Politischer Antisemitismus


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2000

15 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gründe für das Aufkommen des politischen Antisemitismus
2.1. Instrumentalisierung und Verbreitung antisemitischen Gedankenguts

3. Antisemitische Parteien
3.1. Christliche Soziale Partei
3.2. Entstehung erster radikaler Antisemitenparteien
3.3. Deutschsoziale Partei und Deutsche Reformpartei

4. Niedergang der Antisemitenparteien
4.1. Verlagerung des politischen Antisemitismus in Vereine und Verbände

5. Fazit

Quellenverzeichnis 15 Literaturverzeichnis

1. Einleitung

,,Dasjenige Volk, welches sich zuerst und am gründlichsten seiner Juden entledigt und dadurch die Bahn für seine naturgemäße Naturentwicklung frei macht, ist zum Kulturträger und folgerichtig auch zum Beherrscher der Welt berufen."1

Der politische Antisemitismus trat in Deutschland nicht erst mit dem Aufstieg der NSDAP in Erscheinung, sondern hat seine Anfänge schon im Kaiserreich des 19. Jahrhunderts. Der vorliegende Text untersucht die Gründe für das Entstehen von antisemitischen Parteien im wilhelminischen Deutschland. Er betrachtet dabei einerseits die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichem Wandel und Antisemitismus und andererseits die Frage inwieweit dieser instrumentalisiert und durch ihn andere politische Inhalte transportiert wurden. Ein weiterer Schwerpunkt wird auf der Vorstellung der bedeutendsten antisemitischen Parteien und deren führenden Persönlichkeiten liegen. Hierbei wird auch auf die unterschiedlichen antisemitischen und allgemeinpolitischen Zielsetzungen der einzelnen Organisationen eingegangen werden. Des weiteren wird der zeitliche Rahmen des Aufstiegs und Niedergangs des parteipolitischen Antisemitismus dargestellt und untersucht werden, inwieweit antisemitisches Gedankengut auch danach in der Gesellschaft verbreitet war. In diesem Zusammenhang spielen vor allem Verbände und Vereine eine wesentliche Rolle.

Eine analytische Behandlung der gesamten Thematik ,,Politischer Antisemitismus" ist äußerst schwierig, da dieser in seiner parteipolitisch organisierten Form sehr zersplittert war. Dieses mag ein Grund dafür sein, daß der politische Antisemitismus in der bis dato erschienen Literatur eine eher untergeordnete Rolle einnimmt und bis jetzt keine speziellen, nur auf dieses Thema näher eingehenden Werke erschienen sind.

2. Gründe für das Aufkommen des politischen Antisemitismus

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begann in Deutschland eine Phase schnellen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, welcher fast alle Bevölkerungsschichten und gesellschaftlichen Bereiche erfaßte.

Vor allem der Prozeß der Industrialisierung führte zu tiefgreifenden Veränderungen. Der Produktionsprozeß wandelte sich grundlegend, was unter anderem zur Bildung neuer Eliten führte. Die führenden wirtschaftlichen Kräfte waren nun nicht mehr Großgrundbesitzer und die sich langsam auflösenden Zünfte, sondern der neuen Zeit angepaßte Industrielle. Eine von der Wirtschaft ausgehende, verstärkte Nachfrage nach Naturwissenschaftlern veränderte auch die Bedeutung der alten gegenüber den neuen Wissenschaften im akademischen Bereich.

Dieses war besonders für das neu gegründete Deutsche Reich von Bedeutung, da sich die alten deutschen Eliten als Spitze der führenden Kulturnation verstanden und die neuen, modernen Wissenschaften ablehnten.2

Auf Seiten der Verlierer dieser gesellschaftlichen Veränderung entwickelte sich eine große Modernisierungsangst, die gegen alles Neue gerichtet war. Schuld am Verlust des eigenen Sozialprestiges war nicht die eigene Unfähigkeit sich den neuen Gegebenheiten anzupassen,3 sondern vielmehr der Kapitalismus, der Sozialismus und der Liberalismus. Aus dieser Überzeugung heraus entwickelten sich Verschwörungs- und Sündenbocktheorien, welche die Juden als Urheber und Symbol aller dieser neuen Bewegungen ansahen.4

Nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 verschärfte sich die wirtschaftliche Entwicklung zunehmend. Aufgrund der allgemeinen Euphorie und der durch die französischen Reparationszahlungen zur Verfügung stehenden Geldmengen kam es zu einer großen Anzahl risikoreicher Investitionen.5 Die Folge war eine große Anzahl von Konkursen in den darauffolgenden Jahren. Die Schuld für diese sogenannte ,,Gründerkrise" wurde allerdings nicht in einer weitverbreiteten wirtschaftlichen Fehlplanung, sondern bei den Juden gesucht, denen die Alleinschuld dafür zugewiesen wurde. Hierbei wurden alle Juden mit den wenigen wirtschaftlich erfolgreichen Mitgliedern jüdischer Gemeinden gleichgesetzt.6 Daß es eine ungleich größere Zahl an erfolgreichen deutschen Unternehmern gab, wurde dabei vollkommen außer acht gelassen. Den Juden dagegen wurde unterstellt grundsätzlich habgierig, rücksichtslos und selbstsüchtig zu sein und die Deutschen durch Betrug und Börsenschwindel zu schädigen.7

Anhand dieser Vorurteile wurde ein Gegenbild eines typischen, guten Deutschen entworfen, um so das eigene völkische Gemeinschaftsgefühl in Deutschland zu stärken. Dieses war bis dato eher gering ausgeprägt, da die staatliche Einheit, im Gegensatz zu den übrigen großen Nationalstaaten Europas, zu jenem Zeitpunkt erst kürzlich hergestellt worden war.8

2.1. Instrumentalisierung und Verbreitung antisemitischen Gedankenguts

Der Antisemitismus wurde vor allem zu Beginn von verschiedenen Seiten aus politisch instrumentalisiert. Zum einen wurde er zur Stärkung des völkischen Gemeinschaftsgefühls, zum anderen im Kampf gegen andere politische Ideen benutzt. Sowohl den liberalen, als auch den sozialistischen Kräften wurde vorgeworfen unter der Kontrolle von Juden zu stehen, die nach Auffassung der Antisemiten auf diese Wiese ihren zersetzenden Einfluß auf das Deutsche Reich ausübten. So wurde z.B. der Regierung Bismarck vorgeworfen für die Juden und gegen Deutschland zu arbeiten, während die Juden gleichzeitig als Bismarcks Kulturkämpfer bezeichnet wurden.9 Fetcher spricht aus diesem Grund nicht von einem politischem, sondern einem politisch Gebrauch des Antisemitismus.10 Parteien schrieben sich den Antisemitismus auf ihre Fahnen, um damit mehr Wähler erreichen zu können.

Ein Faktor der den Antisemitismus politisch voranbrachte und im Bildungsbürgertum hoffähig machte, war die Tatsache, daß bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens offen für den Antisemitismus eintraten. Zu den angesehensten unter ihnen gehörten Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke. Stoecker war kaiserlicher Hofprediger in Berlin und eine wichtige Person im christlich-konservativen Spektrum. Treitschke zählte zu den einflußreichsten Professoren Deutschlands und war im ,,Antisemitismusstreit" Verfechter der antisemitischen Linie und eifriger Gegner von Theodor Mommsen. Das entscheidende in diesem Zusammenhang war weniger was Stoecker und Treitschke konkret sagten, sondern vielmehr, daß solch angesehene Persönlichkeiten sich öffentlich für die antisemitische Sache einsetzten. Ihr guter Ruf legitimierte somit den Antisemitismus und machte ihn zu einer anständigen Sache.11

Ein weiterer Faktor waren die Publikation antisemitischer Artikel in Zeitungen und Zeitschriften mit beachtlicher Bedeutung und Auflage. Zu den wichtigsten zählten die protestantisch-konservative ,,Kreuzzeitung", das Zentralorgan des Zentrums ,,Germania" und die Familienzeitschrift ,,Die Gartenlaube", welche eine immens hohe Auflage erreichte.12

3. Antisemitische Parteien

Das antisemitische Parteienspektrum war in viele unterschiedliche Gruppierungen zersplittert. Sie differierten in ihrer Ideologie, ihrer Bedeutung, sowie in ihrem Auftreten. Grundsätzlich läßt sich die Bewegung jedoch zwei Hauptströmungen einteilen: Die christlich-konservative und die radikalere völkisch-nationale.

3.1. Christliche Soziale Partei

Der wohl wichtigste und zu seiner Zeit einflußreichste Vertreter des christlich-konservativen Antisemitismus war Adolf Stoecker. Er wurde 1835 geboren und wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Eltern konnten ihm jedoch unter großen Anstrengungen eine Schulausbildung am Gymnasium und ein Studium der Theologie finanzieren. Nach anfänglicher Gemeindetätigkeit wurde er Militärpfarrer und fiel dem kaiserlichen Hof durch seinen patriotischen Eifer auf, woraufhin er 1874 zum Hof- und Domprediger in Berlin berufen wurde. Seit frühester Jugend sah er im preußischem Adel die führende und treibende Kraft des deutschen Reiches, was auch in seinen politisch konservativen Ansichten wiederzufinden war.13

Stoecker verwirklichte 1878 in Berlin sein Ziel, eine christlich-soziale Arbeiterpartei zu gründen. Diese sollte zwar arbeiterfreundlich, aber gleichzeitig konservativ und explizit gegen die Sozialdemokratie gerichtet sein. Letztendlich schwebte ihm der Aufbau eines christlichen Volksstaates vor.14 Allerdings schon die Gründungsversammlung der Christlichsozialen Arbeiterpartei (CSAP) am 03.01.1878 im Eiskeller in Berlin endete in einem Desaster. Mit nur 17 Gegenstimmen verabschiedeten die knapp 1000 Anwesenden eine Resolution für die Sozialdemokratie, stimmten Hochrufe auf diese an und sangen die Arbeitermarseillaise. Daraufhin wurde die CSAP zwei Tage später unter Ausschluß der Öffentlichkeit im kleinen Kreis gegründet.15 Jedoch schon das Ergebnis der Reichstagswahl vom 30.06.1878 endete mit einer vernichtenden Niederlage für Stoeckers Partei, die reichsweit nur 2310 Stimmen erreichen konnte.16 Der CSAP war es nicht gelungen Rückhalt in der Arbeiterschaft oder irgendeiner anderen gesellschaftlichen Gruppe zu erlangen.

Nach diesem Fiasko veränderte die CSAP ihre politische Ausrichtung grundsätzlich. Stoecker erkannte die mobilisierende Wirkung einer propagandistischen Nutzung des Antisemitismus und versuchte auf diese Weise Anhänger und Wähler zu gewinnen.17 Am 19.09.1879 hielt er seine erste öffentliche antisemitische Rede. Auch spätere Veranstaltung zu dieser Thematik waren deutlich erfolgreicher als solche mit theologischem oder sozialem Inhalt.18 Die christlich-konservativen Ausrichtung vermischte sich nun auch mit nationalistischen und rassistischen Elementen. Die rassistische Komponente war bei Stoecker jedoch bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie bei den radikalen Antisemiten, da für ihn die Konvertierung der Juden zum Christentum eine Lösung der ,,Judenfrage" darstellte.19 Parallel dazu versuchte die CSAP nun auch anstatt Arbeitern den Mittelstand zu agitieren. Dieser Zielgruppenwechsel führte am 03.01.1881 zu einer Umbenennung in Christlichsoziale Partei (CSP), wodurch die vollständige Abkehr von der Arbeiterschaft deutlich wurde.20

Durch das neue populistische und antisemitische Auftreten nahm Stoeckers Partei einen deutlichen Aufschwung, welcher bis in die Jahren 1884/85 anhielt. Aufgrund der großen Erfolge wurde von der Regierung Bismarck sogar über ein Verbot der Partei nachgedacht. Trotzdem erhielt sie in diesem Zeitraum erhebliche finanzielle Zuwendungen und wurde von bedeutenden Persönlichkeiten, unter anderem dem Kaiserenkel Wilhelm II., unterstützt.21 Stoecker selbst war 1879 in das preußische Abgeordnetenhaus und 1881 in den deutschen Reistag gewählt worden, in welchen er jeweils der konservativen Fraktion beitrat. 1881 schloß sich die CSP formal als selbständige Gruppe der Deutschkonservativen Partei (DkP) an. Durch den Anschluß der CSP konnte die DkP, vor allem in Berlin, massive Stimmengewinne verzeichnen, wodurch die CSP einen beachtlichen Einfluß innerhalb des konservativen Spektrums gewinnen konnte.22 Besonders aktiv zeigte sich Stoecker bei der Gründung des Kyffhäuserverbands der Vereine Deutscher Studenten (KVDS) im Jahr 1881.23 Seit Mitte der 80er Jahre verlor die CSP kontinuierlich an Bedeutung. Vor allem Stoecker selbst geriet seit 1887 immer stärker unter öffentlichen Beschuß und mußte 1890 auf Drängen von Kaiser Wilhelm II. von seinem Amt als Hofprediger zurücktreten. Einerseits wurde der Versuch Stoeckers mißbilligt, verstärkt Einfluß auf Wilhelm II. zu gewinnen,24 während dieser andererseits sein gutes Verhältnis zu den Nationalliberalen nicht durch Stoeckers antiliberale Propaganda gefährden wollte.25

Bis zu ihrem Beitritt zur Deutschnationalen Volkspartei 1918/19 führte die CSP ein Schattendasein. Daran konnte auch ihr Erfolg, antisemitische Punkte in das Tivoliprogramm der DkP vom 08.12.1892 einzubringen, nichts ändern. Seit 1893 verlor sie zusätzlich zunehmend Anhänger an die aufkommenden radikaleren Antisemitenparteien. Auch ihr Ausscheiden aus der DkP am 26.02.1896 konnte ihren Niedergang nicht aufhalten. Adolf Stoecker war bis zu seinem Tod am 07.02.1909 zwar nicht mehr die treibende Kraft, aber immer noch die Symbolfigur der CSP.26

3.2. Entstehung erster radikaler Antisemitenparteien

Seit Anfang der 80er Jahre entstanden neben der CSP eine Vielzahl von radikaleren antisemitischen Gruppierungen, die jedoch zum großen Teil nur über einen kurzen Zeitraum hinweg bestanden. Beispiele hierfür sind unter anderem Marrs Antisemitenliga, Henricis Soziale Reichspartei, der Deutsche Reformverein und die Berliner Bewegung.27 Viele von diesen unterstützen die Antisemitenpetition, in der eine Rücknahme der jüdischen Emanzipationsgesetze, der Stop jüdischer Einwanderung und andere antisemitische Aspekte gefordert wurden. Sie wurde Bismarck am 13.04.1881 mit etwa einer Viertelmillion Unterschriften übergeben.28

Dieser neu aufkommende Antisemitismus war in seinem Auftreten aggressiver und in seinen Forderungen sehr viel radikaler als der bisher vorherrschende konservative. Die nationalistischen und rassistischen Elemente waren bei ihm sehr viel stärker ausgeprägt und wurden unter anderem mit Forderungen nach einer großdeutschen Außenpolitik verbunden. In der antisemitischen Polemik wurden die Juden immer stärker als aktive Feinde und größte Bedrohung für alles Deutsche dargestellt.29 Die Parteien benutzten den Antisemitismus nicht als Mittel zum Zweck, sondern erhoben ihn zu ihrem wichtigsten bzw. einzigen politischen Ziel. Ihr übriges Programm bestand ansonsten aus zusammengesuchten populistischen Forderungen und reinen Anti-Positionen.30

Sie erhielten vor allem bei Studenten und Angehörigen des Mittelstandes Unterstützung, wohingegen der Versuch die Arbeiterschaft für sich zu gewinnen fehlschlug. Diese wählten weiterhin sozialdemokratisch, liberal oder vereinzelt die CSAP.31 Während der Antisemitismus vor 1870 im allgemeinen ein ländliches Phänomen gewesen war,32 lag der Ursprung des politischen Antisemitismus in den Großstädten. Dort und insbesondere in Berlin hatten die Christlich-Konservativen ihre größten Erfolge, wohingegen die Radikalen vor allem in den ländlichen Gebieten Hessens, Sachsens und Westfalens Stimmen und Anhänger gewinnen konnten. Dementsprechend wurde auch 1887 der erst 26 Jahre alte Bibliothekar und Volkssagenforscher Otto Boeckel in Oberhessen als erster reiner Antisemit in den deutschen Reichstag gewählt. Von diesem Ereignis ging eine beachtliche Signalwirkung aus und viele Antisemiten ergriffen nach dem Vorbild Boeckels die Initiative.33

3.3. Deutschsoziale Partei und Deutsche Reformpartei

Am 10./11.06.1889 wurde auf dem Antisemitentag in Bochum der Versuch unternommen, alle antisemitischen Gruppierungen in einer gemeinsamen Partei zusammenzuführen.34 Dieser Versuch scheiterte allerdings schon im Ansatz, da sich die 283 Anwesenden weder auf einen Namen noch auf ein Programm einigen konnten. Vor allem die Anhänger der CSP und die Boeckels waren mit der Entwicklung der Versammlung nicht einverstanden und distanzierten sich von der Veranstaltung. Die verbliebenen Antisemiten gründeten unter Führung von Max Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch und Paul Förster die Deutschsoziale Partei (DSP). Daraufhin gründete Boeckel zusammen mit Oswald Zimmermann am 06./07.07.1890 die Antisemitische Partei in Erfurt, die jedoch schon 24./25.05.1891 in Antisemitische Volkspartei umbenannt wurde. Aber bereits im Juni 1892 wurde der Name in Deutsche Reformpartei (DRP) geändert, und Boeckel von Zimmermann als Vorsitzender abgelöst.35 Während die DSP konservativer ausgerichtet war und sich dem Bund der Landwirte (BdL) annäherte, war die DRP radikaler, antikapitalistisch und antikonservativ. Eine außerordentlich auffallende Persönlichkeit im antisemitischen Spektrum war Hermann Ahlwardt, der sich durch eine besonders populistische Vorgehensweise und wüsteste Verschwörungstheorien einen äußerst zweifelhaften Ruf erwarb.36 War Boeckel 1887 noch der einzige reine Antisemit im Reichstag, so konnten DRP und DSP 1890 zusammen schon 5 und 1893 sogar 16 Mandate erlangen,37 wodurch sie eine eigenständige Fraktion bilden konnten.38

Die ca. 70 Abgeordneten, die seit 1887 als explizite Antisemiten im kaiserlichen Reichstag saßen, waren bis auf wenige Ausnahmen protestantisch und kamen zum überwiegenden Teil aus dem städtischen Mittelstand. Sie waren vor allem Lehrer, Handwerker, Anwälte, Angestellte, Beamte und kleine Kaufleute.39

Am 07.10.1894 vereinigten sich DRP und DSP in Eisenach zur Deutschsozialen Reformpartei (DSRP). Die politischen Gegensätze waren jedoch so groß, daß sich die Mitglieder der neu gegründete Partei zunächst auf kein gemeinsames Programm einigen konnten. Besonders Ahlwardt und Boeckel waren mit dieser Situation unzufrieden und wurden aus der Partei ausgeschlossen bzw. traten aus. Daraufhin gründeten sie am 16.04.1895 in Leipzig die Antisemitische Volkspartei, welche sich jedoch nur kurze Zeit später weiter aufsplitterte.40 Seit Mitte der 90er Jahre verlor der parlamentarische Antisemitismus kontinuierlich an Bedeutung, wofür vor allem seine innere Heterogenität verantwortlich war.41 Diese zeigte sich neben der Unübersichtlichkeit bei der Parteienentwicklung auch in der Unfähigkeit parlamentarische Arbeit zu leisten. Die Fraktion schaffte es in keinem nennenswerten Fall Einigkeit bei einer politischen Frage zu erzielen und konnte in den gesamten Jahren ihres Bestehens keinen politischen Erfolg für sich verzeichnen. Selbst bei der Definition wer ein Jude sei, konnten sie sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen, obwohl eigentlich ihre Judenfeindlichkeit ihr einziges verbindendes Element war.42 Der Bedeutungsverlust der antisemitischen Parteien zeigt sich auch an der sinkenden Zahl ihrer Reichstagsmandate. 1898 waren es noch 13, 1903 11 und 1912 nur noch 7 Mandate. Zwar konnten die Antisemiten in der Wahl von 1907 zwischenzeitlich wieder 17 Mandate erringen,43 dieses beruhte aber auf einer besonderen politischen Situation, in der ein breites Bündnis gegen die Sozialdemokratie gebildet worden war.44

Im Oktober 1900 spaltete sich die DSP aufgrund einer Meinungsverschiedenheit bezüglich der Zusammenarbeit mit den Konservativen von der DSRP ab.45 Unter dem Vorsitz von Max Liebermann von Sonnenberg steuerte die DSP einen konservativen, kleinbürgerlichen Kurs und arbeitete mit dem BdL und dem Deutschnationalem Handlungsgehilfen-Verband (DHV) zusammen. Ihr Wirkungsbereich war vor allem Nord- und Westdeutschland.46 Die DSRP bestand unter dem Vorsitz Oswald Zimmermanns fort und benannte sich 1903 in DRP um.47 Sie war antikonservativ ausgerichtet und hatte ihre Schwerpunkte vor allem in Sachsen, Ostelbien und in gewissen Teilen Hessens. Aufgrund dieser ideologischen Ausrichtung traten Boeckel und Ahlwardt wiederum der DRP bei, was der Partei allerdings keinen Popularitätszuwachs einbrachte.48

Mit zunehmender Bedeutungslosigkeit der antisemitischen Parteien, nahm deren Radikalität zu und sie verkamen zu reinen Skandal- und Radauparteien. Letztendlich vereinigten sich DSP und DRP im März 1914 wieder zur Deutschvölkischen Partei (DvP), deren führende Persönlichkeiten später in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der NSDAP mitwirkten.49

4. Niedergang der Antisemitenparteien

Neben den schon erwähnten innerparteilichen, spielten aber auch gesellschaftliche Gründe für den Niedergang der Antisemitenparteien eine wesentliche Rolle. Vor allem der 1895 einsetzende wirtschaftliche Aufschwung entzog den Antisemiten den wichtigsten Teil ihres Protestpotentials. Die soziale Situation des Mittelstandes hatte sich deutlich verbessert und die allgemeinpolitischen Fragen wurden von anderen Parteien wesentlich besser und seriöser abgedeckt.50

Ein weiterer Punkt war die Veränderung des gesamtpolitischen Klimas. Die gemeinsame Front gegen die starke Sozialdemokratie, die von den Freisinnigen bis hin zu den Konservativen bestand, sollte nicht durch antisemitische Sektierer behindert werden. Die plumpe antiliberale und antikonservative Propaganda der Antisemiten war nicht mehr zeitgemäß.51

4.1. Verlagerung des politischen Antisemitismus in Vereine und Verbände

Auch wenn der Antisemitismus in der parteipolitischen Diskussion an Einfluß verlor, gewann er auf gesellschaftlicher Ebene an Bedeutung. Antisemitismus war in weiten Kreisen der Bevölkerung als Privatangelegenheit akzeptiert und entfaltete sich so, wenn auch in stillerer Form, erneut.52

Neben dieser privaten Ausprägung verlagerte sich der politische Antisemitismus auch in den halböffentlichen Bereich der Verbände und Vereine. Abgesehen von einer Unzahl kleinerer und privater Zirkel und Clubs gab es ebenfalls eine nicht unerhebliche Anzahl von Organisationen, die teilweise durchaus einen beachtlichen politischen Einfluß besaßen.53 Zu den bedeutendsten gehörten der Alldeutsche Verband (ADV), der BdL und der DHV. Die Ziele des ADV lagen vor allem in nationalistischen Großmachtbestrebungen, wie z.B. Kolonialpolitik und Ostexpansion, und mischten sich mit antisemitischen und rassistischen Elementen. Trotz seiner immer relativ geringen Mitgliederanzahl besaß er einen großen Einfluß, da seine Mitglieder zum großen Teil wichtige Positionen in der Gesellschaft inne hatten.54 Im Gegensatz dazu erhielt der BdL sein politisches Gewicht durch seine sehr große Zahl an Mitgliedern, die vor allem aus dem klein- und mittelbäuerlichen Bereich kamen. Politisch war er rassistisch, nationalistisch, äußerst konservativ und antimodernistisch eingestellt.55 Ähnlich verhielt es sich mit dem DHV, der sich insbesondere sozialpolitisch für seine Mitglieder einsetzte und bei dem, genau wie beim BdL und anderen Verbänden, Juden die Mitgliedschaft verweigert wurde.56

5. Fazit

Trotz einiger kleinerer Wahlerfolge gelang es den antisemitischen Parteien zu keinem Zeitpunkt eines ihrer Ziele zu erreichen oder irgendeine ihrer Forderungen parlamentarisch durchzusetzen. Zwar existierte genau wie in den Jahrzehnten zuvor eine allgegenwärtige Antipathie gegenüber Juden, jedoch wurde von politischer Seite aus nie direkt gegen sie vorgegangen.

Durch ihre Uneinigkeit schafften es die Antisemiten zu keiner Zeit zu einer wirklichen Massenbewegung zu werden. Selbst in ihrer Hochphase hatte die antisemitische Bewegung nie mehr als 500.000 Wählerstimmen auf sich vereinigen können.57

Ihr geringer politischer Einfluß darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sie auf die weitere antisemitische Bewegung in Deutschland einen beachtlichen Einfluß ausgeübt haben. Sie schafften es den Antisemitismus ins Bewußtsein weiter Teile der Bevölkerung zu rücken und eine Diskussion über selbigen anzustoßen. Die Klischeebilder und Verschwörungstheorien der antisemitischen Agitatoren der Kaiserzeit wurden von vielen Menschen übernommen und bildeten letztendlich den Nährboden für die antisemitische Propaganda der NSDAP.

Quellenverzeichnis

Anonym, Judenhatz, in: Der Kulturkämpfer. Zeitschrift für öffentliche Angelegenheiten, Glagau, Otto (Hrsg.), 1, Berlin 1880, S. 108-120.

Glagau, Otto, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland vor und während der Gründungskrise (1873), in: Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, Steitz, Walter (Hrsg.), Darmstadt 1985.

Literaturverzeichnis

Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988.

Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien in Deutschland und Österreich Christlich-sozial - National - Deutsch-sozialistisch in: Antisemitismus, Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Ginzel, Günther B. (Hrsg.), Bielefeld 1991.

Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in: Antisemitismus, Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, Huss, Hermann, Schröder, Andreas (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1965.

Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 1 u. 2, Köln 1983/84.

Kampmann, Wanda, Deutsche und Juden, Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Heidelberg 1963.

Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1959.

[...]


1 Ahlwardt, Hermann, Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum, Berlin 1890, S. 239, in: Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1959, S. 107.

2 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland, in: Antisemitismus, Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft, Huss, Hermann, Schröder, Andreas (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1965, S. 15.

3 Ebd., S. 16f.

4 Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien in Deutschland und Österreich Christlich-sozial - National - Deutsch-sozialistisch in: Antisemitismus, Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Ginzel, Günther B. (Hrsg.), Bielefeld 1991, S. 171.

5 Glagau, Otto, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland vor und während der Gründungskrise (1873), in: Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, Steitz, Walter (Hrsg.), Darmstadt 1985, S. 60-71.

6 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 20.

7 Anonym, Judenhatz, in: Der Kulturkämpfer. Zeitschrift für öffentliche Angelegenheiten, Glagau, Otto (Hrsg.), 1, Berlin 1880, S. 108-120.

8 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 15.

9 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 13 u. 15.

10 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 11.

11 Ebd., S. 20 u. Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, a.a.O., S. 172.

12 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 13.

13 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 23.

14 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 88.

15 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 1, Köln 1983, S. 441.

16 Ebd., S. 442.

17 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus, a.a.O., S. 95.

18 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 19 u. 21.

19 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 98.

20 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 443.

21 Edb., S. 443f.

22 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 48.

23 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 444.

24 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 445.

25 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 61.

26 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd.1, a.a.O., S. 444-446.

27 Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, a.a.O., S. 173.

28 Ebd. u. Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 43.

29 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 24f.

30 Kampmann, Wanda, Deutsche und Juden, Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, Heidelberg 1963, S. 280 u. Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus, a.a.O., S. 86f.

31 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus, a.a.O., S. 86 u. 106.

32 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 16f.

33 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 51 u. 83f.

34 Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, a.a.O., S. 174.

35 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 82-84.

36 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 89f.

37 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 77.

38 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 75.

39 Ebd., S. 96 u. 110.

40 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 2, Köln 1984, S. 540f.

41 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 118.

42 Kampmann, Wanda, Deutsche und Juden, a.a.O., S. 285.

43 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 118.

44 Ebd., S. 208.

45 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2, a.a.O., S. 545.

46 Ebd., S. 534f.

47 Ebd., S. 545.

48 Ebd., S. 63-65.

49 Fricke, Dieter, u.a. (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2, a.a.O., S. 536f u. 561.

50 Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, a.a.O., S. 176.

51 Massing, Paul W., Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 142f.

52 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus, a.a.O., S. 110.

53 Düwell, Kurt, Zur Entstehung der deutschen Antisemitenparteien, a.a.O., S. 176.

54 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 26-29.

55 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus, a.a.O., S. 130-133.

56 Edb., S. 25-29.

57 Fetcher, Iring, Zur Entstehung des politischen Antisemitismus, a.a.O., S. 26.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Politischer Antisemitismus
Université
University of Osnabrück
Cours
Seminar: Antisemitismus im deutschen Kaiserreich (1871-1914)
Note
1,0
Auteurs
Année
2000
Pages
15
N° de catalogue
V98295
ISBN (ebook)
9783638967464
Taille d'un fichier
414 KB
Langue
allemand
Mots clés
Politischer, Antisemitismus, Seminar, Antisemitismus, Kaiserreich
Citation du texte
Udo Steinniger (Auteur)Lars Thiede (Auteur), 2000, Politischer Antisemitismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98295

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