Die Entstehung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung in der frühen Kindheit

Unterstützungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit durch stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen


Bachelorarbeit, 2019

58 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Bindung zwischen Mutter und Kind
2.1 Bindungstheorie
2.2 Determinanten einer sicheren Mutter-Kind-Bindung
2.3 Folgen unsicherer Bindungsbeziehungen im frühen Kindesalter

3 Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen
3.1 Rechtliche Grundlagen
3.2 Auftrag und Leistungssp ektrum

4 Einflussmöglichkeiten der Sozialen Arbeit auf die Mutter-Kind-Bindung
4.1 Arbeitsbeziehung zwischen Bezugsbetreuerin und Klientin
4.2 Handlungsoptionen
4.2.1 Vorhandene Programme
4.2.2 Konzeptualisierung in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang
A Übersicht von Interventionsprogrammen
B PBQ
C Leitfaden zur Auswertung der Videosequenzen

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Feinfühligkeitsskala (Ziegenhain et al. 2015)

Tab. 2: Übersicht Interventionsprogramme

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„Mutterliebe [...] ist auf jeden Fall der Ausgangspunkt für eine Beziehung, die für Neugeborene und Säuglinge nicht nur lebenswichtig, sondern auch lebensprägend ist.“ (Ahnert 2011, S. 25)

Die Wahrscheinlichkeit, dass Mütter ihr eigenes Bindungsmuster an ihre Kinder weitergeben, liegt bei bis zu 85 % (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2017, S. 95). Da bei unsicheren Bindungsstilen nachhaltige Folgen wie emotionale oder soziale Störungen nicht selten vorkommen, ist der Anteil an unsicher gebundenen Mutter-Kind-Dyaden in klinischen und sozialen Arbeitsbereichen dementsprechend hoch. Wenn die Beziehung der Dyade schwerwiegend gestört ist und die Versorgung des Kindes nicht mehr sichergestellt werden kann, ist eine Trennung oftmals unumgänglich. In solchen Fällen müssen die betroffenen Kinder außerhäuslich untergebracht werden. 2016 gab es in Deutschland rund 230000 Kinder, die in Pflegefamilien, Kinderheimen oder sonstigen betreuten Wohnfor- men untergebracht werden mussten (vgl. Nöthen 2018, S. 71). Eine Hilfeleistung in Form einer stationären Mutter-Kind-Einrichtung kann die Möglichkeit bieten, eine Trennung zu vermeiden und die Mütter beim Aufbau einer sicheren Bindung zu ihrem Kind zu unterstützen. Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen bieten hierzu eine gute Plattform, indem sie eine enge Betreuung und intensive Zusammenarbeit gewährleisten und zudem praktische Hilfestellungen im alltäglichen Miteinander zulassen.

Es existieren zwar bereits Interventionsprogramme, welche die Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Kind verbessern sollen, diese sind aber überwiegend für andere Kontexte wie ambulante Settings oder Hebammenpraxen ausgelegt und lassen eine intensive Alltagsbetreuung nicht zu. Resultierend aus diesen Überlegungen ergibt sich für die vorliegende Arbeit die Fragestellung, wie die Soziale Arbeit zur Entwicklung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung im Kontext stationärer Mutter-Kind-Einrichtungen beitragen kann.

Um dies klären zu können, wird zunächst die Bindungstheorie erläutert und dabei auf die untergeordnete Fragestellung dieser Arbeit eingegangen, welche Faktoren eine sichere Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Kind beeinflussen. Anschließend werden die Folgen unsicherer Bindungsmuster in der frühen Kindheit benannt. Das Aufgabenspektrum sowie gesetzliche Grundlagen stationärer Mutter-Kind-Einrichtungen werden im nächsten Schritt vorgestellt und abschließend folgt der Kernpunkt dieser Arbeit: Es werden Möglichkeiten beleuchtet, wie die Soziale Arbeit die Entstehung einer sicheren Mut- ter-Kind-Bindung im Rahmen stationärer Mutter-Kind-Einrichtungen unterstützen kann.

Die Gestaltung der Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Klientin und die Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Interventionsprogrammen dienen als theoretische Vorüberlegungen, die in einem von der Autorin entwickelten theoretischen Konzept münden. Dieses Konzept, welches als Basis die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bindungstheorie nutzt, stellt einen Entwurf für die Umsetzung in stationären Mutter-KindEinrichtungen dar.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit an den Stellen, wo die Personengruppen überwiegend von Frauen geprägt sind, die weibliche Form verwendet. Es sind jedoch immer Personen beiderlei Geschlechts angesprochen.

2 Die Bindung zwischen Mutter und Kind

2.1 Bindungstheorie

Die Bindungstheorie wurde in den 1950er Jahren von John Bowlby entwickelt und von der Entwicklungspsychologie, der Klinischen Psychologie sowie der Psychobiologie aufgegriffen. Es folgten zahlreiche Studien, welche die theoretischen Überlegungen Bow- lbys überprüfbar machten. Die Erkenntnisse, die durch seine Forschungsergebnisse erlangt wurden, fanden wiederum Einzug in die Klinische Psychologie und bilden dort, wie auch für schulenunabhängige Therapien, bis heute eine Grundlage für wirksame Interventionen (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 25 ff.). Es ist ersichtlich, dass der Grundstein, der durch Bowlbys Arbeit gelegt wurde, zu weitreichenden Auswirkungen sowohl auf die theoretische, als auch auf die praktische Psychologie geführt hat. Nachfolgend wird ein knapper Einblick in die geschichtliche Weiterentwicklung der Bindungstheorie gegeben, bevor anschließend detaillierter auf den Kern sowie die bedeutendsten Konzepte der Bindungstheorie eingegangen wird.

Die ersten empirischen Forschungen zur Bindungstheorie im frühen Kindesalter wurden von Mary D. S. Ainsworth mit ihren Felduntersuchungen in Uganda vorgenommen (vgl. Ainsworth 1967). Später folgten Studien in häuslicher Umgebung, welche schließlich mithilfe der standardisierten Laborsituation „Fremde Situation“ validiert wurden. Dieser Test dient noch heute dazu, die Erwartungen, die Kleinkinder in Bezug auf die Empfänglichkeit bzw. Erreichbarkeit ihrer Mütter in Trennungssituationen haben, zu untersuchen. Die in dem „Fremde-Situations-Test“ (FST) beobachteten Verhaltensmuster nannte Ainsworth „Bindungsqualitäten“. Inwiefern diese Bindungsqualitäten Einfluss auf das Bindungsverhalten im Lebenslauf haben, wurde in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten in Langzeituntersuchungen durch andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 34 f.), wie zum Beispiel Howard und Miriam Steel, Gottfried Spangler oder Karin und Klaus Grossmann untersucht (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 87 ff.). Nach dem FST wurde von Mary Main das „Adult Attachement Interview“ (AAI) entwickelt, das zur Erfassung der frühen Bindungserfahrungen und - repräsentationen Erwachsener dient und im psychologischen Bereich häufig verwendet wird (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 87). Ainsworth entwickelte in den 1970er Jahren zusammen mit Sylvia M. Bell und Donelda J. Stayton vier Skalen, mit denen sich das

Maß an feinfühligem Verhalten der Mutter ihrem Kind gegenüber bestimmen lässt (vgl. Ainsworth/Bell/Stayton 2015, S. 250). Ausführlicher wird darauf in Kapitel 4.2.2 eingegangen. Brockington et al. entwickelten 2001 den „Postpartum-Bonding-Questionnaire“ (PBQ), mit dessen Hilfe sich Probleme in der Beziehung zwischen Mutter und Kind erfassen lassen (vgl. Brockington et al. 2001, S. 133 ff.). Des Weiteren entstand aus den bindungstheoretischen Erkenntnissen das Prinzip des „Rooming-in“, welches die gemeinsame Unterbringung in einem Zimmer von Müttern und ihren Kindern während eines Krankenhausaufenthaltes beinhaltet (vgl. Bestle-Körfer 2010).

Nachfolgend werden die Kernaussagen der Bindungstheorie dargelegt. Die Theorie untersucht die „gesunde“ Mutter-Kind-Bindung. Bowlby ging davon aus, dass das Bedürfnis nach Geborgenheit, Nähe und Liebe in jedem Menschen von Geburt an vorhanden ist. Das Erleben der Fürsorge vertrauter Personen steht seiner Ansicht nach mit positiven Gefühlen in Zusammenhang und dient dem Überleben sowie einer gelungenen Anpassung (vgl. Bowlby 2011, S. 21 ff.). Mittlerweile wurden diese Annahmen durch die Neuropsy- chologie bestätigt (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 67). Gesunde Säuglinge neigen dazu, die Nähe einer vertrauten Bezugsperson zu suchen. Um das zu erreichen, zeigen sie „Bindungsverhaltensweisen“ (vgl. Bowlby 2011, S. 22 f.).

„Unter ,Bindungsverhalten‘ verstehe ich jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen oder zu bewahren, ein Verhalten, das bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und entsprechendem Zuwendungs- oder Versorgungsbedürfnis am deutlichsten wird.“ (Bowlby 2010a, S. 21)

Gesunde Erwachsene wiederum neigen dazu, diesem Bedürfnis gerecht zu werden, dem Säugling diese Zuwendung zu geben und ihm Schutz zu spenden. Bowlby nannte dies „Fürsorgeverhalten“ (vgl. Bowlby 2011, S. 23).

„Bei der Geburt ist das Kind mit einem Verhaltensrepertoire ausgestattet, das Nähe zu einer bemutternden Person fördert. Am meisten sticht aus diesem Repertoire das Signalverhalten hervor, das dazu dient, fürsorgliches Verhalten zu aktivieren, und das die bemutternde Person zu größerer Nähe veranlasst, wie z. B. Weinen.“ (Ainsworth 2015, S. 318)

Neben der Funktion des Überlebens, Schutz- und Trost-Erhaltens hat das Bindungsbedürfnis eine psychologische Funktion. In den ersten Lebensjahren sind Kinder noch nicht oder nur bedingt zur Selbstregulation fähig und deshalb auf ihre Bezugspersonen angewiesen, um ihre Emotionen zu regulieren (vgl. Spangler/Reiner 2017, S. 25 f.). Sind die Erfahrungen, die das Kind in seinem ersten Lebensjahr mit seinen Bezugspersonen macht, zuverlässig, so kann ein Gefühl der Bindung entstehen (vgl. Rass 2012, S. 34 f.). Anhand der Qualität der erlebten Erfahrungen werden bestimmte Erwartungen an die

Bezugspersonen entwickelt, ob und wie sie bei negativen Erlebnissen verfügbar sind. Diese mentalen Repräsentationen werden verinnerlicht und abgespeichert. Bowlby be- zeichnete sie als „innere Arbeitsmodelle“ (vgl. Spangler/Reiner 2017, S. 25 f.).

Die Art und Weise, in der das Bindungsverhalten internal organisiert ist, beeinflusst, wann und in welcher Intensität Bindungsverhalten aktiviert wird und welche individuellen Verhaltensmuster gezeigt werden (vgl. Ainsworth 2015, S. 319). Je älter das Kind ist, umso schwieriger lässt sich die Organisation des Bindungsverhaltens und -denkens verändern. Intensiv erlebte Ereignisse können zwar mitunter substituiert werden, sehr schwerwiegende negative Ereignisse in Bindungsbeziehungen verändern das innere Arbeitsmodell eines Kindes jedoch meist hin zu mehr Unsicherheit. Eine konstruktive Aufarbeitung der verinnerlichten Erfahrungen ist zudem sehr langwierig und anstrengend (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 447 ff.).

Bowlbys Theorie besagt, dass Kleinkinder mindestens zwei Verhaltenssysteme zeigen, die im Normalfall ein dynamisches Gleichgewicht bilden und von denen jeweils nur eines aktiv sein kann: Zum einen das bereits erwähnte Bindungsverhaltenssystem und zum anderen das „Explorationsverhaltenssystem“. Bindungsverhalten ist zur Herstellung von Nähe zu den Bindungspersonen zuständig, Explorationsverhalten dient der Erkundung der Umwelt und dem Erlernen von Neuem und Unbekanntem. Nur wenn Kinder sich der Fürsorge ihrer Bezugspersonen sicher sind, wird der Explorationsdrang ausgelebt (vgl. Bowlby 2011, S. 21 ff.). Es gibt unterschiedliche Faktoren, die das Gleichgewicht zwischen beiden Systemen entweder hin zum Bindungs- oder zum Explorationsverhalten verschieben können. Solche Faktoren können in der Umwelt oder im Individuum selbst liegen. So wird Bindungsverhalten zum Beispiel durch Beunruhigung und absehbare oder tatsächliche Trennung von der Bindungsperson ausgelöst. Zu starkes Bindungsverhalten verhindert jedoch die Entwicklung des Kindes, da kaum bzw. keine Exploration der Umwelt stattfinden kann. Ein ausgeglichenes Gleichgewicht zwischen beiden Systemen ist deshalb eine Voraussetzung für eine gesunde kognitive Entwicklung und Kompetenzentwicklung des Kindes (vgl. Ainsworth/Bell 2015, S. 232).

Ainsworth ergänzte und belegte Bowlbys Theorie, wie bereits erwähnt wurde, mit ihren Studien über das Verhalten von Kleinkindern beim Verlassen und Wiederkehren ihrer Mütter und setzte sie in Form des FST erstmals empirisch um. Beim FST wird in einem vorbereiteten Raum die Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems provoziert. Hierfür muss die primäre Bindungsperson des Kindes den Raum verlassen, das Kind bleibt mit einer fremden Person zurück. Die Reaktionen des Kindes beim Weggehen und bei der Wiederkehr seiner engsten Bezugsperson sind entscheidend für die Einordnung des Bindungstyps (vgl. Kirchmann/Singh/Strauß 2017, S. 102 f.). Ainsworth teilte die Möglichkeiten, wie ein Kind an seine primäre Bezugsperson gebunden sein kann, anhand ihrer Beobachtungen beim FST in drei Kategorien ein: „Sicher gebundene“, „unsicher-vermei- dend gebundene“ und „unsicher-ambivalent gebundene“ Kinder. Sicher gebundene Kinder zeigen deutliche Reaktionen beim Verlassen der Bindungsperson und lassen sich nach ihrer Wiederkehr bereitwillig von ihr trösten. Eine Beruhigung sowie eine Rückkehr zum Explorationsverhalten erfolgen schnell. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder zeigen kaum Reaktionen bei der Trennung, bei der Rückkehr ihrer Bezugsperson verhalten sie sich meist ablehnend und ignorierend, auch ein Wunsch nach Körperkontakt ist nicht erkenntlich. Trotz des unbeteiligten Anscheins lassen sich auf physischer Ebene starke Stressreaktionen wie ein schneller Herzschlag und ein erhöhter Kortisolspiegel nachweisen. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder bringen bei der Trennung von der Bezugsperson ängstliches Verhalten zum Ausdruck, eine Beruhigung ist anschließend kaum möglich. Bei der Rückkehr der Bezugsperson verhalten sie sich jedoch äußerst ambivalent: Einerseits suchen sie Nähe, andererseits wehren sie die Nähe durch Strampeln oder Schlagen ab und lassen sich auch nach einem längeren Zeitraum nicht beruhigen (vgl. Rass 2012, S. 35 f.). Eine vierte Kategorie, namentlich die des „unsicher-desorganisier- ten/desorientierten“ Bindungsmusters, wurde erst deutlich später durch Main und Judith Solomon hinzugefügt (vgl. Trost 2018, S. 113). Die Kinder, die dieser Kategorie zugeordnet werden, weisen eine Kombination aus verschiedenen Bindungstypen auf. Sie zeigen inkongruente Reaktionen und unvorhersehbare Verhaltensweisen, wie zum Beispiel das Hin- und Herwippen des eigenen Körpers oder stereotype Bewegungen. Sie rufen nach ihrer engsten Bezugsperson, wenden sich bei deren Erscheinen aber ab oder erstarren. Trost und Schutz können sie nicht finden. Die Bezugsperson wird eher als Bedrohung angesehen, die kindliche Verhaltensorganisation versagt an dieser Stelle (vgl. Rass 2012, S. 35 f.).

Ein weiterer Verdienst, der Ainsworth zukommt, ist das „Konzept der Feinfühligkeit“. 1974 von ihr begründet umfasst es vier Komponenten. Um feinfühlig auf das Kind einzugehen, müssen dessen Signale und Kommunikationsangebote erstens wahrgenommen, zweitens richtig interpretiert, drittens angemessen (der Situation, dem Entwicklungsstand sowie den Bedürfnissen des Kindes entsprechend) und viertens prompt beantwortet werden (vgl. Ainsworth/Bell/Stayton 1979, S. 99 ff.). Andere Begriffe, die häufig synonym zur Feinfühligkeit verwendet werden, sind „emotional unterstützende Responsivität“ oder „Sensitivität“ (vgl. Remsperger 2011, S. 115).

Feinfühliges mütterliches Verhalten hat, wie in den nachfolgenden Kapiteln noch vertieft werden wird, einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung einer sicheren Mutter-KindBindung. Aus diesem Grund werden die einzelnen Komponenten der Feinfühligkeit nun genauer erläutert. Zwei Aspekte bestimmen, ob Mütter die Signale ihres Kindes wahrnehmen können oder nicht. Zunächst einmal müssen die Bezugspersonen für die Signale empfänglich und erreichbar sein; ein Teil ihrer Aufmerksamkeit muss also auf das Kind gerichtet sein. Weiterhin muss das kindliche Verhalten die Wahrnehmungsschwelle der Mütter überschreiten. Feinfühlige Bezugspersonen nehmen die Signale zeitig wahr, wenig feinfühlige Bezugspersonen deutlich später oder überhaupt nicht (vgl. Hänggi/Schweinberger/Perrez 2011, S. 60). Um die Zeichen im nächsten Schritt richtig interpretieren zu können, müssen sie von dem Standpunkt des Kindes aus wahrgenommen werden und frei von Verzerrungen sein. Mütter dürfen die Signale ihres Kindes folglich nicht mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen verwechseln oder vermischen. Es bedarf an Verständnis für die kindliche Perspektive sowie die Fähigkeit, sich in deren Lage zu versetzen. Außerdem muss mütterliches Verhalten zeitlich auf die Reaktionen des Kindes abgestimmt, also prompt sein. Hierbei ist anzumerken, dass die Promptheit an Bedeutung verliert, sobald das Kind älter wird und sich im Zuge dessen zunehmend besser selbst regulieren kann. Im Umkehrschluss muss umso schneller auf die Signale des Kindes reagiert werden, je jünger es ist. Das ist damit zu begründen, dass Babys nur dann einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und den Reaktionen den Bezugspersonen bzw. der Umwelt herstellen können, wenn diese Reaktion unmittelbar erfolgt (vgl. Hédervâri-Heller 2003, S. 113 f.).

„Sensitivität wird [...] verstanden als ein Interaktionsverhalten, das auf kindliche Bedürfnisse nach Bindung sowie Exploration reagiert, indem kindliche Signale, Stimmungen, aber auch Spielinteressen wahrgenommen werden und darauf sowohl sprachlich als auch nonverbal prompt und angemessen reagiert wird.“ (Linberg/Freund/Mann 2017, S. 29 f.)

2.2 Determinanten einer sicheren Mutter-Kind-Bindung

Alle Mütter bekommen ein ihnen zunächst unbekanntes Kind; jedes Neugeborene weist individuelle, konstitutionelle Unterschiede auf. Mütter und ihre Neugeborenen müssen sich also erst einmal kennenlernen und eine Bindung zwischen sich aufbauen. Weshalb eine sichere Bindung wichtig ist und welche Faktoren die Entstehung einer sicheren Bindung zwischen Mutter und Kind bedingen, wird in diesem Kapitel erläutert.

Der Säugling ist nach der Geburt in seiner Existenz vorerst vollkommen abhängig von seiner Umwelt und den Personen, die für ihn sorgen. Das Neugeborene macht all seine alltäglichen Erfahrungen und Interaktionen in Abhängigkeit von seinen Bezugspersonen und entwickelt darauf aufbauend Verhaltensmuster und Erwartungen an deren Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Zuverlässigkeit (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 164). Aus diesem Grund wird dem Verhalten dieser Personen eine besonders große Bedeutung zugesprochen:

„Säuglinge und Kleinkinder entwickeln nahezu alle Fähigkeiten im Kontext der Beziehungen zu ihren Fürsorgepersonen, daher stellt die Qualität dieser Beziehung eine Grundvoraussetzung der menschlichen Entwicklung dar.“ (Gloger-Tippelt 2008, S. 128)

In den ersten Lebensmonaten des Kindes bezieht sich die Beziehungsgestaltung vorrangig auf die Befriedigung regulatorischer Bedürfnisse, da der Säugling noch nicht zur Selbstregulation fähig ist (vgl. Ahnert 2011, S. 39 f). Die Fürsorgepersonen des Säuglings müssen ihm also helfen, sein homöostatisches Gleichgewicht zu regulieren und seine Erregungszustände zu bewältigen. Das Kind muss außerdem erleben, dass die Fürsorge zuverlässig und stabil ist. Nur so können eine sichere Bindungsbeziehung sowie Erfahrungen entstehen, die zu einem stabilen inneren Fundament führen (vgl. Rass 2012, S. 28).

Anhand der Erfahrungen, die Kinder mit ihren engsten Bezugspersonen machen, insbesondere bei Not oder Äußerung des Bedürfnisses nach Nähe, werden sie zukünftig abschätzen, ob sie wertvoll genug sind, um beschützt und umsorgt zu werden. Darauf basierend entwickelt sich ein (ggf. unzureichendes) Selbstwertgefühl, welches eng mit dem inneren Arbeitsmodell von Bindung verknüpft ist. Das innere Arbeitsmodell wiederrum wirkt sich nachhaltig auf die weitere Entwicklung und weitere Bindungsbeziehungen des Kindes aus. Demzufolge entfaltet sich das Entwicklungspotenzial mit verlässlichen Bindungspersonen besser, als mit unzuverlässigen (vgl. Ahnert 2011, S. 47). Sichere Bindungserfahrungen bieten also einerseits Sicherheit und Schutz, andererseits stellen sie den Ausgangspunkt für Explorationsprozesse dar (vgl. Gahleitner 2017, S. 249 f). Grossmann und Grossmann (vgl. 2012, S. 205) unterscheiden sichere Bindung von sicherer Exploration und nennen letztere das „Konzept der psychischen Sicherheit“. Dieses sei eine günstige Voraussetzung für den späteren flexiblen Umgang mit Anforderungen. Der psychischen Sicherheit (im Sinne von sicherer Exploration) wird ein besonders hoher Stellenwert in der Entwicklung von Kindern zugewiesen, da aus evolutionsbiologischer Sicht für eine gesunde Entwicklung sowohl die Sicherheit, die aus dem nahen Kontakt zu Bindungspersonen heraus entsteht, als auch ein neugieriges Erkunden der Umwelt nötig sind. Nur ohne Angst ist der Erwerb neuer Fähigkeiten, ein konstruktiver Umgang mit Problemen und das Sammeln neuer Erfahrungen möglich. Zudem kann Angstfreiheit nur auf der Grundlage psychischer Sicherheit entstehen. Damit dies möglich ist, müssen die Bezugspersonen schützend zur Verfügung stehen sowie bei inneren oder äußeren Belastungen emotional für das Kind da sein (vgl. Grossmann/Grossmann 2012, S. 661 f.). Gleichzeitig sollte es in seinem Explorationsverhalten unterstützt und ermutigt werden (vgl. Bowlby 2010a, S. 9 f.). Das Gefühl der psychischen Sicherheit kann also zu einer verlässlichen Basis werden, „[...] von der aus Kinder ,auf Entdeckung‘ gehen, die sie aber auch jederzeit wieder aufsuchen können, in der Gewissheit, willkommen zu sein, etwas zu essen zu bekommen, verstanden, getröstet und bei Ängsten beruhigt zu werden“ (Bowlby 2010a, S. 9). Diese bindungstheoretischen Überlegungen lassen sich ausweiten auf das soziale Netzwerk und die soziale Unterstützung der Kinder: Die internale Erwartungshaltung, ob sie es wert sind, in schwierigen Situationen Halt und Unterstützung zu erfahren, wird sich im Laufe ihres Lebens neben den primären Bezugspersonen auch an das soziale Umfeld richten und somit eine wichtige Komponente ihres späteren Soziallebens darstellen (vgl. Gahleitner 2017, S. 249 f.).

Babys können sich, wie bereits erwähnt wurde, noch nicht allein regulieren, aber sie sind bereits von Anfang an in der Lage, ihre Bedürfnisse mit einer Vielzahl von Signalen auszudrücken, die entweder nur fein, oder auch sehr deutlich sein können. Säuglinge machen bereits nach kurzer Zeit erste Kommunikationsangebote. Wenn die betreuenden Personen differenziert darauf reagieren, entsteht schon nach kurzer Zeit ein individuelles Interaktionsverhalten, das wechselseitig Bezug nimmt (vgl. Ahnert 2011, S. 7). Insbesondere eine kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge spielt beim Verhalten der Bezugspersonen eine beachtliche Rolle für die seelisch gesunde Entwicklung eines Kindes. Neben der Beachtung zentraler psychischer und physischer Bedürfnisse wird durch Feinfühligkeit ein Grundstein gelegt für das Gefühl emotionalen und sozialen Aufgehoben-Seins (vgl. Rass 2012, S. 39 f.). Auch Grossmann und Grossmann (2012, S. 164) zeigen auf, dass für ein Gefühl der Sicherheit in der Beziehung zur Mutter „feinfühlige, den Säugling als Individuum respektierende und liebevoll schützende Interaktionen“ nötig sind. Ob eine Mutter sensitives Verhalten zeigen kann oder nicht, wird von verschiedenen Eigenschaften modelliert. Relevant sind in diesem Zusammenhang Charakteristika, welche ganz im Sinne des Konzeptes der Feinfühligkeit (vgl. Ainsworth et al. 1979, S. 99 ff.) die Fähigkeit beeinflussen, kindliche Signale wahrzunehmen, richtig zu deuten sowie angemessen und prompt darauf einzugehen. Hier sind zum Beispiel psychisches Wohlbefinden, das Alter der Mutter oder ihre verinnerlichten Bindungsrepräsentationen zu nennen. Auch Merkmale des Kontextes können das Zustandekommen sensitiver Interaktionen beeinflussen: Ein geringes Einkommen und finanzielle Sorgen stehen im Zusammenhang mit vermindertem sensitivem Verhalten der Bezugsperson. Hohe sozio-ökonomische Ressourcen hingegen bewirken mehr Feinfühligkeit im mütterlichen Verhalten. Die Familienzusammensetzung spielt insofern eine Rolle, als dass die Anwesenheit eines unterstützenden Partners oder Umfeldes die mütterliche Sensitivität begünstigt (vgl. Linberg et al. 2017, S. 33 ff.).

Ein weiteres Verhaltensmerkmal, welches feinfühlige Bezugspersonen aufweisen, ist, dass sie erst dann auf die Bedürfnisse und Signale ihres Schützlings reagieren, wenn dieser danach verlangt. Störende Eingriffe in die Selbstbestimmung des Kindes wie unverlangtes Küssen, Anfassen oder Hochnehmen, werden unterlassen. Sensitive Bezugspersonen haben ein Bewusstsein darüber, dass sie nicht über den Körper ihres Kindes verfügen, was nicht heißen soll, dass sie keine Angebote machen, sondern nur, dass sie wenig tun, nach dem das Kind nicht verlangt. Eine Ausnahme stellt der Schutz vor Gefahren, beispielsweise im Straßenverkehr, dar. Hier sind Eingriffe auch gegen die Wünsche und aktuellen Bedürfnisse des Kleinkindes erforderlich. Durch solch ein generell wenig kon- trollierend-eingreifendes Verhalten vonseiten der Bezugspersonen wird die Autonomie und Selbstbestimmung des Kindes gefördert. Um eine sichere Mutter-Kind-Bindung zu gewährleisten, sollte es den Müttern darüber hinaus nicht darum gehen, ihre eigenen Bedürfnisse von dem Kind erfüllen zu lassen, sondern vielmehr darum, unabhängig der eigenen Befindlichkeiten auf die Bedürfnisse ihres Kindes zu reagieren (vgl. Gross- mann/Grossmann 2012, S. 123). Sensitivität bezieht sich zudem nicht nur auf das Bindungsbedürfnis, sondern auch auf die Exploration im Sinne einer „Spielfeinfühligkeit“. In der frühen Kindheit bedeutet Spielfeinfühligkeit vor allem ein Eingehen auf kindliche Interessen sowie „[...] die Unterstützung bei der Bewältigung eines Ziels so anzupassen, dass das Kind weder unter- noch überfordert ist“ (Linberg et al. 2017, S. 29 f.). Zusät- leitzlich sollte mütterliches Verhalten dem Kind gegenüber von „Reaktivität“ gekennzeichnet sein. Darunter wird verstanden, dass der Aufmerksamkeitsfokus innerhalb von wenigen Sekunden auf das Kind umgelenkt werden kann und dementsprechend das derzeitige Verhalten abgebrochen, aufgenommen oder geändert wird, um die Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen (vgl. Asisi 2015, S. 62 f.).

In einer Langzeitstudie von Laucht, Esser und Schmidt (vgl. 2000, S. 246 ff.) zeigte feinfühliges und zuverlässiges mütterliches Verhalten im Säuglingsalter positive Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes, wie zum Beispiel bessere kognitive Leistungen, die bis ins Alter des Kindes von acht Jahren anhielten. Des Weiteren legten die Autoren in der Fortsetzung ihrer Studie dar, dass Kinder, die im Säuglingsalter eine positive MutterKind-Interaktion erlebt haben, seltener emotionale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Ainsworth fand in Längsschnittstudien heraus, dass Mütter mit einem hohen Maß an Feinfühligkeit signifikant häufiger sicher gebundene Kinder haben, was mittlerweile mehrfach erneut untersucht und bestätigt wurde (vgl. Spangler/Reiner 2017, S. 33). Auch Brisch (vgl. 2003, S. 55 f.) konstatiert, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in ihrem ersten Lebensjahr eine sichere Bindung entwickeln, groß ist, insofern die Bindungspersonen ihre Signale und Bedürfnisse feinfühlig und den kindlichen Bedürfnissen entsprechend beantworten.

Um zu den eigenen Kindern eine sichere Bindungsbeziehung aufzubauen, bedarf es neben der Feinfühligkeit auch anderer Kompetenzen. Einen großen Einfluss auf das Zustandekommen einer sicheren Mutter-Kind-Bindung hat der mütterliche Bindungsstil, der sich wiederum auf den Bindungsstil des Kindes auswirkt (vgl. Gahleitner 2017, S. 92). Erwachsene, die als Kind unter Missbrauch, Vernachlässigung oder emotionaler Deprivation litten und als Konsequenz einen unsicheren Bindungsstil entwickelten, können als Eltern meist nicht gut für ihre Kinder sorgen, da sie das nie gelernt haben und die negativen Repräsentationen der eigenen Bindungserfahrungen tief verankert und meist nicht aufgearbeitet sind. Werden die Kinder unsicher gebundener Eltern wiederum selbst zu Eltern und behandeln ihre Kinder auf dieselbe Art und Weise, wie sie behandelt wurden, entsteht ein Teufelskreis (vgl. Bowlby 2010b, S. 67; vgl. Buchheim 2017, S. 154 f). Dieses Phänomen wird als transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern bezeichnet (vgl. Gahleitner 2017, S. 92).

„Das heißt, sicher gebundene Mütter haben in der Regel auch sicher gebundene Kinder und Mütter mit unsicheren, desorganisierten eigenen Bindungserfahrungen in der Kindheit haben auch eher Kinder mit unsicheren oder desorganisierten Bindungsmustern. Die Bindungsdisposition von Mutter und Kind weist eine Übereinstimmung von bis zu 85 % auf.“ (Lenz/Wiegand-Grefe 2017, S. 95)

Die verinnerlichten Bindungsrepräsentationen der Mütter haben demzufolge einen beachtlichen Einfluss auf die Qualität der Mutter-Kind-Bindung. Die Fürsorgepersonen sollten deshalb Defizite in ihrer Selbstentwicklung, wie beispielsweise eigene Missbrauchserfahrungen, verarbeitet haben, um ihren Kindern eine sichere Bindungsbeziehung zu ermöglichen. Empathie, Feinfühligkeit und affektive Abstimmung auf das Empfinden des Kindes sind für sichere Bindungsbeziehungen nötig. Diese Eigenschaften können nur gezeigt werden, wenn die Bezugspersonen sich auf ihr Kind konzentrieren können und wenn sie Brüche in ihrem eigenen Lebenslauf verarbeitet haben (vgl. Rass 2012, S. 38 ff.).

„Elterliche Empathie ist nicht nur ein vorübergehendes Eintauchen in die Welt des Kindes, sondern eine andauernde Fähigkeit, das Kind in seiner besonderen Art zu erkennen und es vor potenziell destruktiven Entwicklungen zu schützen.“ (Rass 2012, S. 40)

Damit die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gelingen kann, ist eine Auseinandersetzung mit den meist schmerzhaften Erfahrungen unumgänglich. Die eigenen Verhaltensmuster und Bindungsrepräsentationen sollten ergründet und ein konstruktiverer Umgang damit gefunden werden. Ohne psychologische bzw. therapeutische Hilfe ist dies kaum möglich (vgl. Suess/Kißgen 2008, S. 147 ff.).

Auch das Kind trägt zu der Bindungsbeziehung zwischen sich und seiner Bezugsperson bei. Die kindliche Vokalisation spielt eine Rolle, weil hierüber insbesondere in der vorsprachlichen Zeit kindliche Empfindungen, Bedürfnisse, Lautäußerungen und Signale ausgedrückt und gesendet werden. Je häufiger ein Kind (positiv) vokalisiert, umso häufiger und leichter können die Eltern das Kind vokal stimulieren und auf seine Signale reagieren und eingehen (vgl. Asisi 2015, S. 65 f.). Ein weiteres Merkmal des Interaktionsgeschehens vonseiten des Kindes ist dessen Reaktivität. Gemeint ist die Art und Weise, wie schnell und deutlich das Kind auf das Verhalten der Mutter reagiert. Goldberg (vgl. 1977, S. 163 f.) definiert die kindliche Reaktivität als eine deutliche, schnelle Reaktion auf das Verhalten der Eltern. Die Reaktivität des Kindes beeinflusst wiederum den Interaktionsprozess, denn sie gibt den Bezugspersonen eine Rückmeldung über ihr Verhalten (angemessen oder nicht), erleichtert ihnen das Verständnis der kindlichen Signale, moduliert Gefühle von Bindung und Kompetenz sowie die Anzahl der Bemühungen, eine kindliche Reaktion hervorzurufen. Kinder, die sehr responsiv sind, zeigen ihre Bedürfnisse klarer und machen es dadurch den Müttern leichter, ihre Reaktionen zu lesen und zu antizipieren (vgl. Asisi 2015, S. 65). Auch das Temperament des Kindes beeinflusst das Verhalten seiner Bezugspersonen. So geht eine generell hohe Wutanfälligkeit oder ein negatives Gefühlsleben des Kindes mit verminderter Feinfühligkeit der Mutter einher (vgl. Linberg et al. 2017, S. 32).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine sichere Mutter-Kind-Bindung zu einem großen Teil von dem Verhalten und der Zuwendung der Mutter abhängt. Zwar spielen Eigenschaften des Kindes, wie zum Beispiel seine Reaktivität oder sein Temperament, ebenfalls eine Rolle, doch diese Faktoren sind nicht in einem determinierenden Maß ausschlaggebend für das Zustandekommen einer sicheren Bindung. Der Beitrag der Mutter ist für die Qualität der Bindungsbeziehung der Mutter-Kind-Dyade deutlich entscheidender, als der Beitrag des Kindes (vgl. Ainsworth et al. 2015, S. 250 f.). Esser et al. (vgl. 1993, S. 150 f.) gehen sogar so weit zu sagen, dass sich in der frühen Mutter-Kind-Inter- aktion bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes negatives (ablehnendes, vernachlässigendes) Verhalten nur aufseiten der Mutter findet, und nicht beim Kind. Eine sichere Bindung kann also dann gut entstehen, wenn die Fürsorge der Mutter von Zuverlässigkeit, Stabilität und Reaktivität gekennzeichnet ist. Die Bedeutung mütterlicher Feinfühligkeit kann zudem als signifikanter Faktor bei der Entstehung einer sicheren Bindung zwischen Mutter und Kind bezeichnet werden. Durch feinfühliges Verhalten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass eine sichere Bindung entstehen kann. Darüber hinaus treten bei Kindern, die eine feinfühlige Behandlung erfahren, seltener Verhaltensstörungen auf und sie verfügen über eine bessere Emotionsregulation.

Die Erkenntnisse über die signifikante Bedeutung des mütterlichen Interaktionsverhaltens führen dazu, dass in dieser Arbeit vorwiegend das Verhalten der Mütter fokussiert wird. Sowohl in Bezug auf die Arbeitsbeziehung zwischen Fachkräften und Bewohnerinnen, als auch bezüglich der Konzeptualisierung in stationären Mutter-Kind-Einrichtun- gen, wird das Verhalten des Kindes weitgehend ausgeklammert.

2.3 Folgen unsicherer Bindungsbeziehungen im frühen Kindesalter

„Der Säugling erfährt durch seine Mitteilungen, daß er, im Interesse seiner Lebensbedürfnisse, mehr oder weniger wirkungsvoll auf seine Bindungspersonen, die der wichtigste Teil seiner Umwelt sind, einwirken kann.“ (Grossmann 2015, S. 213)

Häufig bleibt Babys und Kleinkindern in Risikofamilien die Erfahrung, positiv auf ihre Bezugspersonen einwirken zu können, allerdings verwehrt. Durch eine gestörte MutterKind-Bindung in der frühen Kindheit können gravierende Entwicklungsrückstände auftreten. Abweichendes mütterliches Interaktionsverhalten (z. B. fehlende Sensitivität oder Stimulation) in der frühen Kindheit wird mit sozial-emotionalen Störungen im Alter von zwei bis viereinhalb Jahren des Kindes in Verbindung gebracht (vgl. Laucht et al. 1993, S. 135 ff.). Buchheim (vgl. 2017, S. 152 f.) konstatiert ebenfalls, dass Kinder und Jugendliche mit einem unsicheren Bindungsmuster häufiger abweichendes sozial-emotionales Verhalten aufzeigen und eine negativere Selbstwerteinschätzung haben, als sicher gebundene Kinder. Grawe (vgl. 2004, S. 208 ff.) stellt fest, dass bei Kindern mit ausgeprägt unsicherem Bindungsmuster eine unzureichende Emotionsregulation, fehlende soziale Ressourcen, eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung und ein niedriges Selbstwertgefühl zu verzeichnen sind. Welche Auswirkungen mangelnde Zuwendung und Sicherheit in den Bindungsbeziehungen eines Kleinkindes auf psychobiologischer Ebene haben, wird durch folgende Erkenntnisse deutlich: In den ersten drei Lebensjahren eines Kindes weist die Gehirnentwicklung sensible Perioden auf, während derer die erlebten Beziehungserfahrungen nachhaltige (positive oder negative) Eindrücke hinterlassen. In dieser Zeit dominiert vor allem die rechte Gehirnhälfte, welche unter anderem für die Verarbeitung sozial-emotionaler Informationen verantwortlich ist, Regulationsprozesse in Bezug auf Bindungen fördert, körperliche und emotionale Zustände sowie den Umgang mit Stress reguliert. Fehlend oder unzureichend erlebte emotionale Sicherheit bei unsicher gebundenen Kindern äußert sich in einem schlechten Umgang mit Stresssituationen (da die elterliche Regulation fehlt) und einer damit verbundenen emotionalen Belastung, was sich an einem erhöhten Kortisolspiegel nachweisen lässt. Die Verhaltensregulation in der Bindungsbeziehung findet hier somit ein psychobiologisches Korrelat (vgl. Ziegenhain 2004, S. 244).

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Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Die Entstehung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung in der frühen Kindheit
Untertitel
Unterstützungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit durch stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen
Hochschule
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
58
Katalognummer
V988208
ISBN (eBook)
9783346334756
ISBN (Buch)
9783346334763
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mutter-Kind-Bindung, Bindungstheorie, Mutter-Kind-Einrichtungen, Bindungsstile, Bindungsmuster
Arbeit zitieren
Susanne Hudák (Autor:in), 2019, Die Entstehung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung in der frühen Kindheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/988208

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