Hinderungsgründe für Frauen beim Verlassen einer gewaltvollen Paarbeziehung. Should I Stay or Should I Go?


Bachelorarbeit, 2020

85 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Aufbau der Arbeit
1.2. Begriffsbestimmungen

2. Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft: Theoretische Grundlagen und Forschungsstand
2.1. Formen und Risikofaktoren
2.2. Dynamiken
2.3. Identifikation mit dem Aggressor - Das Stockholm-Syndrom
2.4. Viktimisierung und Weiblichkeit
2.5. Rechtliche Möglichkeiten des Gewaltschutzes
2.6. Die Handlungsmacht der Frau - vier Muster

3. Empirischer Teil I - Forschungsdesign
3.1. Datenerhebung
3.1.1. Feldzugang
3.1.2. Stichprobe
3.1.3. Erhebungsinstrument
3.1.4. Erhebungssituation
3.1.5. Transkription
3.1.6. Forschungsethik
3.2. Datenauswertung mit qualitativer Inhaltsanalyse
3.2.1. Anwendung deduktiver Kategorien
3.2.2. Bildung induktiver Kategorien
3.2.3. Intracoderreliabilität

4. Empirischer Teil II - Forschungsergebnisse
4.1. Finanzen und Organisation
4.2. Emotionale Bindung
4.3. Anhaltende Bedrohung und Effektivität des Rechtsschutzes
4.4. Die Rolle der Kinder
4.4.1. Kinder als wahrgenommener Hinderungsgrund
4.4.2. Die Sicht der Kinder als Ressource im Beratungsprozess
4.5. Täterstrategien
4.5.1. Schuldverschiebung
4.5.2. Soziale Isolation
4.5.3. Sorgerechtsstreit
4.6. Stigmatisierung
4.7. Mangelnde Ressourcen in den Beratungsstellen

5. Diskussion der Ergebnisse
5.1. Limitationen
5.2. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang
Anhang 1: Einwilligungserklärung für Interviewpartnerinnen
Anhang 2: Soziodemografische Erhebung
Anhang 3: Interviewleitfaden
Anhang 4: Transkriptionsregeln
Anhang 9: Kategoriensystem
Anhang 10: Beispiel einer induktiven Kategorienbildung
Anhang 11: Kodierung

Zusammenfassung

Das Ziel der vorliegenden Bachelorarbeit ist es, Hindernisse zu analysieren, die Frauen eine Trennung von einem gewalttätigen Partner in der heterosexuellen Paarbeziehung erschweren. Der Fokus liegt zudem auf Möglichkeiten und Hürden in der sozialarbeiterischen Beratung mit Frauen die sich vor weiterer Gewalt durch den Partner schützen wollen. Dazu wird zunächst der Forschungsstand zu individuell-psychologischen, paardynamischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Trennungshindernissen in heterosexuellen Paarbeziehungen exemplarisch dargestellt. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden vier Beraterinnen aus Fachberatungsstellen bzw. Interventions- und Koordinierungsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking in qualitativen Leitfadeninterviews befragt. Die Forschungsergebnisse wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse ermittelt. Daraus resultieren Angaben über Trennungshindernisse auf drei Ebenen: Finanziell-organisatorisch, emotional und auf Ebene der anhaltenden Bedrohung. Zudem beeinflussen Täterstrategien, gesellschaftliche Stigmatisierung und die Sicht der Kinder eine mögliche Trennungsentscheidung. Für diese Themenfelder beschreiben die Befragten spezifische Beratungsinhalte, Rahmenbedingungen und Aspekte der Berater_innenhaltung, die eine qualitative Begleitung der gewaltbetroffenen Frauen ermöglichen.

Abstract

The aim of this bachelor thesis is to analyze obstacles that make it difficult for women to separate from a violent partner in a heterosexual relationship. Furthermore the focus lies on possibilities and obstacles in social work counselling with women who want to protect themselves from further violence by their partner. First, the current state of research on individual psychological, couple dynamics and social conditions and obstacles to separation in heterosexual couple relationships will be presented exemplarily. To answer the research questions, four counselors from specialized counseling centers or intervention and coordination centers against domestic violence and stalking were interviewed in qualitative guideline interviews. The research results were determined by means of qualitative content analysis. This resulted in information on obstacles to separation on three levels: Financial-organizational, emotional and on the level of persisting threat. In addition, perpetrator strategies, social stigmatization and the children's viewpoint influence a possible separation decision. For these topics, the interviewees describe specific counseling content, framework conditions and aspects of the counselor's attitude that enable a qualitative accompaniment of women affected by intimate partner violence.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft ist eine Menschenrechtsverletzung (Art. 3 Istanbul- Konvention1 ). Diese Feststellung ist bemerkenswert, da Menschenrechte üblicherweise als Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat definiert sind. Gewalt in sozialen Beziehungen war demnach juristisch lange Zeit Privatsache. Bei der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien wurde international die Abkehr von diesem Menschenrechtsverständnis besiegelt und Gewalt gegen Frauen grundsätzlich als Menschenrechtsproblematik anerkannt (Titze, 2007, S. 5). Damit gehen weitreichende Schutz- und Gewährleistungspflichten des Staates einher. So müssen staatliche Behörden effektive Maßnahmen treffen, um Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft zu verhindern und zu verfolgen (Follmar-Otto, 2011, S. 4 f). Doch die aktuellste kriminalstatistische Auswertung des BKA zu Partnerschaftsgewalt über das Berichtsjahr 2018 zeigt, dass die Vorfälle kontinuierlich steigen und für Frauen weiterhin das eigene zu Hause der gefährlichste Ort ist (BKA, 2019, S. 4 f). Insofern ist es menschenrechtlich, politisch und damit auch aus sozialarbeiterischer Perspektive geboten die Hürden zu kennen, die den Schutz vor Gewalt durch den Partner erschweren.

„Should I Stay or Should I Go?“ - In der Frage nach dem Gehen oder Bleiben, die den Titel der Arbeit bildet, ist bereits impliziert, dass nur eine Trennung effektiven Schutz vor Gewalt böte. Die Trennung ist jedoch die gefährlichste Phase einer Beziehung (Greuel, 2009, S. 11). Gerade dann eskaliert die Gewalt des Partners. Wieso also keine Abhandlung über Chancen der Paarberatung in gewaltgeprägten Beziehungen? Während Paar- und Täterberatung wichtige Bestandteile des Gewaltschutzes sind und auch in der vorliegenden Arbeit als Möglichkeit nicht abgelehnt werden, bleibt doch die Chance auf eine Beendigung der Gewalt innerhalb der Beziehung gering: In Fokusgruppendiskussionen mit gewaltbetroffenen Frauen von Glammeier, Müller, Schröttle (2004) gab keine einzige Teilnehmerin an, der Gewalt ohne Trennung entgangen zu sein. Alle waren sich einig, dass eine Trennung zwangsläufig nötig sei (S. 50). In dieser Arbeit liegt der Fokus deshalb auf der Trennung als Schutzmaßnahme vor weiterer Gewalt. Von den Teilnehmerinnen der Fokusgruppendiskussionen wurden Faktoren benannt, die eine Trennung erschweren. Dabei spielen u.a. finanzielle Abhängigkeit, Schuldübernahme der Frau, Bedrohung durch den Partner, soziale Isolation und gemeinsame Kinder eine Rolle (S. 28 ff). Die Untersuchung ist Teil der ersten und größten Repräsentativuntersuchung „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ zu Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2004. Seitdem wurden weitere rechtliche Schritte unternommen, die den Schutz von Frauen vor Gewalt in der Partnerschaft im Blick haben. 2007 wurde der Straftatbestand der Nachstellung (Stalking) § 238 ins Strafgesetzbuch eingeführt und zehn Jahre später unter Opferschutzaspekten novelliert (Lukas, 2017, S. 54 ff). Seit 2015 erstellt das BKA eine gesonderte Auswertung der jährlichen polizeilichen Kriminalstatistik unter dem Blickpunkt Partnerschaftsgewalt und schafft damit auch statistische Daten über Art und Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft. Und als einer der bedeutendsten Schritte zum Schutz von Frauen vor Gewalt gilt auf internationaler Ebene gilt die Unterzeichnung (2011) und Ratifizierung der Istanbul-Konvention 2017. In dieser wird unter anderem festgelegt, dass angemessene finanzielle und personelle Mittel zur flächendeckenden, umfassenden und allgemein zugänglichen Unterstützung gewaltbetroffener Frauen bereitgestellt werden müssen (Artikel 8). Der Rechtsschutz ist effektiv zu gestalten. Das beinhaltet unter anderem den Schutz vor psychischer Gewalt (Artikel 33) und die Berücksichtigung von Gewalt in der Partnerschaft in Kindschaftsrechtsverfahren nach der Trennung (Artikel 31). Nachdem also das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft und mögliche Trennungshindernisse auf nationaler und internationaler Ebene Anerkennung gefunden haben und eine Reihe von Verbesserungen angestrebt wurden, stellen sich die Fragen: Welchen Hindernissen müssen sich Frauen heute noch stellen, wenn sie einen gewalttätigen Partner verlassen wollen? Und welche Möglichkeiten und Hürden im Hilfesystem sehen diejenigen Expert_innen, die häufig den ersten Kontakt zu Betroffenen haben? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit anhand qualitativer Expert_inneninterviews exemplarisch nachgegangen. Es soll damit auch ein neuer Anstoß gegeben werden, die Effektivität des Gewaltschutzes zu überprüfen.

1.1. Aufbau der Arbeit

Zunächst wird der aktuelle Forschungsstand zu Formen, Dynamiken und psychologischen Aspekten bei Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft dargestellt und rechtliche Schutzmöglichkeiten in Deutschland erörtert. Im empirischen Teil wird zuerst das Forschungsvorgehen detailliert beschrieben, um dem Gütekriterium qualitativer Sozialforschung, der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, zu genügen. Darauffolgend wird die angewandte Methode, die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring, beschrieben und in der konkreten Anwendung dargestellt. Und anschließend werden die Ergebnisse unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst präsentiert. Zuletzt werden Limitationen, Fazit und Ausblick diskutiert.

1.2. Begriffsbestimmungen

Die Entscheidung für spezifische Begrifflichkeiten in der Arbeit soll im folgenden erläutert werden. Häusliche Gewalt wird als Überbegriff verstanden. In der vorliegenden Arbeit wird die häufigste Ausprägung untersucht: Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft (BKA, 2018, S. 11). In der Istanbul-Konvention bezeichnet häusliche Gewalt „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte“ (Art. 3b). Wenn in der vorliegenden Arbeit Frauen und Männer, Partner und Partnerin betrachtet werden, sind cisgeschlechtliche Menschen in heterosexuellen Paarbeziehungen gemeint. Die Gewaltformen und -dynamiken, die trans-, intergeschlechtliche oder nichtbinäre, sowie homo-, bi-, pansexuelle und andere queere Menschen in Paarbeziehungen erleben können, müssen aufgrund spezifischer Hürden im Hilfesystem Gegenstand eigener Forschung sein. Dennoch sollen alle anderen Geschlechter als das cis-weibliche und cis-männliche sichtbar bleiben. Wenn also nicht die konkret befragten Expertinnen, die sich alle als weiblich definieren, und gewaltbetroffene Frauen und Klientinnen thematisiert werden, wird grundsätzlich das generische Femininum mit Unterstrich verwendet: die Expert_in, die Berater_in, die Klient_in. Die Autorin geht weiterhin davon aus, dass das gegenwärtige Gesellschaftssystem patriarchal organisiert ist. Das bedeutet eine Vormachtstellung des Vaters über die Familie und des Mannes über die Frau. Damit einher gehen die Akzeptanz der Ressourcenkontrolle durch den Mann und der Anwendung physischer Gewalt zur Konfliktlösung (Barnett, 2000, S. 346).

In der vorliegenden Arbeit werden spezifische Gewalterfahrungen und Zugänge zum Hilfesystem in den sozialen Schichten beschrieben. Für den Schichtbegriff orientiert sich die Autorin stark vereinfacht am Modell von Geißler (2014). Demnach wird die Schichteinteilung vorrangig anhand materieller Faktoren bestimmt. Ausschlaggebend sind also Beruf, Qualifikation, Einkommen, Prestige und Einfluss. Zu Ober- und Mittelschicht zählen Eliten (Entscheidungsträger_innen in Politik, Wirtschaft, Medien usw.), sowie Dienstklasse und Mittelstand (akademisch ausgebildete Angestellte, Unternehmer_innen, Freiberufler_innen, sowie Meister_innen, Fachkräfte in Büro, Verkauf, Gastronomie, Betreuung u.ä., Facharbeiter_innen und -handwerker_innen, an- und ungelernte Dienstleister_innen und Arbeiterinnen). Zur Unterschicht zählen diejenigen, die zum Lebensunterhalt überwiegend auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sind (S. 102). Dabei sind die Schichtgrenzen durchlässig und überlappen sich (S. 103).

2. Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft: Theoretische Grundlagen und Forschungsstand

2.1. Formen und Risikofaktoren

Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft ist selten ein einmaliges Ereignis. Vielmehr zielt der Täter mit einem komplexen System aus Handlungen und Verhaltensweisen darauf ab seine Macht auszubauen und Selbstvertrauen, Handlungsspielräume und Unabhängigkeit der Betroffenen einzuschränken (Brzank, 2012, S. 31).

Die mit Abstand häufigste Form ist laut europäischer FRA-Studie2 (2015) die psychische Gewalt. 50% aller Frauen in Deutschland zwischen 15 und 74 Jahren sind oder waren betroffen.

Zu psychischer Gewalt zählen unter anderem (S. 72):

- Herabwürdigen und Demütigen, insbesondere vor anderen Menschen
- absichtliches Erschrecken und Einschüchtern, z.B. indem der Täter Gegenstände zertrümmert oder schreit
- Einsperren oder anderweitig am Verlassen des Hauses hindern
- Drohen, insbesondere mit Gewalt gegen die Frau selbst oder die Kinder, sowie mit dem Wegnehmen der Kinder
- soziale Isolation3
- Verhindern von Erwerbsarbeit, sowie eigener finanzieller Möglichkeiten und Entscheidungen4

Physische und/oder sexuelle5 Gewalt in der Partnerschaft beschrieben 22% der Frauen. Damit liegt Deutschland im europäischen Durchschnitt, aber beispielsweise deutlich hinter Österreich mit 13%. Zur physischen Gewalt gehören (in Reihenfolge der Schwere: Schröttle, 2008, S. 21 f.):

- wütendes Wegschubsen, Ohrfeigen
- Handlungen, die Schmerzen zufügen, Angst machen und bedrohlich sind
- Verprügeln bzw. mit Fäusten schlagen
- potenziell lebensbedrohliche Handlungen ohne Waffen (Würgen, Verbrühen, Verbrennen)
- Waffengewalt

Zur sexuellen Gewalt gehören (FRA, 2015, S. 40):

- Anwendung psychischer Gewalt, um sexuelle Handlungen bzw. Geschlechtsverkehr zu erzwingen
- physischer Zwang sexuelle Handlungen anzusehen, durchzuführen oder an sich durchführen zu lassen
- physisch erzwungener penetrativer Geschlechtsverkehr

Innerhalb Deutschlands ist Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft dabei unter demografischen Aspekten wie Alter, Einkommen und Bildungsgrad relativ gleich verteilt (Brzank, 2012, S. 39 f). Allerdings konnte Schröttle (2008) in einer Sekundäranalyse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen aus 2004 Umstände herausarbeiten, unter denen die Gefahr für vermehrte und schwere Gewalt steigt:

In der Verknüpfung aus sozialem Stress und geringen sozialen Ressourcen liegt ein besonderer Risikofaktor. Gerade bei jüngeren und mittelalten Paaren, in denen beide über kein Einkommen, Erwerbsarbeit und/oder formale Bildung verfügen, wurde häufiger Gewalt gegen die Frau angewendet (Schröttle, 2008, S. 210). Und in allen sozialen Schichten sind Frauen mit höherem Einkommen, besserer Ausbildung und/oder höherer beruflicher Position als der Partner gefährdeter, wenn dieser ein egalitäres Macht- und Geschlechterverhältnis nicht akzeptiert (ebd).

Auch die Trennung oder die erste Schwangerschaft einer Frau in der Partnerschaft bergen die gesteigerte Gefahr erstmalig oder in besonderem Maße Gewalt vom (Ex-)Partner zu erfahren. Durch eine Trennung entzieht sich die Partnerin ggf. mit den Kindern dem Einflussbereich des Mannes, was dieser zu verhindern sucht (Schröttle&Müller, 2004, S. 285). Gewaltausbrüche während der Schwangerschaft begründen Männer zumeist mit der Unterstellung, die Frau sei untreu gewesen und das Kind sei nicht von ihm (Brückner, 1991, S. 31). Die Frau hätte demnach seinen Machtanspruch verletzt und das sogar mit einer Schwangerschaft besiegelt.

In der Gesamtschau ist also der Machtverlust des Mannes, sei es auf sozioökonomischer oder personaler Ebene, der größte Risikofaktor.

2.2. Dynamiken

Fortgesetzte Gewalt gegen Frauen in der Paarbeziehung folgt oftmals einer spezifischen Dynamik, die die Psychologin Lenore E. Walker 1979 im Grundlagenwerk „The Battered Woman“ erstmalig charakterisierte. Der so genannte Kreislauf der Gewalt besteht aus drei Phasen:

In der ersten Phase, dem Spannungsaufbau, hat die Frau ein Mindestmaß an Kontrolle über Häufigkeit und Schwere der Gewaltausbrüche des Partners. Das bedeutet der Spannungsaufbau wird verlangsamt, wenn sie die Bedürfnisse des Täters erahnt und erfüllt. Anderenfalls beschleunigt er sich (Walker, 1989, S. 697). Charakteristisch ist dabei das wechselhafte Verhalten des Partners zwischen liebevollen und aggressiven, kontrollierenden Handlungen (Wieners et al., 2012, S. 67). Hat sich der Partner nicht um anderweitigen Spannungsabbau bemüht, erreicht das Paar laut Walker unweigerlich das Stadium der „Unvermeidbarkeit“ (Walker, 1989, S. 697).

Es folgt der Gewaltausbruch, die Phase der Explosion. In dieser kürzesten Phase des Kreislaufs findet die akute Misshandlung statt, mit der der Partner Spannung abbaut. Dieser Spannungsabbau fungiert gemäß der behavioristischen Lerntheorie, der Walker folgt, als Verstärker (ebd).

In der dritten Phase, die Walker „liebevolle Reue“ (ebd.) nennt, entschuldigt sich der Partner, häufig ohne Verantwortung für die Gewalt zu übernehmen, und gelobt Besserung. In manchen Beziehungen ist diese Phase von romantischen Gesten geprägt. In anderen besteht die Reue und Zuwendung zur Partnerin allein in der Abwesenheit von Spannung und Streit. In jedem Fall beginnt ohne Intervention erneut der Spannungsaufbau. Walker spricht dabei von einer Abwärtsspirale (ebd).

Während manche Frauen ihren Partner als unberechenbaren Jekyll-und-Hyde-Charakter beschreiben (WiBIG, 2004, S. 89), gibt es andere die ihr Wissen um die Gewaltdynamik für die taktische Organisation ihres gewaltvollen Alltags nutzen:

„Ich wußte, daß die Situation schwierig wurde. Die Spannung hatte sich während der letzten zwei bis drei Wochen angestaut. Es gab viele kleine Anzeichen. Es wurde immer schwieriger für mich besänftigend zu sein. Ich fing an, mir wirklich Sorgen zu machen. Meine Schwester heiratete am Sonntag, und ich wußte, ich würde mich zu Tode schämen, wenn George zur Hochzeit ginge und grob und gemein zu meiner Familie wäre. [...] Wie würde ich damit fertig werden? Plötzlich fing George an, mich anzuschreien, seine gewöhnlichen Beschimpfungen. Ich konnte es nicht mehr aushalten und schrie zurück. Ich wußte, er würde explodieren [...] Außerdem wußte ich, wenn George seinen Gewaltausbruch hinter sich brachte, würde er Sonntag voll Reue und Einsicht sein. Er würde versuchen, alles wiedergutzumachen, indem er so nett wie möglich im Beisein meiner Familie wäre. Das war mir wirklich wichtig an diesem Abend, wie ich George dazu kriegen könnte, zur Hochzeit meiner Schwester zu gehen und dabei stolz auf ihn zu sein“ (Walker, 1979, S. 171 f., zitiert nach: Brückner, 1991, S. 32 f).

Die deterministische Sicht Walkers auf den Gewaltkreislauf erschwert die Ressourcenorientierung auf Seiten der Frau und vermag es nicht zu erklären, weshalb viele Frauen doch den Weg aus der Gewaltbeziehung schaffen. Darum erweitern Helfferich&Kavemann (2004) den Kreislauf um das Modell der Übergänge:

Die erste Stufe setzt beim ersten Gewaltausbruch an. Viele Frauen in der Studie von Helfferich&Kavemann raten rückblickend zur sofortigen Trennung nach der ersten Misshandlung, denn: „Wenn man erst einmal die Würde verloren hat, sei es schwierig, sie wieder herzustellen. Der Mann, sagten sie, gewöhnt sich daran, dass er die Frau so behandeln kann“ (S. 146).

Entscheidet sich die Frau nicht für die sofortige Trennung, kommt es entsprechend dem Gewaltkreislauf zu weiteren Vorfällen und Eskalationsstufen. Nach jedem neuen Vorfall, entscheidet sie aber auch immer wieder neu, mehr oder minder bewusst, inwiefern sie die Beziehung noch aushält. So stehen vor einer endgültigen Trennung möglicherweise viele kleine Schritte, wie etwa der erste Anruf bei einer Beratungsstelle oder die erste Drohung zu gehen. In diesem Zustand aus Hoffnung und Handlungsmacht, Angst und Scham können die Phasen des Gewaltkreislaufes noch einige Male durchlaufen werden (ebd., S. 147).

Doch diejenigen Frauen, die sich schlussendlich trennen, beschreiben einen entscheidenden Punkt, an dem Angst und Scham hinter der Handlungsmacht zurücktreten und eine Trennung möglich ist (ebd). Dann hat die Gewalt nicht selten schon eine lebensbedrohliche Zuspitzung erfahren oder die Partnerin sieht sich anderweitig gänzlich am Ende ihrer Kräfte. Vorher scheinen die Bindung an den Partner und Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zu überwiegen (ebd).

2.3. Identifikation mit dem Aggressor - Das Stockholm-Syndrom

Was die dargestellten Modelle nicht zufriedenstellend zu erklären vermögen, sind Verantwortungsübernahme, Schuldgefühle und die Bagatellisierung der Gewalt durch die Gewaltbetroffene. Aus psychoanalytischer Sicht wird der Gewaltkreislauf daher um den Abwehrmechanismus der Identifikation mit dem Aggressor erweitert. Diese Introjektion der Verantwortung und Gewalterfahrungen wurde bereits in den 1930er Jahren von A. Freud und Ferenczi anhand der kindlichen Bewältigung von Vernachlässigungs- bzw. Missbrauchserfahrungen diskutiert (Hirsch, 1996) und später u.a. durch Godenzi (1996) in Form des Stockholm-Syndroms auf Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen übertragen. Voraussetzung ist eine faktische oder psychologisch-gesellschaftlich vermittelte Übermacht auf Seiten des Täters. Sei es der Geiselnehmer, der über Leben und Tod entscheidet oder der Lebenspartner, der aus materieller und patriarchaler Überlegenheit die Macht hat, der Frau alles zu nehmen. Sobald die Frau isoliert ist und nicht ausweichen kann, ist sie von der Laune des Mannes abhängig und versucht alles, um ihn nicht zu reizen. Sie ist dabei keinesfalls passiv. Vielmehr bemühen gewaltbetroffene Frauen vielfältige Ressourcen und Überlebensstrategien, um sich und die Kinder zu schützen (ebd., S. 250 f; Peichl, 2011, S. 12 ff). Schuld- und Verantwortungsübernahme sind dabei innerhalb der traumageprägten Logik eine Möglichkeit Kontrolle zurückzugewinnen; der unbewussten Überzeugung folgend:

„Es ist besser Schuld zu haben, als hilflos zu sein. Wer Schuld hat kann etwas ändern“ (ebd., S. 12).

Diese Kontrolle manifestiert sich in der dritten Phase des Gewaltkreislaufs. Der reuige, liebenswürdige Mann appelliert aus realer Angst vor dem Verlust der Partnerin an die weibliche, das heißt bedingungslose, Liebe und ihr Verantwortungsgefühl: Nur sie kann ihn retten, wenn sie ihm verzeiht. Um den Versprechungen des Partners Glauben zu schenken und verzeihen zu können, muss sie die Gewalt bagatellisieren oder ganz verdrängen und Verantwortung für die Spannung übernehmen. Es entsteht die Ambivalenz aus Liebe und Hass, Hoffnung und Verzweiflung, Flucht und Umkehr, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist (ebd., S. 13 f).

2.4. Viktimisierung und Weiblichkeit

Nach der Betrachtung individuell-psychologischer und paardynamischer Aspekte von Beziehungsdynamik und Ambivalenz darf die gesellschaftliche Ebene der Gewalt gegen Frauen im Geschlechterverhältnis nicht außer Acht bleiben. Denn Gewalt in der Partnerschaft ist, wie auch die Ausführungen zu Risikofaktoren zeigen, nicht ausschließlich ein persönliches oder Beziehungsproblem, sondern auch und vor allem ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtunterschiede. Den kulturell verankerten geschlechtlichen Verhaltensnormen und zugeschriebenen Charaktereigenschaften sind gewaltfördernde Aspekte immanent (Brückner in: Bauer&Brand-Wittig, 2006, S. 8). Frauen wird im Gegensatz zu Männern ein beherrschterer Umgang mit Aggressionen abverlangt, so dass schon Mädchen eher zu autoaggressivem Verhalten neigen, während Jungen ihre Aggressionen nach außen tragen (ebd., S. 7). Auch schon in der Jugendzeit verlagert sich die Bemessung des eigenen Selbstwertgefühls bei Mädchen weg von persönlichen, schulischen Erfolgen hin zu männlicher Anerkennung (Barnett, 2001, S. 8).

Brückner (1991) wagt Anfang der 1990er Jahre als Frauenhausmitarbeiterin, geprägt durch die feministisch-politische Frauenhausbewegung, einen Vergleich misshandelter und nichtmisshandelter Frauen. Dabei betrachtet sie die eigenen Weiblichkeitsideen der Mitarbeiterinnen im Vergleich zu denen der Bewohnerinnen. Sie beschreibt grundlegende Ähnlichkeiten, die für ein Verständnis der weiblichen Geschlechterrolle exemplarisch dargestellt werden sollen.

Beide Gruppen eint das Bedürfnis zu retten. Sei es als gute Ehefrau, Mutter oder Sozialarbeiterin im Beruf. Sich um einen anderen Menschen zu kümmern, ihn durch die eigenen Fähigkeiten zu stärken, heißt auch Macht über ihn zu haben. Gerade von einem Mann gebraucht zu werden, der besonders stark, durchsetzungsfähig oder intelligent ist, stärkt das eigene weibliche Selbstbewusstsein und lässt teilhaben an männlicher Macht (S. 57, 73, 154).

Diese Aufopferung für andere gleicht der Mütterlichkeit, die jeder Frau abverlangt wird (ebd., S. 13). Gesellschaftlich wird sie einerseits bewundert, wenn sie sich eines schwierigen Charakters annimmt und ihn nicht aufgibt oder alles für ihre Kinder tut. Andererseits wird ihr diese Hingabe vorgeworfen, wenn Misshandlungen bekannt werden. Dann gilt sie als masochistisch (ebd., S. 64, 69). Die brutale Kontrolle in der Gewaltbeziehung und die Sorge eines Mannes um seine schützenswerte Frau sind aber zwei Seiten der selben Medaille. In der patriarchalen Ordnung gilt die Frau als Besitz. Sie wird gepflegt und geschützt - insbesondere vorm Zugriff anderer. Denn ihre Fürsorglichkeit, Hingabe und Mütterlichkeit werten den Mann auf. Gleichzeitig entsteht bei ihm Verlustangst - eine verletzliche Gefühlsregung, die im männlichen Ideal der Stärke schwer auszuhalten ist. Deshalb kontrolliert er ihre Kontakte, ihr Aussehen, ihr Gehalt, um sicherzustellen, dass sie bei ihm bleibt (ebd., S. 77 ff).

Das moderne patriarchale Frauenbild ist also dualistisch. Als mütterliche Retterin wird die Frau verehrt und als eigenwillige Sünderin muss sie in Zaum gehalten werden. In jedem Falle konstituiert sich das Weibliche dabei in Abhängigkeit zum Mann. So erklärt sich, weshalb so viele Frauen sich nur in Beziehung zu einem Mann vollständig fühlen und woher dessen besitzgeprägtes Anspruchsdenken rührt (ebd., S. 174 ff).

2.5. Rechtliche Möglichkeiten des Gewaltschutzes

„Wer schlägt, der geht.“

Unter diesem Leitsatz steht seit Anfang der 2000er Jahre die staatliche Intervention bei häuslicher Gewalt. Es stehen polizei- und zivilrechtliche Schutzmöglichkeiten zur Verfügung. Auf Länderebene wurden die Polizeigesetze um die Befugnis zur Wegweisung des Täters erweitert. Und auf Bundesebene wurde das Gewaltschutzgesetz eingeführt (BMFSFJ, 2020).

Wird die Polizei zu einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt gerufen, kann sie abhängig vom jeweiligen Landesrecht den Täter zwischen zehn und 14 Tagen der Wohnung und des angrenzenden Bereichs verweisen (u.a. § 29a III ASOG Bln, § 36 III SOG LSA, § 12b I SOG HH). Auf Eigentums- oder Mietverhältnisse an der Wohnung kommt es nicht an. Es genügt, dass Täter und Gewaltbetroffene dauerhaft in der Wohnung leben und Gewalt ausgeübt oder angedroht wurde. In der Regel ist auch ein entgegenstehender Wille des Opfers für die Wegweisung unbeachtlich, insbesondere wenn Kinder mitbetroffen sind. Insofern wurde vom Gesetzgeber der beschriebenen Dynamik häuslicher Gewalt Rechnung getragen (Cirullies, 2014, S. 230 f). Das Verwaltungsgericht Aachen hat hierzu zutreffend ausgeführt, dass der staatliche Schutzauftrag jedenfalls dann Vorrang gegenüber dem individuellen Selbstbestimmungsrecht hat, „wenn sich nicht sicher feststellen lässt, ob dieses Einverständnis auf einem freien Willensentschluss beruht oder ob es nicht doch geprägt ist von einem - wirtschaftlichen oder sozialen - Abhängigkeitsverhältnis zum Gewalttäter“ (VG Aachen, Beschluss vom 17.02.2004, 6 L 145/04, juris).

Beim Polizeieinsatz weisen die Beamtinnen die Gewaltbetroffene zudem auf die Möglichkeit zivilrechtlichen Schutzes nach Gewaltschutzgesetz hin und übermitteln ihre Daten an die örtlich zuständige Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking (u.a. § 16a IV BbgPolG). Stellt die Betroffene im Nachgang einen entsprechenden Antrag bei Gericht, kann die Polizeibehörde die Wegweisungsfrist in einigen Bundesländern verlängern (u.a. § 27a IV S. 2 PolG BW).

Nach österreichischem Vorbild trat am 01.01.2002 auch in Deutschland das Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen, kurz Gewaltschutzgesetz (GewSchG), in Kraft. Grundgedanke des Gesetzes ist es, durch die Schaffung räumlicher Distanz weitere Gewalt zu verhindern und eine ggf. vorliegende Gewaltspirale in der Beziehung zu durchbrechen (Schumacher, 2002, S. 646). Hat der Täter Körper, Gesundheit oder Freiheit des Opfers widerrechtlich verletzt oder damit gedroht, hat das Opfer Anspruch auf ein Kontakt- und Näherungsverbot gemäß § 1 I GewSchG. Die dafür im Gesetz aufgezählten Maßnahmen stellen keine abschließende Aufzählung dar, so dass Anordnungen gegen den Täter auch auf die individuelle Gewaltsituation angepasst werden können (Schumacher, 2002, S. 653 f). Führen Täter und Opfer einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt, so hat das Opfer Anspruch auf befristete Wohnungsüberlassung, wenn ansonsten weitere Gewalttaten zu befürchten sind und keine schwerwiegenden Belange des Täters, wie etwa das alleinige Sorgerecht für ein im Haushalt lebendes Kind, entgegenstehen (ebd., S. 649 f).

Explizit in § 1 III GewSchG festgehalten ist, dass es auf ein Verschulden des Täters sowohl für das Kontakt- und Näherungsverbot, als auch für die Wohnungsüberlassung nicht ankommt. Insofern sind auch Taten im Alkoholrausch oder während einer Psychose erfasst.

Die Maßnahmen können binnen drei Monaten nach der Gewalttat (§ 2 III Nr. 2 GewSchG) beantragt werden. Ob das Gewaltopfer zum Zeitpunkt der Antragsstellung noch mit dem Täter in der gemeinsamen Wohnung lebt oder etwa in ein Frauen- und Kinderschutzhaus geflüchtet ist, ist nicht relevant (Schumacher, 2002, S. 651). Problematisch sind aber Fälle rein psychischer Gewalt. Da für den Anspruch mindestens eine Gesundheitsschädigung erforderlich ist, muss laut ständiger BGH-Rechtsprechung eine Krankheit aus medizinischer Sicht vorliegen, die gerade durch die Gewalt ausgelöst wurde. Das ist im Einzelfall schwer nachweisbar (Schumacher, 2002, S. 648). Wie bereits beschrieben, ist die psychische Gewalt aber die verbreitetste Form von Partnerschaftsgewalt gegen Frauen in Deutschland. Insofern besteht hier eine erhebliche Schutzlücke.

Wird dem Antrag stattgegeben, wird der Beschluss mit Zustellung beim Täter wirksam (§ 214 II FamFG). Das ist dann problematisch, wenn die Einsatzbeamt_innen bei der polizeilichen Wegweisung entgegen dem Landesrecht (u.a. § 29a II ASOG Bln) keine ladungsfähige Adresse aufgenommen haben.

Ein wirksamer Beschluss nach Gewaltschutzgesetz ist strafbewehrt. Gemäß § 4 GewSchG kann jeder Verstoß gegen das Kontakt- und Näherungsverbot oder die Wohnungsverweisung mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 250'000 € (§ 890 ZPO) geahndet werden. Abschließend sei jedoch auf die Problematik der Ansiedelung des Gewaltschutzverfahrens im Familienrecht verwiesen. Denn in familienrechtlichen Verfahren trägt die Antragssteller_in zunächst das Kostenrisiko. In der Regel wird dann entschieden, dass jede Partei ihre eigenen Anwaltskosten trägt und die Gerichtskosten geteilt werden. Insbesondere bei Ablehnung des Antrags ist es aber auch möglich, der Antragssteller_in alle Kosten aufzuerlegen (Hecht, 2010).

Zehn Jahre nach Einführung des Gewaltschutzgesetzes überprüfte der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe anhand einer Mitgliedsbefragung die Anwendung des Gewaltschutzgesetzes, der polizeilichen Intervention und der Strafverfolgung (bff, 2012).

Positiv bewerteten die Mitglieder einen wahrnehmbaren Wertewandel im Zuge der Einführung des GewSchG. Häusliche Gewalt erfährt nun mehr öffentliche Ächtung und wird dem Bereich des Privaten entzogen. Auch die juristischen Spielräume haben sich zumindest theoretisch erweitert, so dass Betroffene Handlungsfähigkeit erlangen können und sich ernst genommen fühlen (ebd., S. 10). Im Übrigen ziehen die Beratungsstellen aber ein äußerst negatives Resümee. Dreiviertel der Beratungsstellen geben an, dass in ihrer Praxiserfahrung zum Zeitpunkt der Befragung kein einziger Haftbefehl gegen einen Täter wegen Verstoßes gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot oder anderer Straftaten im Kontext häuslicher Gewalt erwirkt wurde (ebd). Auch die polizeiliche Wegweisung werde nicht kontrolliert und Verstöße nicht mit Ordnungsgeld belegt (ebd., S. 8). Entgegen dem Willen des Gesetzgebers wird also die Durchsetzung des Verwaltungsaktes faktisch der Gewaltbetroffenen aufgebürdet. Verhält sich die Betroffene aufgrund von Drohungen oder Ambivalenz aus Sicht von Polizei oder Gericht dann widersprüchlich oder gefährdet sich selbst, gilt sie als unglaubwürdig und muss Nachteile im familien- oder strafrechtlichen Verfahren hinnehmen (ebd., S. 7 f). Im familienrechtlichen Gewaltschutzverfahren drängen die Richter_innen zudem häufig auf einen Vergleich anstelle des Beschlusses (ebd., S. 5). Dieser Vergleich ist nicht strafbewährt, so dass dann auch theoretisch keine Sanktionsmöglichkeiten bestehen. Auch wenn ein strafbewährter Beschluss vorliegt, nutzen einzelne Täter das Zustellungserfordernis und melden sich nach polizeilicher Wegweisung absichtlich an keiner ladungsfähigen Adresse an (ebd., S. 7). Als größtes Problem beschreiben die Beratungsstellen aber den Gewaltschutz bei gemeinsamen Kindern. Gewalt gegen die Mutter wird als Problem auf Paarebene abgetrennt und nicht als Kindeswohlgefährdung bewertet. Das Umgangsrecht des gewalttätigen Vaters und Ex-Partners wiege schwerer als der Gewaltschutz. In den seltenen Fällen in denen begleiteter Umgang gemäß § 1684 IV 3 BGB angeordnet wird, ist der Zeitraum dafür meist nur sehr kurz. Einen Umgangsausschluss beschreiben die Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen als sehr selten (ebd., S. 4 f).

2.6. Die Handlungsmacht der Frau - vier Muster

Nach Implementierung des Grundsatzes „Wer schlägt, der geht“ fand 2003 in Baden-Württemberg eine wissenschaftliche Überprüfung der Hilfen und des Beratungsbedarfs von Betroffenen häuslicher Gewalt nach polizeilicher Wegweisung statt. In der qualitativen Studie typisierten die Autorinnen Helfferich&Kavemann et al. (2004) vier Muster von (Über-)Leben der Frauen in Gewaltbeziehungen und der Wahrnehmung eigener Handlungsmacht. Daraus leiten sie spezifische Bedürfnisse und Hürden im Beratungsprozess ab. Es handelt sich explizit nicht um Typen von Frauen. Vielmehr betonen die Autorinnen die Prozesshaftigkeit der Verhaltens- und Einstellungsmuster. Diese sind nicht immer trennscharf zuordenbar und können im Verlauf der Beziehung ineinander übergehen (S. 42).

Im ersten Muster „Rasche Trennung nach relativ kurzer (Gewalt-)Beziehung“ entscheiden sich die Frauen nach kontinuierlicher Verschlechterung der Beziehung mit einmaliger oder zunehmender Gewalt des Partners abrupt zur Trennung. Sie sehen sich als handlungsmächtig und übernehmen Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen. Eigenen Beratungsbedarf haben sie vorrangig in organisatorischen Fragen. Ansonsten wünschen sie dem Ex-Partner, dass dieser seine Probleme bewältigen möge (ebd., S. 42 f).

Dem ähnelt das zweite Muster „Neue Chance“. Die Frauen entscheiden sich aber hier für ein Weiterführen der Beziehung. Sie fühlen sich handlungsmächtig, indem sie die polizeiliche Wegweisung als Bewährungsprobe für den Mann definieren, den sie nur zurücknähmen, wenn er seine Schuld einsieht, Beratung annimmt und auf Gewalt verzichtet. Diejenigen Frauen wünschen sich, dass der Partner zu Beratung bewegt oder gezwungen wird, damit die Beziehung eine Perspektive haben kann. In eigener Beratung reagieren sie häufig abweisend, da sie sich schnell zur Trennung gedrängt fühlen (ebd., S. 44).

Aus besonders vielen Interviews der Studie lässt sich das dritte Muster definieren: „Fortgeschrittener Trennungsprozess“. Die Frauen befinden sich in einer langen Beziehung mit zunehmender Gewalt. Auffällig ist, dass sie sich entgegen der Annahmen des Gewaltkreislaufs, Handlungsmacht zurück erkämpfen. Sie bereiten eine Trennung bereits vor, etwa durch anwaltliche oder psychosoziale Beratung, und sind zum Zeitpunkt der polizeilichen Wegweisung entschlossen diese durchzusetzen. Der subjektive Beratungsbedarf ist vielfältig. Insbesondere wünschen sich die Frauen Hilfe bei der Bewältigung des neuen Alleinseins und sind an Sicherheitsmaßnahmen interessiert (ebd., S. 44 ff).

Die Situation der Frauen im vierten Muster „Ambivalente Bindung“ wird von den Autorinnen als besonders schwierig eingeschätzt: Einerseits ist der Beratungsbedarf am höchsten, andererseits sind sie für Beratung am wenigsten zugänglich. Ihre Handlungsmacht hat mit anhaltender Gewalt immer mehr abgenommen. Die Frauen sind in der Partnerschaft beschränkt auf Besänftigungen, indem sie etwa versuchen die Launen des Täters zu erahnen, sich zu fügen und auf Hilfe und Schutz zu verzichten. Sie fühlen sich ohnmächtig und agieren nach eigener Aussage wider besseren Wissens. Häufig wird der Partner schnell nach der Wegweisung wieder aufgenommen und es bleibt nicht bei einer polizeilichen Intervention. Repressalien können Mitleid mit dem Partner erzeugen und die Ambivalenz verstärken. Die Autorinnen der Studie beschreiben die Bindung der Frau an den Partner als Bewältigungsversuch einer Traumatisierung. Die Frauen versuchen durch Nähe zum Täter die Situation zu kontrollieren, übernehmen entsprechend Verantwortung für die Gewalt und ertragen eine Trennung kaum. Ist vom Partner keine effektive Bewältigung seiner Gewalttätigkeit zu erwarten, müssen in der Beratung mit der Frau Trauma und Ambivalenz bearbeitet werden, bevor eine Trennung als Schutz vor weiterer Gewalt thematisierbar wird (ebd., S. 46 f).

Bei Muster drei und vier spielt die Frage nach dem Gehen oder Bleiben in der Beratung zu häuslicher Gewalt eine prägnante Rolle. Diese beiden Muster sind es, die Helfferich&Kavemann als die häufigsten Erscheinungen im Beratungsprozess definieren (ebd., S. 49). Es stellt sich die Frage, was die Frauen teilweise über Jahre in einer gewaltvollen Beziehung hielt oder immer noch hält und daraus folgernd, welche Faktoren ihnen bei einem Leben ohne Gewalt durch den Partner helfen. Welche Möglichkeiten und Hürden müssen heute, 16 Jahre nach der Studie von Helfferich&Kavemann, in der Beratung beachtet werden?

Die Forschungsfragen für die folgende empirische Untersuchung lauten also:

1. Welche Faktoren hindern eine Frau daran eine gewaltvolle Partnerschaft zu verlassen?
2. Welche beraterischen Möglichkeiten sehen die Expertinnen, um eine Frau beim Beenden der Gewalt zu unterstützen?
3. Welche Hürden im Hilfesystem sehen die Expertinnen bei der Beratung mit gewaltbetroffenen Frauen, die eine Trennung in Erwägung ziehen?

3. Empirischer Teil I - Forschungsdesign

In der vorliegenden Arbeit wurden die Forschungsfragen analysiert, indem leitfadengestützte Expertinneninterviews mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet wurden.

Jede Entscheidung im Forschungsprozess ist zu begründen, so auch die grundlegende Entscheidung für das qualitative Forschungsparadigma. Diese ist dann zu treffen, wenn es die zugehörigen offenen Beobachtungs- und Frageformen auch wirklich für den angestrebten Erkenntnisgewinn braucht (Przyborski&Wohlrab-Sahr in: Baur&Blasius, 2019, S. 110). Vorliegend sind nicht ausschließlich die faktischen Hinderungsgründe von Interesse. Auch deren Beschreibung und Einschätzung durch die Expertinnen, sowie der Beratungsbedarf sind relevant. Beispielsweise kann zwar zur Frage nach Möglichkeiten in der Beratung in einem standardisierten, quantitativen Verfahren die Antwort „Traumaberatung“ angekreuzt werden. Was die Befragte unter diesem Schlagwort aber genau versteht, warum es notwendig und hilfreich ist und welche Hürden beachtet werden müssen, ist umfassend nur durch offene Beschreibungen erfassbar. Aus dieser Feststellung und aus schlichten Ressourcenerwägungen im Rahmen der Abschlussarbeit, wurde sich für das vorliegende Forschungsdesign entschieden.

Insbesondere bei nicht-rekonstruktiven Verfahren wie dem verwendeten Leitfadeninterview sind die Gütekriterien jedoch umstritten (Flick, ebd., S. 474-479). Weitgehend anerkannt ist das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit. Das umfasst die Dokumentation und Offenlegung des Forschungsprozesses, sowie die Reflexion angewendeter Methoden (Meyer, ebd., S. 276; Helfferich, ebd., S. 683 f). Dem widmet sich das folgende Kapitel.

3.1. Datenerhebung

Interviewt werden sollten Fachkräfte, die auf dem Gebiet der Beratung gegen häusliche Gewalt als erste spezialisierte Ansprechpartner_innen arbeiten. Da die Autorin selbst in einer der acht Interventions- und Koordinierungsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking (IKS) Sachsens tätig ist, bot sich die Ansprache der Mitarbeiterinnen der anderen IKS an. IKS sind zuständig für die pro-aktive Beratung von Betroffenen häuslicher Gewalt nach einem Polizeieinsatz. Sie sind ebenfalls für Selbstmelder_innen, sowie Angehörige und Fachkräfte ansprechbar und bieten Schulungen an. Die Beratung steht Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aller Geschlechter offen. Die IKS beraten insbesondere auch zu den akuten Interventionsmöglichkeiten nach Gewaltschutzgesetz (Richtlinie zur Förderung der Chancengleichheit - Sachsen, Besondere Bestimmungen, Teil 2 Nr. 2).

3.1.1. Feldzugang

Eine Analyse des Feldzugangs und dabei insbesondere der gescheiterten Versuche, kann Erkenntnisse über das Feld selbst eröffnen (Hontschik&Sabla, 2018, S. 330). Der Feldzugang in der qualitativen Befragung gestaltet sich meist schwieriger als etwa bei der Versendung von Fragebögen, da sich die Befragten mehr Zeit nehmen müssen und ausführliche Schilderungen erwartet werden (Eberle in: Poferl&Reichertz, 2015, S. 57). In der vorliegenden Arbeit erfolgte die Kontaktaufnahme zunächst zu acht IKS in Sachsen via E-Mail mit der Bitte um Rückmeldung innerhalb einer Woche. Noch am selben Tag kam die erste Absage aufgrund von gestiegenen Beratungsanfragen nach den Ausgangsbeschränkungen6, sowie wegen Personalmangels in der Sommerurlaubszeit. Als nach einer Woche keine weitere Rückmeldung erfolgte, wurden die IKS telefonisch kontaktiert. Zwei Mitarbeiterinnen erklärten sich daraufhin bereit für ein Interview. Andere führten als Grund für die Absage ebenfalls erhöhtes Fallaufkommen, Personalmangel während der Urlaubszeit und Zeitmangel wegen anstehender Beantragungsfristen für finanzielle Mittel an. Erwähnt wurde auch, dass der Zeitraum für die Interviewführung zu kurzfristig bemessen ist und auffällig viele andere Studierende Interviews angefragt hatten. In Folge der vielen Absagen wurde die Anfrage breiter gestreut: Es wurden zusätzlich neun IKS und Fachberatungsstellen in westdeutschen Großstädten, sowie acht IKS in ostdeutschen Städten und dem ländlichen Raum angefragt. Daraufhin standen insgesamt vier Interviewpartnerinnen zur Verfügung. Weitere Rückmeldungen gab es nicht. Das studentische Interesse, sowie der Beratungsbedarf bei Betroffenen scheint also gestiegen zu sein, während die Fachkräfte auf mangelnde personelle Ressourcen verweisen.

3.1.2. Stichprobe

Die angefragten Interviewpartnerinnen sind durch ihre Zusage Teil der Stichprobe geworden. Um eine theoretische Sättigung zu erreichen sind nicht zwangsläufig viele Interviewpartner_innen notwendig (Akremi in: Baur&Blasius, 2019, S. 325). Dennoch ist die Stichprobe insbesondere in einer studentischen Abschlussarbeit, aufgrund von Zeit-, Geld- und Personalmangel, notwendig eingeschränkt. Etwa die Kontrastierung unterschiedlicher Expert_innenhintergründe ist bei einer kleinen Stichprobe nicht zweckmäßig (Przyborski&Wohlrab-Sahr, ebd., S. 114 f). Es war allerdings möglich zwei Fachkräfte aus dem ländlichen Raum und zwei Fachkräfte aus Großstädten zu befragen, so dass diese unterschiedlichen Perspektiven in die Studie einfließen können.

3.1.3. Erhebungsinstrument

Das Forschungsinteresse bezieht sich sowohl auf Sachfragen, wie konkrete Hinderungsgründe und Beratungsmöglichkeiten, als auch auf Praxis- und Erfahrungswissen im Hilfesystem. Als Erhebungsinstrument wurde deshalb das leitfadengestützte Expert_inneninterview verwendet. Grundsätzlich muss qualitative Forschung größtmögliche Offenheit gewähren, um ermittelte Daten nicht unzulässig zu beeinflussen (Helfferich, ebd., S. 672). Im Rahmen von Expertinneninterviews ist es dem Forschungsinteresse aber zuträglich und damit zulässig, den Erzählfluss durch spezifische Erzählaufforderungen und Sachfragen stärker auf die verschiedenen Aspekte der Forschungsfragen hin zu orientieren (ebd., S. 682; Fietz&Friedrichs, ebd., S. 813 f).

Der verwendete Interviewleitfaden findet sich in Anhang 3, S. 44 f. der vorliegenden Arbeit. Er ist in thematische Blöcke gegliedert, um inhaltliche Sprünge und damit Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden (ebd., S. 816). Wichtig für die Motivation der Befragten ist eine thematisch passende aber einfache Einstiegsfrage. Vorliegend wurde eine Beschreibung des Arbeitsalltags erfragt. Zum Aufrechterhalten des Erzählflusses eignen sich Überleitungen zwischen den Themenblöcken und bei längerer Interviewdauer auch der Hinweis darauf wie viele Fragen noch folgen. Für einen wertschätzenden Abschluss wird eine sehr offene Frage gestellt, die auch dazu dienen kann bisher nicht betrachtete Aspekte des Themas zu beleuchten (ebd., S. 814 ff). Deshalb wurde am Ende des Interviews nach Wünschen für verbesserte Beratungsmöglichkeiten gefragt und abschließend, ob die Befragte insgesamt noch etwas hinzufügen möchte. Der selbe Leitfaden wurde für alle Interviews verwendet, so dass sich die Erhebungssituationen ähneln und die Interviews entsprechend vergleichbar bleiben (Helfferich, ebd., S. 675).

Aussagen von Expert_innen können, im Rahmen der fachlichen Verortung der Befragten, auch losgelöst von der Person als Fakten betrachtet werden (ebd, S. 680 ff). Während insbesondere der klient_innenzentrierten Psychotherapie und Sozialen Arbeit das Menschenbild zugrunde liegt, dass jede Expert_in für die eigene Lebenswelt ist, bietet sich in der qualitativen Forschung die Zuschreibung „Expert_in“ dann an, wenn die Befragte über spezifisches Rollenwissen verfügt, wie etwa eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung, professionelle Berufserfahrung oder Insiderwissen über Institutionen und Abläufe (ebd., S. 681). Die Expertinnen wurden deshalb mittels Fragebogen (Anhang 2, Seite 43) zu ihren Berufsabschlüssen, erworbenen Zusatzqualifikationen und Berufserfahrung in Jahren befragt.

Die Befragte B1 ist Ende 30 und arbeitet in einer norddeutschen Großstadt in einer Fachberatungsstelle für Opfer von Straftaten, traumatisierte Menschen und deren Angehörige. Die Beratungsstelle ist explizit auch auf häusliche Gewalt, Stalking und sexuelle Gewalt spezialisiert. Die Befragte ist Verhaltenstherapeutin, verfügt über eine traumatherapeutische Weiterbildung und acht Jahre Berufserfahrung im derzeitigen Arbeitsfeld.

Die Befragte B2 ist Anfang 40, Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet seit sieben Jahren in einer IKS im ländlichen Raum Sachsen-Anhalts. Sie absolvierte Zusatzausbildungen zur Suchtberaterin, Traumapädagogin und Til-Tiger-Trainerin7.

Die Befragte B3 ist Anfang 40 und arbeitet in der IKS einer sächsischen Großstadt. Sie ist DiplomSozialpädagogin und systemische Familientherapeutin. Im derzeitigen Arbeitsfeld hat sie 14 Jahre Berufserfahrung.

Die Befragte B4 ist Ende 50 und leitet in einer mittelgroßen sächsischen Stadt eine Frauenschutzeinrichtung und IKS. Die IKS ist zuständig für zwei ländlich geprägte Landkreise. Die Befragte ist Diplom-Ingenieurin, Betriebskauffrau und Sozialpädagogin. Sie hat 17 Jahre Berufserfahrung im derzeitigen Arbeitsfeld.

3.1.4. Erhebungssituation

Da die Erhebungssituation in der qualitativen Sozialforschung wenig standardisierbar ist, soll sie im Interesse der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit transparent gemacht werden:

Die Länge der Interviews betrug ca. 30 bis 70 Minuten. Die ersten beiden Interviews (B1 und B2) wurden telefonisch geführt. Dabei kam es vereinzelt zu Störungen der Telefonverbindung. Interview B3 und B4 fanden persönlich am Arbeitsplatz der Befragten statt. Bei den persönlichen Interviews kam es punktuell zu Einschränkungen der Verständlichkeit, da im Interesse des Infektionsschutzes die Fenster der Räumlichkeiten geöffnet waren und sowohl Befragte als auch Interviewerin eine Schutzmaske trugen.

Da eine positive und verständnisvolle Grundhaltung gegenüber den spezifischen thematischen Einstellungen und Problemen der Interviewten die Teilnahmebereitschaft fördert (Jedinger&Michael in: Baur&Blasius, 2019, S. 368), begann jedes Interview mit einer persönlichen Vorstellung durch die Interviewerin in der sie die eigene Motivation zum Thema beschrieb. Die Kooperationsbereitschaft ist auch dann höher, wenn die Interviewerin sich individuell auf den Gesprächsfluss einlassen kann (ebd., S. 370). Deshalb diente der Leitfaden als Orientierung im Gespräch und wurde nicht als starres Skript angewandt.

Zuletzt sollten Interviewerinnen geschult und geübt im Umgang mit der Interviewsituation sein (ebd). In der vorliegenden Arbeit waren die durchgeführten Interviews die ersten, die die Interviewerin jemals durchgeführt hat, so dass dieses Kriterium nicht erfüllt werden konnte.

3.1.5. Transkription

Die Interviews wurden mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Um intersubjektiv nachvollziehbar auszuwerten, müssen die Audiodateien nach vorher festgelegten Transkriptionsregeln verschriftlicht werden (Fürst et al. in Averbeck-Lietz&Meyen, 2015, S. 8 f). Die Detailliertheit der Transkription richtet sich danach, was für die Fragestellung notwendig ist (ebd). Da für die vorliegende Studie linguistische Besonderheiten beim Antwortverhalten nicht relevant sind, wurden die Interviews stark geglättet. Das heißt, es wurden Dialekte ins Hochdeutsche übersetzt und Verzögerungslaute wie „ähm“ nicht niedergeschrieben. Eine vollständige Auflistung der Transkriptionsregeln findet sich auf Seite 46 der vorliegenden Arbeit.

3.1.6. Forschungsethik

Ethische Erwägungen und Verpflichtungen der vorliegenden Studie ergeben sich zunächst aus den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Gemäß Art 5 I a, b i.V.m. Art. 6 I a DSGVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten einer Interviewperson nur dann rechtmäßig, wenn die Einwilligung in Kenntnis festgelegter und eindeutiger Zwecke gegeben wurde. Dieses Erfordernis der informierten Einwilligung beinhaltet grundsätzlich vollständige Informationen über den Zweck der Forschung und erwarteten Erkenntnisgewinn. Nur wenn Forschungsergebnisse verzerrt würden, kann die Information eingeschränkt werden (Friedrichs in: Baur&Blasius, 2019, S. 68).

In der vorliegenden Arbeit musste zudem ein Umgang damit gefunden werden, dass den Befragten Raum für Kritik an Geldgeber_innen, Arbeitgeber_innen und/oder Kolleg_innen gegeben werden sollte, wenn sie nach Hürden im Hilfesystem gefragt werden. Insbesondere in Anbetracht der Veröffentlichung der Thesis war Zurückhaltung bei dieser Frage erwartbar. Deshalb wurde im Vorhinein entschieden, dass die vollständigen Transkripte der Interviews ausschließlich anonymisiert der Erst- und Zweitbetreuerin zur Verfügung gestellt, aber nicht Teil der Veröffentlichung werden. Die Nichtveröffentlichung, sowie die Anonymisierung der Transkripte schränken die intersubjektive Nachvollziehbarkeit ein. Diese muss auch zu Gunsten der speziellen ethischen Anforderungen im Bereich der Gewaltforschung zurücktreten. So sind zur Wahrung der Vertraulichkeit nicht nur demografische Daten zu anonymisieren. Insbesondere wenn im Interview mit einer Fachkraft Hinweise auf konkrete Klientinnen gegeben werden, ist zudem zu beachten, dass bei Gewalt in der Partnerschaft die Gewalthandlungen meist spezifisch auf die Verletzbarkeit der Betroffenen ausgerichtet sind und somit Wiedererkennbarkeit möglich ist (Hagemann-White in: Helfferich, 2016, S. 26). Im Rahmen der Transkription wurden deshalb sowohl Alters- und Ortsangaben, als auch spezifisch berichtete Gewalthandlungen gekürzt, anonymisiert oder abgeändert. Anonymisierungen wurden kenntlich gemacht durch kursive Schreibweise in Klammern, z.B.:

„Und der hat, der ist (Beruf) und ist die ganze Woche nicht da. Und wenn der dann das Wochenende da ist, ist er dann der Meinung die hat rund um die Uhr ihm zur Verfügung zu stehen und die ehelichen Pflichten zu erfüllen. Ja? Egal wann und wo es dem ankommt. (Gekürzt). Und, wie gesagt, (das junge Kind) hat das nun an dem einen Wochenende halt live miterlebt und alles“ (B4, Rn. 190).

3.2. Datenauswertung mit qualitativer Inhaltsanalyse

Die transkribierten Interviews wurden in die Analysesoftware MAXQDA eingepflegt, um die qualitative Inhaltsanalyse mit deduktiven und induktiven Kategorien durchzuführen. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring ist eine Auswertungsmethode für sozialwissenschaftliche Forschung, die durch das regelgeleitete Kategorisieren von Textstellen eine Analyse großer Textmengen und eine hohe intersubjektive Nachvollziehbarkeit ermöglicht (Mayring&Fenzl in: Baur&Blasius, 2019, S. 633 ff). Dafür wurden vorliegend zunächst unter deduktiven Oberkategorien die Interviews gescannt, um mögliche Unterkategorien zu erkennen. Als Kodiereinheit, also kleinster analysierbarer Materialbestandteil (ebd., S. 636), wurden mehrere Worte mit Sinnzusammenhang festgelegt.

3.2.1. Anwendung deduktiver Kategorien

Die Anwendung deduktiv gebildeter Kategorien wird als strukturierende Inhaltsanalyse bezeichnet. Dafür werden Kategorien zunächst unabhängig vom Material, basierend auf theoretischen Überlegungen, definiert (ebd., S. 638). Vorliegend wurden die Oberkategorien aus den Forschungsfragen gebildet:

1. Welche Faktoren hindern eine Frau daran eine gewaltvolle Partnerschaft zu verlassen? Kategorie: Hinderungsgründe
2. Welche beraterischen Möglichkeiten sehen die Expertinnen, um eine Frau beim Beenden der Gewalt zu unterstützen? Kategorie: Möglichkeiten im Beratungsprozess
3. Welche Hürden im Hilfesystem sehen die Expertinnen bei der Beratung mit gewaltbetroffenen Frauen, die eine Trennung in Erwägung ziehen? Kategorie: Hürden im Beratungsprozess

Anhand der theoretischen Vorüberlegungen ergaben sich Thesen, welche Hinderungsgründe, Möglichkeiten und Hürden in Betracht kommen können. Während der Sichtung des Materials wurden die Oberkategorien unter Berücksichtigung der Thesen ausgebaut und um deduktive Unterkategorien ergänzt (ebd.), z.B.:

1. Oberkategorie Hinderungsgründe
1.1. Emotionale Bindung
1.2. Rechtsunsicherheit

2. Oberkategorie Möglichkeiten im Beratungsprozess

3. Oberkategorie Hürden im Beratungsprozess
3.1. Mangelnde Ressourcen
3.2. Behörden, Gericht und Recht

Der vollständige Kodierleitfaden findet sich im Anhang 9 der vorliegenden Arbeit.

[...]


1 Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.05.2011 in Istanbul.

2 EU-weite Erhebung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zur Gewalt gegen Frauen.

3 Soziale Isolierung und Kontrolle von Kontakten werden von einigen Forscherinnen auch als eigene Kategorie der sozialen Gewalt gefasst. (U.a. Brzank, 2012, S. 32)

4 Auch das Herbeiführen oder Verstärken ökonomischer Abhängigkeit wird von einigen Forscherinnen als eigene Kategorie der ökonomischen Gewalt gefasst. (U.a. Brzank, 2012, S. 32)

5 In Kenntnis der Begriffsdiskussion um „sexualisierte Gewalt“ wird in dieser Thesis bewusst der Begriff „sexuelle Gewalt“ verwendet, da die Autorin mit Hagemann-White (in: Helfferich et al., 2016, S. 15) davon ausgeht, dass Sexualität, Macht und Gewalt sowohl bei Übergriffen als auch generell in heterosexuellen Paarbeziehungen im gegenwärtigen Gesellschaftssystem eng verbunden sind.

6 Gemeint sind die Ausgangsbeschränkungen auf Grundlage der Allgemeinverfügungen zur Einschränkung der Coronapandemie im Frühjahr 2020 in Sachsen.

7 Til Tiger Training ist ein verhaltenstherapeutisches Programm für sozial unsichere Kinder zwischen fünf und zehn Jahren von Ahrens-Eipper et al., 2010.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Hinderungsgründe für Frauen beim Verlassen einer gewaltvollen Paarbeziehung. Should I Stay or Should I Go?
Hochschule
Hochschule Merseburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
85
Katalognummer
V988213
ISBN (eBook)
9783346347947
ISBN (Buch)
9783346347954
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Forschungsethik, Qualitative Inhaltsanalyse, Qualitative Interviews, Gewaltschutzgesetz, Häusliche Gewalt, Deduktive Kategorien, Induktive Kategorien
Arbeit zitieren
Sophie Wetendorf (Autor:in), 2020, Hinderungsgründe für Frauen beim Verlassen einer gewaltvollen Paarbeziehung. Should I Stay or Should I Go?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/988213

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