Bulimie, Magersucht, Fettsucht


Seminar Paper, 1997

36 Pages, Grade: 2


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1) Die Bedeutung der Nahrung

2) Der wirtschaftliche Profit durch die Nahrung
2.1 Das Geschäft mit dem Essen
2.2 Schönheitsideale gestern & heute
2.2.1 Das Sch ö nheitsideal der Geschichte
2.2.2 Veränderung zum heutigen Sch ö nheitsideal
2.4 Das Vorkommen von E ß st ö rungen

3) Begriffserklärungen
3.1 Magersucht
3.2 Bulimie
3.3 Fettsucht

4) Ursachen der Eßstörungen
4.1 Soziokulturelle Aspekte
4.2 Die Familie
4.2.1 Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
4.2.2 Die Eltern
4.3 Schwerwiegende Veränderungen des Lebens
4.4 Sexueller Mißbrauch
4.5 Das angeborene Hungern nach Liebe und Anerkennung
4.5.1 Der Wunsch, der perfekte Mensch zu sein
4.5.2 Der Kampf um Anerkennung durch dasäu ß ere Erscheinungsbild

5) Diäten:
5.1 Das Idealgewicht
5.2 Verschiedene Variationen der Diäten
5.3 Der Weg von der Diät in die Sucht
5.3.1 Der Weg in die Magersucht
5.3.2 Der Weg in die Bulimie

6) Die bulimisch/anorektische Persönlichkeit
6.1 Der Mangel an Selbstbewußtsein
6.2 Das Hungern als Wegweiser durch das eigene Leben

7) Bulimie
7.1 Bulimie als Form der Magersucht
7.2 Bulimie als alleinstehende Krankheit
7.3 Das Erbrechen als Form von innerer Verzweiflung
7.4 Das Abrutschen in die Kriminalität aufgrund von Heißhungerattacken

8) Körperliche Folgeerscheinungen des extremen Untergewichts

9) Die Eß- bzw. Fettsucht
9.1 Der Unterschied zwischen Fettsucht und Fettleibigkeit
9 .1.1 Fettleibigkeit
9.1.2 Der Ü bergang zur Fettsucht
9.2 Ursachen der Fettsucht
9.2.1 Der Einflu ß der Familie
9.2.1.1 Verw ö hnende Erziehung
9.2.1.2 Die f ü rsorgliche Mutter
9.2.2 Die unbewu ß te Angst vor dem Schlanksein
9.3 Das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper
9 .3.1 Wahrnehmung des Hungers
9.3.2 Der Bezug zum eigenen K ö rper
9.3.2.1 Relation zwischen Nahrung und K ö rper
9.4 Der Charakter der/des Fettsüchtigen
9.4.1 Zwischenmenschliche Beziehungen
9.4.2 Der Umgang mit dem täglichen Leben
9.5 Der gestörte Stoffwechsel
9.6 Fettsucht als vererbbare Krankheit
9.7 Das Anhalten des Übergewichts vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter
9.8 Körperliche Folgeerscheinungen

10) Therapien
10.1 Künstliche Nahrungszufuhr
10.2 Stationäre Behandlung
10.2.1 Stationäre Behandlung bei Anorektikerinnen und Bulimikerinnen
10.2.1.1 Behandlungsdauer einer stationären Therapie
10.2.1.2 Gefahren einer stationären Therapie
10.2.2 Stationäre Behandlung bei E ß s ü chtigen
10.3 Methoden der Psychotherapie
10 .3.1 Gesprächstherapie
10.3.1.1 Die naturwissenschaftliche Gesprächstherapie nach Rogers
10.3.1.2 Die phänomenologische Gesprächstherapie
10.3.2 Verhaltenstherapie
10.3.3 Einzel- und Gruppentherapie
10.3.4 Familiengruppentherapie

10.4 Therapieverlauf

1. Die Bedeutung der Nahrung:

Essen ist ein Bedürfnis, dem alle Menschen nachgeben müssen. Es dient nicht ausschließlich dazu, dem Körper Energie für seine Instandhaltung zuzuführen, sondern erfüllt auch andere Zwecke. Die so in gewisser Weise ritualisierte Nahrungsaufnahme hat eine lange Tradition; so werden etwa zu bestimmten Anlässen und Jahreszeiten auch besondere Speisen aufgetischt. Bei manchen besonderen Speisen wird die Kommunikation bzw. werden die Gesprächsthemen in eine spezielle Richtung gewichtet und eingeengt.1 Essen wird auch des öfteren durch Sitten und Religionen beeinflußt; z. B. sollte man in islamischen Ländern Schweinefleisch und Alkohol meiden. Gerade diese Dinge wurden nicht einfach grundlos veranlaßt, sondern haben meist einen kulturellen und/oder regionalen Hintergrund. So wird Schweinefleisch aufgrund der klimatischen Bedingungen im arabischen Raum einfach schneller von Bakterien bzw. Würmern (Trichinen) befallen und somit für Menschen ungenießbar oder sogar gesundheitsgefährdend.

Der Wert, die Menge und Art der Nahrungsaufnahme sowie die Beherrschung gewisser Tischmanieren reflektieren auch zunehmend das Ansehen und Prestige der Leute2. So war es schon vor Jahrhunderten die Gepflogenheit der Reichen und Adeligen, große Mengen ungesunder Nahrung zu sich zu nehmen, während gleichzeitig ganze Familien mit einem Bruchteil des Kaloriengehalts tagelang auskommen mußten.

Doch auch auf andere Weise spielt Essen gesellschaftlich eine große Rolle: z. B. dient es zur Kommunikation. Menschen kommen sich auf Empfängen durch das Essen näher, in anderen Fällen werden Leute zum Essen eingeladen. Bestimmte Angebote (,,Was möchten Sie trinken?") signalisieren Freude über die Anwesenheit des Gastes, während das gemeinsame Mahl Vertrauen und ein gewisses Gefühl von Zusammengehörigkeit vermittelt. Sehen sich Menschen aus politischen, wirtschaftlichen oder klimatischen Gründen gezwungen, unfreiwillig hungern zu müssen, so stehen sie plötzlich vor beinahe unlösbaren Problemen.

Obwohl die verminderte bzw. eingestellte Kalorienzufuhr zu gröbsten körperlichen Störungen führen kann, ist dies nicht das Hauptproblem für den Hungernden. Dieser leidet vielmehr an durch den Hunger bedingten psychischen Erkrankungen. Die seelische Beschäftigung mit Essen beschränkt das Denken des Betroffenen insofern, als alle seine Gedanken augenscheinlich pausenlos um die Beschaffung und den Verzehr von Nahrung kreisen und somit eine gravierende Veränderung der Persönlichkeit stattfindet.

Nachdem das Trachten nach Nahrungsaufnahme überwunden ist, verringern sich die sexuellen Bedürfnisse; darauf folgt eine Phase des ausnahmslosen Egoismus.

Die Endphase ist durch andere Beeinträchtigungen des bewußten Erlebens gekennzeichnet

(wie etwa Apathie oder allgemeine Reizbarkeit)3.

2. Der wirtschaftliche Profit durch die Nahrung:

2.1 Das Geschäft mit dem Essen

Wirtschaftlich gesehen bringen Wohlstand und die dadurch bedingte ausgewogenere Nahrungsaufnahme vor allem den großen Lebensmittelkonzernen den größten Gewinn.

Wie schon erwähnt, reflektiert die Art und Menge der Speise Reichtum und Prestige unserer Gesellschaft. Daß gerade in der heutigen Zeit ein neuer Mythos um die Schönheit entstanden ist - auf den ich später noch etwas genauer eingehen möchte -, macht es großen Konzernen sehr einfach, aus dem gerade herrschenden Schönheitsideal großen Profit zu ziehen. Wir leben heute in einer Zeit, in der man besonders hoch geschätzt wird, wenn man besonders schlank, sportlich und braungebrannt auftritt - egal, auf welche Weise man sich das gewünschte Aussehen und Gewicht verschafft hat. Dem gesellschaftlichen Opfer wird dies noch erleichtert, indem er/sie täglich mit mindestens drei verschiedenen ,,Light-Produkten" sowie verschiedensten (durchwegs kuriosen) Diätstrategien konfrontiert wird. Gleichzeitig werden diesen Menschen aber auch immer köstlichere und leichter zuzubereitende Speisen schmackhaft gemacht.

Andere Gruppen legen allerdings großen Wert darauf, ,,ihren potentiellen Kunden Mittel anzubieten, die den Konsequenzen falscher und übermäßiger Ernährung entgegenwirken.".

So profitiert die Lebensmittelindustrie davon, daß sie andauernd neue und noch mehr fett- und kalorienverminderte Produkte auf den Markt bringt.

Doch nicht nur die Lebensmittelindustrie profitiert von unserem neuen Schönheitsideal, sondern u. a. auch die Pharmaindustrie, deren laufend auf den Markt geworfene Abführmittel, Appetitzügler, Amphetamine und ,,für die Gesundheit wertvolle Naturprodukte" (Stichwort Weizenkleie) angeblich den Ausweg aus dem scheinbar hoffnungslosen Zustand des ,,Zu- Dick-Seins" bieten.

Doch auch hier steht der ,,Nutzen" in keinem Vergleich zu den finanziellen wie gesundheitlichen Kosten, die die Konsumenten aus Verzweiflung zu tragen bereit sind.

Abgesehen davon, daß der ständige Gebrauch von Laxantien und künstlichem Süßstoff zu schwersten Gesundheitsschäden führen kann4, ist es z. B. bekannt, daß der Abusus von Abführmitteln zu Verätzungen der Magenschleimhaut führen kann; ein allzu großer Verbrauch von künstlichen Süßstoffen fördert wiederum die Entstehung von Krebs.

2.2 Schönheitsideale - gestern & heute

2.2.1. Geschichte des Sch ö nheitsideals

Das heutige Schönheitsideal, schlank und sportlich zu wirken, ist tatsächlich typisch für unsere Zeit. In verschiedenen Epochen differierten die Meinungen über das angemessenste Aussehen sehr stark. Die Bilder, welche ,,perfekte" Schönheit beschreiben, sprechen allerdings fast ausschließlich von Frauen, weshalb ich mich auch hauptsächlich auf dieses Geschlecht beschränken werde.

Noch bis vor 75 Jahren gab es eine moderne westliche Kunsttradition, in welcher Frauen in ihrer Üppigkeit die vollendete Schönheit darstellten. Bis zu diesem Zeitpunkt zeigen uns Bilder, daß ausgeprägte Oberschenkel, Fältchen auf dem Bauch, ein volleres Gesicht sowie Grübchen auf dem Gesäß und der Hinterseite der Schenkel als äußerst lobenswert und auch erotisch galten (heute werden ebensolche Grübchen nur allzugerne diskriminierend als Cellulite bzw. Bindegewebsschwäche dargestellt5 ).

2.2.2. Die Veränderung zum heutigen Sch ö nheitsideal

Einer der Hauptgründe für die radikale Veränderung des gewünschten perfekten Aussehens war das Voranschreiten der weiblichen Emanzipation. Erst durch die gesetzliche Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft begann die radikale Ablehnung alles Weiblichen. Mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen 1920 begann auch das Sinnen und Trachten nach dem Abnehmen. Der männliche Teil unserer Gesellschaft fühlte sich plötzlich in seinen politischen und einflußreichen Positionen gefährdet, weshalb er auch schnellstens den Frauen neue Hindernisse in den Weg legte.

Da sich Frauen ohnehin die ganze Geschichte hindurch neuen Begebenheiten, Personen etc. unterordnen mußten, kam nun ein neues ,,Gefängnis" in Mode - das neue Schönheitsideal! Der Gedanke - der sich später auch bestätigte - war, daß sich Frauen ausschließlich auf ihr Aussehen konzentrierten, bis sie schließlich so weit von ihrer Beschäftigung eingenommen waren, daß sie sich weder auf die eventuell mögliche Karriere noch auf politisches Engagement konzentrieren konnten.

Als Konsequenz dieses neuen Gesellschaftsproblems entstanden auch neue psychische Krankheiten, wie z. B. Eßstörungen!6

2.4 Das Vorkommen von Eßstörungen

Von gesundheitlichen Ausnahmen abgesehen, entstehen Eßstörungen generell auf Grund von zu viel oder zu wenig Essen und Trinken. Das heißt, Eßstörungen kommen an und für sich ausschließlich in Regionen vor, in denen Nahrung ausreichend oder im Überfluß vorhanden ist7.

Dies erklärt auch das Ergebnis einiger Forschungen, welche besagen, daß die Anzahl der Leute, die an Eßstörungen leiden, in Industrieländern sehr hoch ist; jedoch hingegen in Entwicklungsländern und Regionen, welche gerade erst einen Krieg überstanden haben, keine Rolle spielt. Anfänglich waren zumeist Bürger der Ober- und Mittelschicht betroffen; schließlich aber breiteten sich diese Störungen epidemieartig auch auf alle anderen sozialen Schichten aus, sodaß es hier heutzutage keine Unterschiede mehr gibt. Die meisten an Eßstörungen leidenden Patientinnen haben übrigens die USA, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Die USA sind europäischen Industrieländern beinahe eine ganze Generation voraus, was das Ausmaß und die Anzahl von Eßstörungen betrifft8.

3. Begriffserklärungen:

3.1 Magersucht

Die Magersucht (Anorexia nervosa bzw. mentalis, Mens=Geist) ist eine zumeist psychogene Störung. Sie kann u. a. als Reifungskrise bezeichnet werden, da sie bei Mädchen hauptsächlich als Pubertätsmagersucht auftritt (bei Jungen ist die Magersucht generell sehr selten anzutreffen). Vorbedingung einer Magersucht ist eventuell eine permanente Trotz- haltung, aber auch eine (unterschiedlich stark ausgeprägte) chronische Depressivität. Mitunter ist die Magersucht auch eine Abwehrreaktion gegen die körperliche Entwicklung zur Frau9.

3.2 Eß-Brechsucht

Die Eß-Brechsucht (Bulimia nervosa, Griech: Heißhunger) ist auch eine meist psychogene Eßstörung, bei der viel kalorienreiche Nahrung in kürzester Zeit zugeführt wird. Als Maßnahmen, das Körpergewicht in einem (sub)normalen Rahmen zu halten werden zumeist periodisches Fasten, selbstinduziertes Erbrechen, sowie Laxanzienmißbrauch benutzt10.

3.3 Fettsucht

Fettsucht ist eine Neigung zu krankhaftem Fettansatz bzw. zur Fettleibigkeit durch exogene (erhöhte Nahrungsaufnahme) und endogene (nervalendokrine) konstitutionelle Faktoren, z.B. Störung im dienzephal-hypophysären und Nebennierengonadensystem.

1) Thyreogene Fettsucht: Nachlassen der Schilddrüsentätigkeit bedeutet Herabsetzung des Stoffwechsels. Diese Form tritt gelegentlich auch zusammen mit einem Myxödem vor.

2) Paradoxe Fettsucht: Fettansatz nach Hungerperioden bei besserer, aber kalorisch und qualitativ (Eiweiß, Fett) noch unterwertiger Ernährung. Wahrscheinlich ist diese Form der Fettsucht dienzephal-hypophysär bedingt11.

4. Ursachen der Eßstörungen (v. a. Magersucht)

4.1. Soziokulturelle Aspekte:

In hohem Maße mitverantwortlich für die Entstehung und Förderung von Eßstörungen sind die allgemeine Rolle der Frau in unserer heutigen Gesellschaft; im besonderen ihre Rolle, die sie in Kleinfamilien spielen sollte. Eine der Hauptaussagen von Magersüchtigen ist nämlich oft, daß sie sich weigern, die Rolle ihrer Mutter zu übernehmen. Viele Erkrankte haben schon die Erfahrung gemacht, daß Frauen Männern gegenüber benachteiligt sind; sei es im Beruf oder in der Familie. Immer wieder werden besondere und oftmals schon zu hohe Anforderungen an Frauen gestellt. So leiden z. B. viele Töchter unter der Zwangsvorstellung, sie müßten ihren Eltern den vor der Geburt ersehnten Sohn ersetzen. Sie unterdrücken jegliche ,,weibliche" Gefühle, verbergen Angst, verstärkte Traurigkeit und Schwäche. Tränen und starke Emotionen versuchen sie zu unterdrücken und stellen sich statt dessen unter den selbstauferlegten Zwang, ständig kräftig und willensstark zu erscheinen; demzufolge zeigen sie sich hart im Nehmen und äußerst leistungsorientiert.

In anderen Fällen lassen sie andere - meist männliche - Familienmitglieder bzw. Frauen, welche sich dem herrschenden Gesellschaftsbild der Frau perfekt angepaßt zeigen, deutlich spüren, daß diese ihrer Meinung nach weniger wert seien12. Dies macht sich einerseits durch Unterschiede in den Aufgaben, welche jeweils männlichen und weiblichen Geschwistern zugedacht werden, und andererseits in unterschiedlichen Rechten und Verboten bemerkbar. Z. B. dürfen Jungen meistens abends länger aufbleiben und früher ,,anspruchsvollere" Filme im Fernsehen ansehen.

In einigen Ausnahmefällen möchten Mädchen auch generell die Rolle ihrer Mutter nicht übernehmen. Sie haben Angst, ein Leben zu führen, das aus Verzicht und Opfern besteht; Angst, andauernd für die Familie da sein und demzufolge die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ständig zurückstellen zu müssen.

Viele dieser Mütter identifizieren sich selbst innerlich nicht mit der ihnen zugeteilten Rolle, leugnen aber diese Tatsache über lange Zeit, obwohl sie ihre Rolle perfekt spielen. Einige dieser Mütter hatten sich diesen Beruf zu optimistisch vorgestellt und wurden im Laufe der Zeit immer wieder enttäuscht - ihr Leben entspricht einfach nicht ihren Erwartungen. Oftmals gestehen sich diese Mütter aber auch ihr Unglück nicht ein. Das Gros der Töchter spürt jedoch den Frust ihrer Mütter, weshalb die Angst, später ein ähnliches Leben führen zu müssen, ständig wächst.

Aus diesen Gründen weigern sich viele Mädchen, eine Frau zu werden. Doch irgendwann, spätestens in der Pubertät, können sie sich gegen die biologisch bedingte Entwicklung ihres Körpers nicht mehr wehren - sie sind sozusagen ,,dazu verdammt, eine Frau zu werden"13. Es gibt nur noch eine Möglichkeit, die Entwicklung aufzuhalten - ausnahmsloses Hungern. Obwohl die Mütter Magersüchtiger ihre ,,vorgeschriebene Rolle" als Frau zumindest dem Schein nach angenommen haben - oder gerade deshalb - , revoltieren ihre Töchter dagegen, erwachsen zu werden - aus purer Angst, einmal selbst mit einem ähnlichen Schicksal konfrontiert zu werden.

In vielen Fällen bemerken junge Frauen aber, daß ihre Traumvorstellung - ihr Leben einmal in die eigenen Hände zu nehmen, erfolgreich zu sein und Karriere zu machen - in der Realität kaum zu verwirklichen ist. Aus diesem Grund beginnen viele, weiterzuträumen oder zu kämpfen. Dies ist dann die Basis für eine selbsterschaffene Scheinwelt - die Welt des Hungerns.

4.2 Die Familie:

Viele der Familien, in welchen Eßstörungen auftreten, sind wahre Bilderbuchfamilien - alles hat den Anschein, perfekt zu sein. Sie sind Mittelstandsfamilien, in denen ältere Werte wie Familiensinn, Leistung, Ordnung und Sparsamkeit eine große Rolle spielen. Alles ist streng geregelt und jeder Verstoß wird mit Sanktionen bestraft. Gesellschaftliche Verpflichtungen wie z. B. Geschäftsbesuche, Theater, Konzerte etc. werden zwar wahrgenommen, aber dennoch kapselt sich die Familie weitgehend von der Außenwelt ab. Bisweilen geht diese Abschottung so weit, daß Besuche von Freunden der Kinder nicht erwünscht sind14. Eine besonders wichtige Rolle im Familienleben spielt der Terminkalender. Alles, ob Schularbeiten, Feiern oder sogar die Menstruation der Tochter, wird darin festgehalten. Durch die nahezu perfekte Ordnung wird Spontaneität de facto unmöglich1.

Großer Wert wird auch auf gemeinsame Mahlzeiten gelegt, an denen jedes Familienmitglied teilzunehmen hat. Auch individuelles Handeln sowie das Äußern von Meinungen, welche nicht dem Bild der Familie entsprechen, sind verpönt.

4.2.1. Die Beziehungen zwischen einzelnen Familienmitgliedern

Trotz aller Gleichstellung in der Familie fehlt es an Vertrauen und Geborgenheit unter den einzelnen Familienmitgliedern. Direkte Aussprache oder Diskussion, insbesondere auch Kritik werden vermieden. Zwischen den einzelnen Familienmitgliedern fehlt es trotz vorgetäuschter Nähe an Herzlichkeit und Freundschaft2.

Oftmals spielen die Großeltern noch eine viel zu große Rolle in der Kleinfamilie, da sich die Eltern entweder nicht von ihnen lösen konnten oder die Großeltern es sich zur Aufgabe machten, bei den Enkelkindern als Ersatzeltern zu fungieren.

Oft werden aufgrund von Streitigkeiten je nach Bedarf ungerechte Pakte geschlossen, bei denen immer derjenige, gegen den sich der Pakt richtet, benachteiligt ist - bis sich auf seiner Seite Verbündete finden. Das häufigste Resultat dieser Verhaltensform ist die Spaltung der Familie!

Die Geschwister leben zwar in der selben Wohnung, kennen aber außer den äußerlichen Gepflogenheiten kaum etwas voneinander. Oft mischt sich die Mutter auch zu sehr in die Lebensweise ihrer Kinder ein. Sie bestimmt das gesamte Leben ihrer Schützlinge. Allein von ihr hängt es ab, ob und wie weit sich eine Beziehung zu anderen Familienmitgliedern oder gar Fremden entwickeln kann3.

4.2.2. Die Eltern

In den meisten Fällen fühlt sich die Magersüchtige eher zu ihrer Mutter, weniger zum Vater hingezogen, obwohl ihre Mutter das ganze Leben mitbestimmte. Oftmals lebten beide Beteiligten in einer Art Symbiose, in der der eine Part ständig auf den anderen angewiesen ist. Die Tochter darf sich durch nichts von der Mutter unterscheiden, und diese verspürt oft nicht einmal das Bedürfnis, sich dagegen zu wehren - auf daß der Familienfriede ungestört bleibe4. Der Vater hingegen möchte den autoritären Part der Gemeinschaft übernehmen. Was er sagt, sollte auch möglichst kritik- und widerspruchslos getan werden. In vielen Fällen kommt die Tochter den ständigen Anforderungen, die sie erfüllen sollte, nicht mehr nach und sucht deshalb wiederum in der Mutter eine Verbündete5.

Doch auch dem Anspruch des ,,Gleichseins", den die Mutter an sie stellt, versucht die Tochter selber nachzukommen, weshalb sie wiederum nur den einen Ausweg sieht, sich eine neue Scheinwelt aufzubauen - das Hungern.

4.3. Schwerwiegende Veränderungen des Lebens:

Ein Auslöser des Ausbrechens von Eßstörungen wären auch Umstellungen im Alltag, die das Leben beeinflussen. Das ,,Herausgerissenwerden" aus einem gewohnten Umfeld oder die Umstellung auf neue Tagesabläufe ergeben wiederum Probleme und Anforderungen, denen viele - gerade Jugendliche - nur unter großen Anstrengungen nachkommen können. Viele geben auch hier auf und errichten sich eine ,,Hungerwelt" bzw. trachten das erhoffte Glück durch übermäßiges Essen zu erreichen.

Eine der schwierigsten Umstellungen im Leben ist der Verlust einer Bezugsperson, wie etwa der Tod eines nahen Verwandten, der Verlust eines Freundes oder Partners. Meistens ist der ,,Verbliebene" auf das Leben mit dem/der Verstorbenen eingestellt, d. h. oft waren beide Teile des Paares derart aufeinander abgestimmt, daß der Verlust nicht nur die Intensität der Trauer bestimmt, sondern auch eine vollständige Neuregelung des Tagesablaufs erfordert. Sehr ähnliche Auswirkungen zeigen sich auch bei plötzlichem Schul- und Wohnungswechsel; bei älteren Betroffenen kann auch ein Wechsel des Arbeitsplatzes eine derartige Wirkung haben. Auch hier müssen bisherige Bezugspunkte wie z. B. die gewohnte Wohnung, die Klasse bzw. das Büro etc. völlig aufgegeben werden. Als weitaus schlimmer erweist sich dann jedoch das Problem, das gesamte soziale Umfeld (Freunde, Kollegen usw.) aufgeben zu müssen. Auch diesen Umständen fühlen sich viele Personen einfach nicht gewachsen6.

4.4. Sexueller Mißbrauch:

Werden Hoffnungen des Mädchens auf treusorgende und liebevolle Zuwendung durch den Vater in der Realität enttäuscht, indem das Mädchen vom Vater bzw. von väterlichen Ersatzobjekten (z.B. Stiefvater) für die eigene, u. U. mit der Mutter nicht zu lebende Sexualität ausgenutzt wird, so muß das Mädchen aufgrund der hohen Besetzung der väterlichen Sexualität ein Erleben des eigenen Körpers völlig abspalten7. Bulimische und anorektische Mädchen sehen sich dem Vater doppelt ausgeliefert: verrät das Mädchen den Vater, so verliert es als familiäre Bezugsperson die Mutter (weil diese sich hintergangen fühlen könnte). Da bulimische und magersüchtige Mädchen unter dem inneren Zwang stehen, anderen Menschen generell nur gute Dienste erweisen zu müssen, scheuen sie gleichzeitig davor zurück, anderen Menschen von ihrem sexuellen Mißbrauch zu erzählen - in der berechtigten Annahme, daß sie dadurch ihren Vater in eine unangenehme Situation bringen könnten.

Sexueller Mißbrauch kann vor allem bei pubertierenden Mädchen zur Verleugnung einzelner Körperpartien führen (v. a. Unterbauch und Genitalbereich). In vielen Fällen führt dies später zu einer Entwicklung in Richtung Prostitution bzw. pathologische Promiskuität.

4.5. Der angeborene Hunger nach Liebe und Anerkennung:

Häufig werden an Eßstörungen Erkrankte nicht nur durch für sie unlösbare Probleme bzw. Umstände, an denen sie nichts ändern können, überfordert, sondern durch selbst auferlegte Pflichten und Regeln.

Der Großteil aller Menschen hat das Bedürfnis, geliebt und anerkannt zu werden. Doch einige dieser Menschen geraten leicht in die Gefahr, dieses Bedürfnis überzubewerten, indem sie ihr ganzes Leben darauf aufbauen, anderen Menschen zu helfen oder sich selbst zu verstellen, um mehr Zuneigung zu bekommen8.

4.5.1. Der Wunsch, der perfekte Mensch zu sein

Viele Jugendliche werden in ihrer Kindheit zur Ordnung und Disziplin erzogen - Tugenden, von denen sie in ihrem tiefsten Inneren gerne etwas ablassen würden. Häufig sind Pubertierende allerdings schon so auf ihren Lebensstil fixiert und an ihn gewöhnt, daß es ihnen kaum möglich ist, ihn aufzugeben. Da allerdings in der Reifungsphase die Revolte bzw. der Wunsch, die Entwicklung aufzuhalten, völlig normal ist, müssen auch streng erzogene Jugendliche einen ihrer Lebensführung gerechten Weg des Auffallens und Revoltierens finden.

Da die Eltern ständig auf Genauigkeit und Ordnung pochen, beschließen einige Jugendliche, diese Genauigkeit noch zu übertreffen und sich auf diese Weise Anerkennung zu verschaffen. Auch Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft sind schon fast vergessene, aber dennoch immer wieder aufgegriffene Tugenden9. In diesen Fällen werden aber auch diese Charakterzüge überbetont. Um als ,,perfekt" zu gelten und ein Maximum an Liebe zu erheischen, stellen viele (regelrecht dazu prädestinierte) AnorektikerInnen ihr eigenes Ich zurück und versuchen, ausschließlich für andere da zu sein. Sie versuchen, den Menschen in ihrer Umgebung zur Seite zu stehen, wann immer es möglich ist - auch wenn sie selbst darunter leiden. Sie geben sich sozusagen selbst auf. Viele spielen immer den hilfsbereiten, leistungsorientierten Menschen, der andauernd fröhlich und heiter erscheint, da ihrer Meinung nach Eltern, Freunde Verwandte etc. einen perfekten Menschen verdienen. Außerdem sind sie der Meinung, daß ihr gesamtes Umfeld aus guten Menschen besteht, deren Summe aus guten Eigenschaften übertroffen werden muß, um Anerkennung und Sympathie zu ernten10. Doch in vielen Fällen schlägt diese gerade erst erlangte Zuneigung in Antipathie um, da allzu perfekte Menschen oftmals unheimlich, aber auch unübertreffbar wirken. Die allgemeine Bewunderung läßt nach, da viele der Bekannten meinen, mit dieser Person nicht mehr umgehen zu können.

4.5.2. Der Kampf um Anerkennung durch dasäu ß ere Erscheinungsbild

Anerkennung wird nicht nur durch gute Taten, sondern auch durch perfektes Aussehen gewonnen. Die meisten Jugendlichen, die unter geringem Selbstbewußtsein leiden (sich aber gerade deshalb Bewunderung ersehnen), versuchen durch körperliche Besonderheiten aufzufallen. Nur eine winzige Anzahl der Jugendlichen versucht dies, indem sie möglichst dick erscheinen. Die Mehrheit richtet sich nach dem derzeit herrschenden Schönheitsideal. Einerseits ist die neueste Mode sehr gefragt, andererseits sollte auch die Figur der Zeit angepaßt sein. Da das heutige Schönheitsideal nun einmal von Dünnheit geprägt ist, muß diese Sorte von Jugendlichen mindestens die untere Grenze des vorgeschriebenen Gewichts erreichen. Da Patienten, die an Eßstörungen leiden, ohnehin zur Übertreibung neigen, wird auch die Gewichtsverringerung sehr genau genommen.

5. Diäten:

5.1. Das Idealgewicht:

Allen weiteren Ausführungen muß vorangestellt werden, daß das Idealgewicht ein rein finanzieller Aspekt ist, der mit wirklichen gesundheitlichen Problemen der Menschen in nur sehr geringem Zusammenhang steht. Mit dem Idealgewicht wurde ein Schema erstellt, in welches sich Menschen gerne hineinpressen lassen und mit dem die Wirtschaft zusätzlich größte Profite erzielen kann. Da das Erreichen des Idealgewichts (Männer: Körpergröße in cm -100 -10%; Frauen: Körpergröße in cm -100 -20%) für den Großteil der Bevölkerung ein grobes gesundheitliches Problem darstellt, profitieren vom Schlankheitswahn nicht nur Ärzte, sondern auch Diätmittelberater und Hersteller sogenannter ,,Wundermittel"11. Die Lebenserwartung untergewichtiger Menschen ist eher geringer als höher einzuschätzen, da dem Körper Abwehrkräfte entzogen werden. Das heißt aber nicht, daß ein Leptosomer eine kürzere Lebenserwartung hätte, da der Körper keine anderen Verbrauchs- und Bedarfsangaben kennt.

Ein Pykniker allerdings, der sich auf sein vorgeschriebenes Idealgewicht herunterhungert12, ist sehr wohl gesundheitsgefährdet, da sein Körper keine Möglichkeit hat, sich an die radikale Umstellung anzupassen.

5.2. Die verschiedenen Variationen der Diäten

Früher, bevor man die genauen Reaktionen des Körpers auf den absichtlichen Entzug von Nahrung kannte, empfahl man abnahmebegierigen Personen, sich einfach mit der Hälfte des Essens zu begnügen bzw. sich - wenn möglich - einer Nulldiät zu unterziehen. Als genauso wenig erfolgreich erwiesen sich später die ,,Ausschließlich"-Diäten (Orangen,- Kartoffeloder Gurkendiät etc.). Eine Konsequenz auf diese Art von Diäten sind Heißhungerattacken, weshalb Diätwissenschaftler neue ,,Abnehmwunder" auf den Markt brachten, welche zwischendurch auch ein Stückchen Kuchen oder Schokolade erlauben13.

5.3. Der Weg von der Diät zur Sucht

5. 3. 1. Der Weg in die Magersucht

Beginn und Ablauf einer Magersucht entsprechen exakt dem einer Drogensucht. Besonders in der Anfangsphase bewirkt das exzessive Hungern ein besonderes Glücksgefühl; später wird es dem/der PatientIn unmöglich, den (inneren) Zwang abzunehmen aus eigener Kraft zu überwinden. Vor allem bei Übereifer während einer Beschäftigung (wie vorher bereits erwähnt), erzielen die Abnehmenden tatsächlich einen bedeutenden Gewichtsverlust. Irgendwann ist dann das gewünschte Ziel erreicht - meist das Normal- oder Idealgewicht - und die Diät wird beendet.

In einigen Ausnahmefällen hat die Geschichte der Diäten auch einen anderen Ausgang: es kann passieren, daß eine Person, welche eine Diät erfolgreich zu Ende gebracht hat und diese demnach auch beenden sollte, aufgrund der allseitigen Bewunderung und Anerkennung nicht mehr aufhören möchte. Das ständige, stetig wachsende Lob spornt die Betroffene noch an, weiter zu hungern - bis unter die gewünschte Grenze14. Oftmals treiben auch Mütter ihre Töchter an, eine Diät fortzusetzen, da sie in ihren Kindern den langersehnten Erfolg sehen, den sie selber nie erreichen konnten.

Auf diese Weise hungert die Betroffene weiter, in der Hoffnung auf noch mehr Ansehen und das daraus erwachsende Selbstwertgefühl. Doch nach einiger Zeit läßt die Anerkennung nach. Die mittlerweile beinahe unattraktiv wirkende ,,Überschlankheit" wurde für sämtliche Bewunderer zur Gewohnheit. Aus diesem Grund geht auch das Selbstbewußtsein der Hungernden wieder zurück. Um sich erneut zu Ansehen zu verhelfen hungert die Betroffene weiter. Doch das erhoffte Glücksgefühl bleibt aus, genauso wie die Anerkennung. Die Hungernde erlebt allenfalls noch ein geringes Aufflackern von Glück in ihrer Depression. Jetzt spricht man von Sucht.

5.3.2. Der Weg zur Bulimie

In eine andere Gattung von Sucht fällt die Bulimie: hier sieht man anfangs die Tendenz, sich mit Essen für hervorragend erbrachte Noten zu belohnen oder aus Frust unaufhaltsam Essen in sich hineinzustopfen, denn Essen beruhigt sowohl Körper als auch Geist. Wird dem Organismus ausreichend Nahrung zugeführt, so produziert das Gehirn Glückshormone (Endorphine).

Diese Endorphinerzeugung wird vor allem durch Zucker angeregt.

BulimikerInnen leiden allerdings genauso unter der Angst, dicker zu werden, wie Magersüchtige. Gleichzeitig können sie sich aber nicht davon abhalten, ständig Nahrung zu sich zu nehmen. Deswegen werden anfangs zumeist Appetitzügler und Abführmittel mißbraucht - später sehen BulimikerInnen nur mehr die Möglichkeit, das soeben Verspeiste sofort wieder zu erbrechen. Selbstverständlich finden es auch BulimikerInnen anfangs unappetitlich, sich zu übergeben. Ist der Vorgang allerdings mehrmals wiederholt worden und gleichzeitig mit einer Endorphinausschüttung verbunden, so werden viele Erkrankte auch davon gleichsam abhängig wie vom Essen bzw. Hungern. Der Weg in die Sucht ist vollendet!15

6. Die bulimische/anorektische Persönlichkeit:

6.1 Der Mangel an Selbstbewußtsein

Den meisten anorektischen oder bulimischen Mädchen mangelt es an Selbstbewußtsein. Sie tun, was ihnen aufgetragen und von ihnen verlangt wird; nicht nur, um Anerkennung zu erheischen, sondern auch, um ,,einen geregelten Weg durchs Leben" zu finden. Viele trauen sich selbst nicht einmal zu, einen ganz normalen Arbeitstag durchzustehen - oder sie glauben zumindest, daß sie ihren Tag schlechter meistern als der Großteil ihrer Mitmenschen. Anorektikerinnen klammern sich regelrecht an eine zweite Person, die ihnen den Weg durch ihr Leben weist. In den meisten Fällen wird die Mutter zur ,,Führerperson" auserkoren. Aus diesem Grund lassen sich Magersüchtige in Bündnisse und Verantwortungen locken, die weder ihrer Persönlichkeit noch ihrer Leistungsfähigkeit entsprechen. Viele dieser Mädchen wissen, daß sie diesen Anforderungen nicht gewachsen sind - dennoch lassen sie sich in immer mehr Verantwortungen einbinden16.

Auch wenn Anorektikerinnen persönliche Bedürfnisse haben, stellen sie diese stets an zweite Stelle, um primär für andere da zu sein. Auf diese Weise verlieren viele dieser Mädchen den Bezug zu sich selbst. Einige wissen mitunter schon nicht mehr, wer sie wirklich sind - die Person, die sie vorgeben zu sein, oder ein junges Mädchen mit eigenem Willen und eigenen Bedürfnissen. Dazu eine Magersüchtige: ,,Ich lebe meine Rolle inzwischen schon so perfekt, daß ich gar nicht mehr weiß, was ist Rolle, und was bin ich selbst? Meine Familie wollte mich so, und so bin ich dann auch geworden: selbstsicher, cool, niemals schwach und ohne Angst. Aufkommende Zweifel habe ich sofort wegdiskutiert, auch vor mir selbst. Heute weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Ich komme mir vor wie ein Marathonläufer, dem es zuviel geworden ist. Ich kann nicht mehr. Ich fühle mich so maßlos erschöpft. Ich muß mich einfach hinsetzen und darüber nachdenken, wo ich selbst geblieben bin."17.

Oftmals entsteht aus diesem Gewissenskonflikt ein regelrechter Selbsthaß, durch den Anorektikerinnen noch mehr in die Rolle der Ausgenützten gedrängt werden. In besonders drastischen Fällen endet dieser Selbsthaß darin, daß diese Mädchen den Sinn für ihr weiteres Leben verlieren. Selbstverstümmelungen und Selbstmordversuche sind keine Seltenheit.

6.2. Das Hungern als Wegweiser durch das eigene Leben

Das Hungern bietet schon erkrankten Magersüchtigen und Bulimikerinnen nicht nur Bewunderung und Anerkennung, sondern auch einen gänzlich geregelten Tagesablauf.

Fast alle Mädchen, die unter gestörtem Eßverhalten leiden, leben in einer selbst erbauten Welt mit selbst erstellten Regeln und einem strengen Tagesablauf. Dies erfordert genau jene Disziplin, zu der sie ihr ganzes Leben lang erzogen wurden.

Anorektikerinnen legen ihr gesamtes Leben in Regeln fest. Diese Gesetze vermitteln Halt und Sicherheit, gleichzeitig ersetzen sie wiederum zumindest teilweise die Führungsperson. Magersüchtige Mädchen verbieten sich selbst, Fehler zu begehen, weshalb sie sich auch ausnahmslos - egal, welche äußeren bzw. gesundheitlichen Umstände sie davon abhalten könnten - an ihre Regeln halten. Unordnung, Disziplinlosigkeit und Fehler sowie allzu große Spontaneität betrachten sie als minderwertig, weshalb sie sich auch bald gegenüber ihren Mitmenschen erhaben fühlen (was wiederum zu einer Steigerung ihres Selbstbewußtseins führt!).

Ein großer Punkt, sich selbst Disziplin zu beweisen, ist auch die reduzierte bzw. genau durchdachte Nahrungsaufnahme. Anorektikerinnen halten sich genauestens an ihren Speiseplan, auch wenn sie durch Schwächeanfälle und Hunger zu Gegensätzlichem gezwungen werden. Deshalb sehen sie auch den Großteil ihrer Mitmenschen als minderwertig an, da diese sich durchaus gerne von ihren Trieben leiten lassen. Dies steigert wiederum das Selbstbewußtsein der Magersüchtigen.

Auch andere Bedürfnisse wie sexuelle Befriedigung, Ruhepausen und Zuneigung, aber auch Eigenschaften wie Gier werden unterdrückt18.

7) Bulimie

Bulimie, oft auch als ,,Eß-Brech-Sucht"33 bzw. als ,,Kotzsucht"34 bezeichnet, tritt oft als Folgeerscheinung einer Anorexie auf. Gründe und Ursachen dieser Krankheit entsprechen größtenteils denen der Magersucht, weshalb ich auf diese hier nicht näher eingehen werde.

7.1 Bulimie als Folge der Magersucht

Oftmals ertragen Anorektikerinnen den Zustand des Hungerns nicht mehr länger. Sie gehen in den Gängen der Kaufhäuser entlang und betrachten die Vielfalt der verschiedenen Speisen und Gerichte. Viele Erkrankte schaffen es, über lange Zeit diesen Drängen zu widerstehen und ihren Hunger- bzw. Lustgefühlen Widerstand zu leisten. Manche erstehen sogar besonders ,,wertvolle" Produkte, wie z. B. Schokolade, und verstecken diese in ihrem Zimmer. Magersüchtige hüten diese Süßigkeiten wie einen Schatz, den niemand außer ihnen selbst zu Gesicht bekommen darf. In den meisten Fällen essen sie ihre geheimen Reserven nicht einmal, sondern sehen diese statt dessen neidvoll an; manche riechen sogar gierigst daran - doch der Begierde, ein kleines Stückchen einmal zu versuchen, geben die wenigsten nach.

Geraten Anorektikerinnen allerdings in eine Situation, der sie trotz der Stärke, die ihnen ihre Krankheit verleiht, nicht gewachsen sind, so beginnen viele, an ihrer unnachahmlichen Kraft und Disziplin zu zweifeln. Daher suchen sie einen Ausweg aus ihrer Situation. Da der Großteil der Anorektikerinnen ohnehin zu Extremlösungen und Übertreibungen neigt, versuchen viele ihr Problem auf eine ähnliche Weise, die dennoch grundverschieden ist, zu lösen: durch verstärktes Essen35.

,,Wenn ich keinen Ausweg aus irgendwelchen Problemen finde, bleiben mir zwei Möglichkeiten, um mein Leben wieder halbwegs in den Griff zu bekommen: entweder versuche ich dies durch verstärktes Hungern - was mich allerdings in den meisten Fällen noch depressiver und hilfloser stimmt - oder ich beginne zu essen. Nein, ,,essen" wäre noch zu gelinde ausgedrückt.

Ich beginne zu fressen wie ein ausgehungertes Raubtier! Meistens suche ich mir alle Leckereien unserer Vorratskammer und des Kühlschrankes zusammen und verspeise diese gierigst und rasend schnell in einem Zimmer. Oder ich begehe ein für mich selbst ernanntes ,,Gewalt= verbrechen": ich eile in den nächsten Supermarkt und kaufe alles, worauf ich die letzten Wochen lang Lust hatte - auch wenn die einzelnen Speisen überhaupt nicht zusammenpassen: zum Beispiel Schokolade, Eis, Chips und fettige Salami. Das ganze verspeise ich allerdings nicht in Form einer ,,Essensattacke", sondern feiere ein persönliches kleines Fest."36

Viele der Erkrankten fabrizieren regelrechte Zeremonien während ihrer Heißhungerattacken: meistens nehmen Bulimikerinnen zuerst ein heißes, langes Entspannungsbad, pflegen ihre Körper auf verschiedenste Weisen, schließen sich in ihren Zimmern ein und verspeisen danach andächtig ihre Schätze, einen nach dem anderen. Diese kleinen persönlichen Feste dauern bis zu vier Stunden an und nehemen während ihrer Abhaltung einen enorm großen Stellenwert ein37.

7.2 Bulimie als alleinstehende Krankheit

Bulimie wird allerdings nicht nur bei Magersüchtigen als hilfreiche Problembewältigung dankend angenommen, sie dient auch anderen Mädchen als willkommenes Ventil ihrer Triebe. Das Erscheinungsbild einer nicht durch Anorexie bedingten Bulimie unterscheidet sich allerdings vom vorhergehenden: ,,durchschnittliche" Bulimikerinnen setzen sich äußerst selten mit Essensritualen auseinander. Sie nehmen lediglich sehr gerne und häufig, manchmal sogar ununterbrochen Nahrung zu sich38.

7.3 Das Erbrechen als Form innerer Verzweiflung

Alle Bulimiker stehen ihren Heißhungerattacken äußerst skeptisch und abwehrend gegenüber. Die meisten empfinden regelrechte Reuegefühle gegenüber ihrer zuvor begangenen ,,Schandtat", da sie ja trotz alldem dünn und zerbrechlich erscheinen wollen. Andere wiederum sind der Meinung, sie hätten gegen ein inneres Gesetz (das Gesetz der selbstauferlegten Disziplin) verstoßen. Aus diesem Grund sehen Bulimikerinnen den einzigen Ausweg, diesem Problem zu entgehen, im Erbrechen der gesamten aufgenommenen Nahrung. Viele Erkrankte leben das Erbrechen auch als Selbstreinigung. Das Ausspucken reinigt nicht nur vom ,,sündhaften", unerlaubten Triebdurchbruch, sondern schafft auch Distanz zur Anfreundung mit dem verbotenen Objekt - der Nahrung. Viele Bulimikerinnen empfinden das Erbrechen auch als einen befreienden Vernichtungsakt. Deswegen ist es für die meisten Betroffenen sehr wichtig, daß auch wirklich alles draußen ist, damit der Vernichtungsakt vollendet werden kann.

War die Patientin kurz vor dem Erbrechen das Opfer ihrer Angst und mit dem tiefen Gefühl, ohne Kontrolle zu sein, so gewinnt sie danach Zug um Zug ihre Selbstkontrolle zurück. Nach dem Erbrechen erfolgt eine Entspannungsphase, auf die sich allerdings zu schnell Gefühle von Reue und Scham über die eigene Destruktivität einstellen, welche oftmals durch erneutes Essen und Erbrechen ,,behoben" werden. Auf diese Weise entwickelt sich die Krankheit zu einem verzwickten Kreislauf39.

7.4 Das Abrutschen in die Kriminalität auf Grund von Heißhungerattacken

Oft geschieht es, daß das Vorkommen von Heißhungerattacken zu häufig auftritt. Speziell der Einkauf von Genußmitteln und Süßigkeiten (Nahrungsmittel, welche Bulimikerinnen bevorzugen) ist teuer. Obwohl die übermäßige Nahrungsbeschaffung für die Betroffene finanzielle Probleme mit sich bringen kann, geben viele nicht auf. Schulden werden gemacht, und wenn diese zu weit angewachsen erscheinen, beginnen viele, Kleinigkeiten einfach ,,mitgehen" zu lassen. In den meisten Fällen, wenn allgemein zu wenig Geld vorhanden ist, werden sämtliche konsumierten Nahrungsmittel gestohlen.

Der Bulimikerin ist dies größtenteils bewußt, was unter Umständen Depressionen auslösen kann und eventuell mit einem weiteren ,,Frustessen" sein Ende findet. Das gleiche Phänomen ist allerdings nicht nur bei Bulimie-Erkrankten, sondern auch bei einem Großteil der Eßsüchtigen zu finden40.

8. Körperliche Folgen des extremen Untergewichts

Durch das ständige Reduzieren der Nahrung auf das Notwendigste ergeben sich auch zahlreiche Mangelerscheinungen, die u. U. bis in den Tod führen können.

Anzeichen, die in den meisten Fällen, noch nicht als solche gedeutet werden bzw. verleugnet werden, wären z.B. Müdigkeit, Verfolgungswahn, Reizbarkeit; sehr schnell läßt auch die Kondition nach.

Im fortgeschrittenen Stadium treten weiters auch gefährlichere Krankheiten, wie z.B. Osteoporose, ein gestörtes Elektrolytgleichgewicht, sowie Herzrhythmusstörungstörungen, Unfruchtbarkeit und Nierenversagen auf - Krankheiten, die ohne weitere ärztliche Behandlung bis in den Tod führen können.

Durch allzu großen Vitamin- und Fluoridmangel leiden viele Betroffene unter Zahnerosion. Durch allzuhäufiges Erbrechen werden nicht nur die Zähne zusätzlich geschädigt, sondern auch die Schleimhäute der Speiseröhre und des Rachens verätzt.

Werden Kinder schon von Geburt an mit zuwenig Vitaminen und Mineralstoffen versorgt, so bleiben sie für ihr Alter zu klein. In drastischen Fällen setzt die Pubertät zu spät ein. Bisweilen verzögert sich auch die gesamte körperliche und geistige Entwicklung41.

9. Die Eß- bzw. Fettsucht

9.1 Der Unterschied zwischen Fettsucht und Fettleibigkeit

9.1.1 Fettleibigkeit

entsteht größtenteils durch eine Küchentradition, in der gewohnheitsmäßig mehr als ausreichend und notwendig gespeist wird. In diesen Fällen nimmt das Übergewicht keine außergewöhnlichen Ausmaße an und hält sich auch meistens konstant. Die betroffenen leiden auch kaum unter gesundheitlichen Problemen, empfinden sich selbst und ihren Körper als Einheit42.

Ein anderer Ausgangspunkt für Fettleibigkeit wäre die Veränderung der Lebensgewohnheiten und Arbeitsbedingungen. Ein Mensch, der einen handwerklichen Beruf ausübt, hat einen höheren Tagesverbrauch an Kalorien als ein Büroarbeiter. Wechselt nun der Handwerker seinen Beruf - aus welchen Gründen ist hier bedeutungslos - in einen Sitzjob, so nimmt dieser vorübergehend zu, da sich der Körper auf die veränderten Nahrungsbedingungen noch nicht eingestellt hat19. Einerseits läßt der Magen deutlichen Drang nach neuer Nahrung verspüren, andererseits kann der Körper den übermäßigen Kaloriengehalt nicht verarbeiten. Es bilden sich Fettreserven!

9.1.2 Der Ü bergang zur Fettsucht

Ein weiterer Grund, weiter zuzunehmen, wäre das sogenannte ,,Frustessen". Viele Menschen handhaben konfliktgeladene Situationen (z. B. Verlust eines nahestehenden Menschen, Liebeskummer, Probleme mit dem Arbeitgeber...), indem sie mit übermäßigem Essen reagieren. Generell normalisiert sich der Essenskonsum, nachdem der Alltag zurückgekehrt ist und der erste Kummer überwunden ist. In den meisten Fällen fällt es den Betroffenen relativ leicht, wieder abzunehmen oder zumindest das neu erreichte Gewicht konstant zu halten20.

Treten allerdings Probleme mit der erwünschten Gewichtsreduzierung ein, da der/die Betroffene anstatt abzunehmen sogar weiterhin übermäßig ißt, so ist der Weg für die eventuell bevorstehende Fettsucht geebnet.

9.2 Ursachen der Fettsucht

Der übermäßige Drang zu essen ist auf eine neurotische Störung zurückzuführen. Das Essen spielt eine zentrale Rolle im Leben und ist immer konfliktgeladen. Oftmals vertritt die Nahrungsaufnahme notwendige Handlungen oder dient zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse21.

Größtenteils entsprechen die Ursachen der Fettsucht denen der Magersucht bzw. Bulimie. Dies ist nicht verwunderlich, da diese Krankheit - wie alle psychisch bedingten Eßstörungen - zu den Neurosen gezählt wird.

9.2.1 Der Einflu ß der Familie

9.2.1.1 Verw ö hnende Erziehung

Aufgabe der Mutter ist es zunächst, dem hilflosen Säugling Nahrung und Geborgenheit zu spenden. Wird der Schützling älter, so sollte er dazu erzogen werden, anderen Menschen auch etwas dafür zurückzugeben und gleichzeitig von anderen zu lernen. Ist die Entwicklung des Kindes bis dahin normal verlaufen, so ist es dem/der Kleinen ein Bedürfnis, dieses Spiel auch mitzuspielen. Im Idealfall tritt die Erziehungsperson nicht ausschließlich als ,,Lehrperson" auf, sondern läßt den Schützling auch aus Fehlern und und Mißerfolgen lernen. Der Erwachsene sollte die Position eines Helfers einnehmen, der dem Kind nicht nur hilft, sondern es zu eigenständigen Taten anleitet und es bei Mißerfolgen ermutigt, das Mißglückte erneut zu versuchen. Auf diese Weise lernen Kinder und Jugendliche, Aufgaben selbst zu bewältigen und vor Problemen nicht gleich zurückzuschrecken.

In unserer heutigen Gesellschaft ist dies allerdings eher ein Ausnahmefall - der Großteil der Bevölkerung wurde im Kindesalter weder zur absoluten Selbstständigkeit noch zur Konfrontation mit Problemen erzogen. Ein großer Fehler vieler Erziehender ist es, ihre Schützlinge zu bevormunden.

Oftmals wird die Bevormundung gar nicht als solche empfunden - vielmehr als ,,Verwöhnen". Dem Kind wird alles abgenommen, was es selbst schon längst hätte erledigen können. Anstatt zu kooperieren lernt der Nachkomme eher ohne Gegenleistung zu nehmen und dadurch andere auszunutzen22.

9.2.1.2 Die f ü rsorgliche Mutter

Eine der größten Sorgen der Mütter ist es, ihr Kind hungrig zu sehen. Für viele Familien zeugt reichhaltiges Essen noch immer von Reichtum und Prestige. So wird dem Zögling von Kindesalter an eine große Auswahl an Nahrung angeboten; herausragende Leistungen werden mit Süßigkeiten belohnt, Kummer wird mit bestechend gutem Essen beseitigt.

So steht die Ernährung meist im Vordergrund, während andere Bedürfnisse des Zöglings oftmals vernachlässigt oder mißinterpretiert werden. Durch diese Haltung wird das Kind hilflos und ängstlich; gleichzeitig entwickelt sich eine große Anspruchshaltung: sobald das Kind eine gewisse Unsicherheit bemerkt, möchte es die Verantwortung auf andere abschieben, da es nie gelernt hat, mit Problemen umzugehen. Oftmals werden Eltern diesen Ansprüchen auch nicht gerecht, wodurch sich u. U. ein grausamer Kreislauf entwickelt23: entsteht für den Schützling ein Problem, so gibt er dieses an die Eltern weiter. Diese fühlen sich allerdings in dieser Rolle oftmals genauso überfordert wie ihr Schützling. Als einzigen Ausweg sehen sie, ihrem Liebling ein kleines ,,Trostpflaster" zu gönnen - Essen! Oftmals werden aber auch Gefühlsäußerungen der Kinder einfach mißinterpretiert, da viele Mütter zu sehr auf den Nahrungskonsum fixiert sind. So kommt es z. B. des öfteren vor, daß ein Schützling eine Verhaltensweise der Mutter beanstandet. Da es ohnehin selten zu konstruktiven Auseinandersetzungen über Probleme kommt, interpretieren viele Mütter dieses ,,abnorme Verhalten" als einen Ausdruck tiefen Hungers und fordern ihn somit zu neuerlichem Essen auf!24

9.2.2 Die unbewu ß te Angst vor dem Schlanksein

Vor allem dickere Mütter erfreuen sich am Gedanken, fettleibig zu sein, auch wenn dieser Ausdruck selten gebraucht wird. Für viele Kinder bedeutet ihre Fettschicht eine gewisse Geborgenheit und Sicherheit. Sie fühlen sich wie in einer Festung, die niemand zu durchbrechen vermag. Da viele Jugendliche noch immer darunter leiden, Konflikte nicht selbstständig austragen zu können, täuscht ihnen erhöhtes Körpergewicht einen gewissen Schutz vor Problemen vor - sozusagen eine Barriere, durch die sie scheinbar unlösbare Situationen nicht an sich heranlassen25.

Viele Kinder stehen auch unter der ständigen Angst, vernachlässigt und nicht beachtet zu werden. Sie haben die Meinung: je dünner ein Mensch ist, desto weniger Beachtung wird diesem geschenkt. Aus diesem Grund besteht oft der Wunsch, immer mehr und mehr zu essen, damit der/die Betroffene auch mehr Zuwendung erlangt. Oftmals wird durch die erhöhte Nahrungsaufnahme gerade das Gegenteil erzielt. Viele Mitmenschen, die sich unserem Schönheitsideal perfekt unterstellt haben, empfinden fettleibige Menschen als ,,ungustiös" und wenden sich somit von diesen ab.

Da auf diese Weise das Selbstbewußtsein des/der Erkrankten geschwächt wird und gleichzeitig auch ein neues Problem entsteht, das er nicht zu lösen vermag, möchte er/sie seine/ihre ,,Niederlage" mit erneutem Essen ausgleichen.

9.3 Das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper

9.3.1 Wahrnehmung des Hungers

Viele Fettsüchtige leiden unter größten Schwierigkeiten, Hunger von anderen Körperempfindungen (z. B. Kälte, Hitze, Streß, Müdigkeit...) zu unterscheiden. Häufig sitzen Erkrankte frierend in ihrer Wohnung, erkennen aber nicht den Ursprung ihres Unbehagens. Das gleiche Symptom tritt bei Müdigkeit auf: kommen Fettsüchtige nach einem anstrengenden Arbeits- bzw. Schultag nach Hause, so empfinden sie oftmals ein Gefühl des Unbehagens.

Da aber noch nicht die übliche Uhrzeit des Schlafengehens gekommen ist, identifizieren viele Betroffene diese Symptome als Hunger26.

Die eigentlichen Probleme des Unwohlseins bleiben zwar unverändert; dennoch beginnen viele zuerst einmal zu essen, da auch diese Tätigkeit in jedem Fall eine kurze Erleichterung mit sich bringt.

Die Unfähigkeit zur differenzierten Gefühlswahrnehmung bleibt allerdings oftmals nicht auf den Körper allein beschränkt. Andere Gefühle wie z. B. Ärger, Wut, Depressionen, aber auch Hoffnung und Freude werden oftmals nur verschwommen wahrgenommen und zuerst einmal als Hunger interpretiert27.

Durch den ewigen Konflikt, in den Fettsüchtige zwangsläufig geraten, Gefühle zu erkennen und diese auch richtig zu interpretieren, geraten viele in eine quälende Entscheidungslosigkeit.

Um der Entscheidung zu entgehen, was sie denn gerne als nächstes tun würden, beginnen viele einmal zu essen, da ihnen dies die Entscheidung fürs erste einmal abnimmt.

9.3.2 Der Bezug zum eigenen K ö rper

Jeder Mensch hat eine bestimmte Vorstellung, wie sein Körper aussieht und gebaut ist, also ein bestimmtes Körperbild. Die Einschätzung und Einstellung zum eigenen Körper hängt allerdings weitgehend von der Erziehung des Kindes ab - von dem Faktor, welche Haltung die Umwelt des Kindes seinem Körper gegenüber einnimmt28.

Bei einer positiv verlaufenden Entwicklung sollte das Kind im Idealfall seinen Körperbau realitätsgerecht einschätzen können. Wichtig ist hierbei, daß die Selbsteinschätzung und die der Umwelt in Einklang stehen.

Wie Fettsüchtige ihren Körper einschätzen, hängt meist davon ab, wann sie dick geworden sind. Jene, die bereits im Kindesalter fettleibig waren, haben oftmals ein verzerrtes Bild von ihrem Aussehen29. Sie vermeiden die Konfrontation mit ihrem Körper weitgehendst, indem sie sich Fotografien entziehen oder niemals in den Spiegel sehen. Viele entwickeln auch eine derart große Abneigung ihrem Körper gegenüber, daß sie jeden Teil ihrer selbst als ,,unförmig" und ,,extrem fett" bezeichnen. Dies kann das erste Anzeichen für eine bevorstehende Magersucht bzw. Bulimie sein; dies kommt allerdings hauptsächlich bei latent Fettsüchtigen zum Vorschein30.

Personen, die erst nach der Pubertät dem übermäßigen Eßgenuß verfielen, stehen ihrem Körper viel wohlgesonnener gegenüber und betrachten ihr Aussehen zwar kritisch, sehen dessen ,,Formen" allerdings realistischer.

9.3.2.1 Relation zwischen Nahrung und K ö rper

Viele Magersüchtige haben - wie schon erwähnt - verlernt, die Bedürfnisse ihres Körpers richtig einzuschätzen. Gleichgültig, wie viel Fettsüchtige essen, ihrem Gefühl nach reicht es selten aus. Vielen ist es nicht bewußt, wieviel Kalorien sie wirklich zu sich nehmen bzw. ihr Körper benötigt.

Andere leiden so sehr unter ihrem Aussehen und der Kritik, der sie täglich ausgesetzt sind, daß sie ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie Eßbares bloß ansehen. Oft hört man Sprüche von Fettsüchtigen wie z. B.: ,,Ich muß ein Stück Kuchen nur ansehen, schon werde ich dick!".

Viele Menschen, die unter ihrer Krankheit leiden, bilden sich Alibis31. Manche denken sich, daß sie, wenn sie heimlich Nahrung zu sich nehmen, nicht dick werden können!

9.4 Der Charakter der Fettsüchtigen

Obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche Untersuchungen unternommen wurden, um typische Charaktermerkmale der/des Fettsüchtigen zu erkennen, kam man bis heute zu keinem Ergebnis32. Man kann nicht - wie bei Anorektikern oder Bulimikern - sagen, daß gewisse Eigenschaften generell nur bei Eßsüchtigen aufzufinden wären, bzw. alle Erkrankten typische Gemeinsamkeiten aufweisen. Gewisse, durch die Gesellschaft oder die Erziehung hervorgerufene Handlungen und Haltungen sind jedoch bei einem Großteil der Betroffenen zu erkennen.

9.4.1 Zwischenmenschliche Beziehungen

Da viele Fettsüchtige - wie schon vorher erwähnt - schon von Kind an lernten, mehr zu nehmen als zu geben, ist die Konfrontation mit anderen Personen meist konfliktgeladen: reagieren einige Mitmenschen nicht wie erhofft, beginnen viele Eßsüchtige zu protestieren; sie fühlen sich hintergangen und betrogen. Viele versuchen sich auf erpresserische Weise oder durch Schmollen ihr erhofftes Recht zu erobern, da andere Menschen ihrer Ansicht nach die Aufgabe erfüllen sollten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Verhaltensweise führt häufig zu Zusammenstößen mit Kollegen und Freunden33.

Auch in der Liebe fühlt sich der/die Erkrankte oftmals nicht imstande, auf den Partner/die Partnerin einzugehen. Fettsüchtige sind ständig darum bemüht, selbst geliebt zu werden, anstatt Liebe zu zeigen - auch wenn sie Zuneigung zu ihrem Partner/ihrer Partnerin empfinden34.

Der Großteil der Erkrankten empfindet diesen Zustand selbst als Belastung, da er weiß, er wäre in der Lage, sich um andere Menschen zu bemühen. Viele Erkrankte zeigen sich in Phasen wie dieser besonders charmant und engagiert. Meist sind diese Bemühungen allerdings von sehr kurzer Dauer, kurz darauf fällt der Betroffene in sein altes Schema zurück35. Dies hat zwei Gründe:

1) Als ,,leitende Persönlichkeit" einer Beziehung werden von ihm/ihr Entscheidungen erwartet - Entscheidungen, die sich Fettsüchtige selten zu erfüllen getrauen.

2) Die ganze Zuwendung, die der Betroffene bisher erhalten hat, erscheint diesem noch zu gering - sie wird als Selbstverständlichkeit und daher als wertlos betrachtet.

9.4.2 Der Umgang mit dem täglichen Leben

Die Tatsache, daß ein ehemals verwöhnter Mensch nie gelernt hat, seine gesamten Fähigkeiten zumindest bruchteilmäßig auszuschöpfen, führt oftmals zu Selbstunsicherheit und Resignation.

Dies ist ein Relikt aus der Kindheit und falscher Erziehung. Der Großteil der späteren Fettsüchtigen mußte sich das gesamte Leben hindurch niemals anstrengen oder gar Entscheidungen selbst treffen, da er beim ersten Anzeichen des Unmuts nicht unterstützt, sondern gänzlich entlastet wurde.

Zwar hatten die Betroffenen daraufhin ihre Ziele erreicht, allerdings können nur wenige den Bezug zum wirklichen Arbeitsaufwand herstellen. Dies spiegelt sich auch später im Berufsleben wieder: von einem erwachsenen Menschen wird erwartet, Probleme selbstständig lösen zu können. Viele Fettsüchtige fühlen sich von den Erwartungen, die man an sie stellt, überfordert und empfinden viele Aufgaben als Zumutung.

Hinzu kommt ein starkes Minderwertigkeitsgefühl, da sich viele an falschen Maßstäben messen. Normale Lernschritte gehen zu langsam, manche sollten überhaupt ausgelassen werden.

Aus diesem Grunde wird das Alltagsleben erneut als schwierig und die Welt als gefährlich empfunden, da sie Anforderungen bringt; sie fühlen sich wie in ,,Feindesland"36.

Meist bevorzugen es Fettsüchtige, sich in ihrer Privatwelt abzuschotten. Einen Ausgleich für nicht gelebtes Leben bildet die Phantasie. Ehemals Verwöhnte fühlen sich in ihren Gedanken ganz groß. Alles, woran sie im Alltagsleben scheitern, gelingt ihnen hier mühelos.

9.5 Der gestörte Stoffwechsel

Fettsucht ist zwar größtenteils von erzieherischen Maßnahmen beeinflußt; es liegen allerdings auch Hypothesen vor, in denen versucht wird zu begründen, daß die Ursachen dieser Krankheit eventuell doch auch in Störungen des Körpers zu finden sind:

,,1) Fettsucht ist abhängig vom Essen bestimmter Nahrungsmittel - z. B. Fett oder Zucker.

2) Die Nahrungsenergie wird unterschiedlich verwertet, es gibt einen ,,Sparmechanismus" im Körper (gute und schlechte Futterverwerter)

3) Der Energieverbrauch ist geringer, da für die Erzeugung von Wärme und Muskelarbeit weniger Energie benötigt wird als bei Normalgewichtigen.

4) Dem Fettsüchtigen fehlen Regulationsmechanismen, die der Normalgewichtige hat. Diese gleichen einen Nahrungsüberschuß aus und verhindern eine laufende Gewichtszunahme.

5) Treten im Bereich des Hypothalamus Störungen auf, so ißt der Mensch weiter, obwohl er bereits satt ist. Der Hypothalamus, ein Teil des Zwischenhirns, ist die Schaltstelle für alle vegetativen Vorgänge. Es wird angenommen, daß dies das Zentrum ist, in dem die Hungersignale des Körpers umgesetzt werden."37

Die gängige Meinung, bestimmte Drüsen wären an der Entstehung der Fettsucht schuld, kann nicht bestätigt werden. Der Großteil der endokrinen Funktionen wie z. B. die Schilddrüsenfunktion, Hormon- und Insulinausschüttung usw. sind gewissenhaft untersucht worden - es ergab sich kein Zusammenhang zwischen endokrinen Funktionsstörungen und dem Ursprung der Fettsucht!38

9.6 Fettsucht als vererbbare Krankheit

Einige neuere Befunde ergaben, daß das Gewicht der Kinder zu einem beachtlichen Anteil vom Gewicht der Eltern abhängig ist.

Kinder zweier fettsüchtiger Elternteile werden größtenteils bis zu ihrem 17. Lebensjahr selbst übergewichtig; bei Kindern eines dicken Elternteils werden wesentlich dickere Hautfalten gemessen als bei den Nachkommen schlanker Eltern39.

Das genetische Potential eines Organismus ist zwar schon im Augenblick der Empfängnis festgelegt, aber inwieweit sich dieses entwickelt, ist von der Interaktion mit der Umwelt abhängig40.

9.7 Das Anhalten des Übergewichtes vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter

Neueste Untersuchungen ergaben, daß Kinder, die in ihren ersten Lebensmonaten überfüttert und dadurch fett werden, eine größere Anzahl von Fettzellen ausbilden. Die erworbene Anzahl von Fettzellen kann nicht mehr verringert werden - ob diese nun aber ,,gefüllt" werden oder nicht, hängt von der weiteren Ernährung der/des Betroffenen ab. Daraus wird geschlossen, daß Maßnahmen zur Verringerung des Körpergewichtes wenig Aussicht auf Erfolg haben, da vorgeschriebene Diäten ständig eingehalten werden müssen41. Die Schwierigkeit, die Größe der Fettzellen zu verkleinern, wird zusätzlich durch psychologische Aspekte (s. o.) vergrößert42.

Bei ausgewogener Ernährung und wenn der Betroffene keiner dauerhaften gestörten Interaktion durch das soziale Umfeld ausgesetzt ist, ist eine Stabilisierung des Körpergewichtes bei Erwachsenen, die als Kinder überfüttert wurden, durchaus möglich.

9.8 Körperliche Folgeerscheinungen

Genau wie extremes Untergewicht kann auch überdurchschnittliches Übergewicht eine Reihe von Folgekrankheiten nach sich ziehen und dadurch die Lebenserwartung beträchtlich herabsetzen.

Zu hohes Körpergewicht begünstigt Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck. Hohe Blutzuckerwerte und erhöhter Blutdruck zerstören feine Äderchen in den Gliedmaßen.

Dadurch wird die Geschwindigkeit des Wundverschlusses herabgesetzt, gleichzeitig werden andere Organe wie z. B. die Nieren enorm belastet.

Durch die erhöhten Blutfettwerte - bedingt durch Bluthochdruck - können u. U. Krankheiten wie z. B. Arterienverkalkung und schließlich sogar Herzinfarkt auftreten. Dies tritt häufig ein, wenn die Herzkranzgefäße übermäßig belastet und verkalkt sind43.

Andere Folgeerkrankungen wären auch Schlaganfälle, Gallensteine und Karies. Auch Wirbelsäulenschäden und Gelenksschmerzen werden durch die Überbelastung des Skeletts gefördert. Ebenso bei Operationen kann es durch Dicksein zu Komplikationen kommen. Die Folgeerscheinungen der Fettsucht sind größtenteils nicht nicht sofort sichtbar!

Anfangs bleibt sogar die vollständige Leistungskraft erhalten, bis irgendwann die einzelnen Regulationssysteme überlastet sind und Schäden spürbar werden44.

10. Therapien der Eßstörungen

Auf welche Art und Weise eine Therapie vorgenommen wird, muß genau mit der Patientin abgesprochen werden und auf deren psychische Verfassung abgestimmt sein, denn jede Eßstörung hat unterschiedliche Ursachen.

Die Hauptaufgabe der Therapie ist es nicht, die Eßgestörte auf ein nicht mehr gesundheitsschädliches Gewicht hinauf bzw. hinunter zu bringen, sondern die Hintergründe zu erfahren und die daraus resultierenden Probleme zu bekämpfen69. Für die Patientin ist es allerdings ent-scheidender, die Bereitschaft aufzubringen, ihre Magersucht zu bekämpfen und somit einen für sie wichtigen Teil ihres Lebens aufzugeben.

10.1 Künstliche Nahrungszufuhr:

Da die künstliche Nahrungszufuhr bei Magersüchtigen fast ausschließlich gegen den Willen dieser durchgeführt wird, wurde diese Methode mittlerweile beinahe vollständig aufgegeben. Weder durch Sondenernährung noch durch intravenöse Infusionen, noch durch appetitanregende Medikamente oder Aufbauspritzen lernt eine eßgestörte Patientin, gezielt mit Nahrung umzugehen70 ; geschweige denn die Ursachen ihrer Krankheit zu bekämpfen. Oftmals spielt die Hebung des Gewichts allerdings eine bedeutende Rolle, da bei einem weiteren Andauern der Unterernährung etwaige Mangelerscheinungen die Aufnahmefähigkeit der Patientin bzw. ihre Überlebenschancen erheblich beeinträchtigen könnten.

10.2 Stationäre Behandlung

10.2.1 Stationäre Behandlung bei Magers ü chtigen und BulimikerInnen

Ob eine Therapie gegen Magersucht tatsächlich stationär durchgeführt werden muß, wird durch vielerlei Kriterien bestimmt, wie z. B.:

- schlechte psychische und/oder physische Verfassung

- Dauer der Krankheit über mehrere Jahre

- gescheiterte ambulante Behandlung

- unerträgliche Spannungen im sozialen Umfeld

- der Wunsch, die Krankheit ohne familiäre Hilfe zu überwinden

- die Überzeugung, in stationärer Behandlung besser versorgt zu sein als in ambulanter71.

In den meisten Fällen, v. a. dann, wenn der Grund für eine stationäre Behandlung der Gesundheitszustand der Patientin ist, versucht man den Aufenthalt im Krankenhaus oder einer anderen therapeutischen Einrichtung möglichst kurz zu halten.

Meistens werden die Erkrankten nach der Behebung der schwersten körperlichen Leiden in eine Psychotherapie weiterverwiesen72, da eine solche (nach neuesten Erkenntnissen) den größten Erfolg verspricht.

10.2.1.1 Behandlungsdauer einer stationären Therapie

Die sinnvolle Behandlung einer Anorexie oder Bulimie ist unterschiedlich lang. Die Länge der Therapie hängt hauptsächlich von Schwere und Dauer der Erkrankung ab und schwankt deshalb im Durchschnitt zwischen mehreren Monaten und einem Jahr. Diese Therapieform besteht nicht ausschließlich aus künstlicher Ernährung, sondern beinhaltet auch eine kurze Psychotherapie. Doch auch nach dieser kurzen Psychotherapie ist die Behandlung noch längst nicht abgeschlossen - die Patientin sollte sich im Anschluß noch einer weiterführenden ambulanten Behandlung unterziehen. Die Dauer letzterer liegt wiederum zwischen einem und drei Jahren73.

10.2.1.2 Die Gefahren einer stationären Behandlung

Da Methoden dieser Art zwangsmäßig angewendet werden, verfehlen sie oft ihre Wirkung.

Oftmals werden auch Patientinnen in Krankenhäusern regelrecht zum Zunehmen erpreßt (z.B. durch Bettwäscheentzug, Besuchsverbot, schlechte Betreuung, wenn die Behandelte ihren Willen, an Gewicht zuzunehmen, nicht genug zeigt), da viele Ärzte und Schwestern unsachgemäß bzw. ungenügend ausgebildet werden.

In derartigen Fällen lassen viele Mädchen Behandlungen über sich ergehen und nehmen somit auch schleunigst zu, um nach der Entlassung noch erfolgreicher hungern und abnehmen zu können74.

Ein anderes Problem ergibt sich auch durch die übermäßige Nachfrage nach stationären Therapieplätzen. Zur Zeit dauert die Wartezeit auf einen stationären Therapieplatz bzw. auf die Aufnahme in eine entsprechende Institution ca. ein Jahr. Oft wird diese Wartezeit genützt, um noch weiter abzunehmen75. In anderen Fällen entscheiden sich Anorektikerinnen wiederum gegen eine Therapie. Meist wird diese ,,Lösung" auch durch Angehörige unterstützt, da diese oftmals entscheidend gegen eine Therapie auftreten.

10.2.2 Die stationäre Behandlung bei E ß s ü chtigen

Der Gesundungsprozess fettsüchtiger Personen läuft auf zwei Ebenen ab (teilweise parallel).

Einerseits muß die Energiebilanz verringert werden, um schlanker zu werden - das heißt, der Kalorien-Tagessatz sollte verringert werden. Da aber oftmals die Psyche des Patienten noch nicht bereit ist, seine Mahlzeiten zu reduzieren, muß andererseits auch der psychische Anteil aufgearbeitet werden, um persönliche Defizite auszugleichen. Auf diese Weise schöpfen Fettsüchtige genug Kraft, um abzunehmen76.

Dies geschieht meist zusammen in einer Klinik, obwohl auch hier die Erfolge meist gering sind.

Die stationäre Behandlung ist meist angenehmer als bei Anorektikerinnen. In einer Urlaubsatmosphäre, abgeschottet von jeglichen Alltagsproblemen und Streß, erhalten die Patienten schmackhafte, großvolumige (aber kalorienarme) Speisen. Gleichzeitig befindet sich ein Psychologe in derselben Klinik, genauso wie die Therapiegruppe, welche man im selben Haus findet. Die Erfolgsquote derart behandelter Eßsüchtiger ist sehr hoch, da die Atmosphäre den Patienten meist auch gefällt. Nach der Entlassung aus der Klinik erstellt der Behandelte einen Diätplan, an welchen er sich ausnahmslos halten sollte. Meistens wird er auch zur Weiterbehandlung an einen Therapeuten verwiesen.

Verläßt der Patient das Krankenhaus, so ist er allerdings wieder denselben Problemen und Streßsituationen ausgesetzt und steht diesen handlungsunfähig gegenüber wie zuvor77.

10.3 Methoden der Psychotherapie:

Da Anorexie und Bulimie unter die Gattung der Neurosen fallen, ist es das Ziel einer Psychoanalyse, ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit dem Bewußtsein und dem Erleben zugänglich zu machen. Es ist sehr wichtig, daß der Analytiker sich in Bezug auf Fragen und Lösungsvorschläge zurückhält und dem Patienten durch Erzählungen und das Aufarbeiten von Vergangenem zu eigenständigen Bearbeitungen und Lösungsansätzen verhilft. Eine klassische Analyse ist allerdings sehr kostspielig und zeitaufwendig. Sie nimmt meistens vier Tage der Woche in Anspruch und dauert ca. 1-5 Jahre78.

10.3.1 Gesprächstherapie

Man kann grundsätzlich zwischen zwei Arten der Gesprächstherapie unterscheiden: der naturwissenschaftlichen und der phänomenologischen Methode.

10.3.1.1 Die naturwissenschaftliche Gesprächstherapie

Rogers geht davon aus, daß Verhaltensstörungen ausschließlich auf falsche Lernprozesse zurückzuführen sind. Die Aufgabe des Therapeuten wäre es, dem Patienten durch ausführliche Gespräche Bedingungen zu schaffen, unter denen er auf die eigenen Anlagen zurückgreifen und somit aus der Neurose herausfinden kann.

Der Therapeut der naturwissenschaftlichen Richtung soll dem Patienten v. a. wertschätzend, akzeptierend und verstehend gegenüberstehen.

10.3.1.2 Die phänomenologische Gesprächstherapie:

Therapeuten, die sich auf die phänomenologische Richtung beziehen, zeigen sich ihren Klienten eher konkret, gelegentlich sogar konfrontativ, und machen auch Vorschläge.

Außerdem werden bei einer solchen Therapie auch weitere Lebensbereiche wie Sport oder gesunde Ernährung behandelt, um die Lebensqualität der Patienten zu erhöhen bzw. neue Lebensbereiche zu erschließen79.

10.3.2 Verhaltenstherapie:

Ziel einer Verhaltenstherapie ist es, über den Weg der Einsicht, des Verstehens, des Aufarbeitens von bewußten und unbewußten Konflikten oder über Bewegungsarbeit, Entspannung, Gestaltung, Spiele, Meditation usw. Körper und Geist ins Gleichgewicht zu bringen, da dies dem Patienten ermöglicht, sein Leben besser in den Griff zu bekommen80. Ein wichtiger Teil dieser Therapieform ist die Selbstmodifikation. Der/Die Patient/in lernt hier unter der Betreuung des Therapeuten; gleichzeitig versucht dieser, ihm/ihr mit Mitteln zur Seite zu stehen, mit denen der/die Patient/in den Veränderungsprozeß selbst bewirken und steuern kann.81

10.3.3 Einzel- und Gruppentherapie:

Die meisten Therapieformen können zugleich als Einzel- und Gruppentherapie angewendet werden. Welche Therapieform für die Patienten passend erscheint, muß individuell geprüft werden.

Bei Eßstörungen wird meist die Gruppentherapie bevorzugt. Obwohl es oftmals zu Rivalitätskämpfen zwischen den einzelnen Patientinnen kommt, ist ein Austausch von Erfahrungen und Beschwerden leicht zu erreichen. In einem Klima dieser Art ist es auch für Eßgestörte einfacher, Kritik zu üben oder solche zu ertragen.

In diesem Umfeld lernen die Patientinnen, mit Kritik, Rivalität und Konkurrenzsituationen - die häufig mit schuld an der Krankheit waren - umzugehen und sie zu bearbeiten. Die am häufigsten auftretenden Themen in Gruppentherapien sind Selbstunsicherheit, Angst, Reflektionismus sowie der Umgang mit Familie und Sexualität82.

10.3.4 Familiengruppentherapie:

Nicht nur zwischen eßgestörten Patientinnen unter sich, sondern auch zwischen einzelnen Familienmitgliedern können sich aufgrund von schmerzlichen Erfahrungen Vertrauen und Solidaritätsgefühle entwickeln. Angehörige können im Rahmen einer Therapie leichter über ihre Fehler im Umgang mit der Patientin und Ängste bezüglich deren Eßstörung sprechen. Oftmals werden mehrere andere Patientinnen ohne deren Angehörige und eine einzelne vollständige Familie eingeladen, da es vielen leichter fällt, sich zuerst mit fremden und dann mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen83.

Eine spezielle Form der Therapie von Anorektikerinnen ist auch das Fungieren als ,,Leiheltern": fremde Eltern nehmen eine fremde Magersüchtige auf - speziell nach einer stationären Behandlung -, um das Mädchen in das Leben in einer Gemeinschaft einzugewöhnen84 bzw. um sich selbst an den Umgang mit einer Anorektikerin anzupassen85.

10.4 Therapieverlauf

Eßstörungen sind weder eine Pubertätskrise (auch wenn sie oft in dieser Lebensphase auftreten), noch kann man sie als ,,Schlankheits-" oder ,,Eßtick" abtun. Sie sind schwer wiegende psychische Krankheiten.

Obwohl diese Krankheiten schon seit ca. 100 Jahren bekannt sind, gibt es noch kein Patentrezept zur völligen Heilung von Eßstörungen. Ein Grund hierfür ist auch die Neigung zur Chronifizierung und Verschlechterung.

Der Weg, die Ursache und auch die Erkrankung selbst zu bewältigen, ist mühsam, langwierig und leider oftmals auch kostspielig. Er erfordert das gesamte Einsatzvermögen der Betroffenen, aber viele schaffen ihn. Etliche Patienten sind der Meinung, eine Therapie nicht durchhalten zu können; andere sind psychisch nicht wirklich bereit, sich mit einer Therapie auseinanderzusetzen, da sie nur anderen mit diesem Schritt einen Gefallen erweisen möchten86.

Der Verlauf einer Therapie ist unterschiedlich. Manche Patientinnen meistern diesen ohne jegliche Rückfälle, andere wiederum müssen immer wieder von vorne beginnen. Wichtig ist auch das soziale Umfeld, in dem sich die Patientin befindet. Trifft sich die Betroffene durchwegs mit den selben Personen, deren Ansprüche zu hoch für die Betroffene waren; und werden die Probleme und Ursachen der Krankheit der Betroffenen nicht gänzlich gelöst, so muß diese mit noch größeren Umstellungen und Problemen kämpfen als während des Verlaufs ihrer Krankheit.

Ist die Patientin allerdings von hilfsbereiten Menschen umgeben, die sich mit der Krankheit und auch deren Therapie auseinandersetzen könnten, so fällt es der Betroffenen erheblich leichter, ein neues Leben zu beginnen87.

Es gibt aber auch eine hohe Zahl von Betroffenen, denen mit einer Therapie nicht geholfen werden kann.

Von einer gelungenen Therapie kann man erst sprechen, wenn die Patientin nicht nur als symptomfrei bezeichnet werden kann, sondern auch ein soziales Interesse entwickelt. Dazu gehört die vollständige Verantwortung für sich selbst, die eigenständige Konfrontation mit und die Behebung von Problemen, das Aufbauen von zwischenmenschlichen Beziehungen und das Interesse an Sexualität!88

1 Gerlinghoff, Magersucht, S.76

2 Gerlinghoff, Magersucht, S.76

3 Gerlinghoff, Magersucht, S.78

4 Gerlinghoff, Magersucht, S.79

5 Gerlinghoff, Magersucht, S.79

6 Gespräch mit einer Anorektikerin, November 1996

7 Gespräch mit einem Arzt, der namentlich nicht genannt werden möchte, Sommer 1995

8 Gerlinghoff, Magersucht, S.89

9 Gerlinghoff, Magersucht, S.80

10 Gerlinghoff, Magersucht, S.80

11 Udo Pollmer, Andrea Fock, Ulrike Gouder, Karin Haug; Prost Mahlzeit!, Krank durch gesunde Ernährung; Köln 1994, S.245

12 Pollmer, Prost Mahlzeit! S.246

13 Pollmer, Prost Mahlzeit! S.247, 248

14 Pollmer, Prost Mahlzeit! S.260

15 Pollmer, Prost Mahlzeit! S.261, 262

16 Gerlinghoff, Magersucht S.80

17 Gerlinghoff, Magersucht S.81

18 Gespräch mit einer Anorektikerin, November 1996

19 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.34

20 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.34

21 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.34

22 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.56-58

23 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.51,52

24 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.53

25 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.98

26 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.40

27 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.41

28 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.43

29 Hilde Bruch; Eating Disorders, London 1973

30 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.44

31 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.45

32 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.46

33 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.58

34 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.58

35 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.58

36 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.59

37 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.28

38 F.A. Gries, P. Berchtold, M. Berger; Adipositas, Berlin, Heidelberg, New York 1976, S.47; A. Jores; Diskussion in Psyche Nr. 10, 1963; S.641

39 V. Pudel; Adipositas; Berlin, Heidelberg, New York 1978; S.12

40 Hilde Bruch; S.26

41 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.30

42 Gries, Adipositas, S.18

43 Mag. pharm. Kurt Vymazal; Iß dich gesund: Diät bei hohem Blutdruck, Wien

44 Aliabadi; Essen zur Sucht, S.31

Excerpt out of 36 pages

Details

Title
Bulimie, Magersucht, Fettsucht
College
University of Vienna
Grade
2
Author
Year
1997
Pages
36
Catalog Number
V98858
ISBN (eBook)
9783638973090
File size
549 KB
Language
German
Keywords
Bulimie, Magersucht, Fettsucht
Quote paper
Sonia Fertinger (Author), 1997, Bulimie, Magersucht, Fettsucht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/98858

Comments

  • guest on 12/22/2003

    Dr..

    sehr geehrter Herr,
    ich finde ihren beitrag sehr gut! sie haben wirklich die treffenstens schen uas den alltäglichen leben ausgewählt.
    sie müssen bloß noch auf formfehler achten! sie hatten ein paar schreibfehler und anführungszeichen schreibt man so: "sehr" und nicht so:,,sehr"
    der beitrag ist sonst inhaltlich einfandfrei!
    mit freundlichen Grüßen Dr.Obek

  • guest on 3/20/2001

    Bulimie, Magersucht, Fettsucht.

    Diese Arbeit ist m.E. schlecht recherchiert. Besonders die historischen Aspekte sind unzureichend und zum Teil einfach falsch. In Kapitel 2.2.2 z.B spricht die Autorin von "neuen Störungen wie z.B Essstörungen als Folge eines neuen GEsellschaftsproblems...". Jeder, der sich mit dem Thema Essstörungen beschäftigt weiß, dass diese Problematik nicht neu und keineswegs "modern" ist.
    Das Aufkommen von Essstörungen auf den Zeitpunkt der Einführung des Wahlrechtes für Frauen festzulegen, halte ich für sehr gewagt und keinesfalls wissenschaftlich (und historisch) begründet.

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Title: Bulimie, Magersucht, Fettsucht



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