Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Abtreibungs-Kampagne der Church of Euthanasia
2.1 Die Frage nach dem Choreographischen
2.2 Die Frage nach dem Politischen
3. Fazit
4. Quellenverzeichnis
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Internetquellen
5.3 Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
„The Church of Euthanasia was inspired by a dream, in which Rev. Chris Korda confronted an alien intelligence known as The Being who speaks for the inhabitants of Earth in other dimensions. The Being warned that our planet’s ecosystem is failing, and that our leaders deny this. The Being asked why our leaders lie to us, and why so many of us believe these lies. Rev. Korda awoke from the dream moaning the Church’s infamous slogan, Save the Planet, Kill Yourself.”1
Was zunächst wie der Beginn eines Science-Fiction-Romans klingt, ist die unter den Anhä- nger/innen offizielle, geltende Entstehungsgeschichte einer antinatalistischen Glaubensgemeinschaft aus den USA. Es handelt sich hierbei um die Church of Euthanasia (im Folgenden CoE), die sich in ihren Glaubenssätzen für Abtreibung, Veganismus, Kannibalismus („for those who insist on eating flesh“2 ), Sodomie3, und Selbstmord ausspricht. Die Führungsfigur der CoE ist „Reverend“ Chris Korda, der „sich nicht auf eine Geschlechterrolle festlegen möchte“4 und die Kirche 1992 nach oben beschriebenem Szenario im Bundesstaat Massachusetts gründete.5 Was die CoE von anderen Glaubensgemeinschaften unterscheidet, die sich ebenfalls für die Reduktion der menschlichen Population mithilfe von öffentlichen Aktionen (wie beispielsweise Demonstrationen) einsetzen, ist der Internetauftritt. Auf ihrer Webseite veröffentlicht die Kirche verschiedene Aktionen, Performances, Songs und Texte, sodass sie auch über die Landesgrenzen der USA hinaus Aufmerksamkeit erlangt.6 Dieser Fakt erlaubt es uns, viele der mit Bild- Text- und Videomaterial dokumentierten (ideologischen/politischen) Aktionen der Vergangenheit heute noch zu untersuchen.
Ziel dieser Arbeit soll es also sein, anhand einer beispielhaft ausgewählten Kampagne der CoE - die Abtreibungskampagne im September 1996 - den Choreographie-Begriff innerhalb der religiös und politisch motivierten Aktivität dieser Glaubensgemeinschaft zu definieren und zu befragen. Vor allem sollen die theoretischen Ausarbeitungen von Andrew Hewitt zum Begriff der Social Choreography zunächst Aufschluss darüber geben, inwiefern es sich bei den Demonstrationen und Aktivitäten der CoE überhaupt um (soziale) Choreographien handeln kann. Ebenfalls sollen hierbei die Untersuchungen von Bojana Cvejic und Ana Vujanovic zur Politischen Sphäre (public sphere) zur Bearbeitung dieser Fragestellung herangezogen werden, da diese den von Hewitt definierten Choreographie-Begriff erweitern bzw. aktualisieren. Anschließend soll dann im zweiten Teil die Frage des Politischen im Vordergrund der Betrachtung stehen. Dazu werden die Ausführungen von Oliver Marchart unter dem Titel „Dancing Politics - Political Reflections on Choreography, Dance and Protest“ und die von André Lepecki definierten Begriffe Choreopolice und Choeopolitics einen Ausgangspunkt für die Untersuchung der Frage bereitstellen, inwiefern die betrachteten Aktionen der CoE als ein gemeinschaftliches politisches Handeln auf der Basis von Glaubensinhalten - also als eine Art choreographierter Glaube - verstanden werden können.
2. Die Abtreibungs-Kampagne der Church of Euthanasia
Um die Vollständigkeit zu gewährleisten und um einseitige Berichterstattung zu vermeiden, habe ich mich dazu entschieden, die ideologisch motivierte Kampagne der CoE auszuwählen, bei der ihre Einstellung zum Thema Abtreibung im Vordergrund steht, da es dazu nicht nur Material auf der Webseite der Kirche selbst gibt, sondern sich auch die vom Thema unabhängige, neutrale Zeitung Der Spiegel mit zwei dieser Aktionen beschäftigte. Die insgesamt drei zu untersuchenden Demonstrationen der Kampagne fanden im September und Oktober 1996 in Brookline, Massachusetts und Los Angeles, Kalifornien statt.
Bevor die verschiedenen Aspekte und Fragen zum Choreographie-Begriff und zur Politik der Demonstrationen untersucht werden, soll im Folgenden der Fokus auf einer kurzen Zusammenfassung der Aktionen liegen, um einen Überblick über die Situationen zu erhalten, die vor den Abtreibungskliniken entstanden sind. Auf der Webseite der CoE kann man im Interviewformat (Lydia Eccles, Mitglied der CoE interviewt Chris Korda) nachlesen, wie die drei Tage dort von den beiden Mitgliedern der Kirche wahrgenommen wurden. Auf die Frage von Eccles, wie diese Aktionen überhaupt angefangen haben, erinnert sich Korda, dass Der Spiegel für eine Reportage über die Kirche nach Boston kommen wollte, um sie in Aktion zu sehen. Daraus sei dann der Plan für die Aktion erst entstanden.7 Henryk Broder von Der Spiegel beschreibt in seinem Artikel die auf den ersten Blick dürftig wirkenden Vorbereitungsmaßnahmen, die von Korda für die erste Demonstration getroffen wurden:
„Er leiht sich bei Radio Shack einen batteriebetriebenen Handlautsprecher und mietet bei Rent A Wreck einen lädierten Kleinlaster, mit dem er sich, ein Dutzend Plakate und ebenso viele Freunde zu einem Einsatz an die Front fahren will.“8 9
Die ersten beiden Demonstrationen fanden am 7. und 14. September 1996 vor der Preterm- Klinik in Brookline statt. Ziel der Aktion war es, gegen die vor Ort bereits demonstrierenden Mitglieder von Operation Rescue9 aufzutreten, die sich gegen die Durchführung von Abtreibungen einsetzen. Die CoE steht jedoch zunächst nicht in direkter Konfrontation mit der Operation Rescue, sondern wird „[e]in paar Meter weiter, von der Polizei durch eine Barriere getrennt.“10 Die direkten Gegendemonstrant/innen sind von der National Organization for Women (NOW) und setzen sich unter anderem für die Selbstbestimmtheit von Frauen bezüglich des Kinderwunsches ein.11 Broder beobachtet, dass die CoE - obwohl sie hier nicht als Hauptakteur auftritt - „den meisten Spaß an der Demo“ habe, denn die auf den mitgebrachten Plakaten lesbaren „Parolen (,Peace, Love and Sterility‘, ,Fuck Breeding‘) zeugen von Witz bei der Umsetzung politischer Forderungen.“12 Sogar in dem Interview auf der eigenen Webseite kann man nachlesen, an welchen Stellen gelacht wurde. Somit ist auch erkennbar, dass die CoE ihre Aktionen innerhalb der Demonstration mit Humor statt wirklicher Ernsthaftigkeit behandelt. Folgendes Beispiel verdeutlicht diese These:
„CK: Vermin Supreme13 was there, and he was in rare form that day. He had his Satan mask on and his little jiggling eyeballs.. .he had his megaphone out and he was harassing people going by, saying something about ,This is Satan here, and I want you all to...‘ LE: ,Watch TV, eat red meat, and try to drive your car as much as possible...‘ CK: ,Read a newspaper, and throw it away.‘ LE: ,And together we can make hell on Earth. ‘ CK: [laughs] LE: He also asked passers-by to raise their hands if they were using contraception, or if they'd been sterilized. And a woman across the street was praying with a rosary, and Vermin was yelling with a megaphone that we were going to sacrifice a gerbil... CK: Yes, we were going to sacrifice a gerbil to the unborn.“14
Während der dritten und letzten Demonstration dieser Kampagne waren weder Der Spiegel, noch Reporter/innen anderer Quellen vor Ort. Des Weiteren gibt es leider auch keine im Internet zugänglichen Aufzeichnungen der anderen Gruppen, die dort demonstrierten. Dementsprechend steht zur Zusammenfassung der Geschehnisse lediglich das Interview der CoE zur Verfügung. Vor der Abtreibungsklinik Gynecare in Los Angeles versammelten sich am 15. Oktober 1996 erneut christliche Glaubensanhänger/innen, diesmal jedoch von der Gruppe Our Lady‘s Crusaders for Life, die sich wie Operation Rescue gegen Abtreibungen aussprechen.15 Im Interview wird klar, dass sich Korda in Vorbereitung für die geplante Demonstration eine Woche vor Beginn bereits mit der ,gegnerischen‘ Gruppe in Verkleidung unterhalten und festgestellt habe, dass die Glaubenssätze dieser Gruppe in keiner Weise mit denen der CoE übereinstimmen.16 Korda sagt:
„These people are terrified of human sexuality, and especially of pleasure. [...] They want to stop sex because it‘s so connected to the body. The body reminds them of death, and they can‘t deal with death, so they deny the body. [.] They idolize innocence and virginity, and meanwhile the priests can‘t keep their hands off the altar boys. How could they be expected to? It's ridiculous. The sexual urges are still there, and the boys are a safe outlet. People can‘t deny their sexuality, it just comes back in another way.“17
Mit diesem Unverständnis gegenüber den Ansichten der christlichen Gruppe plante die CoE dann ihr Konzept für die Gegendemonstration. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift „Sex Is Good“, „Pedophile Priests For Life“, „Eat A Queer Fetus For Jesus“ oder „Drink Your Holy Water“18. Außerdem brachte Korda, um „ein Symbol für die Veranschaulichung der Situation“19 zu schaffen, eine aufblasbare Sex-Puppe mit (Abb. 1, S.13), die er an ein Holzkreuz nagelte, ihr einen Krankenhaus-Kittel und eine Dornenkrone anzog, „plus she had a carnivorous baby coming out of her vagina, with blood dripping down its chin. A real traffic stopper.“20 Die Anhänger/innen der CoE mischten sich dann mit ihren Plakaten und der Puppe unter die Masse der Christen und trafen dort auf viele andere Gruppen, die wohl - aufgrund von Aufrufen der CoE im Vorhinein - auch als Gegendemonstrant/innen auftraten („the pro-masturbation, antiintercourse group, [...] the Satanist Youth Corps“21 ). Es entstand eine große Masse, die religiöse Symbole in die Luft hält, mit mehreren Handlautsprechern verschiedene Parolen ruft und von der Polizei schlussendlich nicht mehr auseinandergehalten werden konnte.
2.1 Die Frage nach dem Choreographischen
Andrew Hewitt, Autor des Werkes Social Choreography - Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, hat einen Denkanstoß dafür gegeben, innerhalb dessen, was man als Choreographie begreifen möchte, nach Spuren von Politik, Ästhetik, Ideologie und Gesellschaft zu suchen und diese miteinander in Verbindung zu bringen. Er sucht nach der „relationship of aesthetics to politics.“22 Diesen Ansatz werde ich in den folgenden Ausführungen auf die Kampagne der CoE anwenden und im Anschluss daran versuchen, mithilfe der Ausarbeitungen von Bojana Cvejic und Ana Vujanovic (die unter dem Titel Public sphere by performance die Ansätze Hewitts untersuchten) den Choreographie-Begriff in dem gewählten Beispiel zu erweitern und zu aktualisieren.
Zu klären bleibt an dieser Stelle jedoch noch, ob und wie die Aktionen der CoE in diesem Fall überhaupt als Choreographie bezeichnet werden können. Die übliche Begriffsdeutung wird dem Gebiet des Tanzes zugeordnet. Es gibt aber, laut Gabriele Brandstetter, eine implizierte Spannung im Begriff selbst: einerseits wird Choreographie bekanntermaßen „als Aufschreibesystem von Tanz und Körperbewegung“23 verstanden, andererseits habe sie aber auch einen „perfor- mativ-prozessorientierte[n] Aspekt“24 und kann generell „als Regelsystem für die Organisation von (Körper-)Bewegung in Zeit und Raum“25 aufgefasst werden. Diese Definition, die sich nun nicht mehr nur auf den Tanz selbst, sondern auf jede Form von Bewegung beziehen kann, ermöglicht es uns, im Folgenden die Demonstrationen der CoE auch als Choreographie zu fassen. Innerhalb der Demonstrationen gibt es einerseits (von der Polizei) klar definierte Bereiche, in denen sich die Demonstrierenden aufhalten und bewegen dürfen, wie beispielsweise den abgetrennten Bereich bei der ersten Demonstration, in dem sich die Anhänger/innen der CoE versammelten. Andererseits gibt es unter den demonstrierenden Gruppen selbst auch unterschiedliche Bewegungsmuster, die diese Definition einer Choreographie im weiten Sinne unterstützen. Als Beispiel wäre hier die absichtliche Vermischung der eigenen Masse mit der der gegnerischen Seite zu nennen, um Verwirrung bei der Polizei auszulösen und zu vermeiden, dass diese überhaupt noch eine Trennung wie im ersten Fall vornehmen kann. Es entstehen also genau genommen mehrere Choreographien, deren Bewegungen mit unterschiedlichen Zielen verbunden sind.
Nun soll die Theorie der Social Choreographie von Hewitt mit unserem Beispiel zusammengeführt werden. Folgendes Zitat fungiert als geeigneter Ausgangspunkt dafür:
„Because choreography takes as its material the human body and its relation to other human bodies, an examination of social choreographies is particularly suited to a presentation of the ways in which political and aesthetic moments shade into each other and delineate themselves with respect to each other. [...] I am interested here in precisely those instances where art is supposed not to ‘derive from,’ ‘correspond to,’ or ‘reflect’ the social but rather to shape, determine, or illuminate it.“26
[...]
1 The Church of Euthanasia: „A brief history of The Church of Euthanasia.”, https://churchofeuthanasia.org/his- tory.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
2 Ebd.
3 Sodomie „ist ein religiöses, christliches Konstrukt für sündiges Sexualverhalten, das nicht der Fortpflanzung in der Ehe dient“, zum Beispiel Analverkehr. siehe: Uni Leipzig. Wortschatz-Portal: „Sodomie“, https://cor- pora.uni-leipzig.de/de/res?corpusId=deu_newscrawl_2011&word=Sodomie (letzter Zugriff: 13.04.2020).
4 Broder, Henryk: „Macht Liebe, nicht Babies“, Der Spiegel, 25.11.1996, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d- 9123239.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Church of Euthanasia: „Snuff it #4 - Church News“, https://www.churchofeuthanasia.org/snuffit4/news.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
8 Broder, Henryk: „Macht Liebe, nicht Babies“, Der Spiegel, 25.11.1996, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d- 9123239.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
9 Auf ihrer eigenen Webseite schreibt die Organisation über sich selbst: „Operation Rescue is one of the leading pro-life Christian activist organizations in the nation.“, siehe: Operation Rescue: „Who we are“, https://www.operationrescue.org/about-us/who-we-are/ (letzter Zugriff 13.04.2020).
10 Broder, Henryk: „Macht Liebe, nicht Babies“, Der Spiegel, 25.11.1996, https://www.spiegel.de/spie- gel/print/d-9123239.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
11 NOW: „About“, https://now.org/about/ (letzter Zugriff: 13.04.2020).
12 Broder, Henryk: „Macht Liebe, nicht Babies“, Der Spiegel, 25.11.1996, https://www.spiegel.de/spie- gel/print/d-9123239.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
13 Vermin Supreme ist ein weiteres Mitglied der CoE.
14 Church of Euthanasia: „Snuff it #4 - Church News“, https://www.churchofeuthanasia.org/snuffit4/news.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
15 Crusaders for Life: „Who are the Crusaders?“, https://www.lifeballoons.com/about (letzter Zugriff: 13.04.2020).
16 Church of Euthanasia: „Snuff it #4 - Church News“, https://www.churchofeuthanasia.org/snuffit4/news.html (letzter Zugriff: 13.04.2020).
17 Ebd.
18 Hiermit sind körpereigene Flüssigkeiten (wie zb. Sperma) gemeint, um darauf aufmerksam zu machen, dass Selbstbefriedigung bzw. Sexualität gegenüber dem eigenen Körper für die CoE sehr wichtig ist.
19 Church of Euthanasia: „Snuff it #4 - Church News“, https://www.churchofeuthanasia.org/snuffit4/news.html (letzter Zugriff: 13.04.2020). Original-Text: „Pastor Kim and I were talking about how to symbolize the situation and we came up with the idea of a blow-up doll on a cross.“
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Hewitt, Andrew: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement. Durham und London: Duke University Press, 2005, S. 11. Hervorhebungen vom Autor.
23 Brandstetter, Gabriele: „Choreographie.“, in: Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris; Warstat, Matthias: Metzler Lexikon. Theatertheorie. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, 2014, S.52.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 Ebd. S.13f.