Markus Werners Roman "Am Hang". Interpretationen, Erläuterungen, Unterrichtssequenzen und Prüfungsaufgaben

Der Charakter ist nichts Eindimensionales


Preparación para Exámenes, 2022

142 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Lebenslauf

2. Einleitung
2.1 Markus Werners Themen: Beispiele aus seinen übrigen Werken
2.2 Interview-Aussagen von Markus Werner

3. Inhalt
3.1. Chronologie der Handlung
3.2 Merkmale Clarin Loos
3.3 Die Titelmetapher und die Symbolik der Namen
3.4 Clarins Geschichte über Valérie/Loos Geschichte von Bettina
3.5 Sind Valerie und Bettina identische Figuren?
3.6 Nebenfiguren

4. Loos und Clarin - Ambivalenzen ihrer Pluralitäten
4.1 Charakterlehre – welchen Charakter weist Loos, welchen Clarin auf?
4.2 Ein Beispiel für eine moderne Charakterlehre

5. Die Struktur des Werks

6. Erzählperspektive, Erzähler
6.1 Arbeitsblätter zu Erzählhaltungen und Darstellungsformen
6.1.1 Erzählhaltungen
6.1.2 Darstellungsformen
6.1.3 Darstellungsformen am Text analysieren

7. Weitere Interpretationsangebote

8. Unterrichtssequenzen

9. Prüfungsaufgaben

10. Literaturverzeichnis

11. Anhang

12. Nachruf zum frühen Tod Markus Werners

1. Lebenslauf

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten1

Markus Werner wurde in Eschlikon (Kanton Thurgau) geboren. 1948 zog die Familie nach Thayngen (Kanton Schaffhausen) um. Dort besuchte Werner die Schule und absolvierte 1965 die Matura. Anschließend studierte er Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Zürich und promovierte 1974 mit einer Arbeit über Max Frisch, der einen bedeutenden Einfluss auf Werners Schreiben hatte. Von 1975 bis 1985 war er Hauptlehrer, von 1985 bis 1990 Lehrbeauftragter an der Kantonsschule in Schaffhausen. Seit 1990 war er freier Autor. Werner lebte in Schaffhausen. Er starb 2016.

Werners Themen

In Markus Werners Büchern werden Figuren mit gut entwickeltem Selbstbewusstsein kritisch beleuchtet. Der Autor nimmt Figuren in den Fokus, die sich der Unsicherheit und Zerbrechlichkeit ihrer Existenz bewusst sind. Diese Zerbrechlichkeit gilt zum Beispiel für die Liebe, die für Werner etwas Utopisches und in höchstem Grade Gefährdetes war. Sie gilt aber auch für das vergängliche Leben, und an den Trost, den manche in einer Religion suchen, glaubt Werner nicht:

„Was bleibt, ist die empörende Gebrechlichkeit von Welt und Mensch – und die Frage, wie wir mit diesem Befund umgehen können.“2

Als Gegengewicht zu dieser empörenden „condition humaine“ setzt Werner oft den Humor ein, manchmal auch die Kraft der Imagination und den Sarkasmus. Werner spricht von „Befund“. Letztgültige Befunde wollte er mit seinen Werken allerdings nicht erheben.3

Werner sagt „Ich bin der letzte, der für Positivität und das-Schöne-Sehen wäre. Aber wenn die Wahrnehmung nur noch beschränkt ist auf das Kaputte, geht man unter. Wenn man sich entgegenstellen will, muss man Lebensfreundliches auch wahrnehmen können.“4

Viele seiner Figuren weisen melancholische Züge auf, die anteilig depressiv, oder gar gewalttätig, wie der Antagonist Zündel, wirken. Neben dem Melancholischen lässt Werner immer wieder Humor durchscheinen. Er sagte über sich selbst: „Möglicherweise bin ich ein trauriger Humorist.“5 Kommentatoren wiesen darauf hin, er habe eine „überlebensdienliche Gabe des Humors“.6

Die Frage, ob Werner den Leser mit hauptsächlich Negativem zurücklasse, kann im Fall von Loos und Clarin mit einem teilweisen „Ja“ beantwortet werden. Loos wird seine Galligkeit auf dem so schrecklich empfundenen Planeten Erde kaum ablegen können. Clarin hat zwar zur Verarbeitung einen Anfang gemacht und schreibt seine Erlebnisse des Wochenendes auf. Ob das ausreichen wird, um Clarin von seiner Zeitgeistreiterei und Nichtverarbeitetem zu erlösen, ist unwahrscheinlich.

Werner bietet seinen Figuren in diesem Roman mitunter wenig Freiheit an. Clarin und Loos wirken in ihrer gegensätzlichen Lebensform gefangen. Werner vertrat die These, dass eine mentale Weltabgewandtheit eine Distanz zum Lärm der Zeit schaffe – Kreativität und ein klareres Sehen. Blaise Pascal hat dieses „Zuhause- und Beisichbleiben“ folgenermaßen ausgedrückt:

„Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“7

Loos und Clarin bleiben nicht ruhig in ihrem Zimmer, in ihrem Zuhause. Es zieht sie auf die Terrasse des Hotels Bellavista. Unverarbeitete Bedrängnisse animieren nicht nur Loos an einen Ort der Vergangenheit zurückzukehren. Clarin möchte im Ferienhaus einen Artikel über Scheidungsrecht schreiben. Bereits im Ankommen dämmern Erinnerungen an eine verflossene Liebe namens Andrea und die Freundschaft zu Giovanni Talisso herauf. Montagnola, das Hotel und das Ferienhaus sind Orte mit unheilschwangeren Erinnerungen.

Werners Oeuvre besticht in mehreren Werken mit philosophischen Einsichten. In diesen Wahrheiten mag neben der Gesellschafts- und Zeitkritik ein tieferer Wert seines „Siebenarmigen Leuchters“8 gesucht werden.

Werners Darstellungen sind oftmals ein psychologischer Befund, dem der philosophische Faktor Glück abgeht. Glück ist ein zutiefst menschliches Streben. Die Philosophin Annemarie Pieper führt das „Glück als Sinn einer Lebenserfahrung“ aus.9 Loos und Clarin fahnden zwar danach, aber diese Suche wirkt wie ein verschiedenartiges, gegenteiliges Stochern im gegenseitigen Nebel. Und einen Sprung auf ein Eiland des Glücks gelingt ihnen anteilig in einem schiefen, sie einengenden Korsett.

In diesem Schiefen mögen die eigentlichen Gründe für den Leser zu sehen sein, sich mit diesem Werk auseinanderzusetzen. Denn Werner führt uns Zweifel und persönliche Abgründe vor Augen, von denen wir meinen, sie bannen zu können.

Am Wernerschen Hang geht der Blick hauptsächlich nach unten. Dorthin, wo eine persönliche, wie die das Individuum umgebende, Instabilität lauert. Die damit verbundenen Ängste, aber auch Wünsche der drei Hauptfiguren dominieren diesen Roman. Dabei sind Ängste nicht zu genügen, Ängste sich im eigenen Geworfensein zu verlieren - an den Hang - in eine seelische Schieflage zu geraten, sich dem nahenden, oder gar schon existenten Abgrund ausgeliefert zu sehen, ein Movens, das den Roman verdichtet.

Es wird ein Geworfensein mit den daraus resultierenden Anforderungen in der Gegenwartsgesellschaft gezeigt. Themen wie die Digitalisierung, Treue, Partnerschaft, Sex sowie was in dieser Zeit für wen einen Wert besitzt und wodurch und ob dieser definiert werden kann, führt Werner dem Leser in konzisen Konfrontationsbildern mittels polarisierender Dispute der beiden Männer vor Augen.

In dem Schiefen, in den Ängsten, in dem Geworfen- wie Gewordensein der Figuren – darin verbirgt Werner seinen Schreibauftrag. Sein Roman enthält aufklärerische Themen und Schwerpunkte. Diese sind frei von Pathos oder gar Belehrung.

Auszeichnungen

1984 Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung

1984 und 1993 Einzelwerkpreise der Schweizerischen Schillerstiftung

1986 Georg-Fischer-Preis der Stadt Schaffhausen

1990 Alemannischer Literaturpreis

1993 Thomas Valentin-Literaturpreis

1995 Prix littéraire Lipp (Genf); Internationaler Bodensee-Literaturpreis

1997 Preis der SWR-Bestenliste

1999 Hermann-Hesse-Preis

2000 Joseph-Breitbach-Preis (gemeinsam mit Ilse Aichinger und W. G. Sebald).

2002 Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg

2005 Gesamtwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung

2006 Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen

2008 Ehrenpreis von Stadt und Kanton Schaffhausen

2010 Zonser Hörspielpreis

2016 ProLitteris-Preis

Wie Werner sein Werk und die damit verbundenen Auszeichnungen einschätzte, ist aus seiner Rede anlässlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 2001 abzulesen:

„Mäßige Selbstgewissheit und eher unmäßige Zweifel an dem, was ich tue: auch das sind Konstanten. Umso verwirrender und beschwingender ist es für mich, mein Tun durch ein Gremium gebilligt zu sehen, auf dessen geballte Urteilskraft man guten Glaubens, zumindest guten Muts vertrauen darf. Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sehr herzlich für den Ritterschlag.“10

2. Einleitung

Die Motivation zu diesen Erläuterungen entsprang der Beobachtung, dass Studierende Interesse und vertiefte Auseinandersetzungen mit „Am Hang“ zeigten. Darüber hinaus bietet sich das Werk didaktisch für den Unterricht an. Die Lernenden können exemplarisch Wortbedeutungen, die Symbolik der Namen, Erzählperspektiven, Sprach-und Stilistikübungen erfahren, einüben und vertiefen.

Wer sich auf die postmodernen Seinsebenen Werners einlässt, wird nur schwerlich mit diesem Roman fertig, zumindest nicht, wenn man sich in seine Komplexität und die von Werner angelegten, sich selbst wiederholenden Analysen, wie diejenigen seiner beiden Hauptfiguren sowie deren Wahrnehmungen und Kritiken, verbunden mit einem kaleidoskopartigen Changieren der menschlichen Seele, begibt. Das mag bedrohlich klingen, Werner würde antworten „aufklärerisch“. Hier scheint nicht nur Gesellschaftskritik durch. Aussagen zu postmaterialistischen Lebensformen können aus der Galligkeit von Loos gegenüber dem anything goes, das in Clarins Unbeschwertheit, ja teilweisen Unbedarftheit, seinen Widerpart findet, erfahren werden.

In diesen Erläuterungen geht es darum, diese komplexen Seinsebenen aufzuzeigen. Zu zeigen, dass die Seele, wie Werner betonte, nichts Eindimensionales sein kann. Diese beiden Leitlinien, verbunden mit seiner klaren und zugleich „geerdeten“ Sprache, heben diesen Roman aus dem Duktus vieler Gegenwartsromane heraus.

Das Ziel dieser Erläuterungen ist es, Aufgabenblätter und Prüfungsaufgaben zum Roman „Am Hang“ anzubieten. Diese Erläuterungen eröffnen Schülerinnen, Studentinnen und Lehrpersonen der Sekundarstufe II bis hin in die Erwachsenenenbildung, Erschliessungs- wie Vertiefungsaufgaben. Lösungen werden nicht zu allen Aufgabenblättern angeboten. Dies gilt ebenso für die Prüfungsaufgaben, weil jeweilige Interpretationsmöglichkeiten der Lernenden nicht mit vorgefertigten Antworten erstickt werden sollen. Die Prüfungsaufgaben können ebenso im Unterricht eingesetzt werden.

Es ist weder das Ziel, die sieben Romane für den Schulunterricht umfassend zu erläutern, noch eine umfassende Ausführung zu diesem „siebenarmigen Leuchter“ vorzulegen.11 Dennoch findet sich in den Arbeitsblättern eine komprimierte Zusammenfassung der Wernerschen Themen sowie ein Auszug aus einem Interview, das Martin Ebel in „Allein das Zögern ist human“ zusammenstellte. Der Satz „Allein das Zögern ist human“, wird von mehreren Autoren als das Credo der Texte Werners angesehen, was Werner zumindest anteilig unterschrieb.12

2.1 Markus Werners Themen: Beispiele aus seinen übrigen Werken

1. Liebesbeziehungen, ihre Gefährdung

Zündels Abgang: Der Schweizer Gymnasiallehrer Konrad Zündel verliert seine Frau, weil er fälschlicherweise glaubt, sie betrüge ihn.Der ägyptische Heinrich: Heinrich Bluntschli bemüht sich redlich, den Ansprüchen seiner Ehefrau gerecht zu werden. Die Karriere scheitert, Bluntschli verlässt das Land. Die Ehe vermag diese Veränderung nicht lange zu überdauern.Bis bald: Herr Hatt leidet an einer fatalen Herzschwäche.Er erfährt noch einmal die Liebe zu einer Frau und weiß doch, dass er bald endgültig Abschied nehmen muss.Die kalte Schulter: Der Lebensinhalt des Malers Moritz Wank beschränkt sich immer mehr auf seine Liebe zu Judith. Judith trägt ihn und holt ihn immer wieder in die Realität zurück.

2. Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen, Abschied, Tod

Zündels Abgang: Der Sommerurlaub des Schweizer Gymnasiallehrers Konrad Zündel verwandelt sich in einen Ausbruch aus seinem bisherigen Leben. Zündel wird nie mehr zurückkehren.Froschnacht: Die Hauptfigur, Franz Thalmann, war einmal Pfarrer. Nachdem er sich vom Pfarrkind Kenzi hat verführen lassen, ist nichts mehr wie zuvor: Thalmann bricht mit seiner Familie und lernt einen neuen Beruf.Festland: Der Workaholic Kaspar Steinbach möchte aus seinem normalen, langweiligen Leben ausbrechen. Seine uneheliche Tochter Julia, zu der er viele Jahre kaum Kontakt hatte, wird zur Fluchthelferin.Der ägyptische Heinrich: Die traditionelle Karriere des Heinrich Bluntschli scheitert und Bluntschli flieht vor seinen Gläubigern nach Ägypten. Doch auch dort setzt er manche Investition in den Sand.

3. Das Nachdenken über die Gesellschaft, das Leiden an der Gesellschaft

Zündels Abgang: Zündels Abgang aus seinem bisherigen Leben ist auch eine kompromisslose Abrechnung mit den Schattenseiten der „anständigen“ Gesellschaft.Froschnacht: Der ehemalige Pfarrer Franz Thalmann und sein Vater, der Landwirt ist, philosophieren über Gott und die Welt. Sie versuchen, sich gnadenlos offene Fragen zu stellen, also nichts und niemanden zu verschonen.Festland: Bei seinem Versuch, aus dem bisherigen Leben auszubrechen, stellt sich Kaspar Steinbach kritische Fragen.

Am Hang: Aus einer vielleicht nicht zufälligen Begegnung zweier Fremden entwickelt sich eine Parabel über das Leben, die Liebe und die Treue. Eine ménage à trois, die am Pfingstsonntag ein ungeahntes Ende nimmt.13 Die Figur Loos propagiert, sie habe ein schweres Schicksal, sie leide an der Geistlosigkeit und Austauchbarkeit von Werten in einer pluralistischen Jetztzeit.

Laut Pia Reinacher stellte Markus Werner in seinem Roman in pädagogischer Absicht zwei Lebenskonzepte einander gegenüber: Clarin, die Karikatur eines oberflächlichen und modischen Schürzenjägers stehe für die Beziehungsarmut einer Generation, die gleichermaßen vom Fortschritt getrieben werde, wie sie dem Erfolg nachrenne und dabei an wachsender seelischer Verarmung leide. Loos hingegen, der Moralist, Kritiker des Zeitgeistes und Misanthrop verkörpere den enttäuschten Linken, der den Verfall gesellschaftlicher Normen beklage, sein überkommenes Weltbild selbst allerdings nur auf Kosten einer Selbsttäuschung und Lebenslüge – seinem heilen Eheleben – aufrechterhalten könne.14

Laut Klaus Heer zeige das Buch „die Züge unserer restaurativen Zeit“, in der man in wirtschaftlichen Krisenzeiten nach privater Harmonie suche. Allerdings platze mit Loos’ Geschichte am Ende auch „das Ideal der Treue […]. Was bleibt, ist Verunsicherung, das Glücksgefühl nach einem Leserausch und der Trost, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist.“ Daher empfehle er den Roman auch „als psychologischen Ratgeber“.15

4. Die kleinen Katastrophen des Alltags

Zündels Abgang: Konrad Zündels Alltag wird von kleinen Katastrophen heimgesucht. Plötzlich fällt ihm ein Zahn aus dem Mund und ein wenig später findet er in einer Eisenbahntoilette einen abgeschnittenen Finger.Die kalte Schulter: Dem Maler Moritz Wank widerfahren kleinere Unfälle, die von ihm als „unglücklichste Situationen seines Lebens“ bezeichnet werden. Bei einem Kinobesuch klemmt er sich beispielsweise in einem Zigarettenautomaten ein.Am Hang:Beim Spaziergang mit dem Hund trifft Loos auf seine spätere Frau, die ebenfalls mit dem Hund Gassi geht. Die Hunde paaren sich, was Loos peinlich ist. Die Aufnahmen eines Fotoautomaten fallen Loos herunter, er lernt beim ungeschickten Suchen eine Frau kennen.

5. Überraschende Wendungen eines Geschehens

Die kalte Schulter: Überraschender Schluss des Romans.Bis bald: Der Leser wird am Ende eiskalt erwischt.Am Hang: Der Schluss weist endgültig aus, dass Loos und Clarin von ein und derselben Frau gesprochen haben. Der Leser wird an den eigenen Hang seines Verständnisses des Werks gebracht. Von diesem überraschenden Ende aus kann der gesamte Roman erschlossen werden.

2.2 Interview-Aussagen von Markus Werner

1.) Über den Bezug zur Welt

„Von Marschflugkörpern eingekreist empfänglich bleiben für Gezwitscher.“ Diese Stelle aus meinem Werk „Froschnacht“ ist natürlich als politisch naiv beanstandet worden: Ich würde den Marschflugkörpern Sonnenblumen entgegenstellen. Darum geht es nicht. Ich bin der letzte, der für Positivität und das-Schöne-Sehen wäre. Aber wenn die Wahrnehmung nur noch beschränkt ist auf das Kaputte, geht man unter. Wenn man sich entgegenstellen will, muss man Lebensfreundliches auch wahrnehmen können.“

Die „Atempause“, die „Verschontheit“ als Beitrag zu einem Weg nach vorn, zu etwas anderem?

„Dieser Weg ist schön. Er schafft keine Niedertracht aus der Welt, aber er mildert die Verzweiflung darüber. Das meine ich.“

Aus: „Allein das Zögern ist human“. Zum Werk von Markus Werner, Seite 52.

2.) Über die Aufgabe, den Finger auf den wunden Punkt zu legen

Wenn Sie mit diesem Kontrastprogramm einen Finger in die individuelle Wunde legen und in der Spielwelt des anything goes die Verbindlichkeit des einen Lebens einklagen, tun Sie das dann von einem idealistischen Unterfutter aus (…)?

„Ich gehe nicht von Theorien und Ismen aus, sondern von meinem Empfinden und meiner Erfahrung, wobei mir bewusst ist, dass die Art des Empfindens, des Erfahrens und Denkens sich vielfacher Prägung verdankt. Aber ich frage mich nicht, woher mein Ekel dem „anything goes“ gegenüber kommt. Ich sage einfach: Eine Kunst, die nichts zu tun hat mit unserer Existenz und mit der zersplitterten und beschädigten und komplizierten Realität, interessiert mich nicht. Ich bin altmodisch, ich bin für Verbindlichkeit. Der Postmoderne ist alles gleich gültig, also gleichgültig.“

(…) „Ich verstehe mich als Diagnostiker. Mein Ehrgeiz ist es, so exakt und zuverlässig wie möglich zu diagnostizieren. Sie wollen von mir etwas hören, was über eine Diagnose hinausgeht“?

Das nicht. Nur für einen Aufklärer ist es eine sehr schwarze Sicht.

„Aufklärung ist primär eine Erhellung des Bestehenden“.

Aus „Allein das Zögern ist human“. Zum Werk von Markus Werner, Seite 60.

3.) Über die Bedeutung der Erinnerung und den Wert der Langsamkeit

Als „Akt des Widerstandes“ bezeichnet der Erzähler in „Bis bald“ auch „jede denkmalpflegerische Leistung“. Wie lässt sich die denkmalpflegerische Leistung als Akt des Widerstandes so erbringen, dass sie nicht als Ausspielen der vergangenen gegen die heutige Zeit missverstanden wird?

„Für mich ist Treue, verstanden als Gegenkraft zur grassierenden Vergesslichkeit, eine Tugend. Ohne Sinn für die Gewordenheit dessen, was ist, d.h. ohne historisches Bewusstsein bleibt das Gegenwärtige sowohl unbegriffen als auch unrelativiert. Auf schlechte Weise konservativ wäre es aber, wenn man die vergangene Zeit, gemessen an der heutigen, grundsätzlich für heiler hielte. (…) Aber es muss erlaubt sein, bestimmte Züge einer vergangenen Epoche heute zu vermissen. Ich stehe zum Beispiel dazu, dass die Stille und die Langsamkeit früherer Zeiten meiner Natur gemässer wären als die ohrenbetäubende Raserei, die uns heutigen fast die Besinnung raubt.“

Aus: „Allein das Zögern ist human“. Zum Werk von Markus Werner, Seite 68.

3. Inhalt

Über Pfingsten will der auf Scheidungsrecht spezialisierte Anwalt Thomas Clarin in seinem Ferienhaus im Tessin einen Beitrag für die Juristen-Zeitung schreiben. Am Abend seiner Ankunft geht er im nahegelegenen Hotel Bellevue zum Essen. Weil sonst kein Platz mehr frei ist, fragt er einen Herrn, der allein an einem Tisch sitzt, ob er sich dazusetzen dürfe. Das kurze, abwesende Nicken fasst Clarin als Zustimmung auf und stellt sich sogleich vor, aber der Angesprochene beachtet ihn immer noch nicht. Loos erschrickt als er den Namen Clarin vernimmt.

Erst nach einer Weile nennt ihm der andere seinen Namen: er heiße Loos. Clarin schätzt das Alter des korpulenten Manns auf um die fünfzig. Während der Mahlzeit fällt ihm ein, dass er vor längerer Zeit hier mit seiner Freundin Valerie ebenfalls beim Abendessen saß. „[…] Valerie noch munter, ich eher würgend und wortarm, da innerlich damit beschäftigt, mir schonende Sätze zurechtzulegen, ich wollte mich trennen von ihr“. (Seite 8)16

Der kontaktfreudige Clarin kommt mit Loos ins Gespräch; es entwickelt sich eine angeregte Unterhaltung. Sie kommen wortwörtlich auf Gott und die Welt zu sprechen, wobei der etwa dreißigjährige Anwalt den Eindruck bekommt, dass sein Gegenüber von der Oberflächlichkeit der meisten Menschen enttäuscht ist und dessen Weltanschauung insgesamt negativ ausfällt. „Es hat sich totgelaufen“, ist die Wendung, die er am häufigsten gebraucht. Clarin hält Loos vor, dass dieser die Welt hasse. Das kann Loos nur bestätigen: „Von ganzem Herzen.“ Loos kommt darauf zu sprechen, dass seine über alles geliebte Frau Bettina, mit der er zwölf Jahre verheiratet war, vor einem Jahr starb. Über die weiteren Umstände könne er im Augenblick nicht sprechen. Er möchte aber gerne von Clarin wissen, von dem er inzwischen erfahren hat, dass er bekennender Junggeselle ist, wie dieser zu der Institution Ehe stehe.

Als Scheidungsanwalt hat Clarin naturgemäß Einblick in viel „Ehe-Elend“ und er bevorzugt daher eine lockere, unbekümmertere Beziehung, die ohne größere Tragödien aufgelöst werden könne. Zum Beispiel, erwähnt Clarin, sei er hier auf dieser Terrasse mit einer Freundin zum letzten Mal zusammen gewesen; sie habe „die Sache auch bald verschmerzt“ und „auch für sie sei keine Welt eingestürzt“ (Seite 20).

Sie trinken noch viel an diesem Abend und Loos gibt mehr über seine Verzweiflung wegen des Todes seiner Frau preis. So denke er zwar manchmal daran, dass er niemandem abgehen würde, wenn es ihn nicht mehr gäbe, aber es erschiene ihm unverantwortlich, sich davonzustehlen und die Tote sozusagen allein zu lassen. „Wer liebt sie, wenn ich nicht mehr bin, wer erinnert sich ihrer dann noch, wer ehrt und schützt ihr Andenken in einer gedächtnislosen Zeit? […] Nur wenn ich lebe, ist sie aufgehoben“. (Seite 37)

Clarin kann nicht wissen, dass er mit seinem Vorschlag, zum Nachtisch Himbeeren zu bestellen, eine weitere Gefühlswallung bei Loos hervorrufen wird. Bettina war nämlich vor einem Jahr im Kurhotel in Cademario, auf das man von hier hinübersehen kann. Sie hatte dort auf der Speisekarte ihr Lieblingsdessert Himbeeren entdeckt – und das war dann ihre Henkersmahlzeit, wie Loos sich ausdrückt. Nun erzählt er, dass seine Frau nach einer Tumoroperation eigentlich bereits auf dem besten Weg der Genesung gewesen war. Aber dann geschah etwas Unvorhergesehenes. „[…] Sie glauben nicht, wie ich sie manchmal dafür hasse, dass sie mir einfach erlosch, nach zwölf Jahren Ehe, Liebesjahren alles in allem, löst sie sich auf, stiehlt sich davon, macht mich zum Hinterbliebenen auf diesem grausigen Planeten […]“ (Seite 38) Als ob es für Loos ein Trost sein könnte, sagt Clarin, dass die erwähnte Freundin, mit der er hier gegessen hatte, auch Gast in Cademario gewesen sei.

Es ist spät geworden und Clarin muss noch in sein Ferienhaus. Er hat zu viel getrunken, um Autofahren zu können. Auf dem Heimweg zu Fuß begleitet ihn Loos und sie kommen noch einmal auf Cademario zu sprechen und dass es nicht unwahrscheinlich sei, dass Clarins Freundin und Loos‘ Frau, die nur fünf Tage Gast war, sich zur gleichen Zeit dort aufhielten. Bis 11. Juni war Bettina dort; übermorgen, am Pfingstsonntag jähre sich das Unglück, klärt Loos seinen Begleiter auf. Kurz bevor die zwei Männer das Haus erreichen, werden sie von einem Platzregen durchnässt. Clarin bittet Loos ins Haus zu einem Schlummertrunk vor den Kamin. Doch Loos verneint und sie verabreden sich für den nächsten Abend.

Obwohl es schon fast ein Uhr ist, findet Clarin keinen Schlaf. Zu sehr ist er damit beschäftigt, über das Erlebte nachzudenken und das „diffuse Bild“, das er von Loos gewonnen hat, zu klären. Am nächsten Vormittag überlegt Clarin, ob er das gemeinsame Essen absagen soll. Es ist dies der Abend vor dem Todestag von Loos‘ Frau, und den möchte Loos vielleicht unbehelligt verbringen. Aus nicht erklärbaren Gründen ist Clarin jedoch von Loos‘ widersprüchlichem Charakter fasziniert. „Loos zog mich an. Genauer, unverdächtiger: Ich suchte widerstrebend seinen Bannkreis und nenne dieses Phänomen magnetisch, ja meinetwegen magisch“. (Seite 55)

An diesem Abend lässt Loos nicht locker; er möchte mehr über das Junggesellenleben seines jüngeren Bekannten erfahren. Als sie das Kaninchenfilet bestellen, erzählt Clarin, dass er diese Spezialität des Hauses auch seinerzeit gewählt hatte, als er zum Abschiedsessen mit Valerie hier war. Wie er schon andeutete, hatte seine Freundin ebenfalls im Kurhotel Cademario logiert; Nervenprobleme und vegetative Labilität erforderten eine Therapie.

Clarin und Valerie waren sich auf einem Kinderspielplatz begegnet und kamen deshalb miteinander in Kontakt, weil sich beide über das seltsame Verhalten eines Mannes dort amüsierten. Valerie sei zwar nicht der von ihm bevorzugte Typ gewesen; sie war schwarzhaarig und nicht ganz schlank, während er eigentlich blonde und sportliche Frauen bevorzuge, aber einen Vorzug hatte sie: Sie kam seinem Geschmack in der Hinsicht entgegen als ihn reifere Frauen anzogen. Er schätzte sie so gegen vierzig, ein Alter, in dem die Frauen seiner Erfahrung nach „die optimale Genussreife“ haben. Sie war anfangs still und zurückhaltend und gab auch später wenig von sich bekannt. Sie kam ihm vor, als hätte sie kein Vorleben, und das machte die Affäre besonders reizvoll für ihn.

Nachdem sie ihn eine Weile hingehalten hatte, entwickelte sich eine, wie es schien, unbeschwerte Liebesbeziehung. Von ihrem Mann erzählte sie nichts, auch nichts Negatives; Clarin erfuhr nur, dass er Felix hieß und Musiklehrer war. Er hatte den Eindruck, dass Valerie ihre Ehe als emotionalen Hort und ihren Mann als Ruhepol empfand. Nach ein paar Monaten hatte sie auf einmal immer mehr Zeit für Clarin und er fragte sie, wie sie das zu Hause erkläre. Sie wehrte ihn schroff ab: das soll er ihre Sorge sein lassen.

Clarin fand dann heraus, dass sie zu ihrer Schwester gezogen war und er folgerte daraus, dass sie seinetwegen ihren Mann verlassen hatte. Als er sie daraufhin ansprach, wiegelte sie ab, es wäre nur eine Trennung auf Zeit; und der Frage, die sie früher schon nicht beantwortet hatte, ob ihr Mann von ihrer Affäre wisse, wich sie wieder aus. Aus der Sicht Clarins war die Beziehung seitdem getrübt, da er sich in die Enge getrieben fühlte und sich vor der engen Bindung fürchtete. Sie sprach zwar nicht explizit von Liebe, ließ aber dennoch erkennen, dass sie ihren Geliebten nicht verlieren wollte. „Ungefähr zur Halbzeit“ – die „lose Bindung“ hatte knapp ein Vierteljahr gedauert –, begann Clarin sich rarer zu machen. Wenn sie miteinander schliefen, fand er das aber nach wie vor schön. „Das hatte wohl damit zu tun, dass ihr Körper das Einzige war, woran ich mich halten konnte, da sie ihr Wesen ja zum Teil verbarg. Ihr Körper war fassbar, alles andere kaum, und ihre Neigung, sich zum Geheimnis und also interessant zu machen, ging mir allmählich nur noch auf den Wecker“. (Seite 144) Clarin machte sich zum Vorwurf, zu lange gewartet zu haben, um ihr reinen Wein einzuschenken und eine Trennung vorzuschlagen. Sein Zögern rechtfertigte er damit, dass er Rücksicht auf ihre schlechte nervliche Verfassung nehmen wollte, die ohnehin nie die beste war, im dritten Monat ihres Zusammenseins aber Besorgnis erregend schlechter wurde. Weinkrämpfe und Schlaflosigkeit quälten sie, deren Ursache sie auf Probleme mit ihrer aufreibenden Arbeit als Betreuerin in einem Behindertenheim zurückführte. Clarin legte ihr ans Herz, einen Psychiater aufzusuchen, was sie nach langem Sträuben dann tat. So kam sie ins Kurhaus Cademario. Sie telefonierten von Zeit zu Zeit miteinander und Valerie gab vor, Thomas nicht zu vermissen; ja, es gehe ihr täglich besser. Das bestärkte Clarin in seinem Vorhaben, ihr die Trennung vorzuschlagen. Er hielt es für günstiger, damit nicht bis zu ihrer Rückkehr zu warten, vielmehr wollte er sein Anliegen während eines Besuches bei ihr im Sanatorium vorbringen. Bei seiner Ankunft sah er Valerie mit einer Kurhaus-Angestellten auf der Terrasse Kaffee trinken. Das sei Eva, ihre Atemtherapeutin, stellte Valerie ihm die attraktive Frau vor. Sie war genau Clarins Typ: „sportlich, spritzig, sexy“. Wie schnell Eva unzweideutig auf seine bewundernden Blicke reagierte, verblüffte ihn.

Während sich Valerie für den Abend zurechtmachte, schob Eva, die wissen musste, dass Clarin mit ihrer Patientin liiert war, ihm ihre Visitenkarte zu, mit der Zusage für ein Treffen am nächsten Tag. So ist es eben: „Die weibliche Natur weiß nichts von schwesterlicher Rücksicht“. (Seite 147) Valerie schien fröhlich und gut erholt. Sie hatte einen Verband um den Ringfinger, den sie sich, wie sie erzählte, schon in der ersten Woche gebrochen hatte, als sie bei einem Waldspaziergang über eine Wurzel gestolpert war. Zum Abendessen fuhren sie ins Bellevue hinunter. Sie aß mit Appetit und erzählte lebhaft von ihrem Aufenthalt in Cademario und dass sie sich mit Eva ein wenig angefreundet habe. Clarin war weniger guter Stimmung. Er brachte es auch nicht fertig, mit Valerie über seine Trennungsabsicht zu sprechen. So fuhren sie nach dem Essen zurück ins Kurhotel, wo Valerie auf ihrem Zimmer eine Flasche Rotwein bereitgestellt hatte. Sie bot Thomas an, sich noch ein bisschen zu ihr „in den Kleidern“ hinzulegen, aber an seiner starren Haltung erkannte sie wohl seine Absicht. „Ich werde es verkraften, sagte sie. Ich fragte: Was denn? – Das, was du mir eröffnen möchtest, sagte sie. – Dann hörte sie mir zu, gefasst, nur manchmal zitterte ihr Kinn. Sie nickte, als ich fertig war, als sei sie einverstanden. Sie fragte nichts. Mit leiser, fast unhörbarer Stimme sagte sie: Ich fühle mich armselig. – Nach einer Weile stand sie auf und öffnete die Tür. – Flieg! sagte sie“. (Seite 150) Seitdem haben sie sich nicht mehr gesehen. Da sie sich konsequent zurückgezogen hatte, war Clarin davon ausgegangen, dass sie die Trennung rasch überwunden hatte. So meinte er zumindest.

An diesem zweiten Abend bietet Loos seinem Gesprächspartner das Du an; er heiße auch Thomas. Im Laufe der Unterhaltung flicht er ein, dass er Altphilologe sei. Es scheint ihm aber ein Bedürfnis zu sein, mehr von seiner Frau zu erzählen. Bei jedem Satz klingt durch, wie sehr Loos sie geschätzt, geliebt, ja nahezu vergöttert hat. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin in einer Schmuckmanufaktur. Er schätzte ihre Empfindsamkeit und ihre Kultiviertheit. Unter anderem gefiel ihr besonders das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse.

Ihre Konstitution im Allgemeinen war feinnervig. In ihren ersten Ehejahren waren sie zweimal umgezogen, weil sie sich durch Wasseradern beeinträchtigt gefühlt hatte. Clarin dürfe jetzt nicht glauben, sie sei wehleidig gewesen; das Gegenteil sei der Fall gewesen, was sie bei ihrer schweren Krankheit zur Genüge bewiesen habe. Die ersten Symptome waren Kopfschmerzen und Übelkeit. Er hatte noch geglaubt – und gehofft – sie sei schwanger, was aber nicht zutraf. Sehstörungen und Taubheitsgefühle im Körper kamen zu dem allgemeinen schlechten Gesundheitszustand hinzu. Die ärztliche Diagnose war dann niederschmetternd: eine Geschwulst im Hirn. Der Tumor konnte ohne Komplikationen entfernt werden; auch nach der Operation gab es keine Probleme. Die Heilung verlief so, wie man es erwartete. Allerdings wurde ein Erholungsurlaub dringend empfohlen.

Sie suchten sich das Cademario aus, wo sie ein Doppelzimmer buchten, weil er bei ihr sein wollte. Bedauerlicherweise sei zu der Zeit Loos‘ nächtliches Zähneknirschen besonders heftig aufgetreten. Um Bettina nicht damit zu belästigen, wollte er ein Einzelzimmer; im Kurhaus war aber keines frei, sodass er sich im benachbarten Hotel Bellevue einquartierte. Von seinem Zimmer aus konnte er auf das Fenster hinübersehen, wo seine Frau wohnte. Jeden Morgen winkten sie sich gegenseitig zu. Wenn Bettina vom Schwimmen aus dem Hallenbad zurück war, frühstückten sie miteinander. Als Loos am 11. Juni wie jeden Tag in der Frühe wartete bis sie herüberschaute, ließ sie sich nicht blicken. Nach einer Stunde fuhr er besorgt zum Cademario, wo man ihm sagte, dass seine Frau im Hallenbad verunglückt sei. Vermutlich sei sie ausgerutscht, gestürzt und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Die Bewusstlose sei jetzt auf der Intensivstation in der Klinik in Lugano. Als Loos dort hinkam, konnte er sie noch bei der Hand halten, dann schloss sie die Augen. „Mit dem Erkalten ihrer Hand erkaltete auch ich“. (Seite 159)

Es ist auch an diesem Abend sehr spät geworden und die beiden Herren haben wiederum viel getrunken. Auch diesmal geht Loos mit Clarin zu seinem Haus, wo er ihm den tragischen Schluss seiner Geschichte erzählt. Offensichtlich ist er emotional immer noch sehr bewegt und spricht seinen neuen Freund plötzlich wieder mit „Sie“ an. Dass Loos ihm eine Grobheit an den Kopf wirft, entschuldigt Clarin mit dessen aufgewühlten Zustand. Beim Verabschieden schlägt Clarin vor, dass sie sich am nächsten Vormittag noch einmal treffen könnten. Loos nimmt gar nicht wahr, dass Clarin ihm die Hand hinhält. „Du hast mir sehr geholfen“, bemerkt er noch. Er freue sich, sagt Clarin, wenn ihn das Reden erleichtert habe. Und dann geht Loos auf Clarin zu und sagt „mit gepresster Stimme“ und nahe an seinem Ohr: „Leg dich ins Bett mit deiner Fehldeutung, und vergiss nicht, die Tür zu verriegeln“. (Seite 161) Grußlos verschwindet Loos in der Dunkelheit.

Clarin grübelt noch lange im Bett, was Loos mit seiner letzten Bemerkung gemeint haben könnte. Sollte Loos Schuldgefühle am Tod seiner Frau haben? Er muss nicht zwingend ihr Mörder sein, aber er könnte ihren Tod eventuell indirekt verursacht haben. Zum Beispiel: Er hat auf der Straße nach Cademario bei einem Autounfall seine Frau verloren. Oder sie hat sich über das Balkongeländer gebeugt und als er sie rief, fiel sie vom Balkon. Clarin sollte also die Tür verriegeln, weil Loos damit sagen will „schütz dich vor mir, ich bin ein Verbrecher“! Erklären kann sich Clarin aber nicht, warum und wofür Loos ihm gedankt hat. Das will er ihn noch fragen.

Am nächsten Vormittag ist Loos zum vereinbarten Termin um elf Uhr nicht anwesend. Bis ein Uhr hat Clarin ihn immer noch nicht im Hotel gefunden. Möglicherweise liegt eine Nachricht an der Rezeption. Dort ist nichts für ihn hinterlegt und überdies sei kein Thomas Loos im Gästebuch eingetragen. Clarin beschreibt das Zimmer, in dem Loos wohnte. Aus Datenschutzgründen dürfe der Name des Gastes nicht bekannt gegeben werden, heißt es, und außerdem sei der Herr, der in diesem Zimmer logierte, am frühen Morgen abgereist. Clarins Enttäuschung ist deutlich. An den zwei Abenden hatten sie intensiv miteinander diskutiert, kamen sich von Stunde zu Stunde näher und waren fast Freunde geworden.

Zur Entschuldigung fällt ihm ein, dass Loos am Morgen schlicht allein sein wollte, um ungestört an seine tote Frau denken zu können. Vielleicht schämte er sich auch, einem fremden Menschen gegenüber seine intimsten Gefühle aufgedeckt zu haben. Aber warum hatte Loos sich unter falschem Namen im Hotel einquartiert? Das will Clarin herausfinden. Er könnte im Cademario fragen, wie Loos‘ Frau Bettina mit Nachnamen hieß. Valeries Atemtherapeutin und Vertraute, mit der er damals nach dem Flirt einmal im Bett war, könne ihm dabei helfen, hofft er.

Die Begegnung mit Eva ist ernüchternd kühl, und ihre Begrüßung verwirrt ihn. Sie fragt ihn: „Kommst du wegen ihr oder wegen mir?“ Er käme zu spät, sie sei vor einer Stunde abgereist, klärt sie ihn auf. Er kann nicht glauben, dass sie von Valerie spricht. Eva unterstellt ihm, gewusst zu haben, dass Valerie Pfingsten hier verbrachte. Sie glaubt auch nicht, dass Valerie ein Wiedersehen gewünscht hätte. Im Übrigen seien sie Freundinnen geworden und obwohl Valerie weit weggezogen sei, komme sie immer wieder mal zu Besuch. Eva erzählte ihr nichts von ihrem Schäferstündchen mit Clarin, aber an dem Abend, nachdem Clarin Valerie verlassen hatte, kümmerte sie sich um sie. Ob er tatsächlich nie mehr etwas von Valerie gehört habe? Dann wisse er wahrscheinlich auch nicht, dass Valerie nun allein lebe; die Trennung habe sie nie verschmerzt. Warum Eva versuche, ihm jetzt Schuldgefühle einzureden, will er wissen. Das sei wohl ein Missverständnis, sie spreche nicht von Valeries Trennung von ihm, vielmehr habe sie die Trennung von ihrem Mann nie verwunden. Viel hätte ihr Valerie nicht anvertraut, aber sie gab zu verstehen, wie sie ihren Seitensprung einschätzte, nämlich dass sie „[…] diesen Vorgang besinnungslos genossen habe, wobei ihr sehr bald klar geworden sei, dass sie sich ihrem Mann in diesem Zustand nicht habe zumuten dürfen. Sie habe ihn darum verlassen, wenn auch nicht im Gefühl der Endgültigkeit, und ihre Schuldgefühle unterdrückt“. (Seite 177) Eva habe nie verstanden, warum Valerie nicht mehr zu ihrem Mann zurückging. Sie habe immer in den wärmsten Tönen von ihm gesprochen. „Untrügliche Zeichen“ hätten dafür gesprochen, „dass Valerie habe zurückgehen wollen, diesen Wunsch aber unterdrückt habe“ (Seite 179). So wie Valerie ihn, Felix Bendel, geschildert habe, hätte er sie, seine untreue Frau, mit einem Rosenstrauß willkommen geheißen. Ob Eva Felix Bendel kennen gelernt habe? Nur zufällig gesehen habe sie ihn, damals nach seinem Kurzbesuch bei Valerie gegen Ende der ersten Aufenthaltswoche. Es war Felix‘ verzweifelter letzter Versuch, sie zurückzugewinnen. Sie wies ihn endgültig zurück und es muss für sie beide entsetzlich gewesen sein, wie Valerie Eva andeutungsweise erzählte. Da begriff Eva, dass der Mann, der verstört im Flur umhergeirrt war und sie nach dem Ausgang gefragt hatte, Bendel gewesen sein musste. Endlich kommt Clarin zum eigentlichen Zweck seines Besuches. Er stellt seine Frage nach Bettina Loos. Eva könne sich vielleicht erinnern, dass sich zu der Zeit als Valerie hier war, im Kurhaushallenbad ein Unfall ereignete. Eine Frau um die vierzig soll am Beckenrand ausgerutscht und im Krankenhaus in Lugano an ihrer Kopfverletzung verschieden sein. Eva weiß davon nichts, erkundigt sich aber in der Verwaltung. Es sei weder eine Bettina Loos hier gewesen, noch sei eine andere Frau tödlich verunglückt. Einen kleinen, unbedeutenden Unfall gab es allerdings seinerzeit. Clarin habe sicher nicht vergessen, dass Valerie den Ringfinger eingebunden hatte. Sie war nicht im Wald über eine Wurzel gestolpert, sondern am Beckenrand ausgerutscht. Clarin erzählt Eva von seinen Gesprächen mit Thomas Loos, und dass dieser ihn mit seinem Namen angeschwindelt und ihn am Vormittag versetzt habe. Sie könne sicher verstehen, dass ihn die Sache umtreibe und er zur Klärung hierher gefahren sei. Eva möchte noch wissen, mit welchen Details Loos seine Frau Bettina beschrieben habe. Ja also, zum Beispiel: blondes Haar, aß gerne Himbeeren, rauchte nicht, tanzte nicht gern, liebte ein bestimmtes Gedicht von Hesse. Eva holt sich eine Strickjacke, fragt ihn dann noch, ob er wisse, was Felix beruflich mache. Valerie habe ihm gesagt, dass er Musiker sei und Cellounterricht erteile. Stimme das denn nicht? Jedenfalls spielt er Cello, antwortete sie. – „Du tust ja richtig sibyllinisch, sagte ich. – Thomas, ich muss jetzt gehen, ich glaube, ich kann dir nicht helfen, ich bin nur Atemtherapeutin, Blinde kann ich nicht heilen“. (Seite 186)

Dann holt sie aus ihrer Jackentasche ein Notizblatt heraus und gibt es ihm. Später faltet er es ausauseinander und erkennt Valeries Handschrift: Es sind zwei Zeilen aus Hesses Gedicht „Stufen“. Clarin ist erschüttert. Er rekapituliert: Gleich zu Anfang hatte er, Clarin, sich vorgestellt. Loos alias Bendel hatte seinen Namen wahrscheinlich von Valerie gekannt. Als Clarin Valeries Namen nannte und erwähnte, dass diese wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Bettina im Kurhaus gewesen war, hat Loos gemerkt, wen er vor sich hatte. Er ließ bei dieser ersten Nennung von Clarins Namen vor Schreck die Asche seiner Zigarette fallen.

„Aber warum dann das Getue mit dem falschen Namen und sein sonstiges teilweise eigenartiges Verhalten? Wozu sollte sich Bendel mit ihm angefreundet und die Tumorgeschichte für ihn erfunden haben; was brachte ihn dazu, Valerie sterben lassen, nur um ihn irrezuführen? Loos mochte ein bisschen verrückt sein, aber geisteskrank war er nicht“. (Seite 189) Clarin ist immer noch blind, er versteht das Versteck- wie Vexierspiel von Loos nur ansatzweise.

Unruhig setzt sich Clarin zu Hause vor den Kamin. „Ich starrte ins Feuer und sah darin, wie Loos ins Feuer starrte. Und erstmals wurde mir bewusst: Wenn Bendel hier gesessen hätte, dann wäre mir sein Hass gewiss, dann hätte ich jetzt einen Todfeind“. (Seite 189) Es klopft an der Tür. Kommt Loos? Niemand ist da. Clarin tippt in seinen Laptop: „Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn“. (S.190) Er kann nicht weiter in die Tasten hauen. Mit einem alten Füllfederhalter zieht er Tinte auf und beginnt zu schreiben. Clarin stellt fest, dass seine Hand dabei warm wird.17

3.1. Chronologie der Handlung

Ausgangspunkt der folgenden von Dominique Raphael Klay angestellten Überlegungen ist eine Szene auf Seite 47:

„Meine Frau war nur fünf Tage lang dort, bis zum elften Juni vergangenen Jahres, falls Ihnen das weiterhilft. – Das heisst, bis übermorgen vor einem Jahr? – Ja, sagte er leise, am Pfingstsonntag jährt sich das Unglück.“

Ausgehend von dem Umstand, dass das Pfingstdatum variiert, lässt sich eruieren, wann Pfingstsonntag auf einen 11. Juni fiel: im Jahre 2000. Zusammen mit dem Verweis auf den Kosovo‐Krieg auf Seite 155 lassen sich so die meisten der im Text genannten Daten – einigermaßen – zeitlich einordnen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


1 https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/0d29ac4c-0001-0004-0000-000001019087_w1317_r0.6621417797888386_fpx44.96_fpy40.38.jpg (8.11.21)

2 Ebel, Martin (Hg.): Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner. Fischer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S.66.

3 Ebd., S.61.

4 Ebel, Martin (Hg.): Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner. S.52.

5 Ebel, Martin (Hg.): Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner. S.59.

6 https://www.srf.ch/kultur/literatur/markus-werners-ueberlebensdienliche-gabe-des-humors (23.10.21)

7 Pascal, Blaise: https://www.aphorismen.de/zitat/70254 (8.1.2021).

8 Poliwoda, Guido Nicolaus: Der Siebenarmige Leuchter. In: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/markus-werner-ist-tot/story/15129330 (14.4.2019). Und in: https://www.saiten.ch/was-markus-werner-sagen-wollte/?unapproved=23250&moderationhash=03f3b100921c42005759ae8e4256abc2#comment-23250 (16.4.2020)

9 Pieper, Annemarie: Glückssache. Die Kunst gut zu leben. Deutscher Taschenbuchverlag. München 2003, S.37.

10 Festrede von Markus Werner vor der Akademie für Sprache und Dichtung zur Aufnahme in die Akademie im Jahr 2001. https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/markus-werner/selbstvorstellung (25.11.2020). Martin Ebel datiert die Festrede auf das Jahr 2002. Ich orientiere mich an der Angabe auf der Seite der Akademie.

11 Vgl. dazu meinen Kommentar zum Tod von Markus am 16. Juni 2016 im Tagesanzeiger. Der siebenarmige Leuchter https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/markus-werner-ist-tot/story/15129330 (14.4.2019) und in https://www.saiten.ch/was-markus-werner-sagen-wollte/?unapproved=23250&moderation-hash=03f3b100921c42005759ae8e4256abc2#comment-23250 (16.4.2020)

12 Ebel, Martin (Hg.): Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner. Fischer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 76.

13 Ebel, Martin (Hg.): Allein das Zögern ist human. Zum Werk von Markus Werner. Fischer, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2006, S. 76.

14 Pia Reinacher: Lieber tot als betrogen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. vom 14. August 2004. Nachdruck in: Martin Ebel (Hrsg.): „Allein das Zögern ist human.“ Zum Werk von Markus Werner. S. 300–304.

15 Urs Bruderer: Trost und Rat (Memento vom 28. Februar 2005 im Internet Archive). In: Die Wochenzeitung. vom 23. September 2004. Aufgerufen am 28. Februar 2005.

16 Den Seitenzahlen in diesen Erläuterungen ist die im Literaturverzeichnis angegebene Ausgabe zugrunde gelegt.

17 https://www.dieterwunderlich.de/Werner_hang.htm (c) Dieter Wunderlich (22.11.2020), von G. Poliwoda, erweitert, gekürzt, sprachlich überarbeitet und mit Absätzen versehen.

Final del extracto de 142 páginas

Detalles

Título
Markus Werners Roman "Am Hang". Interpretationen, Erläuterungen, Unterrichtssequenzen und Prüfungsaufgaben
Subtítulo
Der Charakter ist nichts Eindimensionales
Autor
Año
2022
Páginas
142
No. de catálogo
V981519
ISBN (Ebook)
9783346588395
ISBN (Libro)
9783346588401
Idioma
Alemán
Palabras clave
markus, werners, roman, hang, interpretationen, erläuterungen, unterrichtssequenzen, prüfungsaufgaben, charakter, nichts Eindimensionales, Werteverfall, Ehe, Anleitungen, anything goes, Kammerspiel, Hermann Hesse, seelische Schieflage, Pornographie, Sex, Selbstzweifel, Alliterationen, Metapher
Citar trabajo
Dr. Guido Nicolaus Poliwoda (Autor), 2022, Markus Werners Roman "Am Hang". Interpretationen, Erläuterungen, Unterrichtssequenzen und Prüfungsaufgaben, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/981519

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