ein Lebensalter vor ihm forschenden Kollegen schneegans118 recht, wenn der konstatiert, daß schroffe "Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluß"119 nach allgemeiner Auffassung zu den wesentlichen Merkmalen des grotesken Stils in der Literatur zählen. Darüber hinausgehend verweist er auf eine grundlegende Ambivalenz (vgl. Kap. 2.2. ) in der Bedeutung eines Doppelsinns120, die alle literarischen Schilderungen grotesker Art durchziehen; zudem verlaufen in der Groteske die Grenzen zwischen Dingen, Lebewesen und natürlichen Erscheinungen nach grundlegend anderen Gesetzesmäßigkeiten, wie der neuzeitliche Mensch sie von seinem normativen Verständnis von Kunst, Kultur und daher von der Literatur gewohnt ist.121 bachtin nennt diese Darstellungsart in seiner Terminologie diejenige des 'grotesken Körpers'. Er betrachtet Sprache als soziales Faktum, d. h. nach seiner Ansicht ist sie vor allem über den sozialen Raum definiert, in dem sie stattfindet. Insbesondere verlagern sich durch die groteske Schreibweise alle Lebensäußerungen der geschilderten Figuren in den "materiell-leiblichen Bereich"122. Gemeint ist die animalische Seite, die Trieb- und Vitalsphäre des Menschen. Diese bildet den "geb ä rende [n] Grund"123 des Daseins, eine Entität, die alles erneuert, was durch sie hindurchgeht, indem sie es erst einer fulminanten Degradierung unterzieht. Auf diese Weise verwischen sich in der so gearteten (codierten) literarischen Schilderung alle Standesunterschiede und hierarchischen Regelwerke des gesellschaftlichen Lebens. Die Groteske wie der Karneval, der in weiten Teilen das sozialhistorische Äquivalent zur grotesken Schreibweise in der Literatur darstellt (vgl. Kap. 1.6.), ebnen alle Unterschiede in Rang, Alter und Besitzstand ihrer Figuren, überhaupt alle gesellschaftlichen Unterschiede ein.

Dabei wird auch die Topographie des Körpers vom Kopf auf die Füße gestellt, das heißt, das Untere wird dem Oberen vorgezogen, die sonst üblichen Wertigkeiten ins Gegenteil gekehrt. Die Groteske entthront und erneuert Hierarchien, indem sie diese sexualisiert und so mit neuem Interesse für die Rezipienten auflädt, denn nach bachtin ermöglicht das Beschreiben des materiell-leiblichen Lebensbereiches124 auch literarisch die stärkste Einwirkung auf die Rezipienten. So ist die von rabelais benutzte Konzeption des materiellen, lebendigen, fühlenden, begehrenden menschlichen Leibes als fruchtbarer Urgrund der kleinste gemeinsame Nenner der vorromantischen, frühneuzeitlichen Groteske - ihre referentielle Basis, so bachtin, "ist die volkstümliche Lachkultur" und der "groteske[n] Realismus"125 (vgl. Kap. 1.7.).

rabelais' Groteske benutzt dabei Hypberbolik nie negativ, vielmehr voll frohen, lustvollen Übermasses, in der auch das Unwillkommene, Unerwünschte, das 'Nichtseinsollende'126 durch gutgelaunten Pathos ins Grotesk-Gigantische übersteigert wird.127 bachtin benennt diesen Prozeß als Erschaffung qualitativen Reichtums durch quantitative Übertreibung.128 Auf diese Weise zieht die Groteske alles Erhabene, das nach Respekt und Autorität heischt, auf seinen materiell-leiblichen Grund zurück, unterzieht es einer Degradierung und gleichzeitig einer Erneuerung - vor allem, wenn sich die Erhabenheit der Autorität erschöpft und dringend einer Regeneration bedarf.

2.4.3. Die Besonderheiten des Darstellungsmodus der 'grotesken Körper'

Die Darstellungsart des 'grotesken Körpers' bildet nun die konkrete literarische Ausformung der oben aufgezählten Strukturmerkmale des Grotesken.

Grundlage aller grotesken Motive ist eine besondere Vorstellung vom K ö rperganzen und den Grenzen 129 dieses Ganzen. Die Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske völlig anders als in klassischen oder naturalistischen Motiven.130

Bei der literarischen Inszenierung des menschlichen Körpers sind es im Gesichtsfeld nur die Nase und der Mund131, die in der Konzeption des grotesken Körpers eine Rolle spielen;

für sie [d. h. diese Spielart] ist alles interessant, was hervorspringt, vom Körper absteht, alle Auswüchse und Verzweigungen, alles, was über die Körpergrenzen hinausstrebt und den Körper mit anderen Körpern oder der Außenwelt verbindet.132

Folglich ist eine Nase nur als monströs übersteigerte Extremität von Relevanz, wenn sie z. B. größer als der Restkörper des Menschen seiend geschildert wird. Der Mund erscheint als klaffende Körperöffnung von gigantischen Ausmaßen, der als direkter Zugang zum Zentrum der grotesken Körperhölle - dem Bauch - führt133 jener gähnende Schlund (vgl. Kap. 1.7.) ist imstande, ungeheure Mengen Ess- oder Trinkbares innerhalb kürzester Zeit zu assimilieren oder dergleichen nach mißglücktem Verdauungsprozeß in Strömen wieder von sich zu geben (vgl. Kap. 2.4.5.). Weiterhin ist für die Darstellungsart des 'grotesken Körpers' jeder Körperteil von Bedeutung, der in die Außenwelt hinausragt oder wo die Außenwelt in den Körper hineinführt, Körperteile, mit denen der Körper in beiderlei Richtungen aktiv in Kommunikation treten kann: so die Extremitäten, Mund, Rektum, Vagina, Penis.

Der Mund, der Anus, die Augen und die Vulva sind in der grotesken Darstellungsart jederzeit im Begriff die Welt zu verschlingen, in sich aufzunehmen - während andersherum die Welt permanent droht, durch die Körperöffnungen einzudringen und den grotesken Körper zu absorbieren (vgl. Kap. 2.4.3.f.).134 Es ist signifikant, daß dieser Körper keine immerzu klar umrissenen Grenzen benötigt, (um sich eines (existentiellen) Selbstgefühls gewiß zu sein,) er ist ein ständig sich verändernder, werdender, der Kollektivität zustrebender Körper, niemals fest und abgeschlossen, er befindet sich in permanenter, unmittelbarer Kommunikation mit seiner Umgebung, denn an seinen Öffnungen und Ausstülpungen verlaufen vibrierend, ja fließend Übergänge zwischen Leib und Welt.135

Hier gehen Tausch und gegenseitige Orientierung vonstatten. Daher geschehen auch die Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des K ö rperdramas - Essen, Trinken, die Verdauung (...), Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper -, an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem jungen K ö rper. In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten.136

Die Hauptfunktion des grotesken Körpers ist es, "eine Durchgangsstation für das ewig sich erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß von Tod und Befruchtung"137 zu sein. Damit erklärt sich die von bachtin nach rabelais' literarischem Werk definierte relative, 'historische Unsterblichkeit'138 des Menschengeschlechts aufgrund seiner uferlosen Regenerationsfähigkeit (die es selbstverständlich mit beinahe allem Lebendigen teilt) durch die sexuelle Auflösung voneinander getrennter Körpereinheiten (vgl. Kap. 2.4.5.), die zum Entstehen der nächsten Generation führt, in der die genetischen Informationen der Zeugenden 'weiterleben'139 - und damit, wenn man es so sehen will bzw. kann, ein Teil von ihnen selbst.

Die von bachtin aufgeschlüsselte Darstellungsart des grotesken Körpers hat über Jahrtausende die Kunst und Kultur der Völker gespeist. Erst mit dem Einsetzen der Renaissance im sechzehnten Jahrhundert hält ein anderer Körperkanon Einzug in die offizielle Kunst.140 Es ist das Bild des dem neuzeitlichen Homo sapiens wie selbstverständlich eingeschriebenen "fertige[n], streng begrenzte[n], nach au ß en verschlossene[n], von au ß en gezeigte[n], unvermischte[n] und individuelle[n]"141 Körpers, der alles,

was absteht und vom Körper ausgeschieden wird, alle deutlichen Ausbuchtungen, Auswüchse und Verzweigungen, d. h. all das, womit der Körper über seine Grenzen hinausgeht und wo ein anderer Körper anfängt, (...) ab[ge]trennt, beseitigt, verdeckt, und [ge]mildert. (...) Zugrunde liegt diesem Motiv die individuelle und streng abgegrenzte K ö rpermasse, die undurchdringliche

und glatte Fassade des K ö rpers. Die glatte Oberfl ä che, die K ö rperebene erlangt zentrale Bedeutung als Grenze des mit anderen Körpern und der Welt nicht verschmelzenden Individuums. Alle Merkmale des Unvollendeten und Unfertigen des Körpers werden sorgsam entfernt, ebenso alle Erscheinungen des Innerkörperlichen.142

Der in der Literatur dargestellte Körper ist jetzt ein strikt individuell begrenzter, der viele seiner kommunikativen Aspekte durch die (künstliche) Glattheit seiner Fassade einbüßt. Sexuelle Rede z. B. wird parallel hierzu sukzessive aus der offiziellen Sprache verbannt und findet nur noch im pejorativ etikettierten Sperrbezirk der Pornographie Raum zur freien Entfaltung. Ein begnadeter Essayist wie de montaigne, der offenbar in seinem kulturellen Umfeld in eine (ähnliche) Umbruchzeit (wie wittenwiler) hineingeboren wurde, äußert sich Ende des sechzehnten Jahrhunderts dazu folgendermaßen:

Was hat das arme Zeugungsgeschäft, das so natürlich, so notwendig, so gerecht ist, den Menschen zuleide getan, daß sie ohne schamrot zu werden, davon zu sprechen sich nicht erlauben, und es aus ernsthaften, ehrbaren Gesprächen verbannen? Wir sagen ohne alles Bedenken: töten, stehlen, verraten, und jenes würden wir nicht ohne entsetzliches Maulspitzen nennen.143

Der materiell-leibliche Lebensbereich muß sich im modernen Kanon des individuellen Körpers mit einer reduzierten, veränderten Bedeutung begnügen. Er wird "nur auf der privaten und individualpsychologischen Ebene gesehen, wo eine unmittelbare Beziehung zum Leben der Gesellschaft und zum kosmischen Ganzen nicht gegeben ist."144 Im Gegensatz zu den meisten literarischen Werken in Europa, die ab Anfang des siebzehnten Jahrhunderts entstehen, wimmelt es im "Ring" wittenwilers noch von Spuren des grotesken Körpers und der weltanschaulichen Perspektive dieses Körperkanons. Vor allem durch das Bauernturnier, das Hochzeitsmahl mit seinem anschließenden Tanzgemenge und den finalen Dörferkrieg wälzt sich ein

mächtiger Strom des grotesken körperlichen Elements, des zerstückelten Körpers [...], ein Strom von Därmen und Innereien, aufgerissenen Mündern, Verschlingendem und Verschluckendem, von Essen und Trinken, SichEntleeren, Urin und Kot, Tod, Geburt, Jugend, Alter etc. Die Körper sind untereinander, mit den Dingen [...] und mit der Welt vermischt.145

Diese Behauptung mit pointierten, beredt bezeugenden Textstellen zu belegen, ist die Aufgabe des nächsten Kapitels.

3. Der groteske Körper im "Ring"

3.1. Das Maul als oberer Zugang zur Körperhölle

Eines der hervorstechenden Merkmale der grotesken Körperkonzeption bachtins, die Schilderungen von Personen mit weitklaffenden Mäulern146, ja Schlündern, die als Tor zu deren (grotesker) Körperhölle - dem Bauch oder gar dem Unterleib im weitesten Sinne - fungieren (vgl. Kap. 2.4.3.), finden sich zuhauf im "Ring". Ich führe als Belegstellen einige Passagen aus der Schilderung des Hochzeitsmahles an.

Vv. 5779-5784 Seu hieten auch ein andern sin:

Ob in ichtz emphiel da hin Von dem l ö ffel und dem dr ü ssel, Daz daz wider k ä m ind sch ü ssel; Won die m ä ulr in warend weit Und offen gar ze aller zeit.

Es ist interessant zu beobachten, daß der heutzutage als zivilisiert geltende Ausdruck Mund für die orale Körperöffnung in wittenwilers Text eher selten Verwendung findet. Dieser gesittetere Terminus ist immer gleich ein in der Neuzeit dem Tier zugeordnetes Maul, weitgeöffnet und das während des ganzen Mahles. Dies zeigt an, in welcher Unmäßigkeit die Nahrungsmenge von den Tafelnden, die angemessener als Fresser tituliert werden können, in sich hineingeschaufelt wird:

VV. 5753-5758 Des fuor er her mit paiden henden

In daz chraut zuo allen enden; Er fasst der speis ein gauffen vol. 'Nu witter ü bel oder wol', Sprach er zuo der selben stund, ' Du muost her in meinen schlund. '

Das Maul mutiert hier zum Schlund, der eher mit einem dahinterliegenden topographischen Abgrund zu assoziieren ist als mit den Verdauungsorganen eines noch so gewaltigen Tieres, in das die Nahrung hineinwandert.

Ein weiteres Beispiel für die Omnipräsenz dieses Körperorgans im "Ring" findet sich einige Seiten weiter im Text:

Vv. 6079-6090 Die snitten stiessens gm ä chleich dar

Und natzten seu enwench da vor: Daz wurffens in des mundes tor. Die snitten schlunden seu nicht gar, Daz ü berig stiessens wider dar Und fuoren zgleicher weis sam vor Umb hin ze des schlundes tor. Ieder daz so lange traib, Daz auf dem tisch kein brot belaib. Die andern all die sahent zuo Recht sam die wolf gen ainer kuo .

Analog zu einem (modernen) Kleinkind, das während der sogenannten "oralen Phase"147 expansiv danach trachtet, mit seinen Schleimhäuten die Umwelt zu sondieren, kommunizieren die gpauren wittenwilers ganzleiblich - aber vor allem durch die Materie, welche die weitgeöffneten Schlünder passieren lassen - mit ihrer Umwelt, indem sie sich grotesk übersteigert geschildert im Laufe des Hochzeitsschmauses buchstäblich ohnmächtig essen und trinken.148

3.2. Wechselseitig sich verschlingende Leiber

Im Bild derjenigen Festteilnehmer, die auf die Esser starren wie die Wölfe auf eine wohlgenährte Kuh (vgl. das letzte Zitat), tritt ein weiterer Topos des grotesken Körpers zutage: Das Moment der grotesken Körper, die im Begriff sind, sich gegenseitig zu verschlingen.149 Während die einen vorerst tatenlos zuschauen, wie sich die anderen die rohen Eier einverleiben, wandelt sich im Text - eingeleitet durch diese rhetorische Figur - die Haltung der ersteren. Sie beäugen die Schlingenden wie ein Rudel Wölfe einer Kuh z. B. beim Äsen auf der Weide zuschauen würde - nach Raubtierart; innerlich sind sie auf dem Sprung, sich über den gemästeten Körper des Pflanzenfressers herzumachen und sich den wiederum einzuverleiben nach dem ewig gültigen Gesetz der Wildnis: Fressen und Gefressenwerden. Hier deutet sich - so Bachtin - eines der "[...] Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers"150 an, das jener als die "[...] Zerstückelung und [das] Verschlungenwerden durch einen anderen Körper" (vgl. Kap. 2.4.3.) beschreibt.151

3.3. Autonome Körperteile als erniedrigte Doppelgänger

Ein besonders drastisches Motiv der Konzeption des grotesken Körpers findet sich bereits viel früher im Text, als Mätzli nach der Abstrafung durch den Vater erkennt, daß sich im Endeffekt in ihrer mutzen (Vv. 1566, 1591, 2221) das Objekt der Begierde Pertschins (V. 1608) manifestiert. Dieses Körperorgan verursacht ihr Leid; es ist ihre Möse,152 nach der sich Triefnas so heftig sehnt, daß er das Haus der Familie R ü erenzumph (V. 75) belagert ( vgl. Vv. 1380-1563), ja regelrecht aufzuessen versucht, um wenigstens mit einer Art symbolischem Surrogat von Mätzlis Körper vereint zu sein ( vgl Vv. 1287f.). Deshalb beginnt die futzen (V. 1572) Mätzlis Mißfallen zu erregen, worauf sie den rauhen fleken (V. 1568) windelweich prügelt (Vv. 1567-1571). Hier liegt eigentlich ein Fall von Selbstverstümmelung vor, aber da Mätzli ihre futzen noch nicht in ihre Gesamtpersönlichkeit integrieren kann, behandelt sie sie eben feindselig wie einen aggressiven Fremdkörper. Sie wendet sich an sie, als ob sie mit einer mit ihr im Clinch liegenden Person reden würde:

Vv. 1572-1579 M ä tzel zuo der futzen sprach:

' Got geb dir laid und ungemach

Und darzuo allen smertzen, Den ich an meinem hertzen So pitterleichen dulde N ü r von deiner schulde! ' Also schluog sei aber dar, Bis daz ier das maul geswar [.]

Mätzli behandelt ihre mutzen, als sei sie eine autonome Persönlichkeit, da ihr die eigenen sexuellen Triebregungen - die durch ihre Geschlechtsteile symbolisiert erscheinen153 - bis zu diesem Zeitpunkt noch unbewußt sind. Mätzli lebt offensichtlich bis dato noch keine partial- triebintegrierte Sexualität154 ( vgl. Vv. 2129-2137). Die vom Restkörper psychisch vorübergehend abgespaltene futzen erlangt daher in diesem Moment einen Status des Eigenlebens, die sie zu einem zweiten, separierten Körper werden läßt, dessen Schmerzen Mätzli folglich auch nicht wahrzunehmen scheint. So mutiert die futzen zu einer erniedrigten Doppelgängerin155 von Mätzli, einer exzentrischen Anomalie, deren flugs aufgebaute Autonomie ein paar Verse später ähnlich salopp, wie sie von wittenwiler konstruiert wurde, wieder in sich zusammenbricht. Vorerst erteilt wittenwiler dieser Vulva sogar Rederecht, das sie auch nutzen würde, wäre sie durch die vielen Mißhandlungen von Mätzli nicht so zugeschwollen und ihrer sämtlichen Zähne verlustig gegangen:156

Vv. 1600-1604 Der pletz der wolt geantwürt haben:

Do warend im die zend aus gschlagen, Daz maul was im geswullen, Er hiet verlorn die wullen.

Die Vulva hat (in diesem Fall präziser: ist) wie die vielen nimmersatten gpauren ein Maul, in das später auf Wunsch Mätzlis immer wieder der Penis157 Nabelraibers hineinzuwandern hat, bis sich der ältere Herr ermattet von dannen schleicht wie ein Bock, dem die Hörner abhanden gekommen sind ( vgl. Vv. 2181f.). Mätzlis grotesker Körper verfügt also über zwei Mäuler, eines im Gesicht und eines zwischen ihren Beinen, wobei sie mit beiden eifrig kommuniziert, vor allem mit dem unteren ( vgl. Vv. 1572-1577, 1592-1599).

Im Sinne des grotesken Körpers postuliert diese Lesart des Textes, daß noch zur Entstehungszeit des "Ring" von Heinrich wittenwiler

alle Öffnungen des Körpers [einst, Anmerkung stammt von mir] äquivalente Kommunikationskanäle waren, durch die die ganze Welt in ihn hineinströmte, durch die alles in die Welt hinausfloß, und die eine schrankenlose Einheit von Körper, Gesellschaft und Natur erzeugten, bis sie ihm angeekelt und schamhaft verschlossen wurden und der Körper als hermetisches Stück und in (imaginären Stücken) zurückblieb.158 [Vgl. Kap. 2.4.3.].

Wahrnehmungsgeschichtlich bedeutet dies, daß sich die Konzeption des individualisierten, strikt nach außen abgegrenzten, die glatte Oberfläche der Leibesfassade betonenden Körpers159 erst in den letzten vierhundert Jahren vollständig durchsetzt, sprich: sie gewinnt mit dem Einsetzen der Renaissance in breiten Bevölkerungsschichten der sogenannten alten Welt160 sukzessive die Oberhand.161

3.4. Sex, Drugs and Rock 'n' Roll

Was in der literarischen Schilderung des "Ring" besonders im Hochzeitsfest noch zu beobachten ist, das betrifft das 'schamlose' Freilegen des nackten menschlichen Körpers im Sinne einer grotesken, karnevalistischen Weltsicht ( vgl. Vv. 6221-6230 u. Vv. 6399-6414). In einer allmählichen Steigerung wird von den Frauen (u. z. T. auch von den Männern, vgl. die Episode mit Schabenloch Vv. 6221-6229) im Eifer des tänzerischen Tumultes immer mehr nackte Haut freigelegt, ohne daß dabei irgendjemand Scham oder Obszönität empfindet. Die Tanzenden geraten außer sich - durch den reichlichen Alkoholgenuß stimuliert - und steigern sich in eine Ekstase der körperlichen Bewegung.

Vv. 6408-6414 H ü dellein der ward so haiss ,

Daz sei den kittel vor auf raiss, Des sach man ier die iren do [die t ü ttel, V. 6405 ] Und macht viel m ä ngeu hertzen fro; Seu schreuwen all: 'Sei wil ein man: Seu hat ein maul und har dar an. ' Chn ö pfel, nestel prachent vil

Am Ende reißt sich H ü del also vorne den ganzen Kittel auf, unter dem sie offenbar nichts mehr an hat, denn die anderen sehen ihre Brüste und eben noch mehr, sie schauen ihr auf dieses mysteriöse zweite Maul, das mit Haar bewachsen ist und folgern aufgrund des Bewuchses, der indiziert, daß sie geschlechtsreif ist, daß sie einen Mann haben will. Bei dem, was die anderen bei H ü dels überstürzter öffentlicher Entkleidungsaktion sehen und was sie lautstark begrüßen, handelt es sich offensichtlich ein weiteres Mal um das Erscheinen der baren mutzen, diesmal der von H ü dellein. Interessant ist die Bestätigung im Text, daß ihre haarumflorte Vulva (und stellvertretend diejenige jeder Frau) als zweites Maul angesehen wird. Auf den neuzeitlichen Rezepienten wirkt das zu Anfang irritierend, da derartig vollmundige Metaphern heutzutage nicht (mehr) gebräuchlich sind und erst hergeleitet werden müssen.

Es gibt jedoch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Mund/Maul und Vulva162 in der Konzeption des grotesken Körpers. In erster Linie sind diese Organe kommunikationsfähige, sensorisch feinregistrierende Zugänge zum Körperinneren, mit denen die Menschen auf elementare, existentielle Art und Weise Kontakt zur Mitwelt herstellen können und dadurch in der Lage sind, Lust zu empfinden und die Welt dabei in sich hineinreichen zu lassen, mit der Welt ein Stück weit zu verschmelzen (vgl. Kap. 2.4.3.).

Zusätzlich existieren aus der Zeit des Mittelalters Hinweise, daß die Vorstellung von einem zweiten Maul zwischen den Beinen, ja sogar einem ganzen Gesicht an diesem Ort, im Denken dieser Epoche (noch) einen festen Platz inne hält. In zahlreichen Werken der bildenden Künste taucht das Motiv des Geschlechts-Maules auf, speziell bei Abbildungen Luzifers,163 der dargestellt wird, wie er verschiedene Menschenleiber durch seine oralen, genitalen bzw. analen Körperöffnungen zu verschlingen im Begriff ist (oder aber einen Leib wieder auszustoßen, sprich: aus seinem unteren Körperausgang/-eingang neu zu gebären).164 Selbst in dem unzweifelhalft zur abendländischen Hochliteratur zählenden Werk Dante alighieris (1265-1321) - "La Divina Commedia" - taucht das Motiv des verschlingenden/gebärenden Engels der Unterwelt in überaus drastischer Weise auf, so daß bei diesem Motiv in der Tat nicht mehr von einer kulturellen Randerscheinung die Rede sein kann.

Der Kaiser von dem Reich der Schmerzen ragte vor aus dem Eise mit der halben Brust und mehr entsprach ich der Giganten Gr öß e, als die Giganten seinen Armen gleichen . [...]

Er weinte aus sechs Augen, an drei Kinnen troff mit den Tr ä nen blut'ger Geifer nieder . In jedem Maul zerquetscht' er einen S ü nder mit seinen Z ä hnen ä hnlich, wie man Flachs bricht so da ß er drei in solcher Weise qu ä lte. 165

alighieri schildert Luzifer als ein grotesk-gigantisches Mischwesen, das über drei Köpfe sowie sechs Flügel (V. 46f.) verfügt und mit jedem seiner drei Mäuler einen bekannten Sünder aus der antiken oder biblischen Geschichte verschlingt oder gebiert. Er weint unter Schmerzen, seine Körpersäfte fließen in Strömen und es wird nicht klar, ob die Schmerzen von einem Geburtsakt herrühren oder von dem Mitleid, das er mit den 'großen' Sündern hegt, die er zwischen seinen mahlenden Zähnen zerquetschd verschlingen soll. Es prägt sich hier ein groteskes Bild von drastischer Dringlichkeit ein.

Die Konzeption des grotesken Körpers mit ihren extremen Abweichungen von den Vorstellungen des integren Leibes der modernen Kultur bleibt jedenfalls bis in die Zeit des späten Mittelalter und den Beginn der frühen Neuzeit selbst in die Kommunikationscodes der Hochkultur fest eingeschrieben.166

3.5. Der Grotesk-Leib des Fest-Giganten

Letzte Hinweise zur (literarischen) Omnipräsenz des grotesken Körpergefühls der "Ring"- Protagonisten, dessen Vorherrschaft über die didaktischen Belehrungen (Ehedebatte, Brautwerbung, Schülerspiegel, Laiendoktrinal, Gesundheits-, Tugend-, Haushalts-, Kriegslehre, Totenklage, Vorkriegsdiplomatie usw.), welche aus christlicher Perspektive geschildert werden - selbstverständlich in wittenwilers Text gewürdigt werden und weite Teile des Epos ausmachen - vor allem jedoch im Festschmaus und im Tanzgeschehen kulminierend, dialogisiert, profanisiert (vgl. Kap. 2.2.) und vollkommen konterkariert werden,167 lese ich aus folgenden zwei Textstellen heraus (s. a. die nächste Seite des Fließtextes):

Vv. 5997-6018 Do pracht man in einn eimer vol

Der sauren milch: die trunkens wol. R ü efli ze der selben stund Satzt den eimer an den mund

(...)

Er tranch im ein so lengi vart, Daz es die praut verdriessen ward Und huob in an ze straffen; Sei sprach: 'Du pist enschlaffen In dem vas nach meinem dunken Oder in der milch dertrunken.' Des ward R ü efel lachen. Was hiet die milch ze schaffen? Sie fuor im in daz hirn hin auf Und ran im zuo der nasen aus Wider in den ch ü bel so . Er pot den andern ztrinken do: Der ch ü bel der gie umb und umb . L ä renchropf der macht es chrumb, Der im nicht gnuog der milche vand, Und warff den ch ü bel an die wand.

Klar wird anhand der Lektüre dieser Passage, daß es nicht nur die Milch ist, die mithilfe des Eimers in der Menge zirkuliert. Ein Konglomerat von diversen Körperflüssigkeiten wird in dem Milchkübel von Feierndem zu Feierndem weitergereicht ( vgl. V. 6011f.). Dieser Austausch von Sekreten deutet wie beim Koitus168 sehr bildlich darauf hin, wie die Körpergrenzen zwischen den Individuen buchstäblich ins Fließen kommen und sich die Körper dadurch im Festakt - infolge des gemeinsamen, mit Körperflüssigkeiten durchsetzten Milchtrunks - vermischen, in einem Festakt, der mehr und mehr zu einer Orgie ausartet, wie sie bachorski beschreibt:

[...] die Personen selbst zersetzen sich in dieser gigantischen Orgie. Sämtliche Körperöffnungen tun sich auf, und das Hineingeschaufelte ergießt sich wieder über den Tisch, Speisen und Nachbarn. Es wird gespuckt [ V. 6159 ] und geschneuzt [ Vv. 5961f. ], gehustet [ V. 5861 ] und gekotzt [ Vv. 5766f. ], gefurzt [ Vv. 6140ff. ] und gerülpst [ V. 6326 ], geblutet, gepinkelt [ V. 6172ff. ] und geschissen [ Vv. 6168f. ]. Getrieben von einer entfesselten Leiblichkeit agieren hier nur noch groteske Körper, die nur aus Öffnungen und Ausscheidungen zu bestehen scheinen. Jegliche Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Ego und Umwelt, zwischen Zucht und Unzucht ist aufgehoben.169

Im anschließend stattfindenden brodelnden Tanzgewühle der Feiernden entsteht aus der Menge endgültig eine Art gigantischer Kollektivkörper. Die Isoliertheit der Individuen (die zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht so ausgeprägt ist, wie sie es die Postmoderne in den sogenannten 'hochtechnisierten' Zivilisationen zu evozieren imstande ist - vgl. Anm. 158) wird phylogenetisch heruntergefahren auf eine (durchaus heilsam wirkende) frühere Kulturstufe der Gemeinschaft,170 in der strikt beachtete und eingehaltene Körpergrenzen noch irrelevant sind. Die sexuelle Komponente steigert sich dabei unüberlesbar:

Vv. 6413-6423 Chn ö pfeln, nestel pdrer schlitt .

Waz scholt daz do die gsellen btragen, Die der minn mit griffrachent vil Und (recht sam ich euchs k ü rtzen wil) Von dem gumpen und gedreng Ward der tantz so ü brigs eng , Daz der preutgom wisst nicht, wo Er was und keren scholt aldo. Er was gesteket in der mitt Sam in dem sne ein anlen phlagen ?

Bertschi, der Narr, erfährt auf für ihn verstörende Weise die unio mystica der orgiastischen Festgemeinschaft,171 in der die Grenzen zwischen Innen und Außen, Lust und Schmerz, Gut und Böse, Du und Ich irrelevant sind. Dadurch verliert Bertschi die Orientierung (wie später Eisengrein auf tragische Weise für den Ausgang des Epos, vgl. Vv. 6447ff.) über seine Körpergrenzen (und Triebbedürfnisse), steckt in der wütenden, ekstatisch sich gebärdenden, sexuell aufgeheizten Menge fest, kann sich nicht rühren und nicht befreien, als ob er im Tumult der wütenden Tanzkörper mit den anderen zusammengewachsen wäre zu einem gigantischen Körperkonglomerat, einem neuen Organismus, eines riesenhaft übersteigerten, grotesken Vielleibes, der sich in der tänzerischen Ekstase gebildet hat. Bertschi kommt mit dieser Verschmolzenheit jedoch nicht klar, da sie ihn seiner keimenden Individualität zu schnell wieder beraubt.

Am Ende möchte ich betonen, daß sich die Konzeption des grotesken Körpers in wittenwilers "Ring" an einer Vielzahl von Textstellen nachweisen läßt - an mehr Stellen, als ich hier nennen kann. Es könnte sich darüber durchaus eine weitere Arbeit schreiben lassen, wenn alle Textstellen aufgezählt, beschrieben und interpretiert werden dürften. Man müßte nur ein wenig selektiver die Abschnitte zum Bauernturnier und zum Schlachtengeschehen nachschlagen und schon huschen, taumeln und tummeln sich vor dem lesenden RezepientenAuge eine Heerschar an grotesken Leibern auf und über die Zeilen -

Vv. 2113-2114 Man m ö cht es ewencleichen treiben;

Besser ist, wier lassins pleiben [,]

- wie wittenwiler das auf seine so unnachahmliche Art zu formulieren wußte.

Schlußbetrachtung

Bei der Geschichte, von der der "Ring" berichtet, handelt es sich im Grunde um eine tragische, denn der Erzähltext mündet in einem gigantischen Scheitern. Dennoch wirkt die Fabel bis zu ihrem unseligen Ende ausgesprochen anregend auf die Lachmuskeln der Leser,172 wird doch das Geschehen konsequent aus einer grotesken Perspektive geschildert. Diese durchgängige erzählerische Haltung beherbergt eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem fabulösen Roman von François rabelais und der m ä r von Heinrich wit-tenwiler. Das ist neben den aufgezählten karnevalistischen Textelementen der Grund, weshalb mir bachtins Theorie von der Karnevalisierung der Literatur (die er anhand der Lektüre von "Gargantua et Pantagruel" 173 knüpft) auf den rund 130 Jahre älteren "Ring" übertragbar scheint. Beide Werke sind von demselben Geist durchdrungen.174 Bislang nimmt nur eine Minderheit innerhalb der Fachwissenschaft wahr, daß bei wittenwiler die nie versiegende, humorvolle Sympathie für seine literarischen gpauren -Gestalten deutlich überwiegt, bei aller Negativität und allen Katastrophen, die Bertschi und seine Lappenhausener verursachen. wittenwilers groteske Weltsicht zeichnet die Taten seiner Helden konsequent mit verschmitztem Augenzwinkern, das Komische in der Schilderung der z. T. haarsträubenden Geschehnisse kommt nie zu kurz. So fürchterlich die gpauren sich auch aufführen, der Text strotzt vor wohlwollendem Verständnis seines Schöpfers für die t ö rpel (V. 41) in ihrer ganzen vollmundig, ja saftig geschilderten Vitalität. Die Katastrophen und die Inkontinenz der Narren, all das "Nichtseinsollende", was die ursprünglichen Verfasser der Lehrpassagen (die wittenwiler zur 'Erbauung' einflicht) beim gemeinen Volke eigentlich auszumerzen trachten, wird aus grotesker Perspektive mithilfe eines augenzwinkernden, selbstironischen Erzählers und von einem immer durchscheinenden, gutgelaunten Pathos ins Grotesk-Gigantische gehoben (vgl. Kap. 2.4.2.). Das Leben ist letztendlich stärker als alle reglementierende, tote Moral der Herrschenden. Insoweit ist der um 1407 verfasste "Ring" wittenwilers ein humanistisches Frühwerk - und sicherlich gattungskategorisch weder als Moral- noch als Negativdidaxe im Stile der grobianischen Literatur angemessen erfaßbar175 - das wegen seiner frühen Datierung in der Literaturgeschichte avantgardistische Züge trägt.

Nach diesem Ausblick muß ich zur Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Arbeit kommen: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Einflußnahme karnevalistischen (fastnächtlichen) Brauchtums alemannischer Ausprägung auf das epische Gerüst des "Ring". Durch die Zahl der im Text belegbaren Zusammenhänge zwischen dem historischen Festablauf des Karnevals und dem furiosen Treiben der "Ring"- gpauren ist nachzuweisen, daß die Affinität zwischen historischer Fastnacht und der narrativen Struktur bei wittenwiler nicht von der Hand zu weisen ist.176

Als bekräftigende Belege für meine These können angeführt werden: die sehr häufige Verwendung des Terminus n ä rrel ( u. a. V. 1412) und seiner Synonyme zur Charakterisierung der 'Helden' des Epos - die spezifische Figurencharakterisierung des Bertschi Triefnas als Narren-Prototyp schlechthin - der zeitliche Ablauf der historisch überlieferten Fastnacht als Modell für die erzählte Zeit im "Ring", die Verwendung der 'sprechenden Namen', welche wittenwiler dem Fastnachtsspiel entlehnt - die Schilderung u. a. der bäurischen Wappen im stechen und turnieren als Embleme der 'verkehrten Welt', welche ein wesentliches strukturierendes Element des Karnevals darstellt - das Auftreten von Kämpferinnen und Kämpfern in der Dörferschlacht, die als regionale Fastnachtsmasken überliefert sind - die Verleihung karnevalistischer 'Ehren'-Titel an alle möglichen Figuren: dies ist ein Vorgang, der bis heute in der Karnvevalszeit zu beobachten ist.

Das zweite Kapitel geht einen Schritt weiter und eruiert eine Möglichkeit, die Erkenntnis vom karnevalistischen Charakter des "Ring" für die Beleuchtung einer offenen Frage der "Ring"-Forschung fruchtbar ins Spiel zu bringen. In der Forschung steht die Lösung des Problems einer sinnvollen Gattungszuordnung des "Ring" im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung aus.

Meines Erachtens manifestiert sich in bachtins Theorem von der Karnevalisierung der Literatur in der Zeit der humanistischen Renaissance ein ernstzunehmender Lösungsansatz dieses Problems der wittenwiler-Forschung, denn alle Kriterien, die bachtin aufstellt, um die von ihm aufgeworfene Karnevalisierung zu beschreiben, sind im "Ring" nachweisbar (vgl. Kap. 2.3.), und da bachtins Theorie eine schlüssige ist, sehe ich keinen Grund, weshalb hier nicht der Schlüssel zum Problem der Gattungszuordnung des "Ring" aufgegetrieben worden sein sollte. Folglich stellt meine Arbeit die These auf, daß der "Ring" ein früher, aber einzigartig gebliebener Vertreter der hiermit aufgeworfenen Gattung des karnevalistischen Epos in der deutschen Literaturgeschichte ist. Um diese These zu stützen, greife ich auf bachtins Definitionen der karnevalistischen Schreibweisen zurück - im zweiten Kapitel der Hausarbeit sind diese knapp referiert - und zwar v. a. deren wirkungsmächtigste, anschaulichste, um das Vorkommen dieser speziellen Schreibweise in der epischen Handlung des "Ring" als durchgängig benutzte, gestalterische Ausdrucksform wittenwilers (im dritten Kapitel dieser Arbeit) zu dokumentieren. Es handelt sich hierbei um die Darstellungsart des grotesken Körpers.

Laut bachtin besteht die Optik der Groteske besonders aus der Darstellung von Erzählfiguren, die in erster Linie über ihre Körperlichkeit gekennzeichnet werden. Ihre Körperlichkeit ist allerdings keine klar abgegrenzte, sondern eine, die durch ihre Öffnungen und Auswüchse charakterisiert ist. Die Grenze des Leibes und der Identität seines darin geborgenen Individuums verläuft fließend, im Extremfall sind die Grenzen zwischen Körper und Welt aufgehoben. Im Fest folgen die beteiligten Figuren allein der spontanen Triebbefriedigung. So werden die Leiber als vorzivilisatorische Gestalten in ihren unmittelbaren Funktionen und unabweisbaren Bedürfnissen charakterisiert. Gesellschaftliche Hierarchien und sittliche Normen werden entweder aufgelöst oder auf den Kopf gestellt (umgestülpt, verkehrt), der Vorgang zeichnet sich in seiner Beschreibung in jedem Fall durch einen lustvollen Anarchismus aus.177

So versinken die Schlinger und Schlucker im Hochzeitsmahl regelrecht in den festen und flüssigen Nahrungsmitteln, z. B. zirkuliert ein Bottich saurer Milch innerhalb der offenen Körpergrenzen, auf welche Weise sich in dieser Vision eine sich allmählich oberflächlich intern gliedernde und ordnende Gesellschaft zu einem großen sozialen Festmahlsleib, einem gigantischen Grotesk-Körper verflüchtigt, der allein der Logik eines naturbestimmten Triebes zu folgen scheint.178 Durch die besondere Situation der Festgemeinschaft entdifferenzieren sich die Individuen, deren Einzel-Identität als eben erst oberflächlich implementiertes soziales Konstrukt erkennbar wird - genau wie die Gesellschaft selbst, welche als eine in die Individuen hineinreichende, hineingegliederte erscheint.179

Das Geschehen des "Ring" kulminiert also im Hochzeitsfest und seinen Folgen unter dem Vorzeichen des befreienden Lachens, das sich an der Suspendierung aller Normen und dem Triumph der Triebe berauscht. Das Gelage und Gewimmel mündet parallel in einer (leidlich) friedlichen sexuellen Utopie und der Dystopie des Krieges als Todesvision, die sich selbst verschlingt als die Form des Sterbens, der die (in einem archaischen Verständnis regenerationslogische) Wiedergeburt aus dem schallenden Gelächter vorausgehen muß. Mit dem Nebeneinanderstellen von konstruktiver und destrukiver Weltvision betreibt der Text eine konsequente Dialogisierung unterschiedlicher Standpunkte, zwischen denen sich keine Synthese abspielt. Laut bachtins Literaturtheorie entwickelt sich aus der Spannung dieser nebeneinander stehenden Entwürfe, die sich gegenseitig relativieren, hinterfragen, nivellieren, fruchtbare Impulse infolge der gegenseitigen Entwertung des Alleingültigkeitsanspruchs von Utopie und Dystopie.180 Im Bild der Bauern an ihrer improvisierten Festtafel entlarvt sich das vergesellschaftete Menschentum als die Besatzung eines Schiffes voller Narren, das blindlings in den Untergang segelt.181

Am Ende sieht sich der Rezepient einem ambivalenten, sich den Regeln der gängigen Normen entziehendem Weltentwurf gegenüberstehen, der in einer regionalen Apokalypse mündet. Erst außerhalb des Textes kann sich innerhalb eines regenerationslogischen Diskurses eine Hoffnung hinter der Hoffnungslosigkeit entwickeln.

Literaturverzeichnis

1. Quellen

wittenwiler, Heinrich: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hrsg. von Horst Brunner. tuttgart: Philipp Reclam jun. 1991 [= Universal-Bibliothek, Nr. 8749], S. 5-585.

2. Sekundärliteratur (oder: Forschungsliteratur zum "Ring" und zum späten Mittelalter)

2.1. Handbücher

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2.2. Monographien

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puchta-mähl, Christa Maria: "Wan es ze ring umb uns beschait". Studien zur Narrenterminologie, zum Gattungsproblem und zur Adressatenschicht in Heinrich Wittenwilers "Ring" (Zugl.: Diss. phil. Kiel 1983). Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1986.

riha, Ortrun: Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers "Ring" 1851 - 1988 (Zugl.: Diss. phil. Würzburg 1988). Würzburg: Königshausen & Neumann 1990 [= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Band 4 - 1990].

sowinski, Bernhard: Der Sinn des "Realismus" in Heinrich Wittenwilers "Ring". Diss. Phil. Köln 1960.

2.3. Wissenschaftliche Aufsätze

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brunner, Horst: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: Heinrich wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991 [= Universal-Bibliothek, Nr. 8749], S.653-675.

goheen, Jutta: Der feiernde Bauer im Ring Heinrich Wittenwilers. Zum Stil des mittleren Teils. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Band 8, 1994/95, S. 39-58.

ruh, Kurt: Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt. Wittenwilers "Ring". In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981, hrsg. von L. Grenzmann und K. Stackmann. Stuttgart 1984, S. 344-354.

röcke, Werner: Das verkehrte Fest. Soziale Normen und Karneval in der Literatur des Spätmittelalters. In: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum XVII 1 (1.1990), S. 203-231.

schindler, Norbert: Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 7/1984, S. 9-57.

schmidt-wiegand, Ruth: Heinrich Wittenwilers "Ring" zwischen Schwank und Fastnachtsspiel. In: Sagen mit sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich, hrsg. von Helmut Rücke und Kurt Otto Seidel. Göppingen 1976, S. 245-261 [= GAG 180].

3. Tertiärliteratur (oder: Literatur zur Kulturtheorie)

bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, hrsg. von Renate Lachmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1987, S. 345-383.

czerwinski, Peter: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und Zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II. München: Wilhelm Fink Verlag 1993 [Teilweise zugleich: Berlin, Freie Universität, Halbilitations-Schrift. - Teilweise im Campus-Verlag, Frankfurt/M., New York].

duerr, Hans Peter: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 19851 [= edition suhrkamp 1345; Neue Folge Band 345].

ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Aus dem Italienischen von Martina Kemper. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1990.

hamdorf, Friedrich Wilhelm: Dionysos - Bacchus. Kult und Wandlungen des Weingottes. München: Georg G. D. W. Callwey Verlag 1986.

nietzsche, Friedrich: Die dionysische Weltanschauung, Kapitel 1-4. In: Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-V. Nachgelassene Schriften 1870- 1873. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 19882 [= Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Band 1], S. 553-577.

simm, Hans-Joachim (Hrsg.): Das Fest. Ein Lesebuch vom Feiern. Herausgegeben von HansJoachim Simm. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1981 [= Hanserbibliothek].

© 1999 by Stephan Schmauder

[...]


1 Diese Einfügung in eckigen Klammern stammt von mir. Im fortlaufenden Fließtext verwende ich zukünftig ohne weitere Bennennung in eckigen Klammern ausgeführte Anpassungen oder Auslassungen, wenn es nötig ist, syntaktisch das Zitat in den grammatikalischen Satzkontext einzufügen, oder wenn ich zusätzliche Informationen geben möchte. Im übrigen merke ich hier an, daß diese wissenschaftliche Hausarbeit nach den alten Regeln der deutschen Rechtschreibung verfaßt ist.

2 Zitat Arpad Stephan andreànszky: Topos und Funktion. Probleme der literarischen Transformation in Heinrich Wittenwilers "Ring", Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1977 [= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik, Band 66], S. 11.

3 Ich beziehe mich mit dieser Aussage auf folgende Publikationen: Michail M. bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm nach der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage 1963. München: Carl Hanser Verlag 1971 [= Literatur als Kunst. Eine Schriftenreihe, hrsg. von Walter Höllerer]. Michail M. bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Berlin: 1985 (1. ed. 1965). Michail M. bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, hrsg. von Renate Lachmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1987.

4 Siehe u. a.: Hans-Joachim simm: Nachwort. In: Das Fest. Ein Lesebuch vom Feiern. Herausgegeben von Hans-Joachim simm. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1981 [= Hanserbibliothek], S. 399- 419, hier S. 400f. Norbert schindler: Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Volkskunde, Neue Folge 7/1984, S. 9-57. Werner rö>Spätmittelalters. In: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum XVII 1 (1.1990), S. 203-231. Dietz-Rüdiger moser: Lachkultur des Mittelalters? Michael Bachtin und die Folgen seiner Theorie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Hrsg. v. Rainer Gruenter, 84. Band. 1990, S. 89-111 moser wirft bachtin bezüglich dessen Theorienbildung Tempozentrismus (s. moser, S. 90ff.) vor, polemisiert heftig gegen die beginnende Rezeption bachtins in Westdeutschland, leitet aber seine Einsprüche gegen bachtins Theorie von einer Karnevalisierung der Literatur aus einem sich selbst einsperrenden Zirkelschluß her und verwickelt sich folglich in seiner Argumentation in Widersprüchlichkeiten: er beschränkt den Karneval als ausschließliche Erfindung der christliches Kultur, fest verankert in der kalendarischen Liturgie, um dann einige Male doch umwunden zugeben zu müssen, daß der Karneval in der Tat paganische Vorläufer in einer Vielzahl von Kulturen hat (vgl. moser, Lachkultur des Mittelalters? 1990, S. 99ff; S. 106ff; vgl. a. röcke, Verkehrtes Fest 1990, S. 209; S. 216f; S. 220) und daher eine historische Makrostrukur bildet als sich wandelnder Festtypus. So argumentiert moser ausschließlich mit Bezugnahme auf klerikal-theologische Texte aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit - ohne auch nur die Auswertung anderer Quellen ins Auge fassen zu wollen. Da seine Argumente gegen bachtin auf diesen theologischen Zirkel beschränkt bleiben, verstrickt er sich am Ende mit seiner Absage an die Ernsthaftigkeit der Erörterung von bachtins Theoremen in den oben schon angesprochenen Zirkelschluß. Außerdem desavouiert moser sich selbst durch die lamentierende Lautheit seiner Polemik gegen bachtin, die z. T. unwissenschaftliche Züge annimmt (Vgl. röcke, Verkehrtes Fest 1990, S. 222, Anm. 28).

5 Siehe dazu u. a.: Hans-Jürgen bachorski: per antifrasin: Das System der Negationen in Heinrich Wittenwilers Ring. In: Monatshefte 80, 1988, S. 469-487. Hans-Jürgen bachorski: Irrsinn und Kolportage. Studien zum 'Ring', zum 'Lalebuch' und zur 'Geschichtsklitterung'. Habilitationsschrift Universität Bayreuth 1992, S. 92-110. Im weiteren Sinne auch Peter czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und Zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II. München: Wilhelm Fink Verlag 1993 [Teilweise zugleich: Berlin, Freie Universität, Halbilitations-Schrift. - Teilweise im Campus-Verlag, Frankfurt/M., New York], S. 482-487; S. 469, Anm. 855; S. 476ff; S. 496; S. 503, Anm. 933; S. 507/508. Hans-Jürgen bachorski: Der Ring: Dialogisierung, Entdifferenzierung, Karnevalisierung. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft, Band 8, 1994/95, S. 239-258.

6 Mir liegt zu diesem Text folgende Ausgabe vor: Heinrich wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991 [= Universal-Bibliothek, Nr. 8749], S. 5-585. Vgl. auch ausführlicher den folgenden Absatz im Fließtext. Auf die oftmals in der Vergangenheit vorgebrachte Hypothese zur Gattungszuordnung des "Ring" in den Bezugsrahmen der didaktischen Literatur gehe ich in Kap. 2.1. näher ein. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser umstrittenen Hypohese und zur Frage, ob die didaktischen Passagen den Charakter des "Ring" stärker prägen als die epische gpauren -Handlung vgl. v. a. bachorski: Karnevalisierung 1994, S. 245ff.

7 Vgl. Horst brunner: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S.653-675, hier S. 675, Anm. 28 und v. a. Arpad Stephan andreànszky: Topos & Funktion 1977, S. 11; S. 15ff; S. 140f. M. E. kommt andreànszky 1977 der Lösung des Gattungsproblems bis auf einen letzten, entscheidenden Schritt heran, er wirft die ganze Problematik auf, analysiert sie korrekt, macht aber den letzten (in der Tat) kreativen, konsequenten, schlüssigen Schritt nicht, sich auf den Weg zu machen, eine neue Gattung zu konstruieren (vgl. andreànszky: Topos & Funktion 1977, S. 140). Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, daß ihm bachtin offenbar nicht vorliegt beim Verfassen seiner brillianten Studie.

8 Vgl. im Ganzen bachorski: Karnevalisierung 1994, S. 239-241 und zur pejorativen Aburteilung andreànszky: Topos & Funktion 1977, S. 16f.

9 Zuletzt Christoph gruchot: Heinrich Wittenwilers Ring. Konzept und Konstruktion eines Lehrbuchs. Göppingen: Kümmerle Verlag 1988 [=GAG, Nr. 475], S. S. 16. gruchot bemüht sich im Verständnis einer langen mediävistischen Tradition, wittenwilers "pädagogischdidaktisches Konzept" des "Ring" "heraus[zu]arbeiten".

10 Vgl. u. a. Wittenwiler: Der Ring 1991, S. 10, V. 36. Künftig werde ich alle Zitate aus dem Primärtext des "Ring" kursiv schreiben und nur durch Nennung der Versangaben in Klammern im laufenden Text kenntlich machen.

11 Die Hervorhebung stammt vom Verfasser der Hausarbeit. Ich werde künftig so verfahren, daß ich fettdruckte Buchstaben im Text immer dann einsetze, wenn ich einen Passus besonders betonen will. Damit ist klar gemacht, daß Fettdruck im Text ausschließlich von mir stammt.

12 Siehe dazu bachtin: Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 345-383.

13 Vgl. brunner: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S. 662 u. S. 673ff.

14 Das ist die mundartliche Bezeichnung für die Zeit, in der der Karneval alemannischer Ausprägung bis auf den heutigen Tag im südbadischen Kulturraum - und damit auch in der Region um und in Konstanz - begangen wird. Im Kreis der wittenwiler-Forschung besteht seit spätestens 1990 Einigkeit darüber, daß die Wirkungsstätte Heinrich wittenwilers die Stadt Konstanz ist. Vgl. das Nachwort von Horst Brunner in wittenwiler: Der Ring 1991, S.655ff.

15 Vgl. Bruno boesch: Zum Stilproblem in Heinrich Wittenwilers "Ring". In: Philologia Deutsch: Festschrift zum 70. Geburtstag von Walter Henzen, Bern: Francke Verlag 1965, S. 72.

16 Siehe Samuel singer: Neidhart-Studien. Tübingen: J. C. B. Mohr 1920, S. 41 und 44 f.

17 Sammelanmerkung für die im Fließtext erfolgte Aufzählung der zu diesem Thema Publizierenden. Bernhard sowinski: Der Sinn des "Realismus" in Heinrich Wittenwilers "Ring". Inaugural- Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, Köln 1960, S. 105-109. Ruth schmidt-wiegand: Heinrich Wittenwilers "Ring" zwischen Schwank und Fastnachtsspiel. In: Sagen mit sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich, hrsg. von Helmut Rücke und Kurt Otto Seidel. Göppingen: Verlag Alfred Kümmerle 1976, S. 245-261 [= GAG 180], S. 247- 258. Arpad Stephan andreànszky: Topos & Funktion 1977, S. 32 und 63. Birgit knühl: Die Komik in Heinrich Wittenwilers "Ring" im Vergleich zu den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, Göppingen: Kümmerle Verlag 1981 [= GAG, Nr. 332], S. 235f; 309. Kurt ruh: Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt. Wittenwilers Ring". In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981, hrsg. von L. Grenzmann und K. Stackmann. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1984 [= Germanistische-Symposien-Berichtsbände; 5], S. 349ff. Rolf. R. mueller: Festival and Fiction in Heinrich Wittenwiler's Ring. A Study of the Narrative in its Relation to the Traditional Topoi of Marriage, Folly, and Play, Amsterdam: John Benjamins B. V. 1977 [= German Language and Literature Monographs; Volume 3], p. 87-91. Ortrun riha: Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers "Ring" 851 - 1988, (Zugl.: Diss. phil. Würzburg 1988) Würzburg: Königshausen & Neumann 1990 [= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Band 4 - 1990], S. 194 ff. Horst brunner: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S. 670ff.

18 Vgl. Christa Maria puchta-mähl: "Wan es ze ring umb uns beschait". Studien zur Narrenterminologie, zum Gattungsproblem und zur Adressatenschicht in Heinrich Wittenwilers "Ring", (Zugl.: Diss. phil. Kiel 1983) Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1986, S. IX, XI [Vorwort, Hinweis vom Hausarbeitsverfasser], S. 20f., 36f; 326. Vorab kritisiert Puchta-Mähl die "Ring"-Forschung der vierziger und fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts heftig und betont, daß die Idee, "das inkommensurable Werk unter Zuhilfenahme eines vermeintlich unproblematischen Typus [des Narren-Typus, Hinweis von mir.] zu beleuchten" (Zit; S. IX), ausgesprochen problematisch sei. Der Narrenbegriff sei konturlos und untauglich, so Puchta-Mähl (vgl. S. 326). Ihrer Meinung nach "war die "Ring"- Forschung blockiert durch die Interpretation des Werkens als Narrensatire und deren Implikationen" (Zit; S. XI) und zwar mindestens bis 1976. Überraschenderweise sympathisiert Puchta-Mähl dann mit Boeschs These, der das "Ring"-Epos "[...] im Sinne eines grossen Welttheaters, einer Weltfasnacht [...]" (Zit. S. 20) deutet und findet die Analogie- These von der Parallelität zwischen historisch bezeugtem Fastnachtsablauf und wittenwilers eigenwilliger Behandlung der Zeit durchaus plausibel (vgl. S. 21)! Puchta-Mähl échauffiert sich auf 192 Seiten [!] ihrer Dissertation über die unscharf definierte Narrenterminologie der Germanisten und die generelle Untauglichkeit des Begriffs "Narr" im Zusammenhang mit dem wittenwiler-Text, um am Ende einzugestehen, daß der Terminus "Fastnachtsnarren" mit den gpauren wittenwilers kongruent verwendet werden kann (vgl. S. 326). Im Grunde moniert sie nur polemisch die Begriffsdiffusion um mehrere Spielarten des "Narren"-Terminus und befürwortet letztendlich implizit die Fastnachtsnarren-These, irritiert aber den aufgeschlossenen Leser durch ausufernd polemische, harsche Kritik an der Narrenthese, die sie am Ende in einem einzigen (syntaktisch zum Teil schwer zugänglich formulierten Satz) zurücknimmt (vgl. S. 326). Ich selbst halte diese Begriffsklauberei, ob "Fastnachtsnarr" nun präziser definiert sei und weniger diffus als "Narr", für eine Diskussion von ausgesprochen marginaler Natur.

19 Vgl. ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 349.

20 Ebenda. "Lappi" ist ein synonym verwendbarer Terminus für "Narren".

21 Vgl. sowinski, Realismus im Ring 1960, S. 102. "Tor" ist ein synonym verwendbarer Ausdruck für "Narr".

22 Vgl. beispielsweise die Abbildungen in Friedrich G. hoffmann/Herbert rösch: Grundlagen, Stile, Gestalten der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung. Frankfurt/M.: Hirschgraben-Verlag 198813, S. 54, S. 83, S. 86.

23 Vgl. sowinski, Realismus im Ring 1960, S. 108 und riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 194.

24 Zitat sowinski, Realismus im Ring 1960, S. 108.

25 Vgl. ebenda.

26 Vgl. andreànszky, Topos & Funktion 1977, S. 63, S. 66.

27 Vgl. andreànszky, Topos & Funktion 1977, S. 63.

28 Vgl. schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 247; ruh, Laiendoktrinal, 1981, S. 349f; puchta-mähl, Narrenterminologie 1986, S. 21; riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 195.

29 Der ganze folgende Absatz bezieht sich auf ruh, Laiendoktrinal, 1981, S. 349f.

30 Vgl. riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 195.

31 knühl, "Ring" & Fastnachtspiele 1981, S. 273ff; schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 250.

32 Zitat ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 350.

33 Zitat riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 195.

34 Vgl. dazu z. T. ausführlicher: schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 247; ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 349f; puchta-mähl, Narrenterminologie 1986, S. 21; riha, "Ring"Forschung 1990, S. 195.

35 Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 253.

36 Zitat Werner röcke, Verkehrtes Fest 1990, S. 203-231, hier S. 211. Hinzufügung in eckiger Klammer stammt von mir.

37 Vgl. Vv. 161f.: Ir chlainet [Wappen, Hinzuf ü gung von mir] was das aller best: / Ein kalb in einem storchennest. / Daz fuortens gmaincleich in dem her. Wenn ein normalerweise auf Wiesen zuhause sich befindendes Tier in einem Wappen als in einem Storchennest stehend abgebildet wird - der Storch steht als Bewohner der Häuserdächer und -kamine als ein Oppositorium zu den erdnah assoziierten Rindern - dann handelt es sich hier um ein exemplarisches Emblem der 'verkehrten Welt': die Umkehrung der realen Gesetzmäßigkeiten ist das Fastnachts-Prinzip par excellence. Im Ring wird es bereits ab der vierten Seite des Textes eingeführt.

38 Z. Bsp. Vv. 89-93: Ir w ä ngel rosenlecht sam ä schen, / Ir pr ü stel chlein sam smirt ä schen. / Die augen lauchten sam der nebel, / der aten smacht ier als der swebel. Die verkehrte Welt und die totale Leibezogenheit ihrer Protagonisten durchzieht das ganze Bauernturnier, v. a. die Beschreibung der Wappen, gleich zu Anfang des Textes. Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 243.

39 Vgl. ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 350.

40 Hierzu gesellt sich noch ein weiteres, verborgeneres Moment der verkehrten Welt: Die aggressive Haltung der Gäste verursacht, daß Bertschi in der Dunkelheit der Nacht den Esel statt der Kuh für den Hochzeitsbraten schlachtet. Dieser tote Esel ist ein mehrdeutiges Omen für das Fest. Im offensichtlichsten Bezug zeigt sich eine verkehrte Welt. Der Esel ist zugleich eine Art Opfertier. Ob im Bezug auf das antike Eselsopfer des Priapos, des Sohnes des Bacchus, oder auf die christliche Deutung des Esels als Reittier der Hauptsünde accidia, der Trägheit [...] der Tod dieses Tieres stellt das Festmahl unter ein böses Vorzeichen. Laut der Logik der verkehrten Welt ist also das Hochzeitsfest kein Fest der Ankündigung neuen Lebens sondern das der allgemeinen Vernichtung. Zitat Jutta Goheen: Der feiernde Bauer im Ring Heinrich Wittenwilers. Zum Stil des mittleren Teils. In: Jahrbuch der Oswaldvon-Wolkenstein-Gesellschaft, Band 8, 1994/95, S. 39-58, hier S. 54.

41 Vgl. ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 351.

42 Vgl. Rolf. R. mueller: Festival & Fiction 1977, p. 31. Im französichen Sprachraum bezeichnet der verwandte Ausdruck "charivari" bis auf den heutigen Tag ein ähnliches Phänomen, so daß die 'verkehrte Welt' analog zum Karneval als Festtyp nicht auf einen europäischen Kulturkreis beschränkt ist, sondern ein kulturübergreifender, archaischer Festtypus sein muß, der entstand, bevor sich die unterschiedlichen Kulturkreise erheblich auszudifferenzieren begannen.

43 Vgl. auch noch pointierter die Ausführungen bei bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 243. Hier schildert bachorski Merkmale der verkehrten Welt allerdings entdifferenziert als Aspekte einer konsequent grotesken Schreibweise (vgl. zur Wechselbeziehung zwischen dem Karneval als dem Fest der verkehrten Welt und der literarischen Groteske Kap. 2.4.2.) dieses Hausarbeits-Textes.

44 Vgl. schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 252f; Riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 193.

45 S. a. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 255.

46 Zitat ebenda, S. 254.

47 Zitat Michail bachtin: Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 345-383, hier S. 351.

48 Zitat ebenda.

49 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 368.

50 Zitat riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 192.

51 Vgl. röcke, Verkehrtes Fest 1990, S. 220f und 223.

52 Vgl. sowinski, Realismus im Ring 1960, S. 106, S. 112ff; S. 123; schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 247, 252ff; andreànszky, Topos & Funktion 1977, S. 18, 64, 67ff; Ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 349; knühl, "Ring" & Fastnachtspiele 1981, S. 211f; 228f; Riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 194.

53 Vgl. ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 350.

54 Vgl. u. a. knühl, "Ring" & Fastnachtspiele 1981, S. 235.

55 Vgl. schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 252 und Bruno boesch: Zum Nachleben der Heldensage in Wittenwilers 'Ring'. In: Egon Kühebacher (Hrsg.): Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes, Bozen: Verlagsanstalt Athesia 1979, [= Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes, Bd. 7] S. 329-354, hier S. 333.

56 Wobei anzumerken ist, daß nach überliefertem Volksglauben in der Zeit der Hochfastnacht der letzten Woche von Samstagmorgen bis Dienstagnacht Teufel und Dämonen ihr Unwesen auf dem Erdenkreis treiben sollen. Vgl. schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 247.

57 Vgl. boesch, Nachleben der Heldensage 1979, S. 333.

58 Vgl. Carlo ginzburg: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Aus dem Italienischen von Martina Kemper, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1990, u. a. S. 92ff.

59 Laut James George frazer: Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker. Aus dem Englischen von Helen von Bauer [Die zugrundeliegende Kurzfassung der Originalausgabe erschien 1922 unter dem Titel "The Golden Bough".], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1989 [= rowohlts enzyklopädie: kulturen und ideen, Nr. 483], S. 435, wird der Wilde Mann im ehemaligen Schluckenau in Böhmen - heute auf dem Gebiet der Tschechischen Republik liegend - im Rahmen eines Fastenbrauchs rituell ermordet, die anschließende Zeremonie nennt sich "die Beisetzung des Karnevals". Das heißt, wenn ich logisch schlußfolgere: im böhmischen Brauchtum ist der Tod des Wilden Mann gar die Metapher für das Ende des Karnevalsfestes.

60 Zitat ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 350.

61 Vgl. boesch, Nachleben der Heldensage 1979, S. 338.

62 Vgl. boesch, Nachleben der Heldensage 1979, S. 352, Anm. 38.

63 Zur Signifikanz des aufgerissenen Schlundes als elementarem Bestandteil der Konzeption des grotesken Körpers vgl. bitte auch Kap. 3.1.

64 Vgl. auch Anmerkung No. 59.

65 Zitat boesch, Nachleben der Heldensage 1979, S. 338.

66 Vgl. boesch, Nachleben der Heldensage 1979, S. 333.

67 Vgl. mueller: Festival & Fiction 1977, p. 86ff. und andreànszky, Topos & Funktion 1977, S. 63, S. 74.

68 Vgl. schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 253.

69 Zitat ebenda.

70 Vgl. Hanscarl leuner: Halluzinogene. Psychische Grenzzustände in Forschung und Psychotherapie. Mit einem Beitrag von Werner Janzarik. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Hans Huber 1981, S. 31f; S. 37; S. 56f; S. 82, Anm. ; S. 86ff.

71 Einfügung in Klammern stammt von mir, da mehrere Versionen dieses Namens im Text vorkommen.

72 Zitat schmidt-wiegand, Sagen mit sinne 1976, S. 255 und Horst brunner: Anmerkungen [zum "Ring"]. In: Heinrich wittenwiler: Der Ring 1991, S. 561-585, hier S. 584.

73 Vgl. brunner: Anmerkungen [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S.561-585, hier S. 563f; S. 570; S. 575f; S. 580f; 583f. Wichtig hierbei ist m. E. anzumerken, daß diese gefundenen historischen Bezüge 'nur die Spitze des Eisberges' darstellen, da aus dem Alltagsleben in Konstanz um 1400, seinen lokalen Prominenten und dem Lokalkolorit sehr wenig überliefert ist.

74 Vgl. ruh, Laiendoktrinal 1981, S. 350 und Riha, "Ring"-Forschung 1990, S. 394.

75 Vgl. Hans-Jürgen bachorski: Irrsinn und Kolportage. Studien zum 'Ring', zum 'Lalebuch'und zur 'Geschichtsklitterung'. Habilschrift Universität Bayreuth 1992, S. 92-110, hier S. 94.

76 Zitat bachorski, Irrsinn und Kolportage 1992, S. 94.

77 Zitat röcke, Verkehrtes Fest 1990, S. 218.

78 Vgl. bachorski, Irrsinn und Kolportage 1992, S. 94.

79 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 357 ff.

80 Vgl. hierzu und den ganzen folgenden Abschnitt andreànszky, Topos & Funktion 1977, S. 15ff.

81 Zitat ebenda, S. 16. Offenbar ist der Text andreànszkys nach den Regeln der eidgenössischen Rechtschreibung verfasst.

82 Vgl. zur moralischen Strenge der Lehrhaftigkeit der didaktischen Passagen bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 246.

83 Vgl. zur ironischen Machart der Farbliniengebung ausführlicher bachorski: Karnevalisierung 1994, S. 248 und S. 253f.

84 Das ist die sinngemäße Übersetzung des französischen Sprichwortes "On y soit, qui mal y pense." Vgl. hierzu auch die letzten Absätze in Anm. 164.

85 Beispiele hierfür hat bachorski so schlüssig analysiert und auf den Punkt gebracht, daß ich sie hier nicht noch einmal referieren möchte, sondern gleich auf die betreffende Textstellen bei ihm verweise: bachorski: Karnevalisierung 1994, S. 245-248 und S. 251-253.

86 Vgl. zu dieser Hypothese die ausführliche Begründung in Kapitel 2.3.

87 Sprich: die beiden Antipodenkulturen treten in Kommunikation miteinander, weil z. B. die ethischen Grenzüberschreitungen des Karnevalstreibens von den Vertretern der offiziellen Kultur nicht 'unbeantwortet' bleiben können - in welchem Code die Antwort übermittelt sein mag - immer findet eine Bezugnahme aufeinander statt.

88 Vgl. bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs 1971, S. 146 u. 153.

89 Vgl. Renate lachmann: "Vorwort" zu Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, hrsg. von Renate Lachmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1987, S. 7-49, hier S. 8.

90 Vgl. bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs 1971, S. 142.

91 Im Sinne der Literturtheorie bachtins ist damit der 'Chronotopos' gemeint, auf dessen Bedeutung ich hier aber nicht näher eingehen möchte.

92 Vgl. lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 15. Renate lachmann hebt diese "Idee der permanenten Revolution" bei bachtin hervor: "Und dies scheint der Angelpunkt der Konzeption: die Profilierung eines Mythos der Ambivalenz, der das Ende ausschließt durch die Sublimierung des Todes im Lachen und durch das Lachen." M. E. trifft genau dies auf das krude Ende der Völkerschlacht zu, mit der der Text von Heinrich wittenwiler nach dem Gang des künftigen Eremiten Bertschi Triefnas in die dicht bewaldeten Berge und finsteren Täler des Schwarzwaldes atonal ausklingt.

93 Ich möchte hier hervorheben, daß der "Ring" rund hundert Jahre vor dem ersten Niederschlagen von Renaissance-Rezeption im deutschen Sprachraum entsteht und trotzdem in ihm alle Elemente der "Lachkultur der Renaissance" (vgl. die Textpassage im selben Absatz) und alle Elemente der von bachtin proklamierten karnevalistischen Schreibweisen nachweisbar sind (vgl. Kap. 2.3. ff.). Aus dieser Warte erweist sich der "Ring" als ein Werk von wahrhaft avantgardistischem Rang und ragt beinahe eratisch zu nennend aus seiner Literaturepoche hervor als visionäres Oeuvre.

94 Vgl. bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs 1971, S. 137ff. u. 147ff.

95 Zitat lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 31.

96 Zitat bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs 1971, S. 139.

97 ZZitat lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 31.

98 Zitat bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs 1971, S. 151.

99 Wie die erkenntnistheoretische Debatte um einen postulierten, evtl. vorbestimmten "Sinn des Lebens" oder um die weltbewegende Frage, ob Realität eine subjektive Sicht voraussetzt, oder ob sie objektiv besteht und nicht durch ein Subjekt erst konstruiert werden muß.

100 Der könnte etwa so lauten: Wie Bertschi um sein Mätzli freite, wie sie dann Hochzeit feierten und was hinterher noch geschah.

101 Vgl. die ähnl. Assoziation von bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 258.

102 Vgl. hierzu die Anm. 73 dieser Hausarbeit.

103 andreànszky: Topos & Funktion 1977, S. 140 weist darauf hin, daß es im größerern Bezugsrahmen der europäischen Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts durchaus Autoren gibt, die auf einem Rang mit wittenwiler stehen: chaucer, villon, aber auch Johannes von saaz und Oswald von wolkenstein können genannt werden.

104 Dieses Zitat und die paraphrasierten Ausführungen über die vier Gattungsmerkmale des ganzen letzten Absatzes finden sich bei lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 31.

105 Die umgestülpte Welt bei bachtin ist ein modifizierter Ausdruck des Terminus 'die verkehrte Welt'.

106 Vgl. zu den Schlußversen des Epos ausführlicher meine Kommentare in der Anm. 158.

107 Das Thema und diese Episode wird in Kap. 3.3. eingehender behandelt.

108 Es sind noch andere Anomalien und Psychopathien (Fälle, in denen Figuren im Wahn auf die Außenwelt reagieren) im Text benennbar, ich greife hier einige besonders spektakuläre heraus: Bertschis aus dem Ruder laufende Triebbesessenheit durch das suesse, beschlossen Prot (V. 1559) von Maetzlis mutzen, deren Ausagieren auch seine Mitwelt in tiefste Bedrängnis stürzt (vgl. Vv. 1410-1563) - der Zwischenfall am Rande des Hochzeitsmahles, als Bertschi von vier Dienern gepackt wird, die Diener ihm die Hose und das Rektum mit Wasser auffüllen und seinen Hintern anschließend unzählige Male gegen einen Baum schlagen (Vv. 5825-5838) - Eisengreins drastischer Fauxpas, als er heimlich Gredulns Hand von innen blutig kratzt aus lauter Minneglut und somit den Untergang des "Ring"-Mikrokosmos heraufbeschwört (Vv. 6449-6455) - aber auch die merkwürdige Epiphanie Bertschis zu einem unbesiegbaren, heufressenden Monster am Ende des großen Schlachtengetümmels (Vv. 9645- 9653).

109 Vgl. wittenwiler: Der Ring 1991, S. 11 und brunner: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S. 673.

110 Vgl. brunner: Nachwort [zur "Ring"-Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S. 673f.

111 Vielleicht läßt sich der "Ring" und vor allem sein dissonanter Ausklang nur in einem regenerationslogischen Kontext befriedigend deuten, wie czerwinski (vgl. nähere bibliograph. Angaben am Ende der Anmerkung) nahelegt. Danach könnte eine neue, 'bessere Welt' erst aus dem vollständigen Scheitern der Vorgängerin hervorgehen. Analog hierzu stünde die Anderwelt-Reise des (im Vorfeld symbolisch-magisch zerstückelten) rituellen Clowns, Tricksters, Schamanen, Fastnachtsnarren (?) in den Unterleib der Erde, um dort neue Fruchtbarkeit, neues Leben hervorzuholen. Vielleicht läßt sich hier eine Affinität zur Reise Bertschis in den finstern' Tann' des Schwarzwaldmassivs herstellen. Vgl. v. a. czerwinski, Gegenwärtigkeit 1993, S. 477, S. 484f. und meine Anmerkung 164 in dieser Hausarbeit.

112 Vgl. Detlef kremer: Literarischer Karneval. Groteske Motive in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: E.T.A.-Hoffmann-Jahrbuch 1995, Band 3, Berlin 1995, S. 15-30, hier S. 28.

113 Zitat Otto bantel/Dieter schaefer: Grundbegriffe der Literatur. Elfte, neubearbeiteteAuflage. Frankfurt/M.: Hirschgraben-Verlag 198411, S. 57.

114 Vgl. bantel/schaefer, Grundbegriffe der Literatur 1984, S. 57.

115 Vgl. bachorski, Irrsinn und Kolportage 1992, S. 103, Anm. 313.

116 Siehe die zweibändige deutsche Ausgabe François rabelais: Gargantua und Pantagruel. Mit den Illustrationen von Gustave Doré. Hrsg. von Horst und Edith Heintze. Erläutert von Horst Heintze und Rolf Müller. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag 1974 [= insel taschenbuch Nr. 77], zwei Bände. Mir liegt zur Sichtung dagegen die Lizenzausgabe aus der DDR vor. François rabelais: Gargantua und Pantagruel. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden. Übersetzung auf Grund der maßgebenden französischen Ausgaben, unter Benutzung der deutschen Fassung von Ferdinand Adolf Gelbcke. Hrsg. von Horst und Edith Heintze. Erläutert von Horst Heintze und Rolf Müller. Leipzig: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung 19722 [= Sammlung Dieterich, Band 306/307].

117 Siehe bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, u. a. S. 345-383.

118 Vgl. Heinrich schneegans: Geschichte der grotesken Satire. Mit 28 Abbildungen. Strassburg: Verlag von Karl J. Trübner 1894. S. 141ff. geht schneegans auf die deutsche Geschichte zum Ende des 15. Jhdts. ein und schreibt u. a. über den von ihm gesehenen Zusammenhang von Tod, "lustigen Hochzeitsmahle[n]" (S. 142, eckige Einklammerung stammt von mir) und dem Narren(un)wesen dieser Epoche. Offenbar hatte er aber, obwohl er sich damit direkt auf die Thematik des "Ring" beziehen könnte, keine Kenntnis von wittenwilers Epos. Zumindest findet der "Ring" im Sach- und Namensregister des Buches keine Erwähnung.

119 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 345.

120 Vgl. lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 33.

121 Vgl. lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 36.

122 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 351.

123 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 351.

124 Das Materiell-Leibliche steht anthropologisch (und dennoch von mir sicherlich subjektiv und temopzentrisch gebrochen) gesehen für Sex, Essen, Trinken, Defäkation, Geburt, Tod in einem die grundlegenden Prozesse des Lebens von Werden und Vergehen elementar bejahenden Sinne.

125 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 356.

126 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 349.

127 Vgl. bachorski, Irrsinn und Kolportage 1992, S. 108.

128 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 349.

129 Wie im zitierten Originaltext belasse ich die Hervorhebungen durch Kursivdruck, die also nicht von mir stammen.

130 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 357.

131 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 358.

132 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 358.

133 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 366.

134 Als Formen bildlicher Darstellungen können die Gemälde von Hieronymus Bosch oder Peter Breughel, dem Jüngeren als beispielhafte Anschauungsobjekte herangezogen werden, um das Verständnis für diese Ausführungen zu vertiefen, denn das Medium der bildenden Künste ist hierfür besser geeignet als ein Text.

135 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 358.

136 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 359.

137 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 359.

138 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 366.

139 Besonders plastisch dargestellt zeigt sich diese Art der Unsterblichkeit der Gattung bei rabelais in der Episode, in der Panurge Pantagruel seine Theorie des Leihens vorstellt, vgl. François rabelais: Gargantua und Pantagruel. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden. Übersetzung auf Grund der maßgebenden französischen Ausgaben, unter Benutzung der deutschen Fassung von Ferdinand Adolf Gelbcke. Hrsg. von Horst und Edith Heintze. Erläutert von Horst Heintze und Rolf Müller. Leipzig: Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung 19722 [= Sammlung Dieterich, Band 306/307], hier Bd. 1, S. 351-362 (= 3. Buch, 3. Kapitel ff; v. a. 4. Kap.), und in der Episode von dem zum Tode Bestraften, der sich vor seiner Entleibung noch einmal bis zur Erschöpfung ausrammeln dürfen soll "wie ein Pelikan", da auch sein Erbgut viel zu schade ist, um für immer von der Erde zu verschwinden. Vgl. rabelais: Gargantua und Pantagruel 19722, hier Bd. 1, S. 443 (= 3. Buch, Ende des 26. Kapitels) und bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 365.

140 Vgl. czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 496.

141 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 361.

142 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 361. Eckige Einklammerungen stammen von mir, die Kursivsetzung mancher Textpassagen aus dem zitierten Werk.

143 Zitat Michel de montaigne: Essais. In: Gesammelte Schriften, Band 5, München/Leipzig1908 - München/Berlin 1915, S. 107. Zitat gefunden in bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 362.

144 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 363.

145 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 364. Die im Zitat durch Fettschreibung besonders markierten Stellen sind in wittenwilers Text an einer Vielzahl von Stellen nachweisbar (vgl. Kap. 2.4.)

146 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 358 u. 366.

147 Vgl. zur Einbindung der oralen Phase in die Individual-Psychogenese nach der psychoanalytischen Theorie u. a. Stavros mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1988 [Geist und Psyche. Begründet von Nina Kindler 1964. Bd. 42239], S. 91f. u. S. 94/95.

148 Bei Farindwand geht das gar so weit, daß er vor lauter Schlingerei eine Fischgräte mitverspeist und darauf seine Seele gen Schlaraffenland ziehen lassen muß, sprich: er stirbt am Luftröhrenverschluß, den die mitvertilgte Gräte verursacht. Vgl. Vv. 5901 - 5912.

149 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 364.

150 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 359.

151 Zitat bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 359.

152 Vgl. Heinrich Wittenwiler: Der Ring, 1991, S. 95. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in der deutschen Sprache der Gegenwart nicht ein einziges Nicht- Fremdwort zu Cunnus, Vagina oder Vulva existiert (vielleicht noch das am ehesten gebräuchliche Wort Scheide als völlig aseptisch wirkende metaphorische Umschreibung), das die als pejorativ in der Umgangssprache verwendeten Worte Votze oder Möse zu ersetzen imstande ist. Die österreichische Literatur kennt zumindest unzählige Umschreibungen und Synonyma des unausprechlichen Körperteils der Frau u. a. in dem Text von der "Joefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt" (1906 publiziert) - mitsamt seinen obligatorischen Sequels - der dem österreich-ungarischen Autoren Felix Salten zugeschrieben wird, womit unsere süd-südöstlichen Nachbarn einmal mehr beweisen, daß sie zwar kultiviert sind, aber daß ihre Art von Kultur längst nicht so protestantisch-verkniffen sich entwickeln musste als es ein Gros des restlichen deutschsprachigen Kulturkreises offenbar tat.

153 - Wenn sie psychoanalytisch gedeutet werden.

154 Siehe Stavros mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung 1988, S. 89. Damit gemeint ist die reife Sexualität des erwachsenen Menschen, welche(r) die orale, anale und die infantilgenitale Phase in eine gereifte genital orientierte Sexualität integrieren kann.

155 Vgl. lachmann: "Vorwort" zu bachtin: Rabelais' Volkskultur 1987, S. 31.

156 Sehr wahrscheinlich taucht hier zum ersten Mal in einem literarischen Text der deutschen Sprache das von Siegmund freud so vielbeschworene, phantastische Motiv der vagina dentata auf.

157 Hier liegt logischerweise in der deutschen Sprache selbiges Fremdwort-Phänomen vor wie bei Vulva, Vagina, Cunnus.

158 Zitat czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 476. Die durch Fettdruck hervorgehobenen Textstellen stammen diesmal vom zitierten Autoren und diesmal nicht von mir. Hier ist ganz wichtig hervorzuheben, daß czerwinski korrekt darauf hinweist, daß der Begriff der grotesken Körper mißverständlich sein kann, wenn man bedenkt, daß es sich in dem geschilderten Zeitraum am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit (noch) nicht um eine durchgängig entfesselt geschilderte literarische Leiblichkeit u. a. der gpauren wittenwilers handelt, sondern um eine größtenteils noch nicht gefesselte Leiblichkeit:

[der Bachtinsche Begriff des 'grotesken Körpers' leistet dieser Verkehrung Vorschub]): Grenzen sind hier nicht 'aufgehoben', sondern es gibt sie [bei einem Großteil der Bevölkerung (ausgenommen wahrscheinlich Teile des Adels und des Klerus, evtl. noch Teile des sozial aufstrebenden städtischen Handwerkertums und der reichen Kaufleute) in diesem Zeitrahmen, Anm. von mir] noch gar nicht (und erst, wenn es sie geben wird, können sie auch, wie gesagt, als aufgehobene erscheinen).

Zitat czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 477, Anm. 874. Bester Beweis sind wittenwilers Gestalten, die mitunter als Einzelpersonen die zu diesem Zeitraum gängigen Anstandsregeln und christlichen Verhaltenscodes in der Form eines didaktischen Vortrages 'predigen', um sie ein paar Verse später höchstselbst auf das heftigeste mit ihren an den Tag gelegten Gepflogenheiten zu düpieren - und dies auf die lustvollste, vollmundigste und überschwenglischste Art und Weise, wie sie in der deutschsprachigen Literatur je vorher oder nachher geschildert werden konnte. Das Genre der sogenannten "Negativdidaxe" (vgl. Grobianus-Literatur) einseitig auf den Text wittenwilers anzuwenden, ist ein hilfloser Versuch, diesen Text moralisch deuten und wissenschaftlich kategorisieren zu wollen (s. a. die Einleitung, Kap. 2.1. und die Schlußbetrachtung dieser Arbeit). Vgl. czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 449 (u. Anm. 823), 479, 506 (u. Anm. 938). Allerdings bezieht bachorski zu diesem Problem der Begriffsverwirrung in bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 243f; noch einmal implizit Stellung und beschreibt seine eigene These: seiner Ansicht nach handelt es sich bei wittenwilers literarischen Gestalten bereits um fest vergesellschaftete 'Individuen', die in der sensorischen Ekstase des Hochzeitsmahles allerdings der Individualität verlustig gehen und zu einem großen sozialen Leib regredieren. Meine (leider in keinster Weise nachprüfbare) Auffassung hinsichtlich dieser wichtigen Streitfrage kommt den beiden Positionen jeweils auf halbem Wege entgegen: zu diesem Zeitpunkt der Geschichte sedimentiert sich m. E. nach bei großen Teilen der 'einfachen' Bevölkerung Mitteleuropas allmählich die Vorstellung von der eigenen Individualität anhand des Selbstbildes vom eigenen, fest nach außen durch die 'glatte', nicht durch die Körperöffnungen gekennzeichnete Körperoberfläche. Diese dünn implementierte Schicht bereits 'neuzeitlicher' Vorstellungen hat sich über die alte Kollektividentität der grotesken Körper wie ein dünner Film gelegt, die aber bei jeder Art von kollektiven Ereignissen wie dem Fest o. ä. von der alten Bewußtseinseinstellung unweigerlich durchbrochen und suspendiert werden. wittenwiler beobachtet dies bei seiner Umgebung und verarbeitet die Eindrücke im "Ring" literarisch - insofern nimmt er die künstlerische Position eines grotesken Realisten ein (vgl. Kap. 1.7. und Kap. 2.4.2.).

159 Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 361.

160 Inwieweit in den 'primitiven Kulturen' das groteske körperliche Element bis in die Zeit der Postmoderne der 'Ersten Welt' kulturell eine signifikante Rolle spielt, kann diese Arbeit nicht beantworten. Ich verweise auf bachorski, Irrsinn und Kolportage 1992, S. 105/106. Dort finden sich z. T. bibliographische Hinweise zu dieser anthropologisch äußerst interessanten Fragestellung.

161 "In diesem räumlich und zeitlich unübersehbaren Ozean der grotesken Gestalten desLeibes, der alle Sprachen, alle Literaturen, alle Systeme der Gestikulation füllt, (...)" setzt sich "(...) der Leibeskanon der [europäischen] Kunst-Literatur und wohlanständigen Rede der Neuzeit" erst allmählich durch. "In der offiziellen Literatur der europäischen Völker herrscht er im Gunde erst seit vierhundert Jahren." Zitat Michail M. bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Berlin 1985 (1. ed. 1965), S. 20. Zitiert nach czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 496.

162 Das gilt natürlich auch für das männliche Glied, das phylogenetische, biologische Äquivalent zur Vulva, nur für dieses auf topographisch umgekehrte Weise. Vgl. bachtin, Rabelais' Volkskultur als Gegenkultur 1987, S. 361.

163 Siehe czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 336, Abb. 65 (=Taddeo de Bartolos "Luzifer" von 1393); Luzifer in Vogelsgestalt bei Hieronymus Bosch, S. 326, Abb. 62(hier defäziert Luzifer allerdings die Neugeborenen in einer gigantischen Fruchtblase, die ihrerseits Gefahr läuft, in den darunter befindlichen Abort zu fallen, was die Austauschbarkeit oder besser, die semantische Nähe von Ausscheiden, Gebären und Verschlingen in einem zyklischen Wechselspiel in den mythisch-religiösen-weltanschaulichen Vorstellungen des mittelalterlichen Denkens und Fühlens andeutet); S. 457, Abb. 94 (= Giovanni da Modenas "Luzifer" von ca. 1410); S. 458, Abb. 95 (Hildegard von Bingen: "Scivias", zwischen 1170 und 1180); S. 480, Abb. 96, links (= Anasyrma am Nordportal des Schottenklosters St. Jacob in Regensburg, ca. 1160).

164 czerwinski entwickelt in diesem Text (vergleiche ausführlich die bibliographischen Angaben am Ende der Arbeit) eine schlüssige Rückführung jener mittelalterlichen Vorstellungen auf ubiquitäre, archaische Denkformen religiöser Art, die auf Fruchtbarkeitskulte zurückgehen und deren Denkfiguren die christlichen Höllenvorstellungen bis weit in die frühe Neuzeit hinein überlagern:

Solche Nähe von Gebärorganen und Gesichtern wäre endlich nicht der geringste Beweis (sondern geradezu das missing link) der hier exemplifizierten These, es seien die mittelalterlichen Höllentorturen nur in einer dünnen, oberflächlich applizierten Schicht Strafen, darunter aber und mächtiger noch Reflexe uralter ubiquitärer Regenerationsrituale. (Aus der regenerationslogischen Substituierbarkeit sämtlicher Körperöffnungen könnte sich vielleicht auch der ominöse Analkuß beim Hexensabbat erklären lassen.)

Zitat czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 458. Auch der mich als unvoreingenommener Leser der neuesten Neuzeit recht ratlos zurücklassende Textabschnitt zur Kaminfahrt Bertschis mit anschließendem dreimaligen ins Maul furzen durch den Vater Mätzlis (Vv. 1489 ff.) erhellt sich durch eine Interpretation auf dieser Linie. Danach scheinen hier Reste der alten Regenerationslogik eines (tatsächlich ubiquitären?) Fruchtbarkeitskultes durch, die im übrigen glänzend mit der Logik der Konzeption des grotesken Körpers harmoniert:

Mit der Übertragung von Körpersäften (und deren Substitution könnte der zeremonielle dreifache Furz sein), Blut, Sperma, Speichel [...], auch Atem unter anderem in den Mund des Initianten (...) wird 'magisch' geheilt oder Macht übertragen, zum Beispiel vom Vater auf den (Schwieger-)Sohn (=Nachfolger). (...). Weiter ist das Feuer als eine Form der Amorphose [...] substantieller Teil von Regeneration, die Asche (und der Kamin) überdies Element des Übergangs zur Anderwelt durch eine axis mundi: Bertschi fällt auf der Reise zu Mätzlis mutze (die dann eine der Unterweltreisen in den Uterus der Erde wäre, neue Fruchtbarkeit zu holen) also nicht umsonst ins Feuer und wird für den Teufel gehalten.

Zitat czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 484/485. Über Personen in schwankhaften Situationen, die wie der Teufel durch den Kamin in die Aschenglut des Herdfeuers fahren, wird selbst noch im filmischen Slapstick der zehner und zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts vom Publikum schallend gelacht. Damit wäre Bertschi Triefnas ein spätmittelalterlicher Vertreter der Clowns, mythischen Trickster und Narren. "Denn diese Figuren sind Anderweltfahrer, fähig, neue Fruchtbarkeit aus dem Uterus der Erde zu holen (...) [vgl. den fettgedruckten Passus einige Zeilen weiter oben im Text]. Deshalb zeigen sie in nicht wenigen Kulturen 'eine prächtige phallische Symbolik'". Zitat czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 477, Anm. 875. Das würde die Figur Bertschis, die mit dem Fluidum des (Fastnachts-)Narren (vgl. v. a. Kap. 1.3) umsponnen ist, zusätzlich um eine dezidiert mythologische Komponente erweitern: er repräsentierte den heiligen Narren, den Trickster und Schamanen - der mit den Göttern in Kontakt steht - aus vorschriftlichen Kulturen, die durch ihre magischen Fähigkeiten teilweise außerhalb der Gesellschaft stehen, deren Rat und Heilkraft aber nur zu gern von den 'gewöhnlichen' Sterblichen genutzt wird, beispielsweise von den Stammeshäuptlingen/Herzögen/Königen, die sich später einen kulturell abgewandelten Schamanen als Hofnarren halten, der, wenn er dabei schallendes Gelächter hervorzurufen weiß, als einziger das Privileg inne hat, seinem (despotischen) Herrscher zu widersprechen, ohne gleich des Hochverrates angeklagt zu werden. Daher rührt auch der Ruf des Hofnarren als ko(s)mischer, aber weiser Ratgeber des Königs, und nicht umsonst gilt bis heute im Volksmund das Sprichwort, "Kinder und Narren sagen die Wahrheit". Der Narr, Clown, Trickster steht also laut kulturhistorischen Überlieferungen in einer schamanistischen Tradition mit metaphysischen Mächten, also dem Jenseits, in Kontakt. Dieser Versuch einer Tiefenanalyse der Funktion und Figur Bertschis wirft ein neues Licht auf das Ende des Epos, als Bertschi sich aus Trauer um den Verlust seiner Mitwelt zum memento mori bekehrt und schnurstracks im finsteren Tann' des Schwarzwaldes verschwindet, um dort sein Dasein als einsamer Eremit zu fristen, vgl Vv. 9680ff. Das Epos endet nach der Katastrophe versöhnlich mit der Himmelfahrt des aufrechten und dauerhaft andächtigen Erznarren Bertschi (auch eine Art der Anderweltreise), denn der erhält vom Allmächtigen das ewige Leben geschenkt ( vgl. Vv. 9694ff.). Der Schlußsatz schlägt jedoch den Bogen zurück ins Irdische: Gott beschert nicht nur Wasser aus bloßem Stein, nein, er läßt daraus auch Wein strömen, das berauschende Getränk der diesseitigen Dionysiker und Ekstatiker schlechthin. Hier schließt sich der Kreis zu den restlos triebbejahenden und keinem Festgelage abgeneigten gpauren -Gestalten des "Ring", dessen betitelnder Name Programm für wittenwilers Epos ist: irgendwann wird der ewige Narr eine neue Welt aus sich heraus schaffen und dann geht der ganze Zirkus von vorne los. Vgl. hierzu v. a. die graphischen Strukturen der beiden letzten Abb. bei czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 508 und die obere Abb. auf dem Cover von Heinrich wittenwiler: Der Ring 1991. Meine ausblickende Hypothese auf eine Gesamtdeutung des "Ring" würde also lauten: Erzkarnevalist Heinrich wittenwiler sieht den christlichen Gott (und folglich auch seine Schöpfung) durchaus positiv als (das Werk) eine(s) Art närrischen Avatar(s) an.

165 Zitat Dante alighieri: Die Göttliche Komödie (Aus dem Italienischen Übertragung von Karsten Witte, durchgesehen von Berthold Wiese, herausgegeben von Werner Bahner). Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 19757 [= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 796: Versdichtung. Epos], Hölle, 34. Gesang, Vv. 28ff, S. 132/133.

166 Siehe auch Georg Rudolph weckherlin: Von dem balleth. Aus: Triumf Newlich bey der F. kindtauf zu Stutgart gehalten (1616), Das drite Capitel. In: Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. Hrsg. von Ludwig krapf und Christian wagenknecht. Tübingen: Niemeyer Verlag 1979 [= Neudrucke deutscher Literaturwerke. N. F. 26], S. 23-27. Wieder abgedruckt in: Hans-Joachim simm (Hrsg.): Das Fest. Ein Lesebuch vom Feiern. Herausgegeben von Hans-Joachim Simm. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1981 [= Hanserbibliothek], S. 105-108, hier v. a. Abb. _S. 107. Das Motiv des grotesken Körpers taucht hier selbst im Rahmen eines höfischen Festes zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts noch auf, in Gestalt einer szenischen Darbietung für die geladenen Noblen des württembergischen Hofes. Es werden im Rahmen des Festes vier übermannshohe Köpfe in den szenischen Raum gerollt, die mit grotesk langen Nasen verziert sind. Aus den Mäulern/Schlündern dieser Riesenköpfe springen im Laufe der Darbietung insgesamt an die vierzig Personen hervor (aus einem Kopf mit besonders langer Nase kommen die Schausteller offenbar durch eines der gigantischen Nasenlöcher gekrochen!), gewissermaßen werden die Darsteller von dem Kopf herausgespuckt, hervorgebracht - oder gar in einem metaphorischen Sinne - geboren. Hier haben wir selbst zu diesem relativ späten Zeitpunkt das Motiv der mit allen zur Verfügung stehenden Körperöffnungen und Körperausbuchtungen kommunizierenden Körper (vgl. Kap. 2.4.3.), die hier zusätzlich auf groteske Weise forciert auf ein Körperteil reduziert - nur aus gigantischen Köpfen - bestehen.

167 Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 246ff.

168 Vielleicht ist es übertrieben und liegt naturgemäß vollkommen auf der Hand, daß beim Koitus im Regelfall (wenn nicht mechanisch in irgendeiner Form verhütet wird) ein wechselseitiger Austausch von Vaginal-, Copperschen-Drüsen-Sekreten und Samenflüssigkeit - das heißt ein reger Austausch von Körperflüssigkeiten sowohl oraler (oft wird heftig und tief geküsst) als auch genitaler Art - stattfindet, aber ich wollte auf diese Anthropologica hingewiesen haben.

169 Zitat Hans-Jürgen bachorski: per antifrasin: Das System der Negationen in Heinrich Wittenwilers Ring. In: Monatshefte 80, 1988, S. 469-487, hier S. 479. Zitiert nach czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 476/477. Zur Problematik des Passus "nur noch groteske Körper" siehe czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 477, Anm. 874.

170 Vgl. Erich fromm: Die Kunst des Liebens (Titel der amerikanischen Originalausgabe aus dem Jahre 1956: The Art of Loving. Autorisierte Übersetzung ins Deutsche von Günter Eichel). Frankfurt/M., Berlin und Wien: Ullstein Verlag 1979 [Ullstein Materialien, Ullstein Buch Nr. 35258], S. 28ff.

171 Siehe dazu Hermann hesse: Der Steppenwolf. In: Hermann Hesse. Die Romane und die großen Erzählungen. 8 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1980, hier Band 5, S. 182ff (ca.). Wiedergefunden in Hans-Joachim simm (Hrsg.): Das Fest. Ein Lesebuch vom Feiern. Herausgegeben von Hans-Joachim Simm. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1981 [= Hanserbibliothek], S. 284ff.

172 Vgl. Werner rö>didaktischen Schreibens in Wittenwilers Ring. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein- Gesellschaft, Band 8, 1994/95, S. 259-282, hier S. 259ff.

173 Siehe z. B. rabelais: Gargantua und Pantagruel 19722.

174 Die Parallelen zur Qualität des Komischen bei rabelais und bei wittenwiler macht Mueller: Festival & Fiction 1977, p. 6/7 aus.

175 Wer dennoch diese Kategorien bemüht, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, den "Ring" nicht vollständig gelesen, geschweige denn vollständig erfaßt zu haben, oder eben ein Rezepient zu sein, dem das Phänomen des Komischen weiträumig verschlossen bleibt. Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 245ff. und czerwinski: Gegenwärtigkeit 1993, S. 449, Anm. 823; S. 479; S. 506, Anm. 938.

176 Vgl. u. a. als jüngsten Befürworter dieser Interpretation brunner: Nachwort [zur "Ring"Edition von 1991]. In: wittenwiler: Der Ring 1991, S. 670ff. Diese Interpretation besitzt eine längere Tradition (vgl. Kap. 1.1.).

177 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 242-244.

178 Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 244.

179 Vgl. hierzu v. a. den letzten Absatz der Anm. 158 dieser Arbeit.

180 Vgl. bachorski, Karnevalisierung 1994, S. 242-245.

181 Hier findet sich eine weitere Parallele zwischen wittenwiler und rabelais, wenn auf der letzten Station der Reise Pantagruels, Panurges und des tapferen Klosterbruders Hans zu der unterirdischen Tempelanlage der göttlichen Flasche (auch diese als fruchtbringende Anderweltreise in den Schoß der Erde deutbar) sich die Freunde auf einem numinosen Treppen-Abstieg befinden - nur begleitet und initiiert von einer geheimnisvollen, wandelnden Laterne (die als Symbol für die menschliche Erkenntnismöglichkeit stehen kann) - und schließlich am Ende vor den Türflügeln zum Zugang des Tempels der Hohepriesterin Bakbuk die Inschriften "Ducunt volentam fata, nolentum trahunt" (= Den Willigen lenkt das Geschick, den Nichtwilligen aber zieht es) zur rechten Seite des gigantischen Portals und zur linken "Dem Ende zu strebt jedes Ding" lesen, bevor sie die Schwelle zu der faszinierenden Welt des subterranen, bacchantisch-dionysischen "Paradieses" durchschreiten (vgl. rabelais: Gargantua und Pantagruel 19722, Bd. 2, S. 343ff. (= Fünftes Buch, 37. Kapitel ff.). Während wittenwilers gpauren blindlings und unbewußt dem Ende ihres Daseins zusegeln auf ihrem Narrenschiff, erliegen Pantagruel und seine Gefährten von Reise zu Reise williger den Versuchungen des Fleisches und des Weines, voll zutiefst menschlicher, natürlicher Würde, bis sie am Ende vor das Orakel der Flasche treten, Bakbuk Panurg den heiligen Rebensaft einflößt und sich die Gefährten dann wie Kinder zu einem trunken-seligen Ringelreihen in der Entrücktheit der Reimgemeinschaft die Hände reichen. Ganz ähnlich beschließt wittenwiler den "Ring" mit seinem der Gottheit huldigenden Reim: Vv. 9697ff."Das well [das ewig leben, Anm. von mir] uns auch der selbig geben, / Der wasser aus dem stain beschert / Hat und auch ze wein bekert !"

Fin de l'extrait de 70 pages

Résumé des informations

Titre
Zu Heinrich Wittenwilers "Ring". Freilegung einer semantischen Tiefenschicht und Gattungsanalyse anhand des Theorems von der Karnevalisierung
Université
Free University of Berlin
Cours
"Wittenwilers `Ring`"
Note
Sehr gut
Auteur
Année
1997
Pages
70
N° de catalogue
V97916
ISBN (ebook)
9783638963671
ISBN (Livre)
9783656770329
Taille d'un fichier
772 KB
Langue
allemand
Annotations
Text wurde als RTF in Word 5.0 für den Macintosh versendet
Mots clés
Hexen, Narren, Wilde, Jagd, Ritter, Teufel, Versuch, Freilegung, Tiefenschicht, Heinrich, Wittenwiler, Erhellung, Frage, Gattungszugehörigkeit, Theorems, Karnevalisieru, Wittenwilers
Citation du texte
Pizarri, Lodovicco (Auteur), 1997, Zu Heinrich Wittenwilers "Ring". Freilegung einer semantischen Tiefenschicht und Gattungsanalyse anhand des Theorems von der Karnevalisierung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97916

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