Geschwisterbeziehungen im Werk Astrid Lindgrens


Bachelorarbeit, 2014

66 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theorie
1.1 Brüder und Schwestern - eine spezielle Form familiärer Beziehungen
1.2 Die Geschwisterbeziehung in der (Kinder-)Literatur

2 Analyse
2.1 „Und wir spielten und spielten und spielten“: Geschwisterbeziehungen in ausgewählten Werken
2.1.1 Die Kinder aus BuUerbü
2.12 Madita
2.1.3 Ich 'will auch Geschwister haben
2.1.4 Die Brüder Läwenherz
2.2 Geschwisterlosigkeit als Mangel in NilsKarlsson-Däumling
2.3 „Ich wünschte, du wärst mein Bruder!“: Wahlgeschwister in Ronja Räubertochter

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Manchmal hab ich Lasse und Bosse satt und dann finde ich, es wäre besser, überhaupt keine Brüder zu haben. Sie ärgern mich, wenn ich mit meinen Puppen spiele. Und dann boxen sie immer und sind so grob. [...] Aber manchmal finde ich auch, es ist ganz gut, Brüder zu haben. Wenn wir abends Kissenschlachten machen und wenn sie zu mir kommen und Spukgeschichten erzählen und wenn Weihnachten ist und so.1

So beschreibt die siebenjährige Lisa in Die Kinder aus Bullerbü mit einfachen Worten die Beziehung zu ihren beiden nur wenig älteren Brüdern und drückt damit eine besondere Eigenschaft von Geschwisterbeziehungen aus; die Ambivalenz zwischen Liebe und negativen Gefühlen. Die Geschwisterbeziehung gilt in der Entwicklungspsychologie als „Grunderfahrung“2 des Menschen und ist somit ein essentielles Phänomen des menschlichen Daseins.

Dem aufmerksamen Leser der Werke Astrid Lindgrens wird nicht entgehen, dass Geschwisterbeziehungen in zahlreichen Geschichten eine Rolle spielen. Seien es die dargestellten Szenen des Spiels und der kindlichen Reibereien zwischen Geschwistern wie die oben beschriebenen bei den Kindern von Bullerbü oder Madita, die teils boshaften Streiche, die Michel seiner Schwester Ida in Michel aus Lönneberga spielt oder auch die bedingungslose Liebe zwischen Krümel und Jonathan in den Brüdern Löwenherz - die Thematik erscheint in einer Mehrzahl der Erzählungen. Selbst in Werken, in denen die Geschichte von Einzelkindern thematisiert wird, klingt in der Beschreibung der Einsamkeit dieser Kinder häufig der Wunsch nach Geschwistern an.

Die Autorin Astrid Lindgren wuchs selbst mit drei Geschwistern auf, und ihre gemeinsame Kindheit beschreibt sie wie folgt:

Fangen wir also ganz von vom an - mit dem November 1897. Injenem Monat wurde ich als Kind Nummer zwei des Landwirtes Samuel August Ericsson und seiner Frau Hanna Ericsson [...] in einem alten roten Haus, das von Apfelbäumen umgeben ist, geboren. [...] In dem roten Haus, das - im 18. Jahrhundert als Pfarrhaus erbaut - im Laufe der Zeit Pächterwohnung geworden war, wurden nach mir noch zwei Kinder geboren. Wir waren also vier Geschwister: Gunnar, Astrid, Stina und Ingegerd, und wir lebten ein glückliches Bullerbü-Leben auf Näs, genau wie die Kinder in den Bullerbü-Büchem.3

Eine solche Darstellung, die für mindestens eines ihrer Werke, nämlich Die Kinder aus Bullerbü, die Verwandlung autobiografischer Elemente in belletristische Literatur nahelegt, untermauert die Ansicht, dass Astrid Lindgren in ihrem Werk verstärkt derartig ar- beitete. So wird oft davon ausgegangen, dass zumindest ihre realistischen Erzählungen direkt auf ihren Kindheitserinnerungen beruhen.4 Tabbert gelangt im Rahmen eines Interviews mit Astrid Lindgren zu folgendem Schluss: „Die eigene Kindheit stellt für die Autorin die wichtigste Stoffquelle dar, wenn nicht auch den Impuls zu schreiben.“5 Der Kinderliteraturforscher Ewers zählt Lindgren zu den „(naiven) Kinderdichtern“, denen „eine enge Beziehung sowohl zur eigenen Kindheit wie zu Kindern um ihn herum“6 zugeschrieben wird. Astrid Lindgren hat dies für ihr Selbstverständnis als Kinderbuchautorin festgehalten:

Ja so muß es sein, will man für Kinder schreiben. Man muß selbst wieder ein Kind werden. [...] Man muß in seine eigene Kindheit zurücksinken und sich bis in die Seele hinein erinnern, wie die Welt damals aussah, wie sie duftete und sich anfühlte und worüber man lachte und weinte, als man ein Kind war.7

In diesem Zusammenhang weist Ritte darauf hin, dass eine auf biografische Bezüge ausgerichtete Untersuchung hinsichtlich ihres Werkes aufschlussreich sein kann:

Ist Kinderliteratur, gerade weil sie Literatur für Kinder ist, nicht viel mehr als andere Literatur darauf angewiesen, eigene Kindheitserlebnisse des Autors zu reproduzieren, um auf diese Weise die Kluft zwischen der Seh- und Erlebnisweise von Kindern und Erwachsenen zu überwinden; und könnte es deshalb nicht doch eine lohnende Aufgabe sein, diese Vermutung durch den biographischen Nachweis des Erzählten zu bestätigen? Besonders müßte dies fürjene Kinderliteratur gelten, zu deren Entstehung das Erinnerungsvermögen nach Auskunft des Autors wesentlich beigetragen hat.8

Eine derartige Sichtweise soll als Erklärung dienen, weshalb in dieser Arbeit auch Bezüge zur Biografie der Autorin Astrid Lindgren hergestellt werden.9

An verschiedener Stelle wird in der Sekundärliteratur darauf hingewiesen, dass in Lind- grens Werk häufig eine Trennung zwischen der vom Spiel beherrschten Welt, in der die kindlichen Protagonisten hauptsächlich agieren, und der Welt der ihnen nahestehenden Erwachsenen besteht.10 In diesem Zusammenhang kann auch die Bedeutung von Geschwistern der literarischen Figuren betont werden, da diese demnach einen direkten Einfluss auf die Protagonisten haben:

Zwei elementare Bedürfnisse von Kindern nehmen im Werk Lindgrens eine zentrale Stellung ein: Freiheit und Geborgenheit. Kinder haben erwachsene Bezugspersonen, die ihnen Liebe und Geborgenheit schenken, aber auch Freiräume gewähren, in denen sie allein oder gemeinsam mit Gleichaltrigen ihre Selbstständigkeit erproben und ihre Unabhängigkeit vorantreiben können. Dementsprechend spielen Kinder aus der Nachbarschaft und Geschwister, mit denen die Protagonisten Lindgrens unbeaufsichtigt von Erwachsenen spielen, Streiche aushecken und zur Schule gehen, mit denen sie sich Geschichten erzählen und gemeinsam ihren unmittelbaren Lebensraum erkunden, oft eine größere Rolle im kindlichen Alltag als die Eltern.11

Eine solche Feststellung muss gleichwohl kritisch betrachtet werden, da sie in diesem Sinne eher für die realistischen Geschichten, den sog. „smâländischen Erzählungen“12 - in Abgrenzung zu den fantastischen Geschichten bzw. Märchen - gilt. In letzteren sind im Gegensatz dazu häufig einsame Kinder die Protagonisten, die keine Eltern haben oder räumlich von diesen getrennt sind. Wie später gezeigt werden soll, spielt unabhängig davon die Bedeutung von Geschwistern auch in diesen Geschichten eine Rolle.

Des Weiteren soll an dieser Stelle Erwähnung finden, dass vielfach die Vater-TochterBindung (mit Berufung auf Lindgrens Biografie) als maßgebliche Beziehung in ihrem Werk zu betrachten ist.13 Die vorliegende Arbeit möchte dem nicht widersprechen, nähert sich Lindgrens Werk aber mit einem anderen, auf die Geschwisterbeziehungen gerichteten Blick und unternimmt den Versuch, die noch oberflächliche Beobachtung der Häufung derartiger Themen in ihren Geschichten in literaturwissenschaftlich relevante Ergebnisse umzuwandeln. Über die Beschreibung und Interpretation der Geschwisterbeziehungen bzw. Geschwisterlosigkeit in den einzelnen Werken hinaus wird den Fragen nachgegangen, welche Motive und Themen im Sinne der Stoff-, Motiv- und Themenforschung in Zusammenhang mit den dargestellten Geschwisterbeziehungen zu identifizieren sind und welche Funktion sie jeweils in der Erzählung übernehmen. Die Arbeit erhebt dabei nicht den Anspruch, eine Motivanalyse im klassischen Sinne zu repräsentie- ren; sie nutzt diese Form Betrachtung vielmehr, um Erkenntnisse über die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen für das Gesamtwerk Lindgrens abzuleiten, wozu im Sinne der Komparatistik die Methode des Vergleichs genutzt wird. Nach Lubkoll können Motive sowohl auf strukturaler wie auch auf inhaltlicher Ebene untersucht werden.14 Die Ergebnisse auf der Ebene einer strukturalen Textanalyse werden in der vorliegenden Arbeit untergeordnet behandelt, bzw. dienen vielmehr als Anhaltspunkt für inhaltlich begründete Erkenntnisse, welche anschließend im hermeneutischen Sinne betrachtet werden sollen.

Die Arbeit ist grundsätzlich in einen darstellenden (Kapitel 1) und einen analytischen Teil (Kapitel 2) gegliedert. In Kapitel 1 werden dabei vorläufig die theoretischen Grundlagen, welche das Fundament der Analyse bilden, dargestellt und erläutert. Hier widmet sich Kapitel 1.1 zunächst in der gebotenen Kürze der Aufbereitung ausgewählter elementarer Erkenntnisse der soziologischen und psychologischen Geschwisterforschung, welche die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für das menschliche Leben erläutern und damit auch deren Relevanz als literarisches Phänomen bekräftigen. In der vorliegenden Arbeit dienen sie zum einen als Einstieg und Hintergrundinformationen für das in dieser Untersuchung gewählte Thema und sollen zum anderen konkrete Bezugsmöglichkeiten im Rahmen der Analyse der ausgewählten Texte bieten. Wie noch gezeigt wird, ist dieser Forschungszweig sowohl auf psychologischer wie auch soziologischer Ebene bis dato längst nicht ausgereift.

Anschließend erfolgt in Kapitel 1.2 die Betrachtung der bisherigen Verwendung von Geschwistermotiven in der Literatur bzw. deren historischer Entwicklung, wobei aufgrund des Sujets ein Fokus auf kinderliterarische Werke gelegt wird. In diesem Zusammenhang wird auch auf den der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Motivbegriff eingegangen. Besondere Beachtung finden in diesem Kapitel die Märchen, in denen Geschwister und ihre Beziehungen oft eine große Rolle spielen. Neben den Märchen wird auch ein Überblick über die Verwendung in moderner Kinderliteratur gegeben.15 Hernach schließt sich die eigentliche Analyse der Geschwisterbeziehungen in Astrid Lindgrens Werken in Kapitel 2 an. Einleitend wird der Inhalt summarisch dargestellt, bevor im Anschluss die für das Forschungsanliegen relevanten Bestandteile der Geschichten aufgezeigt und untersucht werden, wobei auch die narratologische Struktur des Werkes Beachtung findet. Darüber hinaus folgen die Analysen keinem vorgegeben Mustern; sie erhalten ihre Struktur vielmehr anhand der Eigenschaften des ihnen zu Grunde liegenden Einzelwerkes. Die Auswahl der Werke begründet sich entweder durch ihre Eignung als exemplarische Verdeutlichung oder aufgrund besonders hervorstechender Merkmale.

Kapitel 2.1 befasst sich mit denjenigen Werken, in denen Geschwisterbeziehungen im herkömmlichen Sinne dargestellt werden. Als Beispiele wurden an dieser Stelle zunächst Die Kinder aus Bullerbü und Madita gewählt, in denen die Geschwisterbeziehungen als begleitende Phänomene im Erzählverlauf beschrieben werden. Des Weiteren erfolgt die Analyse von Ich 'will auch Geschwister haben und den Brüdern Löwenherz. Diese beiden Werke weisen schon in Titel und Klappentext auf die Bedeutung der Geschwisterbeziehungen für ihren Inhalt hin.16

Anschließend folgt im Kapitel 2.2 mit der Untersuchung von Nils Karlsson Däumling die Analyse eines Werkes, in dem nicht eine Geschwisterbeziehung beschrieben wird, sondern konträr die Geschwisterlosigkeit eines kleinen Jungen. In diesem Kapitel wird auch auf andere (zumeist märchenhafte) Texte eingegangen, die eine solche Thematisie- rung von Geschwisterschaft variieren.

Zuletzt schließt sich in Kapitel 2.3 die Betrachtung der Beziehung von Ronja und Birk in RonjaRäubertochter an, welche insofern eine besondere Rolle spielt, als diese beiden ohne verwandtschaftliche Beziehung beschließen, sich als Bruder und Schwester anzuerkennen.

Literaturrecherchen ergeben die Existenz verschiedener Untersuchungen zur Darstellung von Familienszenen bei Astrid Lindgren. Diese stehen oft im Zusammenhang mit einem Abgleich zwischen Werk und Lebenslauf der Autorin Astrid Lindgren, wie z.B. in den Biografien von B. Dankert sowie M. Strömstedt oder auch den Analysen von Vivi Edström. In diesen Arbeiten werden untergeordnet auch Geschwisterbeziehungen erwähnt, eine ausschließlich auf diese Form der familiären Beziehung in Lindgrens Werk ausgerichtete Analyse lässt sich dagegen nicht finden. In diesem Sinne stellt die vorliegende Arbeit den Versuch dar, anhand der Analyse ausgewählter Werke der Frage nachzugehen, welche Erkenntnisse eine solche Betrachtung von Lindgrens Werken bieten kann.

1 Theorie

1.1 Brüder und Schwestern - eine spezielle Form familiärer Beziehungen

Von der frühesten Kindheit bis zum Tod eines Geschwistern finden unzählige gegenseitige Beeinflussungen statt, Geschwister prägen einander und gestalten gleichzeitig ihre ganz individuelle Beziehung zueinander [...] Positive wie negative Anteile jeder Geschwisterbeziehung durchziehen den ganzen Lebenslauf und Lebensentwurf eines Menschen und zwar sowohl real durch Erfahrungen wie durch die verinnerlichten Geschwisterbilder.17

Der Psychologe Frick verdeutlicht hier, welche immense Bedeutung die Geschwisterbeziehung im Leben eines Einzelnen hat. Die dementsprechende Geschwisterforschung wird mit unterschiedlichen Schwerpunkten in verschiedenen Wissenschaftsbereichen durchgeführt. Kasten stellte in einer Auswertung der Ergebnisse aktueller Geschwisterforschung allerdings fest, dass die Wissenschaftler verschiedener Professionen in einigen Punkten zu sehr ähnlichen Schlüssen kommen,18 welche im Folgenden aufgezeigt werden.

An dieser Stelle erfolgt zunächst die Klärung der Begriffe Geschwister und Geschwisterbeziehung, bevor dargestellt wird, welchen wissenschaftlichen Stellenwert die Erforschung von Geschwistern und deren Beziehung hat. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung Geschwister für das Leben des Menschen haben, wobei einzelne Aspekte im Hinblick auf die Analysen in Kapitel 2 vertieft werden.

Das Wort ,Geschwister‘ wird erst ab dem 16. Jahrhundert im heute gebräuchlichen Sinne verwendet und war früher auf zwei oder mehrere Schwestern bezogen, im Gegensatz zum Begriff ,Gebrüder‘, welcher sich folglich auf zwei bzw. mehrere Brüder bezog. Da dieser Begriff zunehmend verdrängt wird, schließt Nave-Herz daraus, dass die Sprache einer gesellschaftlichen Veränderung folgt und „nicht mehr die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Geschwisterbeziehung besonders heraussteilen will, sondern deren familiale Nähe und ihre Gleichartigkeit.“19 Das Verständnis, welche Personen als Geschwister anzusehen sind, ist kulturell geprägt und demnach in verschiedenen Kulturkreisen divergent. Aus soziologischer Perspektive ergibt sich daher: „Geschwister(ge- meinschaften) sind [...] soziale Konstrukte.“20

Im westeuropäischen Kulturkreis ist das vorrangige Kennzeichen einer Geschwister- Schaft die „durch Abstammung zu den gleichen Eltern bzw. einem gleichen Eltemteil begründete blutsmäßige Verwandtschaft von mindestens zwei oder mehr Personen [,]“21. Eine Ausnahme stellen Adoptionen dar, durch welche Menschen zu Geschwistern werden können, ohne dass eine blutsmäßige Verwandtschaft vorliegt. Auch hier sind die Regeln und Auffassungen kulturell sehr verschieden.22 Die Begriffe ,Schwester‘ und ,Bru- der‘ wurden allerdings seit jeher auch metaphorisch genutzt, um die besondere Nähe zwischen Personen auszudrücken, unabhängig von tatsächlicher Verwandtschaft.23 Geschwister (ebenso wie Eltern) kann der Mensch sich nicht aussuchen, weshalb die Existenz dieser Beziehungen sich der Entscheidungsgewalt des Einzelnen entzieht. Dies unterscheidet die (durch Abstammung bzw. Adoption) begründete Geschwisterbeziehung von Freundschaften oder Liebesbeziehungen, die tatsächlich durch die Beteiligten beendet werden können.24

Rechtlich gesehen besteht in Deutschland auch bei Verwandtschaft keine Unterhaltspflicht, was indes nicht für alle europäischen Länder gilt.25 Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass „dennoch - ohne Kodifizierung - die gesellschaftliche Erwartung der gegenseitigen Unterstützung, Fürsorge, Hilfsbereitschaft usw. mit der Geschwisterposition verknüpft [ist]“26, da ein Missachten dieser (gesellschaftlichen) Erwartung zumeist mit negativen Reaktionen verbunden ist. Diese These ist jedoch nach Nave-Herz nicht empirisch belegt, was von ihr als Forschungsdefizit angesehen wird.27

Darüber hinaus ist auch die deutsche Gesetzgebung bemüht, die Geschwistergemeinschaft zu unterstützen, u.a. indem „bei Trennung der Eltern dem Gesichtspunkt der Geschwisterbeziehung im Rahmen der elterlichen Sorge großes Gewicht beigemessen [wird]“28. Besondere Beachtung (sowohl in Deutschland wie auch den meisten anderen Gesellschaften) findet das Verbot von sexuellen Beziehungen zwischen Geschwistern, was sich naturgemäß ausschließlich auf den rechtlichen Rahmen, d.h. ein Eheverbot unter Geschwistern bezieht. Dieses sog. Inzestverbot verdeutlicht nach Nave-Herz nochmals den Konstruktionscharakter der Geschwisterbeziehung auf sozialer Ebene.29 Es hat insofern soziale Funktion, als es die „Geschlechter-Konkurrenz, nicht zuletzt die sexuel- le Konkurrenz zwischen den Geschlechtern innerhalb der Kemfamilie“ einschränkt und einen „Zwang zur Exogamie“1 einleitet. Dem Aspekt der sexuellen Beziehung unter Geschwistern kann im literaturwissenschaftlichen Rahmen besondere Beachtung geschenkt werden, da für diese Variation des Geschwistermotivs eine breite Verwendung, vor allem in folkloristischen und mythischen Texten, festzustellen ist.2

Nave-Herz führt an, dass zwischen den Begriffen ,Geschwister‘, ,Geschwisterbezie- hung‘ und ,Geschwisterbeziehung im Sinne persönlicher Beziehungen zu unterscheiden ist.3,Geschwister‘ sind gemäß der vorangestellten Ausführungen ein soziales Konstrukt und beziehen sich in unserem Kulturkreis primär auf ein blutsmäßiges bzw. formales Verwandtschaftsverhältnis. Geschwisterbeziehung dagegen ist der übergeordnete Begriff für das, was zwischen Geschwistern geschieht, wobei dies nicht immer dem entspricht, was im umgangssprachlichen Sinne unter ,Beziehung‘ verstanden wird.4 Geschwisterbeziehungen können, müssen aber nicht den von Lenz und Nestmann postulierten Kriterien einer persönlichen Beziehung genügen. Diese sind „Kontinuität und Dauer“, „gegenseitige Bindungen“, „ausgeprägte Interdependenz“, das „Moment der personellen Unersetzbarkeit“, sowie „das Vorhandensein eines persönlichen Wissens“.5,Geschwisterbeziehungen im Sinne persönlicher Beziehungen sind demzufolge „spezifische interdependente Bindungen zwischen bestimmten Geschwistern u.U. innerhalb eines größeren Geschwisterkreises“.6

Die zuvor nachgezeichneten Ausführungen nähern sich der Geschwisterbeziehung von soziologischer Seite und beziehen sich somit besonders auf die gesellschaftlich relevanten Aspekte dieser Form persönlicher Beziehung. Geschwisterforschung findet neben der Soziologie vor allem in der Psychologie statt. Frick konstatiert hier allerdings ein deutliches Forschungsdefizit: „In der Geschichte der Psychologie - und hier besonders auch in der Entwicklungspsychologie - wurde der Einfluss von Geschwistern auf die psychische Entwicklung des Menschen lange Zeit vergessen, vernachlässigt oder als gering eingestuft.“7 Entwicklungspsychologische Forschung fokussierte ungleich häufiger die Mutter- bzw. Eltern-Kind-Beziehung. Alfred Adler räumte in seiner in den 1920er Jahren entwickelten Individualpsychologie der Geschwisterbeziehung insofern Raum ein, als er einen Zusammenhang zwischen der Charakterentwicklung des Menschen und seiner Position in der innerfamiliären Geburtenrangfolge vermutete. Diese ersten Schritte im Bereich der psychologischen Geschwisterforschung führten dazu, dass auch in den darauffolgenden Jahrzehnten primär Fragestellungen zur Korrelation zwischen Geschwisterkonstellation und Persönlichkeitsentwicklung untersucht wurden.37 Hier scheint sich indes ein Wandel anzubahnen, indem die generalisierte Bedeutung der Geschwisterbeziehung und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Einzelnen zunehmend erkannt und untersucht wird, wie z.B. im Rahmen der Psychotherapie nach Hans Sohni.38 Dies hat dazu geführt, dass mittlerweile „im aktuellen Forschungsgeschehen Übereinstimmung dahingehend [herrscht], dass Geschwister eine herausragende Rolle im Lebenslauf spielen.“39 Im Folgenden sollen die aktuellen Forschungsergebnisse zusammengefasst werden.

Geschwisterbeziehungen reichen - außer für die ältesten Kinder - in die ersten vorsprachlichen Tage der Kindheit zurück und sind die dauerhaftesten Bindungen im Leben eines Menschen: Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf - aber Geschwister bleiben einem Menschen meistens lebenslänglich erhalten, rechtlich wie emotional, auch wenn unter Umständen die Kontakte auf ein Minimum beschränkt oder gar abgebrochen wurden. Man kann, um Watzlawick (2000) zu variieren, nicht eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben. Gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band.40

In dieser Feststellung des Psychologen Jürg Frick klingt an, was Geschwisterbeziehungen zu einem bedeutsamen Teil des Menschen und seiner Entwicklung machen: die meist lebenslange Dauer bis zum Tod eines Mitglieds ebenso wie der besondere Aspekt der gemeinsam geteilten Entwicklungsphasen. Geschwisterbeziehungen sind demnach gleichwertig zur Eltern-Kind-Beziehung als „grundlegende Primärbeziehungen“41 zu verstehen, unterscheiden sich von diesen allerdings erheblich. Gegenüber der vertikal bzw. asymmetrisch organisierten Eltern-Kind-Beziehung sind Geschwisterbeziehungen von horizontaler, symmetrischer Struktur, da Geschwister im Regelfall der gleichen oder zumindest ähnlichen Altersgruppe bzw. der Subgruppe ,Kinder‘ im Familiensystem angehören. So stehen Geschwister trotz möglicher „Machtgefälle“42, oft im hierarchischen Sinne, auf einer grundsätzlich gleichwertigen Beziehungsebene.

Die individuelle Entwicklung wird in Interaktion mit den Geschwistern beeinflusst, was sich vor allem auf die Bereiche der „Kognition, Emotionen, Sozialverhalten und Persönlichkeitseigenschaften“43 auswirkt. Dies hat teils starke Auswirkungen auf die Ausgestaltung des individuellen Selbstwertgefühls:

Geschwister vergleichen - mit keinem anderen Menschen vergleichen sich Kinder zumindest in den ersten wichtigen Lebensjahren mehr als mit ihren Geschwistern! - und bewerten sich, bewundern und kritisieren einander gegenseitig, sagen einander die Meinung, rivalisieren miteinander, helfen und streiten, lieben und hassen einander, richten sich aneinander aus, üben Macht aus oder unterziehen sich dem mächtigeren Geschwister, passen sich an, wollen ganz anders sein oder den anderen übertreffen.44

Aufgrund der Primärbeziehung, die meist schon im frühen Kindesalter beginnt, bzw. für die jüngeren Geschwister von Geburt an besteht, stellen Geschwister neben den Eltern die ersten Bezugspersonen dar. Der dadurch gegebene Beziehungskontext erlaubt es, dass Geschwister mit- und untereinander Emotionen, Aktionen und darauffolgende Reaktionen und Handlungsmuster austauschen, probieren und gegebenenfalls anpassen können: „Geschwister bieten ein Trainingsfeld, um Beziehungsmuster einzuüben und zu modifizieren!“45

Es ergibt sich daher, dass Geschwister in der Kindheit die nachstehenden Entwicklungsaufgaben zu meistern haben: ,,[...] gegenseitige emotionale Unterstützung, Freundschaft und Kameradschaft, Hilfe der älteren gegenüber der jüngeren, Erweisen von Gefälligkeiten, Solidarität gegenüber anderen und gelegentlich auch gegenüber den Eltern.“46

Wie oben ausgeführt war die Geschwisterforschung anfänglich primär auf die Untersuchung der Geschwisterkonstellation und ihrer Bedeutung konzentriert. Seit Adler in den 1920er Jahren die Vermutungen über die Auswirkung der Position innerhalb der Geschwisterrangfolge auf die Persönlichkeitsentwicklung aufstellte, hat die Forschung gezeigt, dass hier nicht der erwartete zwingende Zusammenhang besteht. Gleichwohl ist die Geschwisterkonstellation für das Erleben des Einzelnen und die Beziehung unter den Geschwistern vor allem im Kindheitsalter durchaus relevant.47 Die Geburt eines Geschwisterkindes ist ein einschneidendes Erlebnis für das erstgeborene Kind. Sie bedeutet „eine neue Herausforderung und Entwicklungsaufgabe [...], die ganz unterschiedlich erlebt und verarbeitet werden kann.“48 Verhaltensweisen des erstgeborenen Kindes, die sich in Folge der Geburt eines Geschwistern zeigen, müssen als aktive Bewältigungs- Strategien verstanden werden, die angewendet werden, um mit der neuen Lebenssituation umgehen zu können. Die Reaktion der Erstgeborenen variiert demnach stark, wobei die Forschung bisher vor allem negative Reaktionen in den Blick genommen hat.49

Der Hintergrund negativer Reaktionen auf das neugeborene Geschwisterkind liegt meist in der Empfindung von Bedrohung bezüglich der eigenen Stellung.50 Viele ältere Kinder geraten daher in eine Regression, fallen also in frühere Verhaltensmuster, die sie auch beim kleineren Geschwisterkind beobachten, zurück. Das regressive Verhalten dient als Bewältigungsstrategie, da es zumeist den gewünschten Effekt, d.h. die Aufmerksamkeit der Eltern wiederzuerlangen, nach sich zieht. Problematisch wird die Situation in diesem Zusammenhang besonders, wenn das jüngere Kind das ältere schließlich sogar einholt und so eine Art Rollenumkehr entsteht, was vor allem bei geringem Altersabstand zwischen den Geschwistern eintreten kann. Für das ältere Kind stellt sich eine solche Lage als sehr schwierig und schwer zu bewältigen dar, sodass sich häufig eine Resignation bis hin zur Depression einstellt.51 Papastefanou hält fest, dass die Geburt des Geschwisterkindes sich v.a. bei einem Altersabstand von mehr als 24 Monaten als problematisch für das erstgeborene Kind darstellt, da es bereits in einem Alter ist, Verluste und Einschränkungen durch die Geburt auf sozial-kognitiver Ebene wahrzunehmen bzw. eine dahingehende Befürchtung zu entwickeln.52

Gleichwohl reagieren viele Kinder positiv auf den Familienzuwachs, freuen sich gemeinsam mit den Eltern und entwickeln eine von Fürsorge und Hilfsbereitschaft geprägte Haltung gegenüber dem Geschwisterkind.53 Frick sieht einen entscheidenden Zusammenhang zwischen der Reaktion der erstgeborenen Kinder und dem Verhalten der Eltern, die diesen bestmöglich weiterhin ausreichend Zeit widmen, aber auch genügend Raum geben, sich auf ihrem individuellen Niveau zu entwickeln und zu entfalten.54 Diejüngeren Kinder hingegen orientieren sich oft an ihren älteren Geschwistern und sehen diese als Vorbilder, was sich naturgemäß sowohl positiv wie auch negativ auswirken kann. Auf der einen Seite sind die älteren Geschwister Lehrmeister in den verschiedensten Bereichen, wie z.B. Sprache, Spiel und Sozialverhalten.55 Wird das Verhalten des älteren Kindes als positiv durch das jüngere bewertet, geht diese Vorbildfunktion oft in unreflektierte Bewunderung über und wird im Rahmen der Möglichkeiten imitiert.56 Wird das Verhalten dagegen als negativ empfunden, kann die Vorbildfunktion auf der anderen Seite den umgekehrten Effekt haben, indem die Geschwister sich bewusst abgrenzen und ebenjenes Verhalten für ihre eigene Identität zu vermeiden suchen.57

Das zuvor beschriebene Bedrohungsgefühl angesichts eines neuen Geschwisterkindes spiegelt sich auch im weiteren Leben durch eine Rivalität wieder, die sowohl im Spiel der Kinder untereinander, vor allem aber auch durch die Eltern und die Anforderungen einer Leistungsgesellschaft entstehen kann.58 Verstärkende Faktoren für die Rivalität können ein geringer Altersabstand und das gleiche Geschlecht sein.59 Die Forschung hat darüber hinaus nachweisen können, dass der Altersabstand allgemein eine Relevanz besitzt, da ein geringer Unterschied oft gleichzeitig zu einer engen Beziehung zwischen Geschwistern führt.60

Die Betrachtung von Geschwisterbeziehungen offenbart eine Mischung elementarer Emotionen: „Geschwister bedeuten tiefe Gefühle von Nähe, Verbundenheit, Liebe, Vertrautheit und Kooperation, aber auch ebenso starke Emotionen wie Eifersucht, Ablehnung, Entfremdung, Hass und Konkurrenz.“61 Es zeigt sich, dass Geschwisterbeziehungen Gefühle verschiedener Pole nicht ausschließen, sondern deren Existenz nebeneinander vereinen: „Das vielleicht hervorstechendste Merkmal der Geschwisterbeziehung ist ihre Ambivalenz.“62 Wie gezeigt wurde, sind Geschwisterbeziehungen von besonderer Bedeutung im Leben eines Menschen und geprägt von den verschiedenen Funktionen, die Geschwister wechselseitig füreinander und für die individuelle Entwicklung übernehmen.

1.2 Die Geschwisterbeziehung in der (Kinder-)Literatur

Wie der Geschwisterforscher Hartmut Kasten konstatiert, „haben Geschwister und ihre Beziehungen in fast allen schriftlichen Überlieferungen der zivilisierten Menschheit immer wieder eine wichtige Rolle gespielt.“63

Die Feststellung des zahlreichen Auftretens von Geschwisterszenen in schriftlichen Zeugnissen auch schon aus altertümlicher Zeit spiegelt im Gegensatz zur noch nicht befriedigenden Lage in der Geschwisterforschung die Bedeutung der Geschwisterbeziehung im Leben der Menschen wider.

Das folgende Kapitel versucht der Frage nachzugehen, wie und mit welcher Funktion Geschwistermotive in der Literatur, speziell in kinderliterarischen Werken, verwendet werden. In diesem Zusammenhang sollen zunächst die dieser Arbeit zugrunde gelegten Definitionen der Begriffe Motiv, Stoff und Thema erläutert werden, wobei eine besondere Gewichtung auf den Motivbegriff gelegt wird. Anschließend soll versucht werden, einen Überblick von Geschwisterbeziehungen in der (Kinder-)Literatur zu geben. Hierbei finden sowohl historische Schriften, aber auch die moderne Kinderliteratur Beachtung. Besondere Aufmerksamkeit erfahren die Märchen, in denen wie noch gezeigt wird, Geschwister oft eine große Rolle spielen. Märchen sind insofern interessant, als sie zur oft von Kindern rezipierten Literatur gehören.8

An dieser Stelle erfolgt nun die Bestimmung des im Folgenden verwendeten Motivbegriffs, wobei korrelierend auch kurz auf die literaturtheoretischen Begriffe des Stoffes und Themas eingegangen wird. Der Begriff des Motivs ist in der germanistischen Literaturwissenschaft primär dem Bereich der Stoff-, Motiv- und Themenforschung9 zuzuordnen, die als Methode bereits eine drei Jahrzehnte andauernde Geschichte aufweist.10 Als kunstwissenschaftlicher Begriff etabliert wird das Motiv dagegen erst Ende des 18. Jahrhunderts durch Goethe, der es im Anschluss auch auf die Literaturwissenschaft überträgt.11 Die Gebrüder Grimm untersuchten im 19. Jahrhundert sog. literarische Ur- Motive als Grundlage der von ihnen gesammelten Kinder- und Hausmärchen, wodurch der Begriff endgültig Beachtung in der Literaturwissenschaft fand.6712 Es soll an dieser Stelle jedoch nicht detailliert auf die geschichtliche Entwicklung des Begriffs eingegangen werden,13 sondern stattdessen der aktuelle Forschungsstand wiedergegeben werden. Im Rahmen des Versuchs, einen Motivbegriff im literaturwissenschaftlichen Sinne festzulegen, ist es indes unerlässlich, daraufhinzuweisen, dass die Motivforschung seit jeher vor dem Problem einer gewissen Unschärfe hinsichtlich exakter Begriffsdefinitionen steht.14 Aufgrund ihrer langen Geschichte spiegeln die Motivforschung und ihre Ergebnisse verschiedene historische Strömungen wider, wobei es bis heute zu keiner präzisen Bestimmung der Schlüsselbegriffe gekommen ist:

Die langjährige und bis heute andauernde Suche der Stoff- und Motivanalyse nach klaren Begriffs- definitionen verfehlt dieses Ziel auf Grund der dualistischen Beschaffenheit ihres Untersuchungsgegenstandes. Dieser präsentiert sich einerseits objektiviert in traditionell festgelegten Sammellisten von Stoffen und Motiven, andererseits aber bloß relational in deren jeweiligen individuellen Textmanifestationen.15

Untersuchungsgegenstände der Motivforschung sind demnach Konstanten (Personen und Gruppen, Handlungen und Örtlichkeiten, Gegenstände und Situationen), die durch oft jahrhundertealten Gebrauch und tradierte Konvention fester Bestandteil der (westlichen) Literatur geworden sind, und gleichzeitig - bedingt durch den Zeitwandel und individuellen künstlerischen Schaffensgebrauch - die veränderliche Bedeutung dieser Konstanten.16

Eine solche Bestimmung des Forschungsinteresses deutet zum einen auf die Möglichkeit des diachronen Vergleichs von Literaturepochen hin, zum anderen ergibt sich die Option, auf synchroner Ebene einen „Vergleich der literaturästhetischen Aspekte unterschiedlichster Einzelwerke“17 zu unternehmen, was die Komparatistik als bevorzugte Domäne nahelegt.74 Auch bei Lubkoll wird die Stoff- und Motivgeschichte als „Teildisziplin der Komparatistik“75 bezeichnet.

Die zuvor gegebene Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes durch Werlen verbleibt weiterhin auf sehr allgemeiner Ebene, weshalb im Anschluss eine genauere Eingrenzung der Begriffe Stoff, Motiv und Thema unternommen werden soll. In besonderem Maße stützt diese sich auf die Definitionen Christine Lubkolls, welche gewissermaßen eine aktualisierte Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bieten. Die Definitionen Lubkolls basieren zum Teil auf der theoretischen Herleitung des Stoff- und Motivbegriffs durch Elisabeth Frenzei.76 Nach Frenzei stellt das Motiv „ein stoffliches, situationsgemäßes Element dar, dessen Inhalt knapp und allgemein formuliert werden kann [,..].“77 In Anlehnung an musikalische Strukturen bezeichnet sie das Motiv als „Akkord“ im Vergleich zum Stoff, der „eine ganze Melodie“78 bietet. Der Stoff wird bei Lubkoll beschrieben als „eine Konfiguration von Personen, Handlungen und Problemstellungen, die durch mythische, literar. oder geschichtliche Vorgaben fest Umrissen ist, die durch die literar. Tradition fortgeschrieben wird und die dabei historisch bedingte Umdeutungen erfährt.“79 Auch Frenzei betont, dass der Stoff an bestimmte Namen und Situationen gebunden ist, während „das Motiv mit seinen anonymen Personen und Gegebenheiten lediglich einen Handlungsansatz bezeichnet, der ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt“80.

Daemmrich und Daemmrich nehmen dagegen Abstand vom Begriff des Stoffes und nutzen stattdessen den Begriff des Themas, um „die einengende Konkretisierung von Stoffen durch eine mythologische Figur oder ein nur struktural festgelegtes Motiv aufzubre- chen“18. Sie betrachten Motive als „Grundformen des Denkens“19, während Themen „Grundbausteine eines Textes“20 darstellen: „Sie sind strukturbildend. Themen bestimmen die Verwendung von Motiven [,..]“21 Die folgende Arbeit schließt sich dieser Bestimmung insofern an, als sie diese Auffassung und den so hergestellten Zusammenhang zwischen Motiven und Themen übernimmt.

Lubkoll zufolge ist ein Motiv eine „im weitesten Sinne kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen; im engeren Sinne eine durch die kulturelle Tradition ausgeprägte und fest umrissene thematische Konstellation“22. Hier spiegelt sich erneut der dualistische Charakter des Motivbegriffs wieder (s.o.). In diesem Sinne wird der Motivbegriff auch auf zwei verschiedenen Ebenen verwendet, nämlich im Rahmen immanenter Strukturanalysen von Texten und bezüglich intertextueller Phänomene.23 Motive werden darüber hinaus in verschiedene Typen eingeteilt: ,,[...] auf der Strukturebene die Kern-M.e und die Neben-M.e, ferner die Füll-M.e, die oft nur ornamentale Funktion übernehmen; auf der Inhaltsebene die Situations-M.e und die Ty- pen-M.e [...].24

Lubkoll weist auf die herausragende Bedeutung hin, die das Motiv im Rahmen der Strukturanalyse von Texten aufgrund seiner Eigenschaft als kleinste bedeutungstragende Einheit innehat und erläutert die verschiedenen Funktionen:

„Es dient der formalen Gliederung, der semantischen Organisation und der Verflechtung von Themen; es fungiert als inhaltliche Schaltstelle und es erzeugt Spannung; es fördert die Anschaulichkeit; es entfaltet ein Deutungspotential.“25

[...]


1 Nave-Herz: Geschwisterbeziehungen. S. 345.

2 Vgl. hierzuKapitel 1.2.

3 Vgl. Nave-Herz: Geschwisterbeziehungen. S. 337.

4 Kasten: Der aktuelle Stand der Geschwisterforschung. S.3.

5 Karl Lenz u. Frank Nestmann: Persönliche Beziehungen - eine Einleitung. In: Handbuch Persönliche Beziehungen. Hrsg, von Karl Lenz u. Frank Nestmann. Weinheim und München: Juventa Verlag 2009. S. 9-25. S. lOf.

6 Nave-Herz: Geschwisterbeziehungen. S. 337.

7 Frick: Ich mag dich - du nervst mich! S. 20.

8 Vgl. Anna Zamolska: Märchen, http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und- termini/238-maerchen (17.09.2014)

9 Ausgehend von der ursprünglichen Bezeichnung Stoff- und Motivgeschichte in der germanistischen Literaturwissenschaft, fand das Thema als Begriff erst später Eingang in die Forschungsrichtung: „Da die kt. Kategorien >Stoff< und >Motiv< in der frz. und angelsächs. Lit.wissenschaft keine eindeutige Entsprechung haben und statt dessen unter der allgemeineren Bezeichnung thème bzw. theme zusammengefasst werden, haben sich dort die Begriffe thématologie bzw. thematics durchgesetzt. Aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen gibt es auch in der dt. Komparatistik Bestrebungen, die herkömmliche >St. u. M.< durch die modernere >Th.< [Thematologie] zu ersetzen.“ (Christine Lubkoll: Stoff- und Motivgeschichte/Thematologie. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg, von Ansgar Nünning. 3., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2004. S. 631-633. S. 631.) Da es diesbezüglich in der Wissenschaft keine abschließende Klärung gibt, wird hier von Stoff-, Motiv- und Themenforschung gesprochen. Der Einfachheit halber und wegen der Fokussierung auf den Motivbegriff wird dies im Folgenden als Motivforschung abgekürzt.

10 Hans-Jakob Werlen: Stoff- und Motivanalyse. In: Methodengeschichte der Germanistik. De Gruyter Lexikon. Hrsg, von Jost Schneider. Berlin: Walter de Gruyter 2009. S. 661-677. S.661.

11 Vgl. Ulrich Mölk: Zur europäischen Bedeutungsgeschichte von >Motiv<. In: Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998-2000. Hrsg, von Theodor Wolpers. Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 2002 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaftenzu Göttingen. Philologisch-HistorischeKlasse, DritteFolge, Bd. 249). S. 11-20. 15.

12 Vgl. Lubkoll: Motiv, literarisches. S. 184.

13 Dies ergibt sich aus dem Untersuchungsanliegen der vorliegenden Arbeit für die lediglich ein arbeitsfähiger Motivbegriff vonnöten ist. Für die historische Entwicklung sei verwiesen auf den in der Fußnote 67 genannten Sammelband der Göttinger Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung.

14 Aufgrund dessen entsteht Kritik am Motivbegriff und der Disziplin an sich: „Kritiker monieren weiterhin die zwei systemischen Schwächen der Disziplin: einerseits die Zuflucht zu einem Abstraktionsniveau, das nur noch generelle Attribute beschreibt, auf der anderen Seite eine Verzettelung in immer engere Kategorisierungen und Sub-Kategorisierung, die sich beim Versuch einer Anwendung auf individuelle Textbeispiele als unbrauchbar erweisen.“ (Werlen: Stoff- und Motivanalyse. S. 667). Dessen ungeachtet wird in der Kinder- und Jugendliteraturforschung vielfach der traditionelle Motivbegriff verwendet, vgl. z.B. bei Seibert, der anregt „Kinderliteratur in die Diskussion über Stoff- und motivgeschichtliche Zusammenhänge einzubeziehen.“ (Ernst Seibert: Themen, Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche. Wien: Facultas.wuv 2008. S. 117) Auch Klingberg widmet der Motivforschung ein Kapitel, vgl. Göte Klingberg: Kinder- und Jugendliteraturforschung. Wien: Böhlau 1973. S. 53f.

15 Werlen: Stoff-undMotivanalyse. S. 662.

16 Ebd., S. 662.

17 Ebd., S. 663.

18 Manfred Beller: Stoff, Motiv, Thema. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hrsg, von Helmut Brackert u. Jöm Stückrath. 6., erweiterte u. durchgesehene Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag2000. S. 30-38. S. 33.

19 Horst S. u. Ingrid D. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. 2., überarbeitete u. erweiterte Auflage. TübingenundBasel: Francke Verlag 1995. S. XVI.

20 Ebd., S. XXIV.

21 Ebd., S. XXIV.

22 Lubkoll: Motiv, literarisches. S. 184.

23 Vgl. ebd., S. 184.

24 Ebd.,S. 185.Die weitere AusdifferenzierungsolcherKategorienträgtnach Andermattzur Verwirrung des Anwenders bei, weswegen er beispielsweise das (methodisch nicht stringente) umfassende Motivtypenregister der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen kritisiert (vgl. Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern: Peter Lang Verlag 1996. S. 21)

25 Ebd., S. 185.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Geschwisterbeziehungen im Werk Astrid Lindgrens
Hochschule
Universität Bremen  (Fachbereich 10)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
66
Katalognummer
V987545
ISBN (eBook)
9783346345110
ISBN (Buch)
9783346345127
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschwisterbeziehungen, werk, astrid, lindgrens
Arbeit zitieren
Swantje Thiele (Autor:in), 2014, Geschwisterbeziehungen im Werk Astrid Lindgrens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/987545

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