Psychodrama goes online. Möglichkeiten virtueller psychodramatischer Arbeit für Training und Beratung


Diploma Thesis, 2020

55 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Zwangsdigitalisierung während der Coronakrise
1.1. Wie sich unser Leben während der Pandemie digitalisierte
1.2. Psychodrama im Experimentiermodus: Erste Versuche virtueller psychodramatischer Arbeit
1.3. Die Idee für diese Abschlussarbeit

2. Rahmenbedingungen und(technische) Voraussetzungen
2.1. Technische und organisatorische Voraussetzungen
2.2. Gestalten und Halten eines sicheren und geschützten Rahmens
2.2.1. Informationen im Vorfeld
2.2.2. Teilnehmer im virtuellen Raum empfangen und „abholen“
2.2.3. Die „Spielregeln“ kommunizieren

3. Gestaltung des digitalen psychodramatischen Handlungsraum: Von bunten Haftnotizen und Seidentüchern
3.1. Die Bühne
3.1.1. Bühne auf dem Bildschirm in der Galerie
3.1.2. Bühne auf dem Bildschirm außerhalb der Galerie
3.1.3. Bühne im physischen Raum des Protagonisten/der Leitung
3.2. Die Akteure: Protagonist, Hilfs-Ich, Leitung, Gruppe

4. Phasen der psychodramatischen Arbeit und Möglichkeiten der virtuellen Umsetzung
4.1. Die Erwärmungsphase
4.1.1. Raumlauf in der Galerie
4.1.2. Fliegende Gegenstände in der Galerie
4.1.3. Aktionssoziometrie: Step-in Galerie
4.1.4. Aktionssoziometrie: 0 bis 100%
4.2. Die Aktionsphase
4.2.1. Vom Körperausdruck zu Inszenierung
4.2.2. Themenfindung im Gespräch
4.3. Die Integrations- und Abschlussphase
4.3.1. Der Psychodramabrunnen
4.3.2. Feuerwerk im Chat

5. Ein besonderer Anwendungsbereich für Psychodrama
5.1. Virtueller Sprachunterricht mit der PDL (Sprachpsychodramaturgie)
5.1.1. Bescherung in der Galerie
5.1.2. Die Wortwolke
5.1.3. Das Doppeln in der Psychodramaturgie und seine digitale Umsetzung
5.1.3.1. Doppeln auf verbalem Impuls mit Bildhintergrund
5.1.4. Die Gruppendramaturgie und ihre digitale Umsetzung
5.1.4.1. Die Zusammenkunft. Gruppendramaturgie mit Bild als Auslöser
5.2. Zusammenfassung

6. Chancen und Risiken von Psychodrama online
6.1. Von Grenzen und Pannen
6.2. Das geht nur online
6.3. Psychodrama online: Eine Zukunftsprognose

Literaturverzeichnis

1. Zwangsdigitalisierung während der Coronakrise

1.1. Wie sich unser Leben während der Pandemie digitalisierte

Die Coronavirus-Pandemie im Frühjahr 2020 überraschte die ganze Welt mit einem Ausnahmezustand von unbekanntem Ausmaß. Kaum ein Wirtschaftsbereich, eine berufliche Kategorie oder eine Menschengruppe ging an der Krise vorbei. Ob jemand aufgrund des Alters oder des gesundheitlichen Zustands zur Risikogruppe gehörte, in einem der systemrelevanten Berufen beschäftigt war, oder eine selbständige Tätigkeit ausübte: Alle mussten die gewohnten Routinen aufgeben und sich in der Situation neu erfinden. Dazu kamen ab Mitte März 2020 die gesetzlichen Auflagen zu den Ausgangbeschränkungen und dem Social Distancing, die uns alle zu einer neuen Art des Kontakts mit den Mitmenschen zwangen. Und das erst einmal auf unbestimmte Zeit, denn über das Virus und seine Auswirkungen war anfangs kaum etwas bekannt.

Gleichzeitig mit der Bewältigung der persönlichen Krise, der Sorgen und Ängsten, machten wir uns auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit zur einzigen Konstante wurden. Der Lern- und Anpassungsbedarf, um privat und wirtschaftlich neue Lösungswege zu finden war hoch wie noch nie, doch auch hier implizierten die Kontaktbeschränkungen und Ansammlungsverbote, dass herkömmliche Formate der Weiterbildung, der Beratung oder der kollegialen Zusammenarbeit ganz plötzlich unmöglich wurden.

Für mich war der Einschnitt durch die Coronakrise in meinem persönlichen und beruflichen Dasein ganz besonders spürbar: Persönlich, weil es mir mit der Schließung der Grenzen zum europäischen Ausland zum ersten Mal unmöglich war, meine Familie in Italien zu besuchen oder Besuche aus Italien zu empfangen. Beruflich, weil ich Ende Februar meine Anstellung als Personal- und Organisationsentwicklerin in dem Unternehmen, in dem ich seit 18 Jahren arbeitete, aufgegeben hatte um hauptberuflich meine Selbständigkeit als Trainerin und Organisationsberaterin aufzubauen. Nach der anfänglichen Schockstarre begann ich nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, meine privaten und beruflichen Kontakte weiterhin zu pflegen und meine Pläne in einen Notfallmodus umzuwandeln. Der Weg zu den online-Plattformen, die in kürzester Zeit sehr populär wurden und heute kaum noch wegzudenken sind, war nicht mehr weit und würde von da an meine Arbeit, meine Netzwerke und meine Beziehungen auf vielfältige Weise verändern.

Mit den ersten Corona-Einschränkungen des öffentlichen Lebens suchten Lehrberufe, Weiterbildungsanbieter, Trainer und Berater den Weg ins Netz und Veranstaltungen jeglicher Art wurden digital angeboten. Auch für die Schulen und andere Bildungsinstitutionen wurde die schon lang diskutierte, bisher doch meist mit relativ wenig Begeisterung verfolgte Digitalisierung zur Notwendigkeit. Diesmal handelte es sich für Lehrer und Dozenten nicht um die Nutzung einer multimedialen Tafel oder die Ergänzung des Unterrichts mit digitalen Medien, sondern um den Ersatz des gesamten Schullebens! Der digitale Austausch von Informationen war von heute auf morgen der einzige Weg, mit Schülern zu kommunizieren, Wissen zu vermitteln und die Klassengemeinschaft aufrecht zu erhalten.

Das Konzept von Agilität in der Wirtschaft definierte sich neu durch die Unternehmen, die schnell mit einer Ausbreitung der digitalen Arbeitsmodelle, mit sozialem Engagement und alternativen Geschäftsmodellen auf die Krise reagierten und dies durch die sozialen Medien, im Austausch mit ihrer Community, bekannt machten.

In jede Familie hielt die Digitalisierung in Form von Homeschooling, Videokonferenzen, Webinare, Fitness- und Yogakurse, virtuelle Familienfeier oder Videotelefonate mit Freunden und Verwandten ihren Einzug und wurde zum festen Bestandteil des täglichen Lebens.

Verlage und private Bildungsinstitute veranstalteten online-Seminare und Austauschrunden um das Thema „virtuelle Lern- und Beratungsangebote“, meist kostenlos im Rahmen einer Testphase. Auch einige Lehrgänge und Seminare, um sich als online-Trainer zu qualifizieren, wurden beworben. Das tägliche Angebot an online-Veranstaltungen wurde so groß, dass ich schon bald unter mehreren Webinaren und online-Treffen diejenigen wählen musste, die mir relevanter erschienen oder wichtiger waren. So hüpfte ich von einem Thema zum nächsten, von einer beruflichen Fortbildung zu einem „online-Miteinander“ oder einer online-Weinprobe, ohne mein Wohn- oder Arbeitszimmer zu verlassen. Smartphone, Computer und Kopfhörer wurden zum unverzichtbaren Accessoire und zur einzigen Verbindung mit der Außenwelt.

Mit Pioniergeist fing ich an zu beobachten, auszuprobieren und darüber nachzudenken, wie die Übertragung von Präsenzformaten in eine virtuelle Umgebung umgesetzt wurde, wie sie funktionierte (oder nicht funktionierte!) und wie sie wirkte. Ziemlich schnell wurde mir Eines klar: Während für die reine Wissensvermittlung schon erprobte Mittel und Wege des E-Learnings vorhanden waren (Vorträge, Präsentationen, Lernvideos), fehlte in den digitalen Veranstaltungen oft gänzlich das, was mit menschlicher Begegnung, Gestaltung von „Lernräumen“ und Gruppendynamik zu tun hat. Gleichzeitig konnte ich beobachten, wie der Schulunterricht meiner Kinder sich oft auf die Verteilung von Arbeitsblättern und Aufgaben auf elektronischem Weg beschränkte, während die Interaktion und der Kontakt mit der Klasse den Kindern überlassen wurde, die ihre eigenen WhatsApp Gruppen nach Fächern, Interessen oder Sympathien gründeten und regelmäßig telefonierten um sich (auch) über die schulischen Aufgaben auszutauschen.

In Anbetracht der ungewissen Dauer der Auflagen zum Social Distancing, erschien mir der Verlust von einem Großteil von dem, was Lernen und Arbeiten in der Gruppe ausmacht und in einem Lernprozess zum persönlichen Wachstum beiträgt, nicht tragbar für die Gesellschaft und extrem frustrierend für die Menschen.

1.2. Psychodrama im Experimentiermodus: Erste Versuche virtueller psychodramatischer Arbeit

Für Moreno ist der Mensch ein grundlegend soziales Wesen und existiert nur im Netz seiner Beziehungen und in seinen Handlungen. In einer Zeit, die uns alle vor große Herausforderungen stellte, fiel durch die Kontaktsperren erst einmal die Möglichkeit des direkten Austausches, der Interaktion und des gemeinsamen Erlebens aus, wir wurden von unserem sozialen Atom außerhalb der in einem Haushalt lebenden Familienmitglieder abgetrennt. Was Moreno Tele nennt, die Basis allen zwischenmenschlichen Beziehungsgeschehens, wurde wortwörtlich nur noch aus der Ferne erlebbar. Aus Sicht des Psychodramas nahm uns die Corona-Krise wichtige Grundlagen des menschlichen Daseins: Die Begegnung und die Gemeinschaft.

Ausgehend von diesen Überlegungen stellte ich mir die Frage, ob eine Begegnung im psychodramatischen Sinne sich auch virtuell realisieren ließe, ob die Kräfte, die in der psychodramatischen Arbeit wirken, auch online, ohne den direkten Kontakt zwischen den Menschen sich entfalten könnten. Ich fragte mich, was vielleicht paradox klingt, ob ein methodischer Ansatz, der von Aktion und Interaktion, von der Gemeinschaft und der Erfahrung im Hier und Jetzt lebt, auch digital umgesetzt und vor einem Bildschirm erlebt werden könnte.

Die Antwort auf diese Frage war für mich aus verschiedenen Gründen wichtig: Beruflich, um am Anfang meiner Selbständigkeit eine Möglichkeit zu haben, meine Sprachkurse1 weiterzuführen und Konzepte für die Organisationsberatung zu entwickeln; persönlich, um an meinen eigenen Themen in dieser außergewöhnlichen Zeit zu arbeiten und um meine Weiterbildung zur Psychodramaleiterin wie geplant Ende des Jahres abschließen zu können. Mich inspirierte außerdem ein Satz, den ich im Buch Psychodrama und Gesellschaft von Ferdinand Buer in dieser Zeit las:

Mit dem Psychodrama hat Moreno ihnen (den PsychodramatikerInnen) nun aber ein Ensamble an Instrumenten hinterlassen, dass sie nicht neu erfinden müssen, sondern, dass sie je neu nutzen können, um der Welt aufzuspielen2

Das überzeugte mich, das auch der Versuch, online-Formate für die psychodramatische Arbeit zu entwickeln im Sinne Morenos und seiner Philosophie wäre.

Das alles war Motivation genug, um mich gleich mit anderen Psychodramatikern und PDL-Trainern in Verbindung zu setzen und nach Möglichkeiten zu suchen, mit Psychodrama in online-Formaten zu experimentieren. Schon bald bildete sich ein Netzwerk von Gleichgesinnten, die in verschiedenen Bereichen psychodramatisch arbeiten und sich nun auf den virtuellen Weg wagten3. Über die Plattform Zoom 4 fanden in unterschiedlichen Gruppen 2-3stündige Sessions an, in denen unsere Themen und das große Thema „Corona-Krise“ mit angepassten psychodramatischen Mitteln online bearbeitet wurden. In einer anschließenden Methodenreflexion konnten wir uns über die eingesetzten Techniken und die jeweilige Umsetzung austauschen und so neue Impulse für die eigene Arbeit mitnehmen.

So begann für mich im April 2020 von meinem Schreibtisch aus eine spannende Reise, die mich dem Wesen von Psychodrama und seinem Potential noch ein ganzes Stück näher und zu teils überraschenden neuen Erkenntnissen gebracht hat.

1.3. Die Idee für diese Abschlussarbeit

Online-Beratung ist nichts Neues. Die Mediatisierung unserer Kommunikation und die Digitalisierung sind schon lange Teil unseres beruflichen und privaten Lebens und werden seit Anfang der 2000er Jahren in allen Facetten diskutiert.

Auch Beratung und Weiterbildung haben auf die Nutzungspräferenzen und -gewohnheiten reagiert und digitale Kommunikationsangebote entwickelt (z.B. Chat- oder E-Mail Beratung, Telefon-Coaching, E-Learning und Blended Learning Formate). Schon 2017 schrieb C. Helbig5: in Bezug auf die Digitalisierung der Gesellschaft:

Der kulturelle und soziale Wandel entlang der Medienentwicklung stellt somit neue Anforderungen an die Fachkräfte, die sowohl die veränderten Alltagspraxen ihrer Adressat/innen und die sozialen Herausforderungen digitalisierter Gesellschaften als auch das eigene Medienhandeln und die Anforderungen digitaler Arrangements in die fachliche Reflexion einbeziehen müssen

Vor allem in der Beratung und in der Therapie, wo die Beziehungsgestaltung von zentraler Wichtigkeit ist, bedeutete der Einsatz von digitalen Medien eine Anpassung an die neuen Kommunikationskanäle, die im Vergleich zu dem direkten Kontakt Grenzen aber auch Vorteile bieten. Durch das digitale Angebot wurden ergänzende oder alternative Formate entwickelt, um bestimmte Zielgruppen besonders anzusprechen (z.B. die jüngere Generation der „digital natives“) oder den Klienten und Kunden weitere Möglichkeiten anzubieten.

Es handelte sich immer um Angebote, die frei gewählt werden konnten. So konnten die Vorzüge dieser Art der Kommunikation und Zusammenarbeit genutzt werden, während deren Grenzen einfach angenommen werden konnten, da die Möglichkeit der Präsenzveranstaltungen und des persönlichen Kontaktes weiterhin wie gewohnt vorhanden war. Auch wenn Nutzen und Notwendigkeit eines digitalen Angebotes, mit den damit verbundenen konzeptionellen, organisatorischen und rechtlichen Fragestellungen erkannt waren, blieb es jedoch jedem Anbieter frei, in wie weit das Angebot um digitale Formate erweitert werden sollte. Überwiegend handelte es sich außerdem um eine textbasierte (via e-mail oder Chat) oder telefonische Beratungsform. Für die Videoberatung6 findet man hingegen kaum ausdifferenzierte Beschreibungen in der Beratungsliteratur. Im Bereich der Weiterbildung bzw. generell der Gruppensettings wurden bisher vor allem asynchrone Möglichkeiten der digitalen Kommunikation verwendet, z.B. durch E-Learning Einheiten, die im Vorfeld oder im Anschluss an einem Präsenzseminar bearbeitet werden, oder in Form von Webinaren, in denen die Übertragung eines Vortrags (in Echtzeit oder zeitversetzt) mit der Möglichkeit einer schriftlichen Interaktion via Chat ergänzt wird. In keinem dieser Settings findet eine synchrone Interaktion statt, die alle Kanäle der Wahrnehmung einschließt (auditiv, visuell, paraverbal, nonverbal).

Die Corona-Krise änderte die Anforderungen an online-Settings grundlegend: Die digitalen Medien wurden zur einzigen Kontaktmöglichkeit und mussten in allen Bereichen die gewohnten Formate nicht mehr ergänzen, sondern ersetzen. Dies stellte ganz andere Fragen an Berater, Therapeuten oder Trainer: Wie stellt sich im online Kontakt eine Beziehung her und wie wird diese aufrechterhalten? Wie gelingt zwischenmenschliche Begegnung? Wie entwickelt sich das Potential einer Gruppe und wie kann die Leitung wahrnehmen, was in der Gruppe passiert? Wie wirken sich die spezifischen Interventionen aus und wie kann die Leitung die ausgelösten emotionalen Reaktionen ggf. abfangen? Wie kann man auch Aktivitäten, die Körperlichkeit und Bewegung einsetzen, umgestalten und für den virtuellen Raum nutzbar machen? Zusammengefasst: Wie kann man als Psychodramatiker digital arbeiten, ohne auf die psychodramatischen Techniken und Arbeitsweisen und ihre Wirkmächtigkeit zu verzichten?

Das sind die Fragen, die mich und einige Kollegen in Bezug auf die psychodramatische Arbeit beschäftigt haben und noch beschäftigen. Der Gedanke, das Psychodrama an sich, mit seinen Prinzipien und Wirkfaktoren, dem virtuellen Kontext anzupassen, unterscheidet sich von dem oben beschriebenen Versuch, neue Medien für bestimmte Formate zu nutzen und ggf. andere Techniken anzuwenden, die von den typischen Präsenz-Settings absehen. Dies wäre z.B. der Fall, wenn ein Berater oder Therapeut, der sonst psychodramatisch arbeitet, sein Angebot an ein neues Medium (z.B. Telefon, oder Videokonferenz) anpassen würde, indem die Beratung mehr gesprächszentriert ist und auf den Einsatz von klassischen Psychodramatechniken verzichtet.

Der Versuch, hingegen, virtuelle Formate zu gestalten, die eine möglichst authentische Umsetzung der Methode ermöglichen, unter Einbeziehung einer synchronen Interaktion aller Teilnehmer, war (zumindest für mich) komplett neu und eröffnete den Weg für eine Pionierarbeit in diesem Feld.

Da ich mich ziemlich schnell in diesem Experimentiermodus eingefühlt und ich immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen habe, ist das Bedürfnis entstanden, meine Erfahrungen auf diesem Weg festzuhalten und zu vertiefen. Die Behandlung des Themas „Psychodrama online“ in meiner Abschlussarbeit der Oberstufe zur Psychodrama Leiterin bot die Gelegenheit, diese spannende Zeit der Versuche reflektierend zu begleiten. So veränderte die Pandemie mit so vielen Aspekten meines Lebens auch den Schwerpunkt meiner psychodramatischen Arbeit.

2. Rahmenbedingungen und (technische) Voraussetzungen

2.1. Technische und organisatorische Voraussetzungen

Damit eine videogestützte psychodramatische Arbeit überhaupt stattfinden kann, bedarf es seitens der Leitung und der Teilnehmer einiger organisatorischen und technischen Voraussetzungen, die im Vorfeld geklärt und kommuniziert werden sollen. Als Erstes brauchen alle Beteiligte eine stabile Internetverbindung und ein Endgerät mit einer Videokamera, einem Mikrophon und einem Lautsprecher. Je besser die Qualität der Video- und Audioübertragung ist, desto reibungsloser gestaltet sich die Sitzung. Daher empfiehlt sich die Arbeit am PC oder Laptop eher als an einem Tablet oder Smartphone, die eine kleinere Bildschirmansicht haben und somit die Augen mehr anstrengen. Außerdem ist auf einem Smartphone die Bilddarstellung von mehr als vier Teilnehmern gleichzeitig in der Regel nicht möglich. Für die Leitung ist die Nutzung eines großen Bildschirms, oder von zwei Bildschirmen, besonders wichtig, damit die ganze Gruppe gut sichtbar ist und mehrere Fenster gleichzeitig zur Verfügung stehen, so dass leicht von einer Funktion zur nächsten gewechselt werden kann. Die Übertragung soll möglichst frei von Widerhall und Geräuschen sein. Dies gelingt am besten mit einem Kopfhörer.

Generell muss berücksichtigt werden, dass jede Unterbrechung oder Verschlechterung der Qualität in Bild und Ton, bzw. der ganzen Verbindung (mit der Notwendigkeit sich erneut einzuwählen) ein zusätzlicher Stressfaktor ist, der die stattfindende Kommunikation und den Prozess stört und anstrengender macht. Im Allgemeinen empfinden Teilnehmende wie Leitung eine online Session als sehr intensiv und ermüdend, ist die Aufmerksamkeit doch ständig gefordert. Daher sollte nach meiner Erfahrung die Länge einer Sitzung auf max. 3 Stunden ohne längere Pausen begrenzt werden.

Für die Teilnahme an einer Videokonferenz ist außerdem eine Softwarelösung notwendig, die meist kostenlos installiert werden kann bzw. über den Browser zugänglich ist. Dafür gibt es unterschiedliche Anbieter, wie z.B. Zoom, Skype, Jitsi Meet, Hopin. Firmen, Schulen und Organisationen nutzen meist Lösungen, die in der eigenen Softwarelandschaft integriert sind und Videokonferenzfunktionen bieten, wie z.B. Microsoft Teams oder Cisco Webex.

Sofern die virtuellen Formate nicht innerhalb einer Organisation stattfinden, die dafür ihre Software zur Verfügung stellt bzw. vorschreibt, entscheiden sich die Veranstalter für eine freizugängliche Lösung, um in der Zielgruppe allen die Möglichkeit einer Teilnahme zu bieten.

Für die psychodramatische online-Arbeit verfügt die Plattform Zoom über sämtliche für die synchrone interaktive online Arbeit relevante Funktionen und ist intuitiv zu bedienen. Über Zoom lief die Experimentierarbeit an psychodramatischen online Formaten, die ich mit anderen Kollegen durchführte. Daher werden sich die weiteren Ausführungen in dieser Arbeit der Einfachheit halber auf die Funktionen von Zoom beziehen und dessen Bezeichnungen verwenden7.

Die Moderation von Gruppen (ab zwei Personen) und Meetings von einer Dauer über 40 Minuten ist mit Zoom nur über eine lizenzierte, kostenpflichtige Pro-Version der Software möglich. Die einfachste Pro-Version, für Gruppen bis 100 Teilnehmer und eine unbegrenzte Dauer der Sessions, kostet ca. 16 EUR/Monat für einen Moderator. Alle Teilnehmende sowie eine eventuelle Co-Leitung (Co-Host) können mit der kostenlosen App bzw. einfach mit dem Browserzugang über den Link teilnehmen.

Neben der nötigen technischen Infrastruktur müssen für online-Sessions auch datenschutzrechtliche Aspekte Beachtung finden. Vor allem für Formate, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegen, soll eine Softwarelösung gewählt werden, die Daten verschlüsselt überträgt. Zu Beginn unserer experimentellen Arbeit mit Psychodrama-online waren seitens einiger Teilnehmer, Trainer und Institutionen Bedenken in Bezug auf Datenschutz und Sicherheit bei der Plattform Zoom. Die Benutzerzahlen von dieser videobasierten Kommunikationslösung stiegen laut dem Anbieter weltweit von 10 Mio. Meetingteilnehmern/Tag im Dezember 2019 auf 300 Mio./Tag im April 2020. Daraufhin reagierte der Softwareanbieter mit der Programmierung weiterer Sicherheitsfunktionen, die in verschiedenen Updates hinzugefügt und Ende April in einem Datenblatt8 an alle Kunden geschickt wurden. Neben der verschlüsselten Übertragung der Daten, stehen den Hosts Sicherheitsvorkehrungen zur Verfügung, um die Teilnahme nicht autorisierter Personen zu verhindern (z.B. Kennwort für die Anmeldung, Möglichkeit für den Host, das Meeting zu sperren, wenn alle TN eingewählt sind) und Bedienelemente und Funktionen für die Teilnehmenden zu aktivieren/deaktivieren. Außerdem lädt Zoom in regelmäßigen Abständen zu online-Foren ein, wo neue Features in Bezug auf Sicherheit und Datenschutz vorgestellt werden und Fragen der Kunden über diese Themen live beantwortet werden.

Mit dieser Hintergrundinformation beschloss ich, bei dieser Softwarelösung zu bleiben und ich denke, obwohl ich mich mit IT-Sicherheit nicht im Detail auskenne, mit gutem Gewissen sagen zu können, dass die Anforderungen an Datenschutz und Sicherheit für die von mir angebotenen Formate erfüllt sind.

Einige Hinweise in Bezug auf Datensicherheit und Wahrung der Vertraulichkeit können zu Beginn einer Sitzung bzw. eines Kurses an die Teilnehmenden kommuniziert werden. So informiere ich über die Wichtigkeit des vertraulichen Rahmens, und dass Aufzeichnungen bzw. Screenshots, auf denen die Personen zu sehen sind, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis aller Beteiligten möglich sind. Dies wird zusammen mit einigen grundsätzlichen Regeln für die Teilnahme an Videokonferenzen, auf die ich später noch eingehen werde, mitgeteilt und visualisiert.

Das Kommunizieren von Voraussetzungen und Bedingungen im Vorfeld trägt zu einem stabilen und sicheren Rahmen bei und gibt den Teilnehmenden Orientierung und Halt in einem Umfeld und auf einem Kommunikationsweg, die für viele Neuland sind, oder zumindest zu Anfang der Coronakrise noch waren.

Die Teilnehmenden einer Zoom- Veranstaltung (oder Veranstaltungsreihe) bekommen von dem Host eine automatisch generierte Einladung, die den Link und die sonstigen Zugangsdaten (Meeting-ID, Passwort) enthält9. Diese Einladung kann mit einer kleinen Anleitung zur Nutzung der Plattform sowie weiteren organisatorischen Informationen und Hinweise zur Netikette ergänzt werden, damit alle Teilnehmer möglichst vorbereitet in die Sitzung kommen und nicht zu viel Zeit für Erklärungen aufgewendet werden muss10.

2.2. Gestalten und Halten eines sicheren und geschützten Rahmens

(…) But it´s being there, being with, staying with, and holding this space for something that is wanting to happen. (…) It requires us to pay attention to the physical space, to the digital space, to the social environment.

Sahana Chattopadhyay Die psychodramatische Arbeit ist charakterisiert durch einen Rahmen (sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen und organisatorischen Sinn) und Arrangements, in denen die Teilnehmenden agieren und spielerisch und szenisch Erfahrungen machen. Aufgabe der Leitung ist, diesen Rahmen zu gestalten und zu halten, als eine Art Regie des psychodramatischen Geschehens.

Aus Sicht der Gruppendynamik muss eine Gruppe erst ein WIR-Gefühl entwickeln, um arbeitsfähig zu werden. In den ersten Phasen der Gruppenarbeit muss die Leitung daher für die Entstehung eines Klimas von Akzeptanz und Vertrauen sorgen und den Gruppenmitgliedern Orientierung und Sicherheit geben. Während der Arbeit hat sie gleichzeitig die Aufgabe, den sicheren Rahmen zu halten und die Bewegungen der Gruppe zu begleiten. Sie ist verantwortlich für den Gruppenprozess sowie für die beteiligten Personen. Sie aktiviert und fokussiert die Gruppe, erspürt die Themen, entwirft einen „roten Faden“ und wählt die jeweils passenden Techniken und Settings unter Beachtung der Grundprinzipien der psychodramatischen Arbeit aus und leitet sie an.

Der Rahmen ist wie eine „Haut“, die der Gruppe Schutz gibt und jedem/r Einzelnen einen Platz darin sichert. Zum sicheren und geschützten Rahmen gehören die physischen Räume, in denen die Arbeit stattfindet, die Präsenz und die Stimme der Leitung, Informationen über Ablauf und Struktur, einige Grundregeln der Zusammenarbeit in der Gruppe. Das alles trägt dazu bei, einen Pfad abzustecken, das den Teilnehmenden erlaubt sich in einer vertrauten Umgebung zu bewegen und sich für die Arbeit in der Gruppe zu öffnen. Einige Aspekte, um die online Arbeit für die Gruppe möglichst angenehm und störungsfrei zu gestalten, stehen in der Verantwortung der einzelnen Teilnehmenden: Sie sollten auf eine ruhige Umgebung achten, zu der Dritte während der online-Sitzung keinen Zugang haben. Um die Konzentration und Präsenz zu fördern, empfiehlt es sich außerdem, Smartphones und andere Geräte stummzuschalten und die Benachrichtigungen von anderen Applikationen (z.B. vom E-Mail Programm am Rechner) zu unterdrücken.

In einem Präsenzseminar tragen die Aufteilung und Ausstattung der Räume (der Stuhlkreis, der Platz für die Bühne, Material und Symbole für die szenischen Darstellungen), aber auch die Abläufe und Rituale eines Treffens (angefangen vom informellen Zusammenkommen bis zur Struktur einer psychodramatischen Sitzung und den Pausen) dazu bei, dass die Teilnehmenden ankommen und mit dem Rahmen vertraut werden. Innerhalb dieses Rahmens kommt die Gruppe in Beziehung, untereinander und mit der Leitung.

Doch wie geschieht das über ein digitales Medium? Wie können wir einen virtuellen Raum gestalten, in dem sich die Einzelnen wohl fühlen und sich die Dynamiken der Gruppe entfalten? Wie holen wir die Teilnehmenden ab und wie behalten wir das Geschehen im Blick, wenn wir uns physisch nicht im gleichen Raum befinden? Wie wirkt der Teleprozess, wenn die interpersonelle psychosomatische Resonanz (Krüger, 2020) aufgrund des Mediums begrenzt ist? Wie wirken sich die Dimensionen der Gruppendynamik aus und sind gruppendynamische Modelle auf virtuelle Gruppen übertragbar?

Wer online psychodramatisch arbeiten möchte, muss schon hier ansetzen und sich neu erfinden. Nach meinen Erfahrungen mit Psychodrama online habe ich festgehalten, was meiner Meinung nach zu einer vertrauten Atmosphäre und dem Gefühl der Zugehörigkeit beiträgt und somit den Raum für die Wirkung von Psychodrama öffnet.

2.2.1. Informationen im Vorfeld

Wie oben schon erwähnt ist es zu empfehlen, vor der ersten Session in der Einladung neben den Zugangsdaten und den rein technischen Informationen einige Hinweise zu den Besonderheiten der Zusammenarbeit über Videokonferenz und dem Umgang mit Störungen zu ergänzen. Dies beantwortet möglicherweise einige Fragen der Teilnehmenden im Vorfeld und erlaubt ihnen, sich auf das Video-Treffen vorzubereiten. Die Anweisungen vom Psychodrama Institut für Europa (PIfE) in den Anlagen 3 und 4 beschreiben sehr ausführlich, was zu beachten ist und warum. Sie informieren z.B. über:

- Die Wichtigkeit einer stabilen Internetverbindung durch eine gute Datenrate und die Verbindung über Kabel statt mit W-Lan.
- Die Möglichkeit, bei technischen Schwierigkeiten über das Handy Kontakt aufzunehmen (die Leitung gibt mit der Einladung oder/und zu Anfang einer Sitzung ihre Handynummer bekannt und fragt ggf. die Teilnehmenden im Voraus nach ihrer Nummer)
- Den Zugang zum Meeting über den Link in der Einladung und die Möglichkeit, sich ab 30 Minuten vor der Konferenz einzuloggen, falls noch Unterstützung für die Nutzung der Zoom-Funktionen benötigt wird. Es wird auch auf Video-Tutorials hingewiesen, die die Funktionen erklären.
- Den Datenschutz während der Videokonferenz. Es wird auf die Funktionen „Aufzeichnen“ und „Screenshot“ hingewiesen, für dessen Nutzung immer das Einverständnis aller Teilnehmenden notwendig ist. Diese können daher nur nach vorheriger Nachfrage verwendet werden.
- Vorbereitungen in der heimischen Umgebung, die vor der Konferenz getroffen werden sollten: Gute Beleuchtung am Sitzplatz, Bildschirm in Augenhöhe, Verhalten bei technischen Störungen, benötigte Requisiten und Material, etc…11

2.2.2. Teilnehmer im virtuellen Raum empfangen und „abholen“

Die erste Kontaktaufnahme unter Gruppenmitgliedern und mit der Leitung findet in Präsenzseminaren (zumindest unter „vor-Corona“ Umständen) in der Regel in einem informellen Rahmen beim Eintreffen in die Seminarräume. Hier finden erste kurze Gespräche statt, es wird eventuell zusammen Kaffee gekocht und getrunken, man kann sich zu nderen hinbewegen, sich begrüßen, wenn man sich kennt, oder sich vorstellen. So stellt sich eine erste Gruppendynamik ein, kleine Grüppchen finden zusammen und man nimmt Stimmungen und Befinden anhand körperlicher Signale wahr. Gleichzeitig besteht für jeden Teilnehmer die Möglichkeit, noch bei sich und in einer Beobachterposition zu bleiben.

Die 15-30 Minuten vor dem offiziellen Anfang einer Videokonferenz, wenn das Meeting offen ist und die Teilnehmenden sich schon einwählen können, finden im virtuellen Raum statt und sehen natürlich ganz anders aus. Wie kann man auch hier erste kleine Begegnungen und ein Ankommen in der Gruppe ermöglichen?

Nach dem Beitreten des virtuellen Raums erscheinen die TN und die Leitung in der Galerieansicht als nebeneinander gestellte „Kacheln“ mit Video (falls die Kamera eingeschaltet wird) und Ton (falls das Audio ebenfalls eingeschaltet wird). Dies sieht auf dem Bildschirm so aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Galerieansicht bei einer online-Session im Juli 2020. Bild: Monica Baudracco-Kastner (mit freundlicher Genehmigung der abgebildeten Personen)

Es fehlt die Dreidimensionalität, die es erlauben würde, sich in Bezug auf Nähe und Distanz zu positionieren. Wenn man sich einwählt, „platzt“ man in die Gruppe herein. Auch sich selber auf Video zu sehen kann für manche zunächst für Irritation sorgen. Andererseits besteht durch ausschalten von Kamera und/oder Ton jederzeit die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und zu beobachten und gleichzeitig den eigenen Platz in der Galerie zu behalten (man bleibt in der Ansicht mit einem Profilbild bzw. mit dem eigenen Namen für die anderen TN12 und die Leitung sichtbar). Auch kann man trotz laufender Kamera sich vom Bildschirm abwenden und so signalisieren, dass man in dem Augenblick nicht direkt mit der Gruppe in Kontakt treten möchte. Auch in dieser Phase, ähnlich wie beim Ankommen in einen physischen Raum, finden erste kleine Gespräche statt, bekannte Gruppenmitglieder werden erkannt und begrüßt, oft wird darüber gesprochen, wer woher kommt oder sich gerade befindet. Die Leitung kann entscheiden, selbst schon in dieser Phase Teil der Gruppe zu sein oder die Kamera und den Ton auszuschalten und die „Entstehung“ der Gruppe zu beobachten. Durch individuelle Begrüßungen im Chat kann sie gleichzeitig ihre Anwesenheit signalisieren und die Teilnehmer begrüßen. Auch bei technischen Schwierigkeiten bei der Einwahl (z.B. wenn nicht die gewünschte Ansicht erscheint, oder bei schlechter Video- oder Audioqualität) kann die Leitung die TN via persönlichem Chat oder telefonisch unterstützen, so dass zu Anfang der Session alle „angekommen“ sind.

Eine von mir beliebte Alternative, die Phase vor Beginn des Meetings zu gestalten ist die Teilnehmer im virtuellen Raum mit Musik und eventuell einem Bild zu empfangen und ihnen die Möglichkeit zu geben, das Zusammenkommen der Gruppe zu verfolgen ohne den Druck, etwas machen oder sagen zu müssen. Dafür eröffne ich ca. 30 Minuten vor dem offiziellen Anfang das Meeting und teile den Computerton (ich lasse oft klassische oder Pianomusik spielen, bei Sprachkursen auch Lieder in der Fremdsprache) und eventuell ein Bild eines Ortes oder einer Landschaft, das inspirierend wirkt. Meine Kamera lasse ich zunächst aus und in den Einstellungen schalte ich das Audio der TN beim Betreten des Meetings aus (um zu vermeiden, dass Hintergrundgeräusche zu hören sind). Wenn die TN etwas sagen wollen, können sie jederzeit ihr Audio einschalten. Ich sitze vor dem Bildschirm und mache mich mit einer Begrüßung im Chat bemerkbar, so dass die TN wissen, dass ich da bin, wenn sie mich brauchen.

Das Zusammenkommen der Gruppe wirkt beim Beobachten meist sehr harmonisch und auch choreographisch schön. Ich kann mir die Zeit nehmen, die Gruppenzusammensetzung und die Einzelnen zu beobachten und ich habe das Gefühl, dass diese Zeit auch für die TN schon als eine erste Anwärmung dient. Es besteht für sie die Möglichkeit, mit den Anderen in Kontakt zu treten, mit einer Geste oder mit Worten, aber sie fühlen sich auch frei, sich noch im eigenen Raum zu bewegen, etwas zu trinken oder vorzubereiten, oder auch den Raum zu verlassen. Manchmal hören sie auch entspannt der Musik zu oder eine Person fängt an sich zur Musik zu bewegen und andere machen es nach. Ich merke oft an der Mimik, dass die Musik beim Betreten des Raums eine beruhigte, entspannte Reaktion hervorruft („ich bin verbunden, die Technik funktioniert, ich bin hier richtig, ich habe noch Zeit mich vorzubereiten“). Die erste Kontaktaufnahme geschieht über Mimik und Gestik, so wie oft in der Erwärmungsphase einer psychodramatischen Sitzung, und die TN können bewusst die Anderen und eine erste Gruppenstimmung wahrnehmen.

In einer Soziodrama Sitzung, in der ich Teilnehmerin war, meldete sich in dieser Phase mit Musik der Moderator im Chat und fing das Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ an. Die Hypothesen wurden ebenfalls im Chat geschrieben. Wer den Gegenstand erraten hatte, machte weiter im Spiel. So traten die TN spielerisch in Kontakt zueinander und wagten Einblicke in die private Umgebung der anderen Gruppenmitglieder.

Die erste Kontaktaufnahme beeinflusst auch virtuell, genauso wie das Ankommen in eine Präsenzgruppe, den Einstieg in die Arbeit und die Gefühle der Zugehörigkeit, von Nähe und Distanz in der Gruppe. Daher soll auch die Zeit vor dem offiziellen Anfang einer online Session von der Leitung durchdacht, gestaltet und gehalten werden. Denn schon hier beginnt die psychodramatische Arbeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Beispiel-Ansicht mit Bild für die Teilnehmer beim Betreten des virtuellen Raums vor dem offiziellen Anfang der Sitzung13. Bild: Monica Baudracco-Kastner

2.2.3. Die „Spielregeln“ kommunizieren

In dem Buch Facilitating Collective Intelligence 14 beschreiben die Autorinnen, inspiriert von J.L Moreno und ergänzt mit dem Ansatz von C.G. Jung, 5 Regeln zur Herstellung eines sicheren Gruppenrahmens. Ich werde Hypothesen aufstellen, ob und wie diese Regeln im virtuellen Raum umsetzbar sind.

- Die Regel der Spontanität: jede/r in der Gruppe kann sich einbringen und alles kann angesprochen oder dargestellt werden. Jedes Gruppenmitglied kann Fragen stellen, Ideen einbringen.

Dafür ist es wichtig, dass die Leitung die ganze Gruppe gut im Blick hat und auch Interventionswünsche wahrnimmt. Das ist digital schwieriger als in einer Präsenzgruppe. Mit der Galerieansicht wird die ganze Gruppe auf dem Bildschirm dargestellt, die Bildgröße und Qualität sollte sehr gut sein, um auch die Mimik oder Bewegungsimpulse erkennen zu können. Es kann außerdem ein Zeichen vereinbart werden, um zu signalisieren, dass man etwas sagen möchte. Dies vermeidet das gleichzeitige Lossprechen, bei dem es online schwieriger ist auszuhandeln, wer das Wort hat. In meinen Sprachkursen signalisiert z.B. die offene Hand, dass man eine Frage stellen möchte. Bei Gruppenaktivitäten bzw. in der Reflexionsphase kann das Audio grundsätzlich ausgeschaltet sein und das Einschalten des Mikrophons signalisiert, wer als nächstes sprechen wird.

- Die Regel der Freiheit: Innerhalb einer festgelegten und unvermeidbaren Struktur hat jedes Gruppenmitglied einen persönlichen Spielraum und eine gewisse Freiheit, Vorschläge anzunehmen oder abzulehnen.

Dieses Prinzip wird auch in der digitalen psychodramatischen Arbeit durch die Wortwahl der Anleitungen kommuniziert. So verwendet die Leitung oft den Satz „ich lade euch ein….“, „ich schlage vor…“. Auch verzichtet man in den Gruppenübungen (z.B. bei den Anwärmungen, die in der Galerieansicht stattfinden) auf eine festgelegte Reihenfolge, sodass jeder Teilnehmende sich einbringt, wenn es für ihn passt. Eine Ausnahme sind Übungen, in denen die Person, die gerade dran ist, die nächste aufruft. Auch die Wahl der Protagonisten und Hilfs-Iche auf der Bühne passiert online nach den gleichen Kriterien wie in einer Präsenzgruppe.

[...]


1 Als ausgebildete Trainerin in der PDL (Sprachpsychodramaturgie) von Bernard Dufeu, unterrichte ich Italienisch und Deutsch als Fremdsprache mit Techniken und Settings, die aus dem Psychodrama stammen und für den pädagogischen Bereich angepasst wurden.

2 Buer, 2010, S. 243

3 Mit folgenden Instituten, Organisationen und Verbänden durfte ich erste Erfahrungen mit „Psychodrama online“ sammeln und mich mit Kollegen darüber austauschen: DFP (Deutsches Fachverband für Psychodrama); PIfE (Psychodrama-Institut für Europa Landesverband Deutschland e.V.); Internationaler PDL-Verband; Jörg Jelden, Valentin Heyde und Dirk Bathen von Komfortzonen.de; Aurora Floridia von der Sprachschule acontatto

4 Zoom Video Communications, Inc.

5 Helbig, 2017

6 Darunter versteht man „computergestützte Videokonferenzen, (…) die Echtzeitgespräche basierend auf Audio und Video erlauben“ (Engelhardt, 2018, S. 120)

7 An dieser Stelle möchte ich von einer Empfehlung im Sinne einer bestimmten Software-Lösung Abstand nehmen. Der Markt bietet etliche Plattformen und Lösungen für Videokonferenzen, die in der letzten Zeit besonders intensiv weiterentwickelt und mit zusätzlichen Funktionalitäten versehen werden. Ein Vergleich zwischen verschiedenen Anbietern würde meine Kompetenz und Kenntnis darüber übersteigen und ist nicht Ziel dieser Arbeit. Der Einfachheit halber werde ich mich hier auf die Plattform Zoom beziehen, da ich bisher überwiegend mit diesem Medium gearbeitet und experimentiert habe.

8 Ich verweise hier auf das Informationsschreiben von Zoom vom 23. April 2020 mit angehängtem Datenblatt (Anlage 1)

9 s. Anlage 2: Mustereinladung zu einem online PDL-Italienischkurs

10 s. Anlage 3 und Anlage 4: Technische und organisatorische Informationen im Vorfeld zu einer Veranstaltung vom PIfE (Psychodrama Institut für Europa, Landesverband Deutschland e.V.). Diese Informationen wurden vom PIfE als Anhang zu der Zoom-Einladung verschickt.

11 Hier wird auch auf einen möglichst reizarmen Hintergrund hingewiesen, um dadurch Ablenkung zu vermeiden. Ich mache wiederum immer wieder die Erfahrung, dass die heimische Umgebung und was davon zu sehen ist etwas über die Menschen erzählt und sie authentisch wirken lässt. Ein Buch, ein Bild an der Wand oder eine Lampe können während einer Aktivität auch miteinbezogen werden, bewusst oder unbewusst (z.B. weil Gemeinsamkeiten entdeckt werden) und tragen oft zur Nähe und zum Vertrauen unter den Teilnehmenden oder mit der Leitung bei. Falls eine Arbeit mit Bildern beabsichtigt wird, in der die Funktion „Bildschirmhintergrund“ genutzt werden soll, ist wiederum ein ruhiger, möglichst einfarbiger Hintergrund wichtig, damit die Person und das Bild deutlich erkennbar bleiben.

12 Aus Gründen der Einfachheit und besserer Lesbarkeit wird das Wort Teilnehmende teilweise mit TN abgekürzt

13 Oben rechts im Bild die Galerieansicht. Jeder TN erscheint hier nach Betreten des Meetings mit Video in einer eigenen Kachel, wenn die eigene Kamera eingeschaltet ist (hier ist meine Kameraaufnahme verdeckt).

14 Néve-Hanquet, Crespel, 2020

Excerpt out of 55 pages

Details

Title
Psychodrama goes online. Möglichkeiten virtueller psychodramatischer Arbeit für Training und Beratung
College
MORENO Institute Stuttgart
Author
Year
2020
Pages
55
Catalog Number
V987681
ISBN (eBook)
9783346349279
ISBN (Book)
9783346349286
Language
German
Keywords
Psychodrama, online, Weiterbildung, Beratung, Digitalisierung, szenisch-kreatives Arbeiten, Seminargestaltung, Methoden, PDL
Quote paper
Monica Baudracco-Kastner (Author), 2020, Psychodrama goes online. Möglichkeiten virtueller psychodramatischer Arbeit für Training und Beratung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/987681

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