Ishikawa Takuboku als repräsentativer Schriftsteller seiner Zeit? Untersuchung ausgewählter Werke hinsichtlich ihrer naturalistischen Merkmale


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

27 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Naturalismus in der japanischen Literatur

3. Ishikawa Takubokus „romantische Phase“ im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert

4. Der Einfluss des japanischen Naturalismus in ausgewählten Werken von IshikawaTakuboku
4.1. Analyse des –Romaji Nikki auf seine naturalistischen Merkmale
4.2. Analyse der Gedichte „ Okiru na “ („Kokoro no sugata no kenkyū“) und „Ie“ („Hateshi naki giron no nochi“)
4.3 Analyse ausgewählter Tanka aus den Tankasammlungen „Ichiaku no suna“ und „Kanashiki Gangu“

5. Resümee

6. Anhang
6.1. Repräsentative Gedichte aus Yosano Akikos Tanka sammlung „ Midaregami “ (1901)
6.2. Repräsentative Tankagedichte in Ishikawa Takubokus früherer Schaffenszeit
6.3. Originalfassung des Gedichts „Okiru na” aus der Gedichtssammlung „Kokoro no Sugata no Kenkyū“
6.4. Originalfassung des Gedichtes „ Ie “ aus der Gedichtssammlung „ Hateshinaki Giron no Nochi

7. Literaturangaben

1. Einleitung

„Natur ist Natur. Sie ist weder gut noch böse, weder schön noch hässlich. […] Der Roman wiederum ist die Natur im Bereich der Vorstellung. Es gibt keinen Grund, ihn dadurch einzuengen, daß (sic) man [meint], man müsse sich hinsichtlich gut, schlecht, schön oder häßlich [sic] äußern.“ (Kosugi Tengai, zitiert nach Hijiya-Kirschnereit 1981: 16). Angeführtes Zitat bezieht sich auf das Vorwort zu Kosugi Tengais (1865-1952) im Jahre 1902 veröffentlichter Erzählung Hayariuta („Der Gassenhauer“) und definiert bereits formelhaft, auch in Anlehnung an Emile Zolas 1880 veröffentlichtem „ Roman expérimental", der für den europäischen Naturalismus von aufklärerischer Bedeutung gewesen ist, die Anforderungen, die an den japanischen Schriftsteller jener Zeit des aufkommenden Naturalismus (Shizenshugi) gestellt wurden, nämlich „als distanzierter Berichterstatter, der sich jeder Wertung enthält, dessen Ziel absolute Objektivität in der Darstellung ist“ (ebd.), zu fungieren. Zu jener Zeit wurde Ishikawa Hajime1 am 20.02.18862 im Dorf Hinoto (heute: Takayama) in der Präfektur Iwate-ken geboren, in eine Epoche hinein, die von sozialpolitischen, gesamtgesellschaftlichen und literarischen Veränderung innerhalb Japans wie z.B. durch die Öffnung des Landes 1868, Industrialisierung, eine vermehrte Rezeption westlichen Gedankenguts oder auch der Genbun Icchi3 -Bewegung usw. geprägt wurde. Ishikawa, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, fernab des damaligen literarischen Zentrums Tōkyō , später aufgrund eines Täuschungsversuches der Mittelschule verwiesen wurde und sich somit selbst die Aufnahme in den Kreis der Intellektuellen der Meiji-Zeit nahm (vgl. Linhart 1971: 9), sollte trotz allem zu einem der bekanntesten (Tanka-)Dichter Japans und über die Landesgrenzen hinaus werden. In der vorliegenden Arbeit beschäftige ich mich mit dem Schriftsteller Ishikawa Takuboku und untersuche unterschiedliche Werke des sozialkritischen Autors, vornehmlich solche aus der literarischen Gattung der Lyrik (Shi, Tanka) aus seinen verschiedenen Schaffensphasen vor dem literaturhistorischen Hintergrund des japanischen Naturalismus im Hinblick darauf, ob Ishikawa Takuboku, einer der meist zitiertesten Dichter Japans (vgl. Maeda 1989: 121), die aus der späten Meiji- Zeit hervorgegangen sind, als ein repräsentativer Schriftsteller seiner literarischen Zeit, wie oben bereits durch Kosugi Tengai angedeutet wurde, angesehen werden kann und welches die besonderen Eigenschaften seiner Werke sind.

2. Der Naturalismus in der japanischen Literatur

Ich möchte nun kurz die Ereignisse innerhalb der literarischen Welt Japans des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts umreißen, vor allem auch im Bezug auf die naturalistischen Bewegungen und Renovationen im Bereich der Poesie, um Ishikawa Takuboku in den Gesamtzusammenhang besser einordnen zu können.

In der literaturhistorischen Geschichte Japans, wie in Europa, fußt der Naturalismus auf der Überwindung mit dem „allzu weitgespannten und vor allem […] optimistischen“ (Žmegač, 1980: 165) Realismus, bzw. „meant a break with the subjectivity of romanticism inasmuch as it sought to grasp reality with scientific accuracy and precision (Benl, 1989: 9f) und folgt dabei zunächst Emil Zolas experimenteller Methode vom natürlichen und sozialen Studium eines metaphysisch toten Menschen mit der Forderung, alles Irrationale und Übernatürliche zu überwinden (Emil Zola, zitiert nach Hijiya-Kirschnereit 1981:16f). Dieses und andere naturalistisches Gedankengut transportierende Werke aus dem Westen gelangten erstmals nach jahrhundertelanger Abschließung (sankoku) mit Öffnung des Landes 1868 (kaikoku) nach Japan, eine Epoche, die von einem wachsenden Individualismus, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung geprägt wurde. Zu dieser Zeit fühlten sich junge Schriftsteller, meist in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in ärmlichen Provinzen geboren, von dieser Theorie angesprochen, wandten sich folglich gegen traditionelle Moralauffassungen um nun ihre Gefühle frei ausdrücken zu können (vgl. Katō 1990: 532). Wie Hijiya-Kirschnereit in ihrem Aufsatz über den „Naturalismus und seine Grundsätze“ („ Shizenshugi to sono kōryō“) bereits deutlich machte, geht der Terminus Shizen4 shugi auf den japanischen Schriftsteller Mori Ōgai (1862-1922) zurück (vgl. Hijiya-Kirschnereit 1996: 95), bezeichnet der französische Begriff naturalisme jedoch „die Natur als Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung“ (ebd.: 536), was bereits auf die Unterschiede zum europäischen Naturalismus aufmerksam macht. Sowohl der gesellschafts- und sozialkritische Charakter, beispielsweise deutscher naturalistischer Werke, als auch die analytische Darstellungsweise und wissenschaftliche Methodik fehlen den japanischen naturalistischen Werken bzw. wurden verdrängt von zunehmend privaten und subjektiven Gefühls- und Alltagsbeschreibungen der Autoren über das „wirkliche, unverblümte“5 Leben und ihrer Konflikte mit diesem, was das Hauptmerkmal des japanischen Naturalismus bildete und dem Stellenwert von Literatur, insbesondere der Prosa, als auch dem Individuum und einem individualistischen Menschenbild innerhalb der Gesellschaft zu einer höheren Wertschätzung verhalf (ebd.: 97). Hiervon zunächst abweichend verhielt sich die „neue“ Bewegung innerhalb der lyrischen Welt im Bezug auf eine der ältesten Dichtformen der Weltliteratur, dem japanischen Kurzgedicht Tanka (短歌) oder auch Waka (和歌) genannt, welches bereits im Kojiki6 der Heian- Zeit vorkommt, bereits teilweise umgesetzt in seiner „charakteristische[n] Form von 5 Versen […] im Metrum von 5-7-5-7-7 Silben“ (May 1975: 1) und „die zentrale lyrische Form Japans bildet7 “. Der im Manyōshū8 im 8. Jahrhundert oder im Kokinshū 9 verwendete Stil der Waka - Dichtung bzw. ihre „konventionelle[n] Themen (das Quartett „Blumen-Vögel-Wind-Mond“)“ (Schamoni 1994: 160) wurden im 17. und 18. Jahrhundert durch die Kyū-ha10 und ihre Gelehrten weitergepflegt und verbreitet, einerseits um die dichterischen Schätze der Vergangenheit lebendig zu erhalten, andererseits galt die Übung des Dichtens auch als ein erzieherisches Mittel zur moralischen Festigung der Persönlichkeit. Die Waka - Dichtung hat es jedoch bis zur Meiji-Zeit nie zur Volksliteratur geschafft, da sie stets nur einer bestimmten Gruppierung vorbehalten war (Adel, Geistlichkeit und Gelehrten) (vgl. May 1975: 3f), ihr veralteter Stil sich nicht den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen anpasste11, somit die Attraktivität des Tanka stetig abnahm bzw. japanische Leser in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts mehr und mehr von europäischer Poesie12 fasziniert waren. Die traditionelle japanische Gedichtsform Tanka wäre wohl verschwunden, hätten sich seiner nicht die romantischen und später naturalistischen Lyriker gegen Ende des 19. Jahrhunderts angenommen und es den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst, worauf ich im nächsten Punkt genauer eingehen möchte.

3. Ishikawa Takubokus „romantische Phase“ im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert

Bei der Untersuchung früherer Werke Ishikawa Takubokus und ihrer speziellen Eigenschaften, betrachtet vor dem Hintergrund der Geschehnisse ihrer literarischen Zeit, empfinde ich es als hilfreich, zunächst einen Blick auf einige vorherige Dichter jener Epoche und ihrer Bestrebungen bezüglich der formalen wie auch thematischen Poesieerneuerung zu werfen, um die Gründe aufzeigen zu können, die für ein verändertes Schreibverhalten und neuartige Themenauswahl unter den damaligen Waka-Dichtern gesorgt haben. Einer von ihnen war Tachibana Akemi (1812-1868), der in seinem Aufsatz „Roan-ō no uta“ ( „Meister Roans Gedichte“) auf sarkastische Art und Weise die alte traditionelle Dichtkunst aufgrund ihres nunmehr ausschließlich aus altbekannten und stereotypen Formeln bestehenden Charakters verhöhnte und ihr jegliche Innovationsmöglichkeit absprach13. Gegenstand der in der Gedichtssammlung „ Shinobunoya-kashū14 enthaltenen Tanka - Sammlung „ Dokuraku-gin15 sind u. a. Tachibanas Alltag, die ihn damals umgehende Armut sowie die gegenwärtige politische Situation. Themen, die innerhalb der Waka-Dichtung eine Neuerung darstellten, mit dem Menschen und dessen Umwelt im Zentrum („Eine Freude ist es, während ich eine Zigarette rauche, über Träume, die mir in den Sinn kommen, weiter nachzudenken.“ (Tachibana Akemi, zitiert nach May 1975: 12f; Übersetzung d. Verf.16 )) und uns später auch bei Ishikawa Takuboku begegnen werden. Seine Gedichte zeichnen sich durch Emotionalität, Unmittelbarkeit und Identifikationspotential aus, die auch einst dem Dichter Masaoka Shiki (1867-1902) auffielen und er Tachibana vor allem für den Ausdruck seiner wirklichen Gefühle im Vorwort seines Aufsatzes „ Masaoka Shiki no ronsetsu“ ausschweifend lobte (vgl. May 1975: 14). Der von westlichem Gedankengut bereits sehr beeinflusste Literaturkritiker Shiki proklamierte im Jahr 1898 in einem weiteren Essay „ Utayomi ni atōru sho“17 den für die Bewegung des Naturalismus in Japan und für Ishikawas spätere Werke von großer Bedeutung gewordenen Begriff Shasei 18, mit dem sich Shiki auf einen exakten, objektiven und realistischen Sprachstil innerhalb der Poesie berief19. Viele seiner Waka verkörpern den Geist der modernen Zeit da er z.B. Züge und andere neue Erfindungen erwähnte bzw. auch häufig westliche Begriffe gebrauchte („Under the heavens/ of distant America/ it was created:/ this game of baseball/ I never tire of watching.“20 ; und „Turning out the oil-lamp/ I light the paper lantern/ Distant cries of frogs.“21 ) und kritisierte wie Tachibana die traditionelle Dichtung des Kokinshū sowie die Lehren der Kyū-ha und ihren veralteten Sprachgebrauch. Eine weitere Gruppierung, die den jungen Dichter Ishikawa Takuboku besonders stark beeinflussen sollte, entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Jahr 1898 und nannte sich Tokyo Shinshisha22 mit ihrem Führer Yosano Tekkan (1873-1935). Geprägt durch den Sino-Japanischen Krieg (1894-1895) wurde er innerhalb der literarischen Welt zunächst für seinen nationalistischen, kämpferischen und männlichen Poesiestil23 bekannt (vgl. Goldstein/Shinoda 1987: 3f), gründete 1899 die literarische Zeitschrift seiner Gruppierung, die Myōjō24 , mit der er versuchte, Licht in die immer noch dunkle literarische Welt der japanischen Tanka- und Shi25 -Dichtung zu bringen und deklarierte seine Ziele wie folgt: „In den Gedichten entfalten wir gemeinsam unser „Selbst“. Wir ahmen den Stil der Gedichte „der Alten“ nicht nach, nein, es sind unsere eigenen Gedichte, die jeder von uns selbst erfunden hat […]“ (Myōjō -Ausgabe Nr. 6, 1900; zitiert nach Hidaka 1996: 49; Übersetzung d. Verf.). In Kons Untersuchung heißt es, dass sich jenes von Yosano erwähnte „Selbst“ auf ein selbstbejahendes, optimistisches „Ich“ gründete, „Selbstbefreiung“ darstellte und angetrieben wurde von der Lyrik der Moderne, die die Befreiung aller menschlichen Gefühle zum Ziel hatte (ebd.). An Yosanos Aussage ist bereits zu erkennen, dass sich der Schwerpunkt der japanischen Dichtung nun mehr auf das Subjektive und innere Gefühlsleben der Dichter verlagert hat, eine Eigenschaft, die auch den Gedichten seiner Frau Yosano Akiko (1878-1942) und späterem Shinshisha -Mitglied inne waren. Ihre erste und wohl berühmteste Tanka-Gedichtsammlung „ Midaregami“26 kennzeichnete ein sehr provozierender, teilweise erotisch-romantisierender und phantasievoller Schreibstil, der sich über traditionelles, feudalistisches Gedankengut hinwegsetzte und in seiner „neuen Konzeption den europäischen Gedichten sehr ähnlich gewesen ist […]“27 (ebd.) . Mit ihren neuartigen Gedichten wurde sie zur Hauptvertreterin des romantischen Myōjō -Stils, prägte den Charakter der Literaturzeitschrift nachhaltig (vgl. Imai 1983: 61) und übte auch in hohem Maße Einfluss auf Ishikawa Takuboku aus, der sich nach dem Schulverweis im Alter von 16 Jahren erstmals nach Tokyo begab und dort die Dichterin im Hause der Yosanos kennenlernte (vgl. Schamoni 1994: 162f.). Da die Künstlerin für die weitere Entwicklung Ishikawas innerhalb seiner romantischen Phase von besonderer Bedeutung gewesen ist, möchte ich nun anhand zweier28 repräsentativer Tanka-Gedichte Auffälligkeiten und besondere Eigenschaften herausarbeiten: „Der Frühling ist kurz und nichts hat Bestand. Weinend lasse ich ihn meine weichen Brüste berühren.“ (Yosano Akiko, zitiert nach Goldstein/ Shinoda 1987: 119; Übersetzung d. Verf.)29 bzw. „Der Sommermond glitt zum Fenster hinein, als ob er etwas stehlen wollte, und küßte [sic] das schlafende Gesicht eines Menschen.“ (Ishikawa Takuboku, zitiert nach Linhart 1971: 40)30. Was bei Yosano Akikos Tankagedichten in „ Midaregami “ sofort auffällt ist das traditionelle Metrum von 5-7-5-7-7 mit 31 Silben in jedem Tanka sowie die Abschrift in jeweils einer Zeile, Eigenschaften, die auch innerhalb Ishikawas früheren Gedichte eindeutig vorzufinden sind, obwohl sich dieser nicht immer an das klassische Metrum bzw. die Silbenanzahl hielt (vgl. Kunizaki 1973: 26) und bereits Abweichungen vorlagen. Entfernen wir uns nun von der äußeren Textebene und kommen auf den, für diese Zeit wohl eher noch sehr brisanten und unkonventionellen Inhalt zu sprechen. Yosano Akiko bedient sich eines sehr abstrakten, symbolträchtigen und metaphorischen Schreibstils („Haru mijikashi/ Nan ni fumetsu no“) indem sie das nahende Ende des Frühlings als auch allen Seins erwähnte, veranschaulichte sie ihre Trauer über das Altwerden bzw. das Ableben ihres irdischen Körpers, den sie unter Tränen ihrem Geliebten hingab. Ähnliche Themeninhalte und Begriffe wie haru (Frühling), aki (Herbst), yume (Traum), tsuki (Mond), koi (Liebe), chi (Blut), chibusa (Busen) und midaregami (wirres Haar) tauchen abermals in ihren Gedichten auf, die ein freier, nicht themenspezialisierter31, sinnlicher und persönlicher Stil prägt, der seinerzeit die lyrische Welt erfasste und von jungen Dichtern wie Ishikawa Takuboku imitiert wurde, wie anhand der symbolischen und bildhaften Sprache aus oben angeführtem Tanka zu entnehmen ist („ Natsu ni tsuki/ wa mado wo suberite/ nusumu goto“) . Vor dem Hintergrund der damaligen literarischen Bewegung wollte sich der Dichter Ishikawa auch von vergangenen poetologischen Normen befreien um zu einem subjektiveren Schreibstil innerhalb seiner Werke gelangen, wie ihn auch schon Tachibana Akemi oder Masaoka Shiki befürworteten, mit dem „Ziel der Befreiung des Individuums“ (May 1975: 61). Weitere Gründe für die Annäherung und Nachahmung von Yosanos Gedichten, vor allem solche, die stellenweise an Liebeslyrik erinnern (siehe Anhang Nr.2) 8, 11), finden wir in der Biographie beider Künstler vor. Ishikawa, der sich 1901, ein Jahr bevor er nach Tōkyō aufbrach, in die jüngere Horiai Setsuko verliebte, Tochter einer Samurai-Familie (vgl. Linhart 1971: 316) und spätere Ehefrau des Dichters, bewegten die offenen und traurig anmutenden Werke Yosano Akikos, die diese für ihren späteren Ehemann Yosano Tekkan zu einer Zeit schrieb, in der dieser noch mit einer anderen Frau (Hayashi Takino) verheiratet gewesen ist (vgl. Akiko 1987: 10). Zunächst bot die Myōjō dem jungen Dichter Ishikawa eine angemessene Plattform zur Veröffentlichung seiner Tanka aufgrund ihrer Bewegung einer „geistigen Befreiung von feudalistischen Moralbegriffen (z. B. in der Enttabuisierung des Sexuellen [(siehe auch oben aufgeführte Gedichte)], […] der Befürwortung des Individuellen, [...] der Befreiung des sprachlichen Ausdrucks und der Rhythmik“ (May 1975: 62f), konnte jedoch festgestellt werden, dass sein Interesse im Bezug auf jene lyrische Gedichtsform bzw. den Gebrauch der blumigen und phantasievollen Sprache Yosano Akikos und die Anzahl der geschriebenen bzw. veröffentlichten Tanka stetig gesunken ist (vgl. Linhart 1971: 36). Ich denke, dass diese Entwicklung vor allem auch auf die Biographie Ishikawas zurückzuführen ist. Dieser wurde bereits in jungen Jahren mit schweren Schicksalsschlägen konfrontiert wie z.B. dem Verweis der Mittelschule, Arbeitslosigkeit und eine daraus resultierende Mittellosigkeit, Krankheit sowie die Verantwortung für die gesamte Familie tragen zu müssen, nachdem auch der Vater das Amt des Hauptpriesters verloren hatte (Schamoni 1994: 162f.). Takuboku nahm aus jenen Gründen Abstand von oben genanntem, die Realität verklärendem romantischen Stil. Zum anderen waren es auch die gesellschaftskritischen Aufsätze „Biteki Seikatsu Ron“32 (1901) und „Bunmei Hihanka toshite no Bungakusha“33 (1901) des Schriftstellers Takayama Chogyūs (1871-1902) gewesen, die sich an den, wie Benl es in seinem Essay „Naturalism in Japanese Literature“ nennt, „new realization of the difficulties and donflicts of a „modern“ and „free“ life“ (Benl 1989: 30) orientierten. Er forderte seinerzeit junge Dichter wie Ishikawa Takuboku dazu auf, sich kritisch über die Gesellschaft, Politik und Kultur in den Worten ihrer Zeit zu äußern (vgl. Kunizaki 1973: 47f.) und lies Ishikawa die romantisch-naturalistische Bewegung und den Stil der Myōjō überwinden und sorgte so für dessen Entwicklung in Richtung des japanischen, kritischen Naturalismus.

4. Der Einfluss des japanischen Naturalismus in ausgewählten Werken von IshikawaTakuboku

4.1. Analyse des –Romaji Nikki auf seine naturalistischen Merkmale

Mit dem Erscheinen Shimazaki 34 Tōsons Romans „ Hakai “ („Die Übertretung“) im Jahre 1906 und Tayama Katais Romans „ Futon “ („Die Bettdecke“) im Jahre 1907 geriet die literarische Welt in Aufruhr, innerhalb derer der Naturalismus zur bestimmenden Bewegung wurde und erreichte auch Ishikawa Takuboku, der sich ab September 1906 auf der nördlichen Insel Hokkaidō35 befand und im März 1907 nach Tōkyō zurückkehrte, mit dem brennenden Wunsch nun auch gesellschaftskritische und das Innere des Autors beleuchtende36 Romane zu schreiben. Doch wie bereits Linhart in ihrer Untersuchung deutlich machte, blieb er als Romanschriftsteller erfolglos da er z.B. zahlreiche Werke nicht vollendete, unregelmäßig arbeitete und beim Verfassen von naturalistischen Romanen der Ruhm für ihn im Vordergrund stand (vgl. Linhart 1971: 227). Ab dem 01.03.1907 arbeitete er als Korrekturleser für die Tōkyō Asahi Shinbun und begann am 03. April37 mit der Abfassung des Romaji-Nikki, worauf ich nun zu sprechen kommen möchte.38 Wie Keene bereits erkannte, dienten Takuboku seit frühester Kindheit, während dieser im Dorf Shibutami aufwuchs, Tagebücher als Mittel zur Verdrängung der Einsamkeit, um sich mitzuteilen und später schrieb er Tagebücher, um diese eventuell als „Rohmaterial“ für seine literarischen Werke zu gebrauchen (vgl. Keene 1995: 3). Dies trifft ebenso auf das Romaji-Nikki Ishikawas zu, dass diesem als Sprachrohr für Kritik und persönliche Belange jeder Art diente, während dieser sein Leben am Rande der Existenz in Tōkyō fristete. Wieso er bei der Transkription seines Tagebuches gerade Gebrauch von lateinischen Schriftzeichen gemacht hat, geht u. a. aus dem Tagebucheintrag vom 07. April 1909 hervor: „Warum schreibe ich dann dieses Tagebuch in lateinischer Schrift? Warum? Ich liebe meine Frau. Gerade weil ich sie liebe, will ich nicht, dass sie dies liest.“ (Ishikawa Takuboku, zitiert nach Schamoni 1994: 21)). Er versuchte also vor seiner Frau Dinge (Besuche im Rotlichtmilieu von Asakusa) geheim zu halten39, worauf ich später nochmals zu sprechen komme. Andererseits begann in Japan bereits 1885 die Romaji-Undō, weshalb Ishikawa die Lateinschrift, auch der neuzeitlichen Entwicklung wegen, in sein Werk einfließen ließ. Gründe, weshalb das Romaji-Nikki Seitens Donald Keenes als auch des japanischen Literaturwissenschaftlers Kuwabara Takeo (1904-1988) als ein Meisterwerk japanischer Literatur bezeichnet wurde, das die Gesamtproduktivität Ishikawa Takubokus in sich vereint (vgl. Ueda/Nakajima 1989: 92), sind auf der Textinneren Ebene zu finden. Neben den in typischem Tagebuchstil verfassten Passagen über z.B. das Aufstehen oder Ausgehen („Morgens um 3; draußen fallen einzelne, dicke Regentropfen“ (Schamoni 1994: 29)), können vor allem im Tagebucheintrag vom 10.04.1909 zahlreiche Stellen ausfindig gemacht werden, in denen Ishikawa seine inneren Bedürfnisse („ naimenteki na Kibou“) unverblümt schilderte. Ausgehend von seiner Armutsposition am Rande der Gesellschaft in Tōkyō, befasste er sich häufig mit Themen wie z.B. Geldmangel, Sehnsüchten und Begierden („…dann also Geld? Ja, Geld ist eines. Aber das ist nicht Ziel, sondern Mittel. Das, wonach ich aus tiefstem Herzen verlange, ist: zur Ruhe zu kommen. Ja, das ist es!“ (ebd.)). Immer wieder betont der Schriftsteller seinen Wunsch nach Ruhe: „Damals hat sich mein Herz von Zeit von Zeit von dem Wunsch, an einen einsamen Ort gehen zu wollen, verleiten lassen“ (Ueda/Nakajima, 1989: 89; Übersetzung d. Verf.)40 und legt seine Gedankenwelt erbarmungslos offen, nicht zum Zwecke der Selbsterforschung bzw. um nach einem besseren Verhalten zu streben, sondern einzig und allein um vor sich selbst sein Inneres zu entblößen, ein Merkmal, dass auch bereits in Katais Roman „ Futon “ und späteren Shishōsetsu41 auftritt und Ishikawa Takubokus Werk an dieser Stelle als naturalistisches Tagebuch ausweist.

[...]


1 石川一, eher bekannt unter seinem Pseudonym Ishikawa Takuboku 石川啄木

2 „Der Takuboku-Biograph Iwaki Yukinori fand aber bei seinen Nachforschungen, daß (sic) das wahre Geburtsdatum des Dichters der siebenundzwanzigste Oktober 1885 gewesen sei […].“ (Linhart 1971: 1)

3 言文一致, Angleichung der geschriebenen Sprache an die gesprochene Sprache.

4 Der japanische Begriff shizen bedeutet „unangetastet“, „natürlich“.

5 露骨なる描写 – Rokotsu naru byōsha.

6 古事記-Aufzeichnungen alter Begebenheiten.

7 „Das Tanka wurde mit japanischer Kultur an sich gleichgesetzt und das Dichten von Tanka als der „Weg Japans“ [敷島の道] (shikishima no michi) bezeichnet […] blieb doch das Tanka die „erste“ Form, nicht nur in Bezug auf ihr gesellschaftliches Ansehen (der Kaiserhof pflegte diese Form in zeremonielle Erstarrung), sondern auch als die Form, über die Japaner zum ersten Mal mit Literatur in Berührung kamen.“ (Schamoni 1994: 158f).

8 万葉集 – etwa: „Sammlung von zehntausend Blättern“.

9 古今集 – „Sammlung japanischer Gedichte von eins und jetzt“. Im Jahre 905 auf Befehl des Kaisers Daigo kompilierte erste offizielle Anthologie in Japan (May 1975: 1).

10 旧派 – „Alte Schulen“.

11 „the vast majority of poems composed by reputed waka masters were little more than lifeless imitations of what had been written before“ (Ueda 1996: 14).

12 „its rich intellectual content, serious moral implications, uninhibited emotional expression, and great freedom of form” (ebd.: 15).

13 „In early spring one writes of the morning sun gently shining and of the spreading mists; at the end of the year one speaks of the ´waves of years crawling shorewards´ and of waiting for the spring. For flowers there is ´the blessing of rain´ and for snow ´regret over leaving footprints.´ Poetic language has come to mean such phrases and nothing else. A hundred out poets, the year before last, last year, and this year too have merely strung together the same old phrases. How depressing!” (Tachibana Akemi, zitiert nach Keene, 1971: 136).

14 „Gedichtssammlung von Shinobunoya“, von Tachibanas Sohn Kinji 1878 herausgegeben.

15 独楽吟 – dt. „Gedichte über persönliche Freuden“.

16 „Tanoshimi wa/ kokoro ni ukabu/ hakana koto/ omoi-tsuzukete/ tabako suu toki.“.

17 dt. „Offene Briefe an Waka-Dichter“:

18 写生 – dt. „Skizzieren der Natur“. Keene übersetzte den Begriff mit „depiction of life“ (Keene 1971: 158).

19 Hidaka hat in ihrem Aufsatz Shiika no kindai (詩歌の近代 –etwa: „Lyrik der Moderne“) jedoch erkannt, dass innerhalb Shikis Theorie der Begriff Kūsō (空想 – „Phantasie“, „Träumerei“) im Begriff Shasei enthalten ist und beruft sich hier auf Kanno Akimasas Definition von Shasei im Essay „ Taidan ima, Shiki wo kangaeru“:Shiki sagt nicht, dass man einfach alles, was sich vor seinen Augen befindet abbilden soll, sondern auch die Teufel und Monster zu erfassen sind […] sprich seine Vorstellungen und Gedanken hineinfließen zu lassen.“ (Hidaka 1996, 50f; Übersetzung d. Verf.).

20hisakata no/ amerikabito no/ hajimenishi/ besuboru wa/ miredo akanu kamo “ (Masaoka Shiki, zitiert nach Carter 1991: 452).

21rampu keshite/ andon tamosu ya/ tōgeru” (Masaoka Shiki, zitiert nach Keene 1971: 163)

22 東京新詩社 – dt. „Gesellschaft für neue Gedichte Tokyo“.

23Kōkenryū ( etwa „ Tiger- und Schwert-Schule)“ (Linhart 1971: 31).

24 明星 – dt. „Morgenstern“.

25 auch Kanshi (漢詩) genannt; Gedichte, nach chinesischem Vorbild.

26 乱れ髪26 – dt. „Loses, wirres Haar“, 1901.

27 „…die leidenschaftlichen Ausdrücke, die einen praktisch umfallen ließen, waren von lebendiger Schönheit.“ (Yoshida Seiichi ; zitiert nach Hidaka 1996: 49f.; Übersetzung d. Verf.).

28 Aus Platzmangel habe ich weitere, von mir als repräsentativ empfundene Gedichte, im Anhang unter Nr. 1) und Nr.2) untergebracht.

29 „Haru mijikashi/ Nan ni fumetsu no/ Inochi zo to/ Chikara aru chi o/ Te ni Sagurasemu.“

30 „Natsu ni tsuki/ wa mado wo suberite/ nusumu goto/ hito no negao ni/kuchizukenikeru.“ (veröffentlich in Myōjō, Juli 1905).

31 „Es kam nicht darauf an, um wen oder um was es in den Gedichten geht, sondern es waren lediglich Gedichte, in denen auf 31 Silben zu achten war […] es war eine Zeit, in der sich viele Dichter in Abhängigkeit von Akiko darum bemühten, Gedichte mit 31 Silben zu verfassen.“ (Imai 1974: 57; Übersetzung d. Verf.) [„唯どれもこれも何のことを歌ったのやら解らず、とにかく三十一字音にだけはなってると云うやうな厄介な歌ばかりだった」[…] 晶子に依拠して人々が「三十一字音」を並べることに腐心した時代であった。“].

32 dt. „Aufsatz über das ästhetische Leben“.

33 dt. „Zivilisationskritik als Literaturwissenschaftler“.

34 ローマ字日記dt. „Tagebauch in Lateinschrift“(Übersetzer d. Verf.)

35 In der Sekundärliteratur auch als „Wanderleben“ bezeichnete Phase seines Lebens.

36 内面的な描写- (Naimenteki na Byōsha – dt. „innere Schilderung“), ein Begriff der Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb der literarischen Welt florierte und besonders durch Tayama Katais Werk „ Futon “ verbreitet wurde.

37 Abfassung Romaji-Nikki vom 03. April bis 16. Juni (ebd.: 318)

38 Bei meiner Untersuchung über das ローマ字日記 habe ich mich neben den japanischen, sekundärliterarischen Texten auch mit der Übersetzung Wolfgang Schamonis (Schamoni 1994: 20-52) beschäftigt, die lediglich den Zeitraum vom 07. bis 15. April abdeckt.

39 „The matter is complicated by his tacit refusal to face the fact that his wife could probably read roman letters; her formal education was about as good as his own. [,..] if he wrote the diary in ordinary Japanese orthography he could not even pretend that his wife would be unable to read it.” (Keene 1995: 385).

40 „一人のいない所へ行きたいという希望が、この頃、時々予の心をそそのかす.“.

41 私小説 (Shishō setsu) - Roman, bei dem der Autor sich selbst und seine Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Ishikawa Takuboku als repräsentativer Schriftsteller seiner Zeit? Untersuchung ausgewählter Werke hinsichtlich ihrer naturalistischen Merkmale
Hochschule
Universität Trier
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
27
Katalognummer
V987435
ISBN (eBook)
9783346347213
ISBN (Buch)
9783346347220
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ishikawa Takuboku, japanischer Naturalismus, Shizenshugi
Arbeit zitieren
Christian Steger (Autor:in), 2010, Ishikawa Takuboku als repräsentativer Schriftsteller seiner Zeit? Untersuchung ausgewählter Werke hinsichtlich ihrer naturalistischen Merkmale, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/987435

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Ishikawa Takuboku als repräsentativer Schriftsteller seiner Zeit? Untersuchung ausgewählter Werke hinsichtlich ihrer naturalistischen Merkmale



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden