Konflikte und Entwicklungslinien demokratischer, politischer Bildung im 20. Jahrhundert in Deutschland.

Welche Bedingungen trugen zur Entwicklung und Entstehung von demokratischer, politischer Bildung bei? Vor welchen Bewährungsproben steht sie heute


Masterarbeit, 2019

114 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Methodik
2.1 Literaturrecherche
2.2 Suchstrategie
2.3 Auswahlkriterien und Stichwörter
2.4 Literaturauswahl

3. Grundlegende Begrifflichkeiten

4. Ausgangssituation und Bedingungen im deutschen Kaiserreich

5. Anfänge einer demokratischen, politischen Bildung und Erziehung in der Weimarer Republik
5.1 Das Konstrukt der Weimarer Republik
5.2 Erste bildungspolitische Aktivitäten zur Einführung demokratischer politischer Bildung in das Bildungssystem
5.2.1 Bildungspolitische Umsetzung des Verfassungsauftrages
5.2.2 Konzeptionelle Ansätze für politische Bildung und Erziehung
5.2.3 Wirklichkeit der staatsbürgerkundlichen Erziehung an den Schulen
5.3 Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

6. Antidemokratische politische Bildung und Erziehung in der NS-Zeit
6.1 Der Anfang vom Ende - Wirtschaftskrise und Präsidialregime
6.2 Ziele der antidemokratischen Bildung und Erziehung in der NS-Zeit
6.2.1 Schulische Elemente antidemokratischer Erziehung und Bildung
6.2.2 Außerschulische Elemente der antidemokratischen Erziehung und Bildung
6.3. Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

7. Neuanfang demokratischer politischer Bildung und Erziehung ab 1945
7.1 Politische Bildung und Erziehung in den Besatzungszonen ab 1945
7.1.1 Demokratisierung durch Entnazifizierung
7.1.2 Demokratisierung durch Re-education
7.1.3 Erkenntnisse und Schlussfolgerungen
7.2 Politische Bildung und Erziehung in den 50er Jahren
7.2.1 Umsetzung des demokratischen Bildungsauftrages
7.2.2 Entwicklung von philosophisch-pädagogischen Ideen zur politischen Erziehung
7.2.2.1 Theodor Wilhelm - Das Konzept der Partnerschaftspädagogik
7.2.2.2 Theodor Litt - Erziehung zu Staatsbewusstsein
7.2.3 Erkenntnisse und Schlussfolgerungen
7.3 Politische Bildung in den 60er Jahren - Didaktische Wende und Sozialwissenschaftliche Orientierung
7.3.1 Reformen zur Umsetzung des bildungspolitischen Auftrags
7.3.2 Politische Bildung auf wissenschaftlicher Grundlage - didaktische Wende
7.3.2.1 Problemorientierter Ansatz - Wolfgang Hilligen
7.3.2.2 Konfliktorientierter Ansatz - Hermann Giesecke
7.3.3 Erkenntnisse und Schlussfolgerungen
7.4 Politische Bildung in den 70er Jahren - Politisierung und fachdidaktischer Minimalkonsens
7.4.1 Der Beutelsbacher Konsens
7.4.2 Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

8. Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abstract

Die vorliegende Masterthesis betrachtet die Bedingungen zwischen 1918 und 1970, die zur Entstehung und Entwicklung von demokratischer politischer Bildung in Deutschland beigetragen haben. Einleitend werden heutige potenzielle Probleme für die politische, demokratische Bildung in Deutschland wie beispielsweise das abnehmende Interesse an der Politik im Allgemeinen aufgezeigt. Die Arbeit skizziert mithilfe einer gezielten Literaturanalyse die Anfänge von demokratischer politischer Bildung und Erziehung in der Weimarer Republik und geht auch auf die Elemente und Ziele der antidemokratischen Bildung in der Nationalsozialistischen Zeit ein. Deutlich wird durch die retrospektive Sicht auf die 50er bis 70er Jahre, dass eine echte politische, demokratische Bildung und Erziehung im Sinne von „die Schüler zur Freiheit erziehen" und „zur Mündigkeit führen" in der BRD lange nicht vorhanden war beziehungsweise sehr schwammig umgesetzt wurde. Erst durch die didaktische Wende Ende der 60er Jahren und den Beutelsbacher Konsens in den 70er Jahren konnten zwei Meilensteine in dieser Hinsicht gesetzt werden. Abschließend wird festgestellt, dass demokratische, politische Bildung keine Feuerwehrfunktion einnehmen kann, sondern besonders in heutigen Zeiten, in denen sich unsere Gesellschaft mit dem wideraufkeimen des Populismus beschäftigt, ein stetiger Prozess sein muss und auch soll.

The following Master thesis studies the circumstances between 1918 and 1970 contributing to the establishment and development of democratic political education (DPE) in Germany. Leading up with the potential problems for DPE (e.g. by deteriorating interest in politics itself) this work outlines the beginnings of DPE and upbringing in the Weimarer Republic through specific analysis of literature and focuses on elements and goals of anti-democratic education during Nazi Germany. In hindsight, it becomes apparent that during the 50’s and 70’s a true DPE and upbringing towards political responsibility and self-awareness has been vague or even nonexistent in the FRG. Only with the "Didaktische Wende” at the end of the 60’s and the "Beutelsbacher Konsens” in the 70‘s the necessary milestones in that regard had been reached. In conclusion, DPE cannot be a firebreak but has to be a constant process, especially these days when our society is facing the resurgence of populism.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Artikel 148 aus der Weimarer Reichsverfassung

Abbildung 2: Leitsätze von Paul Rühlmann 1920

Abbildung 3: Anzahl der Arbeitslosen von 1926-1935

Abbildung 4: Artikel 25, 48 und 53 der Weimarer Verfassung

Abbildung 5: Anzahl der Mitglieder im BDM

Abbildung 6: Tägliche Internetnutzung durch Jugendliche

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Recherchestrategieplan

Tabelle 2: Zeitstrahl mit Literaturangabe

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Wirft man als angehende Lehrerin für das Unterrichtsfach Sozialkunde oder auch als politisch interessierte Person einen Blick auf die Geschichte Deutschlands, so lassen sich einige Herausforderungen resultierend aus dem jeweiligen politischen System in der Vergangenheit ausmachen: das Ende des deutschen Kaiserreichs und damit das Ende einer konstitutionellen Monarchie, der darauffolgende erste Versuch einer parlamentarischen Demokratie in Form der Weimarer Republik oder auch die NS-Zeit ab 1933.

Der Weg zur gegenwärtigen parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland gestaltete sich unter anderem aufgrund der Besatzungszeit lang und steinig. Da die Sowjetunion als Regierungssystem den Kommunismus präferierte, aber die drei westlichen Mächte das kapitalistische System bevorzugten, zeichnete sich schon früh ein Konflikt ab; später sollte dieser als Kalter Krieg bezeichnet werden. Während die SED weiterhin einen diktatorischen Sozialismus verfolgte, bereiteten die Politiker in den westlichen Besatzungszonen eine föderative, verfassungsstaatliche Demokratie vor. Am 23.05.1949 wurden die Bundesrepublik Deutschland mit dem Unterzeichnen des Grundgesetzes geboren und die ersten komplett freien Bundestagswahlen im August 1949 durchgeführt. Erst 1990 konnte mit der deutschen Wiedervereinigung auch die ehemalige DDR in die Verfassung der BRD eingebunden werden (Kaase, Schmid, (Hrsg.), 1999).

Auch volksstaatliche Regierungen stehen immer wieder vor neuen Herausforderungen. Aktuell liegt die Resilienz der Demokratie stark im Argen. Beispielsweise ist die heutige Zeit von der Wiederkehr des Populismus und auch des Rechtsextremismus geprägt. Hier sei die „Alternative für Deutschland" genannt. Die Partei ließ sich aufgrund ihrer mehrmaligen politischen Neuverortung nicht konkret in die Parteienlandschaft einordnen, doch seit dem Einzug in den Deutschen Bundestag vor zwei Jahren hat sich eine deutliche Verschiebung nach Rechtsaußen vollzogen. Ebenso ist eine zunehmende Inanspruchnahme völkisch-nationalistischen Vokabulars bei den Parteianhängern zu verzeichnen. Im Landtag von Sachsen-Anhalt beispielsweise forderte der damalige Landesvorsitzende Poggenburg, dass „linksextreme Lumpen von deutschen Hochschulen verbannt und statt eines Studiumsplatzes lieber praktischer Arbeit zugeführt [werden sollen]" (Poggenburg 2016, zitiert nach Häusler, 2018). Auch sagte er, dass „alles getan werden [muss], um diese Wucherung am deutschen Volkskörper endlich loszuwerden“ (Poggenburg, 2016, o.S., zitiert nach Häusler, 2018, o.S.). Björn Höcke, Mitbegründer der AfD, bezeichnete das Berliner Holocaust-Denkmal 2017 als „Denkmal der Schande“ und verlangte eine „Erinnerungswende um 180 Grad“ (Höcke, 2017, o.S., zitiert nach Häusler, 2018, o.S.). Auch andere rechtspopulistische Muster sind an der Partei zu beobachten: die öffentlichen Inszenierungen beginnen häufig mit provokativen und diskriminierenden Äußerungen, dann wird von Seiten der AfD auf die angeblich fehlende Meinungsfreiheit hingewiesen. So wird unter anderem die Grenze des „Sagbaren“ wieder weiter in den rechten Flügel verschoben. Sogar im Grundsatzprogramm der AfD aus dem Jahr 2016 lassen sich populistische Gedanken erkennen. Hierbei wird die Behauptung aufgestellt, dass Berufspolitiker hierzulande in illegitimer Weise die politische Meinung steuern und das Volk indoktriniert würde. Nur die AfD könne diesen Zustand beenden und dem Volk zu seinem Recht verhelfen (Häusler, 2018; Spies, 2018).

Nicht nur der aufkeimende Extremismus, sondern auch das abnehmende Interesse an der Politik im Allgemeinen stellt eine große Herausforderung für die Demokratie dar. Das zunehmende Desinteresse gegenüber politischen Prozessen zeigt sich zum Beispiel an immer geringer werdenden Wahlbeteiligungen. Bei den Bundestagswahlen zwischen 1953 und 2005 lag die Wahlbeteiligung konstant über 75%, 1972 wurde Willy Brandt sogar mit einer Wahlbeteiligung von 91,1% zum Bundeskanzler gewählt. 2009 und 2013 gaben circa 70% der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, 2017 erhöhte sich die Wahlbeteiligung leicht (Statista, 2017). Aus der Statistik „Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2017 nach Geschlecht und Alter“ von Kevin Kobold und Dr. Sven Schmiedel geht zudem hervor, dass die unter 30-jährigen unterdurchschnittlich häufig wählen; die Gruppe der 21- bis 24-jährigen darunter am seltensten. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 beteiligten sich 13,7% der 21- bis 24-jährigen weniger an den Wahlen; bei den 25- bis 29-jährigen waren es 4,5 Prozentpunkte (Statistisches Bundesamt, 2018).

Ursula Münch, seit 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, sieht einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Desinteresse der Bürger und den Veränderungen in Politik und Gesellschaft. Dabei stellt sie vier Dimensionen auf, an denen sie die Veränderungen festmacht:

Auf der sachlichen Ebene entstehen durch Digitalisierung oder Industrie 4.0 neue Herausforderungen und Probleme beim Staatsbürger. Dieser muss sich auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik einstellen und sich immer wieder neues Wissen aneignen.

Durch die Europäisierung und Globalisierung findet eine Veränderung auf der territorialen Dimension statt. Einzelne Bürger können nationale Entscheidungen oder Einflüsse immer weniger nachvollziehen, da die von den Politikern getroffenen Abmachungen sehr mit anderen Staaten verwoben sind.

Auch der immer größer werdende Zeit- und Handlungsdruck (zeitliche Dimension) bei politischen Prozessen führt dazu, dass das Politische unattraktiver und schwieriger für Außenstehende wird und das Interesse, sich zu beteiligen, geringer wird. Die Bürger haben das Gefühl, ohnmächtig zu sein, doch konfliktgeladene und auch komplexe Themen aus der Öffentlichkeit auszuschließen, bewirkt das Gegenteil - dies weckt erst recht die Zweifel an der Handlungsfähigkeit des demokratischen Systems in Deutschland.

Als vierte Dimension beschreibt Ursula Münch die gesellschaftliche Ebene. Sie geht dabei auf die Ausdifferenzierung und sogar Segmentierung der Gesellschaft aufgrund des demografischen und auch technischen Wandels ein. Veränderungen auf dieser Ebene wirken sich beispielsweise auf einen segregierten Wohnungsmarkt, die Nutzung der Medien und der politischen Partizipation aus. Da circa 30% der wahlberechtigten Bürger inzwischen „Nichtteilnehmer“ sind, also Personen, die der Meinung sind, dass Politik ihr Leben nicht beeinflusst oder Apathie und Desinteresse unter anderem durch das „nicht-wählen-gehen“ zeigen, ist hier besondere Aufklärung nötig. Bei dieser Personengruppe ist das Aufkeimen von Extremismus bedingt durch die Teilnahmslosigkeit sehr hoch (Münch, 2015).

Auch das zunehmende Auseinanderklaffen der Vereinbarkeit der realen Demokratie und der oft idealisierten Vorstellungen der Bürger davon, bietet Nährboden für populistische Ströme. Die wachsende Distanz ist mitunter dem gesellschaftlichen Wandel (siehe Ursula Münch, 2015) geschuldet - die Politik verliert ihre Orientierungsfunktion und kann nicht jeder Form der Individualisierung nachkommen (Kalina, 2017).

In der heutigen herausfordernden Zeit bedarf es deshalb mehr denn je einer politischen und auch gesellschaftlichen Bildung, um das Konstrukt Demokratie nicht weiter zu gefährden. Die Vermittlung politischer Kompetenzen durch eine demokratische, politische Bildung versucht zu verhindern, dass sich die Regierungsform Demokratie auf ihren Errungenschaften ausruht. Hierbei besteht auch der Beitrag einer politischen, demokratischen Bildung: Menschen befähigen, ihre politische Verantwortung als Teil der Demokratie wahrzunehmen und diese so Weiterzuentwickeln und zu Sichern. In einem demokratischen System ist eins der wichtigsten Ziele der politischen Bildung und Erziehung ein politisch gebildeter Bürger, welcher sich seiner „Freiheiten" und seiner Mündigkeit bewusst wird. Sinn ist es, die Gesellschaft zur „Freiheit" anzustiften und der nachfolgenden Generation das politische System der Demokratie zu verinnerlichen. Auch ist es Aufgabe der politischen Bildung, den Bürger in der Findung seiner politischen Rolle zu helfen - sei es der Beruf als Politiker oder die Entscheidung, nicht zur Wahl zu gehen.

Desinteresse oder Populistisches Gedankengut gefährden den Auftrag und stellen neue Herausforderungen für die in der Vergangenheit sehr mühsam entstandene politische, demokratische Bildung dar (Sander, 2007).

In der vorliegenden Arbeit werden die Entwicklungslinien von demokratischer, politischer Bildung in Deutschland von 1919 - 1970 mit Ausblick auf das 21. Jahrhundert dargestellt; auch die Bedingungen und Konflikte der Entstehung von demokratischer, politischer Bildung werden betrachtet. Vermittelt wird, dass politische Bildung in Deutschland aus retrospektiver Sicht einer stark variierenden Bedeutungszuschreibung und wechselndem Selbstverständnis unterlag - beginnend bei den ursprünglichen Entstehungsbedingungen in der Weimarer Republik, über die politische Erziehung in der NS-Zeit als negatives, antidemokratisches Beispiel und das Verständnis von demokratischer, politischer Bildung und Erziehung ab 1945 - 1970. Die Frage nach neuen Herausforderungen und der Dringlichkeit der politischen Bildung heute wird nochmals im Fazit aufgegriffen. Aus der Analyse der Entwicklungslinien wird ebenfalls reflektiert, ob die heutigen Herausforderungen zukünftig bewältigt werden können und wir aus der Geschichte gelernt haben.

2. Methodik

Folgendes Kapitel erläutert die ausgewählte Methodik, die zur Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung relevant ist. Diese Masterthesis ist eine Sekundärforschung - die Thematik wird anhand vorhandener Literatur untersucht. Cooper (1988) unterscheidet grundlegende Ziele eines Literatur-Reviews; bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um das Ziel der Integration mit dem Teilziel der Generalisierung. Hier wird die existierende Literatur zusammengefasst und anhand dieser Synthese zentrale Aussagen zum Forschungsfeld „Politische Bildung in der Geschichte und der Gegenwart" getroffen.

Grundsätzlich kann ein Literatur-Review aus zwei Perspektiven erstellt werden. Bei der neutralen Perspektive wird die vorhandene Literatur zusammengefasst, jedoch so wenig wie möglich anhand persönlicher Kriterien interpretiert. Im Gegensatz dazu steht die eingenommene Position. Hierbei nimmt der Autor eine bestimmte Position ein und stellt die Literatur mit dem Ziel vor, den Standpunkt mit der vorgestellten Literatur zu verteidigen. Die vorliegende Masterthesis reiht sich in die neutrale Position ein, auch wenn es laut Cooper (1988) unwahrscheinlich ist, dass Autoren eine vollständige neutrale Position einnehmen können (Cooper, 1988, zitiert aus Becker, 2013).

Im Folgenden werden die Punkte „Literaturrecherche", „Suchstrategie" und „Auswahlkriterien und Stichwörter" genauer betrachtet.

2.1 Literaturrecherche

Zur Bearbeitung der vorliegenden Thematik erscheint zunächst eine Analyse der existierenden Fachliteratur eine geeignete Methode zu sein, um einen Überblick über das Forschungsfeld zu erhalten. Die Analyse dient der Systematisierung und Bewertung der Literatur und soll helfen, Themen zu identifizieren, welche einer genaueren Betrachtung bedürfen. Hierbei ist die Analyse aber mehr als eine reine Zusammenfassung schon erschienener Literatur. Diese Forschungsmethode ist eine solide Grundlage, mit welcher es möglich ist, die bereits existierenden Erkenntnisse darzulegen und im Nachhinein aufzuzeigen, welche Forschungsbereiche noch in- tensiver untersucht werden sollen (Webster, Watson, 2002). Anhand von Überblickliteratur wie z.B. Lehrbücher oder allgemeine Internetauftritte können wichtige Themen ermittelt werden und ein erster Einstieg in das Themengebiet erfolgt. Laut Rowley und Slack (2004) ist es wichtig, Mindmaps zum Gegenstand zu entwickeln, da das Forschungsfeld genauer beleuchtet wird und die Beziehungen der Themen untereinander deutlich werden. Entsteht ein Mindmap, so ist darauf zu achten, dass sich im Laufe der Literaturrecherche das Konzept ändern kann und das Mindmap folglich angepasst werden muss (Rowley, Slack, 2004, zitiert aus Becker, 2013). Auf ein Mindmap verzichtete ich bei der Gegenstandsanalyse. Da die vorliegende Masterthesis eher chronologische Abfolgen aufgreift und weniger miteinander verwobene Theorien und Konzepte darstellt, erstellte ich eine Art Zeitstrahl. Dieser half mir, zeitliche und historische Abläufe in die richtige Reihenfolge zu bringen und so den Überblick zu behalten. Die entsprechende Literatur konnte ich dem Zeitstrahl gut zuordnen und Bücher mit übergreifenden Themen farblich kennzeichnen.

2.2 Suchstrategie

In der vorliegenden Arbeit wurde ein strukturierter Suchprozess durchgeführt, um relevante Literatur für die Analyse der zu behandelnden Thematik zu gewinnen. Über die Literatur- und Internetrecherche sollen Bücher, Zeitschriftenartikel und Aufsätze ermittelt werden, welche sich unter anderen mit dem Thema „Politische Bildung" befassen. Hierbei erfolgte eine systematische Suche in den Datenbanken „Google Scholar,", "EZB", dem Bundesamt für Statistik, dem „Online Public Access Catalogue" (OPAC) der Bayerischen Staatsbibliothek und dem OPAC der Technischen Universität München. Die Stichwörter für die Datenbanksuche wurden im Vorhinein nur vereinzelt festgelegt und intuitiv entwickelt. Der Suchprozess an sich wurde dokumentiert, um übersichtlicher und effektiver arbeiten zu können. In nachstehender Tabelle wird festgehalten, welche Suchparameter, Aspekte und Synonyme miteinander verknüpft wurden. Dies macht eventuelle Nachforschungen oder Fragen nachvollziehbarer. Auch konnte ich so die Literatur besser dem oben beschriebenen Zeitstrahl zuordnen und einen vollständigen Überblick über sämtliche Publikationen behalten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Recherchestrategieplan. Eigene Darstellung.

Verschiedene zeitgeschichtliche und andere politische Informationen wurden z.B. dem Internetauftritt der Bundeszentrale für politische Bildung entnommen. Die Zeitschrift „APuZ" und die Wochenzeitung „Das Parlament" dienten ebenso als Informationsquelle; auch das Bundesamt für Statistik oder die Internetseite „Statista" wurden mehrmals aufgerufen.

2.3 Auswahlkriterien und Stichwörter

Kein Kriterium bei der Literatursuche in oben genannten Datenbanken war der Veröffentlichungszeitpunkt. Da sich die vorliegende Arbeit mit den Entwicklungslinien der Entstehung von politischer, demokratischer Bildung und Erziehung in Deutschland beschäftigt, kamen auch ältere Publikationen für die Masterthesis in Frage. Der geographische Fokus wurde insbesondere auf Deutschland bzw. auf Westdeutschland gelegt, da sich die Fragestellung der Thesis nicht auf die politische Bildung in der DDR bezieht. Eine Einschränkung erfolgte ebenso dahingehend, dass bei der Literatur erkennbar sein musste, ob Deutschland in die Untersuchungen einer Studie beispielsweise miteinbezogen war oder das Ergebnis auch für Deutschland verallgemeinerbar ist. Die Sprache wurde auf Deutsch und Englisch beschränkt, als Medium wurden Hausarbeiten und sonstige „graue Literatur" nicht berücksichtigt.

Nach Rowley et al., (2004) sollte man sich bei der Suche nach wissenschaftlichen Publikationen auf qualitativ hochwertige Literatur konzentrieren, da diese in der Regel eine bessere theoretische Fundierung als Praxisliteratur besitzen (Rowley, et al., 2004, zitiert aus Becker, 2013). Auch Diana Ridley bietet einen Klassifikationsrahmen für verschiedene Quellen an. Lehrbücher und Lexika, Fachbücher, veröffentlichte Dissertationen, aber auch weitere Publikationen wie Artikel in wissenschaftlichen Journals stellen eine gute wissenschaftliche Basis dar (Ridley, 2008, zitiert aus Becker, 2013). Bei der ersten Einschätzung der gefundenen Internetquellen waren vor allem allgemeine Merkmale wichtig. Hierbei wurde auf die Darstellung des Artikels, Angaben zu Autoren oder Impressum und auf Referenzen bzw. auf ein Literaturverzeichnis geachtet. Bei „näherem Hinsehen" war vor allem bei Büchern relevant, ob das Abstract oder die Inhaltsangabe zum Thema „Politische Bildung in Deutschland" oder „Weimarer Republik" passt und auch „Geschichte der politischen demokratischen Bildung" eine Rolle spielt.

Folgende Suchbegriffe wurden für die Recherche nach Publikationen zu vorliegendem Thema verwendet: politische Bildung, Weimarer Republik, Geschichte und Gegenwart der politischen Bildung in Deutschland, Wolfgang Sander, Politikwissenschaften in der Weimarer Republik, NS-Zeit und politische Bildung, Joachim Detjen, Politikdidaktik heute, Demokratiegefährdungen heute, politische Herausforderungen uvm.

Zusätzlich wurden für den Methodenteil folgende Suchbegriffe eingegeben: Qualitative Sozialforschung, empirische Sozialforschung, systematische Literaturanalyse, Literaturübersicht in der empirischen Sozialforschung, Methodik wissenschaftlichen Arbeitens, Literaturrecherche.

2.4 Literaturauswahl

Die Suche in oben genannten Datenbanken und Internetauftritten anhand der Kriterien von Rowley et al., (2004) sowie Ridley (2008) führte zur Ermittlung von ca. 50 thematisch relevanten Publikationen zum Thema „politische Bildung" und „Geschichte und Gegenwart demokratischer Bildung" und zu ca. 20 bedeutsamen Veröffentlichungen für den Methodenteil. Um die wissenschaftliche Relevanz der einzelnen Bücher und Artikel einschätzen zu können, wurden oben genannte Auswahlkriterien genutzt und die gefundene Literatur „angelesen“ bzw. „quergelesen“. Laut Creme und Lea (2008) sollen beim Lesen folgende Fragen an den Text gestellt werden, inwiefern dieser zur Forschungsfrage und zum Forschungsfeld passt:

1. Wie passt der Inhalt des Textes zu bereits bekannten Inhalten?
2. Wie passt der Inhalt des Textes zu anderen Texten aus dem gleichen Themengebiet?
3. Welche verwandten Argumente und Theorien werden durch das Lesen des Textes aktiviert?
4. Welchen Nutzen hat der Text für sich alleine?
5. Welchen Nutzen hat der Text in Verbindung mit bereits existierenden Ideen?
6. Welche weiteren Inhalte müssen zum Text hinzugefügt werden, um ihn im Rahmen der eigenen Forschung konstruktiv zu nutzen?
7. Welche Inhalte des Textes können weggelassen werden, um ihn im Rahmen der eigenen Forschung konstruktiv zu nutzen (Creme und Lea, 2008, S. 53, zitiert nach Becker, 2013, S.7)?

Das Inhaltsverzeichnis und die Literaturangaben der jeweiligen Lektüren wurden so auf relevante Themen durchgearbeitet. Bei Zeitungen und Zeitschriften konnte das Titelblatt oder auch eine kurze Zusammenfassung der präferierten Artikel bereits eine entscheidende Rolle spielen. Auch hier schlägt Ridley (2008) vor, die relevanten Informationen in einer Tabelle zu sammeln, um bedeutsame Literatur zu identifizieren. Das Verzeichnis enthält neben dem Thema eine Übersicht über die verschiedenen Literaturquellen und deren Signifikanz (Ridley, 2008, zitiert aus Becker, 2013).

Bei der vorliegenden Masterarbeit wird der Zeitstrahl mit der von Ridley empfohlenen Tabelle verknüpft. Der Zeitstrahl mit der passenden Publikationsangabe macht am meisten Sinn, da sofort ein Überblick über die bereits angelesene und auch zum historischen Zeitabschnitt gewählte Literatur gewährleistet wird. Dieser ist folgend abgebildet.

Zitiert wird in dieser Thesis nach APA-Style (6th), basierend auf den 2010 herausgegebenen sechsten „Style" der American Psychological Association. Auf den verlangten zweifachen Zeilenabstand wird jedoch verzichtet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Zeitstrahl mit Literaturangabe. Eigene Darstellung.

3. Grundlegende Begrifflichkeiten

Unter diesem Abschnitt werden jene Begriffe in alphabetischer Reihenfolge beschrieben, die im direkten Kontext zur vorliegenden Thematik stehen und in den folgenden Kapiteln Anwendung finden werden.

Demokratie: der griechische Ausdruck ist wörtlich zu übersetzen mit „Herrschaft des Volkes". Charakteristisch ist hierbei der Bezug auf die Freiheitlich demokratische Grundordnung. Entscheidende Prinzipien dieser Grundordnung sind in Deutschland: Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip sowie Chancengleichheit für alle politischen Parteien (Thurich, 2011).

Curricula/Curriculum: die Bezeichnung wurde 1967 in die westdeutsche Diskussion um die Bildungsreform eingeführt. Er wird als verwandter Ausdruck für „Lehrplan" gebraucht (Reich, 1977).

Didaktik: im weiteren Sinn bezeichnet der griechische Begriff das „Lehren", „Lernen", „Lehre" und auch „Unterricht". Die Didaktik findet sich immer wieder in erziehungswissenschaftlichen Theorien, ein einheitlicher Sprachgebrauch wurde bis heute jedoch nicht entwickelt (Reich, 1977).

Freiheit: der politische Freiheitsbegriff ist das Recht zur Mitgestaltung von Politik aufgrund des Mehrheitsprinzips, dem Rechtsstaat, der Gewaltenteilung oder auch der Verfassungsgerichtsbarkeit. Freiheit ist die Integration der Bürger in die Demokratie (Sander, 2007).

Judenfrage: eine aus antisemitischer Sicht sich stellende Frage, wie man die jüdische Minderheit ausschließen, bekämpfen, beseitigen kann (Bundeszentrale für politische Bildung, 2019a).

Kompetenzen: nach Weinert geht der Kompetenzbegriff über den kognitiven Bereich hinaus und umfasst individuelle Orientierungen, Einstellungen und Erwartungen. Eine Kompetenz stellt die Verbindung von Motivation, Wissen und Können in einer Handlung her (Weinert, 2001, zitiert aus Massing, 2012).

Kritische Theorie: ist eine Form der Fortsetzung der Marxschen Kapitalismuskritik. Hilligen und Giesecke übernahmen einzelne Aspekte in der Diskussion um die politische Bildung; vor allem die gesamtgesellschaftliche Bedingtheit individueller Existenzen und beispielsweise die Wirksamkeit von ökonomischen Faktoren spielten bei den Didaktikern eine große Rolle (Gagel, 2005; Schiller, 2010).

Methodik: „[...] behandelt die Probleme der Vermittlung von Wissen, also das „Wie", nicht aber, welches Wissen wissenswert und damit lehrnotwendig sei" (Gagel, 2005, S. 133).

Nationalsozialistisch: die völkisch-antisemitische und antidemokratische Bewegung unter der Führung Adolf Hitlers mit dem Aufbau einer totalitären Diktatur. Die Bewegungsphase begann ab 1919 und die Regimephase dauerte von 1933 bis 1945 (Bundeszentrale für politische Bildung, 2019a).

Politische Bildung: wird im weiten Sinne als Sammelbegriff gesehen, der alle Prozesse umfasst, die auf jeden Menschen politisch prägend wirken. Dabei wirken diese Prozesse in einer sozialen und politischen Ordnung über unterschiedliche Organisationen, Institutionen aber auch Medien. Politische Bildung sind bewusst geplante und kontinuierliche Maßnahmen von Bildungseinrichtungen, um Menschen mit den Voraussetzungen auszustatten, die zur Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben nötig sind (Bundeszentrale für politische Bildung, 2019b).

Populismus: „Populismus ist kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff. Er zeichnet sich aus durch Anti-Elitarismus, Anti-Intellektualismus, Antipolitik, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik" (Priester, 2012, o.S.).

Rasse, rassistisch: damit stigmatisierte man in der NS-Zeit Personengruppen, die in der Volksgemeinschaft (der Ideologie zufolge) nicht erwünscht waren. Besonders Juden, Sinti oder Osteuropäer wurden dadurch ausgegrenzt (Koselleck, 2006, zitiert aus Hoffmann-Ocon, 2009).

Staatsbürgerliche Erziehung und Bildung: Nach Theodor Litt bedeutet dies die Erziehung zum Staat und nicht zur Demokratie. Aufgabe dieser Erziehung und Bildung ist es, Einsicht in das Wesen „Staat" zu vermitteln. Politik setzt Litt gleich mit dem Kampf um die Macht im Staat (Mickel, (Hrsg.), 1988).

Staatspädagogische Erziehung und Bildung: die gesamte Erziehung fällt in den Aufgabenbereich des Staates. Dieser ist Erziehungsstaat und lenkt Fühlen und Denken des Bürgers mit repressiven und indoktrinierenden Maßnahmen. Staatspädagogische Erziehung zielt in erster Linie auf ein herrschaftsstützendes Verhalten ab (Caruso, Schatz, 2018).

Volk, völkisch: wurde bereits lange vor dem Nationalsozialismus z.B. von Vertretern der Jugendbewegung verwendet. In der NS-Zeit wurden Volk, Volksgemeinschaft oder völkisch zu stimmungsheischenden Fangworten. Oft wurden die Begriffe als Synonym für Rasse oder rassistisch verwendet (Koselleck, 2006, zitiert aus Hoff- mann-Ocon, 2009).

4. Ausgangssituation und Bedingungen im deutschen Kaiserreich

Im deutschen Kaiserreich wurde noch die Priorität gesetzt, sich den Auswirkungen der aufstrebenden Industrialisierung und der sozialen Ungleichheit entgegenzusetzen. Kaiser Wilhelm II, eher ängstlich hinsichtlich der aufstrebenden Sozialdemokraten, nahm 1889 mit der „Allerhöchsten Odre" die Schulen in die Pflicht, um deutschnationale und herrschaftsstützende politische Bildung zu veranlassen. Er schrieb:

Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzutreten. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterland die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, dass in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. [...]. Sie muss die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen und nachweisen, dass die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann [...] (Wilhelm R., Fürst zu Bismarck, 1889, zitiert aus Michael, Schepp, 1973, S. 409f, zitiert nach Detjen, 2007, S. 52f).

Der Grundstein für ein eigenständiges Schulfach hinsichtlich politischer Bildung und Erziehung war gelegt, wurde jedoch stark mit dem Geschichtsunterricht verknüpft. Die Odre verriet, dass die politische Bildung und Erziehung als politisches Instrument zur Legitimation bei der Bevölkerung für das vorherrschende politische System und auch als Mittel bei der Auseinandersetzung gegen die Sozialdemokraten eingesetzt werden sollte. Drei Maßnahmen waren dabei für die politische Erziehung vorgesehen:

1. Lehrer wurden in die elementaren Grundsätze der Volkswirtschaft eingeführt; so konnten sie die Schüler vor „sozialdemokratischer Irrlehre" bewahren.
2. Die Volksschulen erteilten Belehrungen im Religions- und Geschichtsunterricht ganz im Sinne des Königs.
3. An den höheren Schulen sollen Entwicklungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart dargestellt werden und die Zeit ab Wilhelm II ausführlich unterrichtet werden (Messer, 1912, S. 58f, zitiert nach Detjen, 2007, S.50).

Im Jahr 1909 wurde in Goslar die „Vereinigung zur staatsbürgerlichen Erziehung des deutschen Volkes" gegründet, da die Diskussionen um ein eigenständiges Unterrichtsfach der politischen Bildung lauter wurden. Zweck der Vereinigung war es, „fern von parteipolitischen und konfessionellen Bestrebungen die staatsbürgerliche Bildung im deutschen Volke zu fördern, namentlich auf die Erziehung der heranwachsenden Jugend zum Verständnis der Grundlagen unseres staatlichen Lebens [...] und staatsbürgerlichem Pflichtbewusstsein zu wirken" (Messer, 1912, S. 87, zitiert nach Detjen, 2007, S. 55). Schon 1911 beschloss das preußische Kultusministerium, in den höheren Klassen der Gymnasien Staatsbürgerkurse einzuführen. Laut Messer (1912, zitiert nach Detjen, 2007) sollen die Schüler hierbei Vorträge über die politische Lage hören oder auch Versammlungen besuchen.

Auch der eher liberale Georg Kerschensteiner, „Vater" der Berufsschule, plädierte für dafür, die staatsbürgerliche Gesinnung in den Dienst eines Kultur- und Rechtsstaates zu stellen. Dies bedeutet, dass er für eine staatspädagogische Erziehung im Sinne der Prägung eines herrschaftsstützendes Verhalten eintrat. Bei einer staatspädagogischen Erziehung fällt die gesamte Bildung auf den Staat. Dieser lenkt sowohl Denken, Fühlen und Wollen der Staatsbürger mithilfe repressiver und indoktrinierender Maßnahmen. Jeder Einzelne soll also „staatstauglich“ gebildet werden und nicht nur seine Rechte wahrnehmen, sondern auch seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen. Im deutschen Kaiserreich fand also keine demokratische, politische Bildung und Erziehung im heute verstandenen Sinn statt - die Bürger sollten so erzogen werden, dass die Herrschaft des Kaisers ihre Stabilität nicht verlor (Caruso, et al., 2018).

5. Anfänge einer demokratischen, politischen Bildung und Erziehung in der Weimarer Republik

Der folgende Teil der Masterthesis beschäftigt sich mit den Anfängen der demokratischen, politischen Bildung und Erziehung geht dabei im speziellen auf die Weimarer Republik ein. Hierbei wird das Augenmerk erst auf eine kurze Übersicht über das Konstrukt des ersten demokratischen „Projekts“ Weimarer Republik gelegt. Der darauffolgende Punkt geht im Näheren auf verschiedene Ansätze, Maßnahmen und Einflüsse ein, wie die Chance, die nachfolgende Generation auf eine Demokratie vorzubereiten, ergriffen wurde. Ebenfalls wird die Umsetzung und Wirklichkeit der staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung in den Schulen beleuchtet. Im letzten Abschnitt werden Hindernisse und Faktoren herausgearbeitet, die zum Ende der Weimarer Republik - auch in Bezug zur politischen Bildung - geführt haben.

5.1 Das Konstrukt der Weimarer Republik

Mit der Novemberrevolution am 4.11.1918 begann das Ende des Deutschen Kaiserreiches und die Stimmen für eine Republik wurden lauter. Prinz Max von Baden dankte Kaiser Wilhelm II ab und übertrug sein eigenes Kanzleramt an den Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert. Kontrolle über revolutionäre Umbrüche im Deutschen Reich zu haben und eng mit der USPD (eine linke Abspaltung der SPD) zusammenzuarbeiten um radikale Linke zu isolieren, war hierbei das wichtigste Ziel. Als gemunkelt wurde, dass einer der radikalen Linken die sozialistische Republik ausrufen will, rief Philipp Scheidemann (SPD Vorstandsmitglied) während einer Rede die „deutsche Republik" aus. Die „freie sozialistische Republik Deutschland" wurde daraufhin von Karl Liebknecht, genannter radikaler Linker, ausgerufen. Ebert handelte schnell und bildete eine provisorische Übergangsregierung, bei der er der USPD große Zugeständnisse einräumte (Winkler, 2018).

Als am 11.11.1918 für Deutschland der Erste Weltkrieg mit einem von Matthias Erzberger, Parlamentarier der katholischen Zentrumspartei, unterzeichneten Waffenstillstand endete, kamen viele Herausforderungen auf die provisorische Regierung, den „Rat der Volksbeauftragen" zu. Diese war von Ebert aus den beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD gebildet worden und musste sich unter anderen um die Rückführung von Soldaten und deren schnelle Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt kümmern, materielle Hilfeleistungen für Verwundete stellen und Unterstützungen für Witwen und Waisen anbieten. Auch der Versailler Friedensvertrag, welcher hohe Reparationen und Gebietsabgaben (z.B. Elsass-Lothringen, Westpreußen oder Oberschlesien) seitens Deutschland festlegte, gehörte zu den großen Herausforderungen der Übergangspolitik. Auf Beschluss des Reichsrätekongresses wurde am 19.01.1919 die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung abgehalten. Im Sommer des gleichen Jahres trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft und betitelte das Deutsche Reich als föderative Republik (Schumann, 2018).

Die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland war geboren und brachte viele Umbrüche und Veränderungen mit sich. „Sorgen Sie dafür, dass die neue deutsche Republik, die wir errichten werden, nicht durch irgendetwas gefährdet werde!", so Scheidemann am 9. November 1918 (Jessen-Klingenberg, 1968, S. 653). Angesichts ihres Endes wird die Weimarer Republik bis heute eher nicht als effektiver Wandel wahrgenommen, doch im Bereich des Schulwesens hat sich in dieser Zeit viel verändert.

5.2 Erste bildungspolitische Aktivitäten zur Einführung demokratischer politischer Bildung in das Bildungssystem

Nach den Veränderungen bzw. dem Umbruch von einer konstitutionellen Monarchie hin zur ersten parlamentarischen Demokratie wurden auch die Diskussionen bezüglich des Staatsbürgertums und der Schule laut. Der Bedarf an politischer Stabilität sowie der Akzeptanz des neuen politischen Systems und der Weg vom Untertanen hin zum selbstbestimmten Bürger, wies zunächst auf eine revolutionäre politische Bildung hin. Auch die Weimarer Verfassung sprach jedem einzelnen Staatsbürger ein großes Maß an Rechten und Pflichten zu und mit Artikel 148 (1) der Weimarer Verfassung wurde die „Staatsbürgerliche Gesinnung" sowie Artikel 148 (3) die „Staatsbürgerkunde" als Lehrfach an Schulen eingeführt. Ein erster Ansatz war geschaffen! „[ Es ist] unbedingt nötig, daß wir [dem Staatsbürger] schon im staatsbürgerlichen Unterrichte der Schule auch den rechten Gebrauch seiner Rechte und die gewissenhafte Erfüllung seiner Pflichten klar machen" (Becker, Kluchert, 1993, o.S., zitiert nach Caruso, et al., 2018, S.6), sagte einst ein Abgeordneter der katholischen Zentrumspartei und begründete somit die Einführung in den Schulen. Erstmals wurde die Chance ergriffen, durch eine politische Bildung die nachfolgende Generation auf das Leben in der Demokratie „vorzubereiten".

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Artikel 148 aus der Weimarer Reichsverfassung. Abgerufen von https://www.1000doku- mente.de/pdf/dok_002_mrv.pdf.

Vier Grundgedanken charakterisierten das Selbstverständnis der in der Weimarer Verfassung verankerten Staatsbürgerkunde: Die Förderung der staatsbürgerlichen Gesinnung soll die Abkehr von der Untertanenhaltung „beschleunigen" und die Identifizierung mit der neuen politischen Ordnung stärken. Als zweiter Grundgedanke ist der Geist des deutschen Volkstums aufzuführen. Er ist die Grundlage und soll die Sehnsucht nach Einheit und Gemeinschaft zeigen - gerade in Bezug auf den verlorenen Ersten Weltkrieg. Der Gedankengang der Völkerversöhnung bezieht sich ebenfalls auf den verlorenen Krieg und symbolisiert den Willen des deutschen Volkes, dem äußeren Frieden zu dienen. Dieser Gedanke wurde unter anderen überschattet durch die hohen Forderungen im Versailler Vertrag. Der vierte Grundgedanke ist die Auseinandersetzung mit dem Empfinden der „Andersdenker“. Somit wurde nicht nur das „anders sein“ auf religiöser Ebene, sondern auch im politischen Bereich toleriert (Detjen, 2007).

5.2.1 Bildungspolitische Umsetzung des Verfassungsauftrages

Diese Grundgedanken waren sehr umstritten und mehrere Debatten wurden in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung geführt: Ludwig Beuermann (DVP) zum Gedanken des Geistes der Völkerversöhnung: „Das Wort Völkerversöhnung möchten wir hier gern entbehren. Aus dem furchtbaren Welthass, der auf uns gewälzt worden ist, kann man es füglich von uns nicht verlangen, dass wir gerade dieses Wort als Schulziel in unsere Verfassung einsetzen. [...]“ (Boeger, 1921, S. 7, zitiert nach Detjen, 2007, S. 72). Albrecht Philipp (DNVP) äußerte sich ebenfalls hierzu: „[...]. Es ist keine unbedingte Notwendigkeit, im jetzigen Stadium der deutschen Geschichte die Erziehung zur Völkerversöhnung verfassungsmäßig festzulegen“ (Boeger, 1921, S. 10, zitiert nach Detjen, 2007, S. 72f). Auch Richard Seyfert (DDP) argumentierte, dass es „[...] wie eine Selbstentmannung [erscheint], wenn wir in die Ziele unsere Schule das Ziel der Völkerversöhnung hineinarbeiten. [...]“ (Boeger, 1921, S. 6, zitiert nach Detjen, 2007, S. 73).

Ebenso wurden lange Streitgespräche geführt, in welchen Klassen und Schulen und in welchem Lebensalter das Fach zu unterrichten sei. Diskussionen gab es darüber hinaus, ob die Staatsbürgerkunde ein Fach mit festgelegten Wochenstunden sein soll oder nur gelegentlich angeschnitten wird. Auch waren sich die Politiker nicht einig, ob das Fach tatsächlich ein eigenes Lehrfach ist oder ein Teil des Erkunde- bzw. Geschichtsunterrichts bleibt. Lebhaft diskutierte man über die Inhalte der Staatsbürgerkunde und unzählige Lehr- und Stoffverteilungspläne wurden von Pädagogen erstellt. Einige schlugen einen lückenlosen Lehrplan vor, die alle Gebiete des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens abdeckten, andere wollten die Schüler an der Auswahl der zu unterrichtenden Gegenstände teilhaben lassen. Johann Wolff beispielsweise war ein Gegner der überladenen Stoffpläne und äußerte sich folgendermaßen: „[...]. Einen brauchbaren Lehrplan erhält man nicht, wenn man die einzelnen Gesetzte und Gebiete systematisch durchwandert und sie in ihrem ganzen Aufbau schulmäßig unterrichtstechnisch zu gestalten sucht. Das Verfahren führt allemal in die Irre" (Wolff, o.J., S. 106, zitiert nach Fischer, (Hrsg.), 1970, S. 21).

Nur ein Beschluss der Reform und die Diskussionen hinsichtlich der demokratischen Erziehung und Bildung machen noch lange kein Schulfach daraus. So folgten auf die beschlossenen pädagogischen Veränderungen eine Reihe an bildungspolitischen Umgestaltungen. Die Reichsschulkonferenz von 1920 ist hierbei von zentraler Bedeutung. Sie gilt als Meilenstein der bildungspolitischen Entwicklung, da in diesen acht Tagen die Vorarbeit für eine umfassende Schulreform geleistet wurde. Auch in dieser Konferenz wurde viel diskutiert und beratschlagt. Professor Radbruch beispielsweise beschränkte sich bei der inhaltlichen Frage sehr auf Recht und Wirtschaft und weniger auf Geschichte, während sich Dr. Ausländer keine Staatsbürgerkunde, sondern eine Gemeinschaftskunde wünschte. Allgemein geht aus den Berichten hervor, dass man radikale Neuerungen eher ablehnte und schon bestehendes fortführen würde. Allerdings wurden Grundlagen wie die Festlegung der Staatsbürgerkunde auf zwei Wochenstunden in höheren Schulen geschaffen (Fischer, (Hrsg.), 1970).

5.2.2 Konzeptionelle Ansätze für politische Bildung und Erziehung

Eine besondere Rolle in der Geschichte der politischen Bildung in der Weimarer Republik spielte Paul Rühlmann. Er war Geschichtslehrer und Ministerialbeamter und hielt auf der Reichsschulkonferenz das Grundsatzreferat zur politischen Bildung und Erziehung. Er war zudem mit Gustav Radbruch Berichterstatter und stellte dreizehn Leitsätze auf, die ein durchdachtes Konzept politischer Bildung und demokratischer Erziehung darstellten. Dabei waren die Ausführungen Rühmanns besonders bemerkenswert, da die politische Bildung erstens der Stabilisierung der politischen Grundordnung dienen soll und zweitens Interaktionen miteinander sowie die Unterrichtsfächer in den Schulen die politischen Einstellungen entwickeln und festigen sollten. Zugleich war die Staatsbürgerkunde als eigenes Unterrichtsfach vorgesehen (ausschließlich in Gymnasien). Rühlmann legte das Augenmerk Richtung Ver- fassungs- sowie Völkerrecht und wollte sich inhaltlich auch auf die Wirtschaft konzentrieren. Eine Orientierung hinsichtlich geschichtlicher Aspekte hat der Ministeri- albeamte nicht vorgesehen (Detjen, 2007).

Leitsätze des Berichterstatters Dr. Paul Rühlmann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Leitsätze von Paul Rühmann aus der Reichsschulkonferenz 1920. Aus: Kuhn, Massing, Skuhr, (Hrsg.), 1993, S. 61 ff

Auch Gustav Radbruch war ein einflussreicher Rechtsphilosoph, der zusammen mit Rühlmann die Reichsschulkonferenz einleitete. Er legte das Augenmerk in seinem Bericht auf die Ausbildung der Lehrer für das Fach Staatsbürgerkunde. Radbruch war der Meinung, dass sich durch Artikel 148 der Weimarer Verfassung folgendes für die universitäre Lehrerausbildung ändere: eine besondere Lehrbefähigung für das Fach Staatsbürgerkunde muss durch inhaltlich neue Studiengänge vermittelt werden und auch Lehrer aus „fachfremden“ Fächern müssen das erforderliche Maß an staatsbürgerlicher Allgemeinbildung erwerben (Detjen, 2007).

[...]

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Konflikte und Entwicklungslinien demokratischer, politischer Bildung im 20. Jahrhundert in Deutschland.
Untertitel
Welche Bedingungen trugen zur Entwicklung und Entstehung von demokratischer, politischer Bildung bei? Vor welchen Bewährungsproben steht sie heute
Hochschule
Technische Universität München  (Professur für politische Wissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
114
Katalognummer
V986472
ISBN (eBook)
9783346351081
ISBN (Buch)
9783346351098
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Bildung, Entwicklung, Politikunterricht Deutschland, 20. Jahrhundert
Arbeit zitieren
Laetitia Wittmann (Autor:in), 2019, Konflikte und Entwicklungslinien demokratischer, politischer Bildung im 20. Jahrhundert in Deutschland., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/986472

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