Konflikt zwischen dem Nemo-tenetur-Grundsatz und den Mitwirkungspflichten bei der Besteuerung

Chancen und Risiken für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren


Hausarbeit, 2019

34 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Symbolverzeichnis

1 Einleitung

2 Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bzw. Beschuldigten
2.1 Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nach §§ 90 ff. AO und Ausnahmen
2.2 Nemo-tenetur-Grundsatz und Rechte des Beschuldigten

3 Verhältnis von Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren
3.1 Parallelität beider Verfahren gemäß § 393 AO und Konflikt bezüglich der Mitwirkungspflichten
3.2 Lösungsansätze
3.2.1 Gesetzliche Lösungsansätze und Rechtsfolgen
3.2.2 Teleologische Lösungsansätze und mögliche Rechtsfolgen

4 Schlussfolgerungen fürdieVerteidigung im Steuerstrafverfahren
4.1 Chancen
4.1.1 Abwendung des Anfangsverdachts
4.1.2 Beweislast derAnklage und strafrechtliche Verwertungsverbote
4.2 Risiken
4.2.1 Begehung einerweiteren Steuerhinterziehung
4.2.2 Risiken und Lücken von Verwertungsverboten
4.3 Besonderheiten im Rahmen der Selbstanzeige

5 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Rechtsprechungsverzeichnis

Rechtsquellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Symbolverzeichnis

§: Paragraph

1 Einleitung

Wer in den Medien die bekannten Strafverfahren der vergangenen Jahrzehnte aufmerksam verfolgt hat, wurde immer wieder auf das Recht der angeklagten Personen aufmerksam, zum Tatvorwurf keine Angaben machen zu müssen. So rieten etwa im NSU-Prozess die Pflichtverteidiger Sturm, Heer und Stahl der Beschuldigten lange Zeit, in der Hauptverhandlung nicht auszusagen, was in der Öffentlichkeit und bei den Opfern, welche verständlicherweise primär an der Wahrheitsfindung interessiert waren, größte Proteste auslöste.

Dieses also offenbar bedeutungsvolle, wenn auch unter Umständen kontrovers diskutierte Rechtsinstitut passt zunächst so gar nicht in das Bild des kooperativen und zur Mitwirkung bereiten Steuerpflichtigen, wie er im Alltag der Steuerberatung von der Finanzverwaltung erwartet wird. Dennoch stellt sich für den Berater spätestens dann die Frage nach dem Umgang mit dem Recht zu schweigen, wenn gegen seinen Mandanten Schritte in Richtung strafrechtlicher Ermittlungen unternommen werden.

Ziel dieser Projektarbeit ist es daher, herauszuarbeiten, welche konkreten Konsequenzen sich für die Verteidigung in einer solchen Situation aus einem möglichen Spannungsfeld zwischen dem Aussageverweigerungsrecht und den sonstigen Mitwirkungspflichten der Abgabenordnung ergeben, die die Position des Beschuldigten potenziell verbessern bzw. verschlechtern könnten.

Dazu ist es zunächst Gegenstand der Ausführungen, die unterschiedliche Rolle einer betroffenen Person zu beleuchten, die sich aus den Verfahrensgrundsätzen im öffentlichen Recht in Form des Steuerrechts einerseits sowie im Strafrecht andererseits ergibt: Welche jeweiligen Rechte und Pflichten bestehen? Daraus folgt unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis von Besteuerungs- und Strafverfahren, sowie das Aufzeigen und Analysieren von möglichen Problemen und Konflikten aus den bestehenden Vorschriften. Aus diesen Betrachtungen lassen sich schließlich Ergebnisse für die eingangs aufgeworfene Frage nach möglichen Rückschlüssen für die Verteidigung ableiten. Da jeder strafrechtliche Fall individuell beurteilt werden muss, kann diese Projektarbeit jedoch nur zu würdigende Ansatzpunkte aufzeigen und keine konkreten, allgemein anwendbaren Handlungsempfehlungen geben. Ferner sind selbstverständlich bei der Strafverteidigung im Allgemeinen zahlreiche weitere Aspekte zu beachten, welche thematisch jedoch nicht unmittelbar an das Schweigerecht bzw. die Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren anknüpfen, so- dass diese im Folgenden ebenfalls keine zentrale Beachtung finden.

2 Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen bzw. Beschuldigten

2.1 Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nach §§ 90 ff. AO und Ausnahmen

Zuvorderst stellt sich also die Frage, inwieweit der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren eingebunden ist und bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen mitwirken muss. Auch wenn gemäß § 88 Abs. 1 der Abgabenordnung grundsätzlich die Finanzbehörde zur Sachverhaltsermittlung verpflichtet ist, zeigt sich die besonders aktive Rolle des Steuerpflichtigen im Verfahren dadurch, dass die AO eine ganze Reihe von Pflichten kodifiziert, die auf Mitwirkung von außen abzielen.

In dieser Projektarbeit sind diesbezüglich besonders die Mitwirkungspflichten des Beteiligten von Interesse, d.h. der Person, an die die Finanzbehörde einen Verwaltungsakt in Form einer Steuerfestsetzung richten will1.

Den gesetzlichen Rahmen dafür schafft § 90 AO. Die weit gefasste Vorschrift erlegt es dem Steuerpflichtigen auf, alle für die Entstehung und Bemessung eines Steueranspruchs relevanten Tatsachen gegenüber den Finanzbehörden offenzulegen.2 Gerechtfertigt wird diese nicht unerhebliche Bürde für den Betroffenen dadurch, dass die Besteuerungstatbestände oft an Sachverhalte aus seiner persönlichen oder unternehmerischen Sphäre anknüpfen, bzgl. derer er in vielen Fällen die weitreichendsten Kenntnisse hat3. Ferner sollen die erweiterten Mitwirkungspflichten für Auslandssachverhalte gern. § 90 Abs. 2 AO die eingeschränkten Aufklärungsmöglichkeiten der Behörden außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgleichen.4

Genauer definiert werden die Obliegenheiten des Steuerpflichtigen in zahlreichen Einzelvorschriften, von Bedeutung sind hier insbesondere die Auskunftspflicht nach § 93 AO und die Erklärungspflichten nach §§ 149 ff. AO. Darüber hinaus hat er gern. § 97 AO für die Besteuerung relevante Unterlagen vorzulegen. Im Rahmen einer Außenprüfung muss er der Finanzbehörde nach § 200 Abs. 2 AO sogar seine Geschäftsräume zurVerfügung stellen.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Abgabenordnung keine einzige gesetzlich festgeschriebene Ausnahme für den Beteiligten vorsieht,5 während Dritten in den §§ 101 ff. AO zahlreiche Auskunfts- und Vorlageverweigerungsrechte zugestanden werden. Insbesondere greift das Auskunftsverweigerungsrecht im Fall der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung des § 103 AO ausdrücklich nicht bei Verfahrensbeteiligten.6

Begrenzt wird der Umfang der Mitwirkung demnach allenfalls durch die Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit bzw. der Zumutbarkeit.7 Ein denkbarer Grund gegen die Pflichterfüllung kann dabei aus ganz praktischen Problemen resultieren, z.B. wenn die Auskunft technisch nicht möglich ist.8 Unzumutbar kann aber auch die Verletzung eines Grundrechts sein, etwa, wenn der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht eines Auskunftsersuchens nach § 93 AO schwerer wiegt als die durchzusetzenden steuerlichen Interessen.9 Insbesondere bei Steuererklärungen nach § 149 f. AO scheidet die Unzumutbarkeitjedoch aus.10 Die Frist zurAbgabe kann zwar im Rahmen der Ermessensausübung des Finanzamts nach § 109 AO verlängert werden,11 eine vollständige Suspendierung ist jedoch im Regelfall nicht vorgesehen. Ist ein Steuerpflichtiger nach Maßgabe einer Vorschrift der AO zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren verpflichtet, besteht folglich auf Dauer nur in sehr wenigen Ausnahmefällen eine legale Möglichkeit, diese Pflicht nicht vollständig und wahrheitsgemäß zu erfüllen.

Der umfassende Anwendungsbereich drängt die Frage auf, welche Rechtsfolgen Verletzungen der Mitwirkungspflichten nach sich ziehen. Zu beachten ist hierbei, dass die Finanzverwaltung den ihrerseits notwendigen Aufwand zur Ermittlung des Sachverhalts nach § 88 AO durch die Pflichten des Beteiligten begrenzt sieht.12 Verweigert er die Abgabe von Auskünften bzw. Erklärungen oder sind seine Angaben nur unzureichend, ist die Behörde daher befugt, die Besteuerungsgrundlagen im Rahmen des § 162 AO zu schätzen13, was für den Steuerpflichtigen durchaus zu einer erhöhten Steuerlast führen kann (weitere Ausführungen in Kapitel 3.2.1).

Darüber hinaus hält die Abgabenordnung in den §§ 328 ff. AO diverse Zwangsmaßnahmen vor, die z.B. dafür verwendet werden können, die Erfüllung eines Auskunftsersuchens oder auch die Abgabe einer Steuererklärung herbeizuführen.14 Dass der Katalog an Maßnahmen in unmittelbarem Zwang (§ 331 AO) und Ersatzzwangshaft (§ 334 AO) gipfelt, zeigt, dass der Finanzbehörde durchaus wirkungsvolle Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Mitwirkung des Beteiligten zu erzwingen.

Die schwerstmögliche Rechtsfolge einer Verletzung der Mitwirkungspflichten dürfte jedoch die Erfüllung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung nach § 370 AO darstellen. Sofern weitere Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich ein Steuerpflichtiger durch das Unterlassen von Auskünften und Erklärungen gern. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, durch das Tätigen von falschen Angaben gern. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO strafbar machen.15 Damit ist er nicht mehr ausschließlich Steuerpflichtiger bzw. Verfahrensbeteiligter im Sinne der Abgabenordnung, sondern wird möglicherweise auch zum Beschuldigten im Strafverfahren nach den Vorschriften der Strafprozessordnung.16

2.2 Nemo-tenetur-Grundsatz und Rechte des Beschuldigten

Ist eine Person im (Steuer-)Strafverfahren, das gegen sie eingeleitet wurde, ähnlich zur Mitwirkung verpflichtet wie im Besteuerungsverfahren? Da gern. § 385 Abs. 1 AO die allgemeinen Vorschriften für Strafverfahren auch für die Ahndung von Steuerhinterziehungen gelten, ist an dieser Stelle ein Blick auf die Rechte des Beschuldigten unerlässlich, der in Legaldefinitionen je nach Verfahrensstand und Rechtsquelle auch als „Angeschuldigter“17, „Angeklagter“18 oder „Verdächtige^]“19 bezeichnet wird.

Das Recht, nicht selbst an der eigenen Überführung bzw. Verurteilung wegen einer Straftat mitwirken zu müssen, der sog. Grundsatz „Nemo tenetur se ipsum ac- cusare“20 (im Folgenden: Nemo-tenetur), gilt als fundamentales Institut eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.21 Dass diesem Recht sogar der Rang eines Grundrechts zugesprochen wird, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung22 des BVerfG. So leitete die höchstrichterliche Rechtsprechung u.a. bereits 1981 das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung aus keinem geringeren Grundsatz als der Achtung der Menschenwürde gern. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gern. Art. 2 Abs. 1 GG her.23

Auf nationaler Ebene findet sich in Deutschland allerdings keine eindeutige gesetzliche Normierung des Nemo-tenetur-Grundsatzes.24 Er wird aber regelmäßig aus den §§ 136 f. der Strafprozessordnung abgeleitet.25 Gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO ist ein Beschuldigter nämlich vor der ersten Vernehmung darüber zu belehren, dass es ihm freisteht, ob er aussagen möchte. § 136a StPO ergänzt dies durch das Verbot von Maßnahmen, die die freie Willensbildung des Beschuldigten, u.a. im Hinblick darauf, ob er aussagen möchte oder nicht, beeinträchtigen. Wie allerdings Roxin anmerkt, gelten diese Vorschriften unmittelbar nur für amtliche Vernehmungen.26 Unklar bleibt alleine aus dem Wortlaut der StPO jedoch, wie sich die Grundsätze auf alle weiteren Fälle der ungewollten Selbstbelastung (z.B. aufgrund gesetzlicher Meldepflichten wie etwa der Steuererklärung nach § 149 AO) übertragen lassen.

Sehr eindeutige Regelungen finden sich darüber hinaus auf europarechtlicher Ebene. Hier sind, neben Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, al- lerspätestens seit 2016 gern. Art. 7 der Richtlinie 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates alle Mitgliedsstaaten27 klar angehalten, dafür zu sorgen, „dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern.“28

Wirkungsvoll wird Nemo-tenetur allerdings erst dadurch, dass das Schweigen des Beschuldigten nicht als Beweis für seine Schuld gewertet werden darf29.

Sodann stellt sich die Frage, was der Nemo-tenetur-Grundsatz umfasst und wo er seine Grenzen findet. Meyer-Goßner/Schaefer zu Folge besteht die Gefahr der Selbstbelastung durch eine Aussage immer dann, wenn sie den Verdacht, der Aussagende könne eine Straftat begangen haben, erhärtet oder begründet.30 Demnach sei das Verweigerungsrecht so weit auszulegen, dass auch Aussagen darunterfallen, die eine Strafverfolgung überhaupt erst initiieren würden. Diese Interpretation überschreitetjedoch den reinen Wortlaut der einschlägigen EU-Richtlinie, nach derer Nemo-tenetur erst beginnt, sobald eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird. Das Recht besteht grundsätzlich erst dann nicht mehr, wenn ein gefälltes Urteil rechtskräftig wird.31

Inhaltlich wird der Grundsatz dadurch begrenzt, dass er den Betroffenen nur dann vollumfänglich schützt, wenn er keinerlei Angaben zur Sache macht. Dieser Auffassung folgt jedenfalls das BVerfG, das in seinem Beschluss vom 5. April 2010 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass Schweigen nur dann nicht zu Lasten eines Beschuldigten gewertet werden darf, wenn er jegliche Einlassung zur Tat unterlässt.32 Verweigert er die Mitwirkung nur teilweise, verstößt es also nicht gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz, daraus bei der Urteilsfindung nachteilige Schlüsse zu ziehen.

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass Nemo-tenetur grundsätzlich neben dem Aussageverweigerungsrecht nach allgemeiner Auffassung auch das Recht umfasst, für das Strafverfahren relevante Unterlagen nicht mehr aktiv herausgegeben zu müssen33. Da der Beschuldigte aber nichtsdestotrotz die Beschlagnahme eben jener Dokumente dulden muss, ist dieses Recht in seiner Wirkung im Ergebnis deutlich schwächer als das Aussageverweigerungsrecht. Ferner ist es selbst in diesem begrenzten Umfang vereinzelt ein strittiges Thema.34 Daher werden sich die folgenden Betrachtungen im Kern auf das Aussageverweigerungsrecht beschränken.

Zusammenfassend lässt sich an diesem Punkt festhalten, dass sich die Rolle des Beteiligten im Besteuerungsverfahren substantiell von der des Beschuldigten im Strafverfahren unterscheidet, da es dem Beschuldigten grundsätzlich freisteht, zu entscheiden, ob er im Verfahren mitwirken möchte oder nicht.

3 Verhältnis von Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren

3.1 Parallelität beiderVerfahren gemäß § 393 AO und Konflikt bezüglich derMitwirkungspfiichten

Von Bedeutung ist nunmehr die Frage, was passiert, wenn ein Steuerpflichtiger gleichzeitig auch Beschuldigter wegen Steuerhinterziehung gern. § 369 AO ist. Mit der Einleitung eines Strafverfahrens wird in der Regel auch das entsprechende Besteuerungsverfahren erneut aufgenommen, sofern es bereits abgeschlossen war. Dies ist unumgänglich, da die Finanzbehörde die Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO anpassen muss, sollten im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen neue Tatsachen festgestellt werden.35 Die daraus aufgeworfene Frage zwischen dem Verhältnis von Besteuerungs- und Strafverfahren regelt § 393 Abs. 1 Satz 1 AO: Demzufolge richten sich die Rechte und Pflichten sowohl des Steuerpflichtigen als auch der Finanzbehörde in beiden Verfahren nach den jeweils geltenden Vorschriften. Sie verlaufen also parallel und sind gleichrangig.36 Der Betroffene ist folglich einmal zur Mitwirkung wie in Kapitel 2.1 beschrieben verpflichtet, hat theoretisch jedoch gleichzeitig ein „Recht auf Passivität“37 gern. Kapitel 2.2.

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Finanzbehörde neben dem Besteuerungsverfahren, solange die Voraussetzungen des § 386 Abs. 2 AO erfüllt sind, auch das Strafverfahren selbstständig durchführt. Das bedeutet, dass ihr die Befugnisse zu Teil werden, die ansonsten nur der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihres Ermittlungsmonopols zugeordnet werden würden.38 In beiden Verfahren sieht sich der Steuerpflichtige demnach der gleichen Behörde gegenüber. Eventuell könnten sogar dieselben Beamten beide Verfahren durchführen.39

Dies führt dazu, dass sich Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren in der Praxis gegenseitig beeinflussen und eng verzahnt sind, auch wenn sie nach dem Gesetzeswortlaut des § 393 Abs. 1 Satz 1 AO unabhängig durchgeführt werden sollen.40

Das Dilemma, vor dem der Beteiligte nun steht, ist evident: Möchte er von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch machen, macht er gegenüber der Finanzbehörde keine Angaben. Damit verletzt er jedoch zwangsläufig die Mitwirkungspflichten nach §§ 90 ff. AO, da deren Suspendierung für den Fall, dass ein Strafverfahren eingeleitet wurde, gesetzlich nicht vorgesehen ist41. Umgekehrt wäre der Nemo-tenetur-Grundsatz in seinem Strafverfahren ad absurdum geführt, wenn er den Mitwirkungspflichten um jeden Preis nachkommen soll, da er ja keine Möglichkeit hätte, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen.42

Besonders hervor tritt die Problematik auch im Zusammenhang mit § 153 AO. Demnach hat der Steuerpflichtige Unrichtigkeiten in seinen Erklärungen zu melden, sobald er erkennt, dass es durch die falschen Angaben zu einer Steuerverkürzung gekommen ist oder kommen könnte. Dadurch wäre er theoretisch trotz Nemo-tene- tur auch gezwungen, eine Straftat zuzugeben, wenn die unrichtige Erklärung den (subjektiven) Tatbestand des § 370 AO verwirklicht hat.

Der Kern des Aussageverweigerungsrechts kollidiert also z.B. mit den §§ 93, 149 und 153 AO, während das Vorlageverweigerungsrecht im Widerspruch zu § 97 AO steht.

Zu klären ist daher, ob bestehende gesetzliche Regelungen den beschriebenen Konflikt lösen oder zumindest abschwächen können.

3.2 Lösungsansätze

3.2.1 Gesetzliche Lösungsansätze und Rechtsfolgen

In der Abgabenordnung hat § 393 Abs. 1 Satz 2 ff. das Ziel, die Unvereinbarkeit der Rolle als Steuerpflichtiger mit der Rolle als Beschuldigter abzumildern.43

Die Vorschrift lässt zwar die Mitwirkungspflichten dem Grunde nach unberührt, nimmt jedoch der Finanzverwaltung die Möglichkeit, diese mit den Zwangsmitteln der §§ 328 ff. AO durchzusetzen, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst zu belasten. Damit wird in diesem Punkt die Gleichrangigkeit von Besteuerungs- und Strafverfahren de facto ein Stück weit aufgegeben und eine Verschiebung zugunsten der strafrechtlichen Verfahrensvorschriften deutlich.44

Wie Satz 3 des § 393 AO klarstellt, gilt das Zwangsmittelverbot „stets, soweit gegen [den Steuerpflichtigen] wegen einer solchen Tat das Strafverfahren eingeleitet worden ist“45, d.h. die Behörde ist für alle Sachverhalte, die unmittelbar auch Gegenstand des Strafverfahrens sind, in keinem Fall mehr zum Einsatz oder zur Androhung von Zwangsmitteln befugt.46 Daraus ergibt sich im Umkehrschluss außerdem, dass Zwangsmittel grundsätzlich auch vor Einleitung des Strafverfahrens nicht mehr angewendet werden dürfen, wenn der Steuerpflichtige sich selbst belasten müsste.47 Sie bleiben nach BFH-Auffassung jedoch zulässig, wenn der Betroffene noch durch eine Selbstanzeige nach § 371 AO Straffreiheit erlangen könnte48, was vor Einleitung des Strafverfahrens regelmäßig vorliegen dürfte.

Auch hier sei wieder angemerkt, dass das Zwangsmittelverbot seine Wirkung im Kern nur gegen solche Mitwirkungspflichten entfalten kann, hinsichtlich derer der Steuerpflichtige die Auskunft verweigern kann, wie etwa §§ 93,149 AO. Die Vorlage von Unterlagen nach § 97 AO kann zwar auch nicht nach §§ 328 ff. AO erzwungen werden, jedoch wird der Effekt im Hinblick auf die Ahndung der Straftat in weiten Teilen durch die aufwendigeren, aber nicht weniger wirkungsvollen Möglichkeiten der Beschlagnahme gern. §§ 94 ff. StPO konterkariert.

[...]


1 Vgl. Definition des Beteiligten gern. § 78 Nr. 2 AO

2 Vgl. Kobor (2019), § 90 AO, Rz. 16.

3 Vgl. Lippross/Niewerth (2018), § 90 AO, Rz. 1.

4 Vgl. Rätke (2018), § 90 AO, Rz. 21.

5 Vgl. Lippross/Niewerth (2018), § 90 AO, Rz. 2.

6 Vgl. Rätke (2018), § 103 AO, Rz. 1.

7 Vgl. BFH-Urteil vom 4.12.2012, VIII R 5/10, BStBl. II 2014, S. 220, Grund II Nr. 2 a).

8 Vgl. Rätke (2018), § 93 AO, Rz. 12.

9 Vgl. Baum (2019), § 93AO, Rz. 14.

10 Vgl. Bilsdorfer (2001), Abschnitt II.

11 Vgl. Szymczak (2019), § 109 AO, Rz. 2.

12 Vgl. Nr. 5, AEAO zu § 88 AO.

13 Vgl. Rätke (2018), § 90 AO, Rz. 13.

14 Vgl. Lippross/Niewerth (2018), § 328 AO, Rz. 1; Vgl. Werth (2018), § 328AO, Rz. 6.

15 Vgl. Klos (1988), AbschnittVI 1.

16 Begriffsableitung aus § 157 StPO, vgl. dazu auch Monka (2019), § 157 StPO, Rz. 1.

17 §157 StPO.

18 §157 StPO.

19 Vgl. Grund 12 der Präambel zur Richtlinie (EU) 2016/343.

20 U.a. BVerfG-Beschluss vom 06.09.2016, 2 BvR 890/16, NJOZ 2016, S. 1879, III 2b) aa).

21 Herleitung aus dem Rechtstaatsprinzip gern. Art. 20 Abs. 3 GG, etwa im BVerfG-Beschluss vom 06.09.2016, 2 BvR 890/16, NJOZ 2016, S. 1879, III 2b) aa).

22 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 06.09.2016, 2 BvR 890/16, NJOZ 2016, S. 1879, III 2b) aa).; Vgl. BVerfG-Beschluss vom 07.07.1995, 2 BvR 326/92, NStZ 1995, S. 555, IV 1a).

23 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 13.01.1981, 1 BvR116/77, NJW 1981, S. 1431, I 2 a).

24 Vgl. Hilgers-Klautzsch (2018), § 393 AO, Rz. 16.

25 Vgl. u.a. Streck (1996), Rz. 456, Streck; Vgl. Diemer (2019), § 136 StPO, Rz. 10; Vgl. Verrel (1997), Abschnitt II 3.

26 Vgl. Roxin (1995),Abschnitt II.

27 Mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Irland. Art. 7

28 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343.

29 Vgl. Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie (EU) 2016/343; Vgl. Hilgers-Klautzsch (2018), § 393 AO, Rz. 42.

30 Zitiert nach Schaefer (2019), § 393 AO, Rz. 16.

31 Vgl. Grund 12 der Präambel zur Richtlinie (EU) 2016/343.

32 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 05.04.2010, 2 BvR 366/10, BVerfGK 17, S. 223, Rz. 13.

33 Vgl. Verrel (1997), Abschnitt I 2.

34 Vgl. Verrel (1997), Abschnitt, I 3.

35 Vgl. Streck (1996), Rz.1111.

36 Vgl. Jäger (2018), § 393 AO, Rz. 1.

37 Hilgers-Klautzsch (2018), § 393AO, Rz. 18.

38 Randt (2015), § 386 AO, Rz. 7.

39 Vgl. Klaproth (2016), § 393 AO, Rz. 1.

40 Vgl. Kutzner (2007), S. 3766.

41 Vgl. Bilsdorfer(2001), Abschnitt II.

42 Vgl. Schaefer (2019), § 393 AO, Rz. 3.

43 Vgl. Hilgers-Klautzsch (2018), § 393 AO, Rz. 20.

44 Vgl. Hilgers-Klautzsch (2018), § 393 AO, Rz. 46.

45 § 393 Abs. 1 Satz 3 AO.

46 Vgl. Pflaum (2018), § 393 AO, Rz. 27.

47 Vgl. Hadamitzky/Senge (2018), § 393 AO, Rz. 3.

48 Vgl. BFH-Urteil vom 01.02.2012, VII B 234/11, BFH/NV2012, S. 913, Erster Leitsatz.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Konflikt zwischen dem Nemo-tenetur-Grundsatz und den Mitwirkungspflichten bei der Besteuerung
Untertitel
Chancen und Risiken für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen, früher: Berufsakademie Villingen-Schwenningen
Veranstaltung
Steuerstrafrecht
Note
1,5
Autor
Jahr
2019
Seiten
34
Katalognummer
V984781
ISBN (eBook)
9783346346315
ISBN (Buch)
9783346346322
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Steuern, Strafrecht, Steuerstrafrecht, Nemo-tenetur, Mitwirkungspflichten, Abgabenordnung
Arbeit zitieren
Fabian Barth (Autor:in), 2019, Konflikt zwischen dem Nemo-tenetur-Grundsatz und den Mitwirkungspflichten bei der Besteuerung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/984781

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