La Princesse de Clèves im Vergleich zu Racines Phèdre


Dossier / Travail de Séminaire, 2000

24 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Der formale Aufbau im Vergleich
2.1 Racines Phèdre ein Musterbeispiel der Regelpoetik
2.2 La Princesse de Clèves eine klassische Tragödie?

3 Die erste Leidenschaftserfahrung
3.1 Der Konflikt zwischen raison und passion
3.2 Le coup de foudre

4 Die Geständnisszenen
4.1 Phèdre, II,5
4.2 La scène de l‘ aveu der Princesse de Clèves

5 Tragische Momente
5.1 Eifersucht als Handlungsantrieb, Schuldfragen
5.2 Der tragische Ausweg

6 Zusammenfassung

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Zwei Werke der französischen Klassik - Phèdre und La princesse de Clèves. Zwei Gattungen, wie sie im 17. Jahrhundert unterschiedlicher kaum sein konnten: Roman und Tragödie. Ersterer im Zeitalter der Klassik nicht ernst genommen, letztere die angesehenste Gattung der Klassik schlechthin. Zwei Autoren der Zeit Louis XIV - Mme de Lafayette, die ihre Romane anonym erscheinen ließ, und Jean Racine, der schon zu Lebzeiten zu den angesehensten Dichter seiner Zeit zählte. Zwei Heldinnen, die in völlig unterschiedlichen Zeiten dargestellt werden: Phèdre lebt in der Antike, die Princesse de Clèves im 16. Jahrhundert.

Und doch haben sie mit ein und demselben Problem zu kämpfen: dem der verbotenen Leidenschaft. Es handelt sich bei beiden Werken um dasselbe Grundthema: den Konflikt zwischen raison und passion - ein wichtiges und immer wiederkehrendes Thema der Zeit. Die Werke, mit denen ich mich in dieser Arbeit beschäftige, entstanden auch fast zeitgleich: Phèdre wurde 1678 veröffentlicht und nur ein Jahr später die Princesse de Clèves.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Vergleich der Werke und ihrer Heldinnen. Es wird gezeigt, daß die Romanheldin auch eine Tragödienheldin hätte sein können, denn die Princesse de Clèves lehnt sich stark an die Vorgaben der Tragödienkonzeption des 17. Jahrhunderts an. Auf der anderen Seite soll geklärt werden, worin die Gemeinsamkeiten der dargestellten Konflikte liegen, worin sie sich unterscheiden und welche Konsequenz aus den schließlich gewonnenen Ergebnissen für die Werke gezogen werden können.

In einem ersten Kapitel kommt es mir zunächst auf den formalen Aspekt der Werke an, die sich, obgleich es sich um verschiedene Gattungen handelt, beide streng an das klassizistische Regelwerk halten.

Ein zweiter Aspekt meiner Arbeit besteht dann in dem Vergleich der inneren Konflikte der Heldinnen: wie gehen sie mit ihrer amour-passion um, auf welche Weise ist diese entstanden und wie gestehen die Protagonistinnen sich und ihrer Umwelt diese Leidenschaft ein, welche Folgen hat das Geständnis? Innerhalb der Erörterung dieser Fragen soll auch besprochen werden, inwieweit beide Frauen als “tragisch” zu bezeichnen sind, d.h., inwieweit und wodurch sie die Bedingungen tragischer Heldinnen erfüllen.

2 Der formale Aufbau im Vergleich

2.1 Racines Phèdre als Musterbeispiel der Regelpoetik

Die Tragödie war zur Zeit der französischen Klassik die angesehenste Gattung. Sie wurde, wenn sie nach den Vorgaben der Regelpoetiken eines Boileau oder Aristoteles geschrieben wurde1, als perfektes Medium angesehen, die angestrebte ‚Katharsis‘ beim Zuschauer zu erreichen. Die Tragödie war die Gattung der französischen Klassik schlechthin.

Racines Phèdre wiederum kann als Musterbeispiel der Einhaltung der doctrine classique herangezogen werden, denn sie erfüllt alle Regeln par excellence. Ihren streng klassizistischen, geschlossenen Dramenaufbau werde ich im Folgenden knapp erläutern.

Phèdre ist in fünf Akte unterteilt. Diese enthalten alle klassischen Aufbauelemente 2: die Exposition (I,1: die Vorgeschichte wird von Hippolyte und Théramène zusammengefaßt), die noeuds, bzw. erregende und steigernde Momente (z.B. Nachricht vom Tode Thesées), die Klimax (Liebesgeständnis der Phèdre), die Peripetie (Rückkehr des totgeglaubten Thesée), das retardierende Moment (Hippolyte gesteht dem Vater seine Liebe zu Aricie) und die Katastrophe (Tod Phèdres und Hippolytes). Die Peripetie liegt exakt in der Mitte der Tragödie, sie ist nämlich in der dritten Szene des dritten Aktes anzusiedeln, in der Phèdre erfährt, daß ihr totgeglaubter Gatte Thesée lebt und nach Hause zurückgekehrt ist.

Der Autor hält sich streng an die Regel der drei Einheiten: Phèdre spielt sich an ein und demselben Ort ab, in der Vorhalle des Palasts von Trézène, und die Szene wechselt im Verlauf des Stücks nicht (unité de lieu). Die einzige Haupthandlung, nämlich Phèdres verzweifelte Leidenschaft zu Hippolyte und deren Folgen (unité d’action), spielt sich innerhalb der vorgegebenen 24 Stunden ab (unité de temps). Außerdem hält sich Racine im Großen und Ganzen an die Vorgaben der vraisemblance und der bienséance, wenngleich sich beispielsweise die Geständnisszene zwischen Phèdre und Hippolyte (II,5) oder die letzte Szene der Tragödie, in der Phèdre schon vom nahen Tode gezeichnet zu sehen ist, hart an der Grenze der bienséance bewegen. Insgesamt besteht allerdings kein Zweifel daran, daß Racine in diesem Werk die Regeln der doctrine classique auf perfekte Art und Weise umgesetzt hat.

2.2 La princesse de Clèves - eine klassische Tragödie?

Im absoluten Gegensatz zu der angesehenen Gattung der Tragödie stand im 17. Jahrhundert die des Romans. Dieser war alles andere als eine hohe Gattung. Insbesondere durch seine heroischgalanten Vertreter, die einfache Unterhaltungsliteratur boten, geriet die ohnehin schon diskriminierte Gattung (der Roman fand in den hochgeschätzten Regelpoetiken keine Beachtung) in einen noch schlechteren Ruf.

Diese negativen Voraussetzungen für einen Roman-Autor waren wohl ein Grund dafür, daß Madame de Lafayette im Jahre 1678 ihr Werk nicht nur anonym, sondern zudem unter dem Begriff der mémoires erscheinen ließ. So grenzte sie die Princesse de Clèves von den heroisch- galanten Romanen ab und ließ sie im Licht der Geschichtsschreibung erstrahlen, womit ihr gleichzeitig ein Garant für die vraisemblance zuteil wurde. Madame de Lafayette distanzierte sich jedoch noch auf andere Art von den zeitgenössischen Romanautoren: sie wandte die klassizistische Regelpoetik auf ihr Werk an. Somit erhielt ihr Roman sowohl in seinem Aufbau als auch inhaltlich - wie wir noch in den nächsten Kapiteln sehen werden - eine für seine Gattung ungewöhnliche Gestaltung. Viel eher als mit der Gattung Roman ließen sich all diese untypischen Neuerungen nämlich mit den Grundprinzipien der Tragödie vereinbaren. So läßt sich die oben dargestellte Grundstruktur der Phèdre auch auf die Princesse de Clèves applizieren. Außerdem wird das Werk von einem Stil der Unmittelbarkeit beherrscht, der die Erzählinstanz an einigen Stellen, insbesondere den Dialog - und Monolog - Situationen , nicht mehr wahrnehmbar macht:3 “In dieser Form der Darstellung entfernt sich die Schriftstellerin am weitesten von der zergliedernden Beschreibung der Moralisten. Hier steht auch kein Autor, der über Denken und Fühlen seiner Personen berichtet, zwischen dem Leser und den redenden Gestalten.”, schreibt Hess in seinem Aufsatz über die Princesse de Clèves, und er folgert weiter, daß diese Darstellung der Gedanken der Hauptpersonen in ihrer Unmittelbarkeit den Brief noch übertrifft - und zwar in seinem Wesen als “dramatische Form.”4

Wir finden im Roman die fünf Gliederungselemente der klassischen Tragödie wieder: Die Exposition besteht aus der Einführung der Protagonisten und aller anderen Personen am Hofe und des Grundkonflikts der Dreiecksbeziehungen. Dieser wird schon mit den ersten Sätzen deutlich, in denen das Liebesverhältnis zwischen dem König und Diane de Poitiers angesprochen wird. Des Weiteren wird schon innerhalb dieser Exposition evident, wie oberflächlich die Welt des Hofes ist, daß in ihr Schein und Sein stark divergieren: Anstatt als ernst zu nehmender Regent wird Henri II z.B. als nach divertissements (p. 69) 5 strebender König beschrieben, die Königin übt sich derweil in perfekter dissimulation - sie darf ihre wahren Gefühle nicht zum Ausdruck bringen.6 Mit dieser großen Bedeutung des Scheins wird auch die Princesse konfrontiert werden.

Um der Forderung gerecht zu werden, daß in der Exposition bereits die vollständige Ausgangsposition des Konflikts angelegt ist, müssen auch die Verlobung Mlle de Chartres‘ und M de Clèves‘ und die erste Begegnung zwischen Mlle de Chartres und dem Duc de Nemours hinzugezählt werden - dann finden wir exakt die gleiche Situation wieder, die bei Phédre vorliegt. Hier beginnt die eigentliche Handlung erst, als Phèdre bereits in Hippolyte verliebt ist. Das erste erregende Moment in der Princesse de Clèves wäre demnach im letzten Gespräch mit der Mutter kurz vor deren Tod zu sehen. Die Mutter, die die Leidenschaft ihrer Tochter zu Nemours erkannt hat, spricht diese zum ersten Mal an und warnt die Princesse eindringlich davor, sie auszuleben (p. 108). Die weitere Steigerung der Handlung wird ausgelöst durch Szenen wie die des Turniers oder der Briefepisode (p. 142 - 167), in denen der Princesse ihre eigenen Gefühle und die des Duc immer klarer werden und sie sich dadurch immer mehr ihrer tragischen Situation bewußt wird. Auf diese Weise wird der Höhepunkt der Erzählung herbeigeführt: die Klimax besteht aus der scène de l ’ aveu (p. 170 / 71). Nachdem die Princesse ihrem Gatten ihre Leidenschaft zu einem anderen gestanden hat, führt die Handlung geradewegs in die Katastrophe. Die Peripetie fällt nun fast mit der Klimax zusammen, denn sie beinhaltet die aufkeimende Eifersucht des Prince als Folge des Geständnisses. Das aveu bewirkt damit “das Gegenteil von dem, was der Handelnde erwartet. Das entspricht genau der aristotelischen Bestimmung der Peripetie.”7 Das folgende tragische Moment ist die Berichterstattung des Edelmanns, die für den Prince den Beweis für die Untreue seiner Frau darstellt - er wird grundlos krank vor Eifersucht. Sein Tod stellt schließlich das retardierende Moment der Fabel dar. Für einen kurzen Moment scheint ein Zusammenfinden der Princesse und Nemours‘ möglich; diese Möglichkeit wird aber von der Princesse selbst zerstört - sie entschließt sich zum Verzicht. Dieser entspricht durch den Rückzug aus der höfischen Welt der ‚Katastrophe‘ bei Phèdre.

Abgesehen vom Aufbau, der sich, wie oben dargelegt, klar mit dem eines klassischen Dramas vergleichen läßt, hält das Werk auch alle anderen Forderungen ein, die an eine Tragödie gestellt wurden.

Die Personen stammen, entsprechend der Ständeklausel, den obersten Kreisen der Gesellschaft; auch die Regeln der vraisemblance und der bienséance werden von Mme de Lafayette eingehalten. Die historischen - und im 17. Jahrhundert äußerst bekannten - Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts, die die gesamte Figurenkonstellation der Nebenhandlung ausmachen, sind Garant für die Wahrscheinlichkeit des Werks. Zwar bewegen sich, wie auch schon bei Phèdre beobachtet, zwei Szenen im Grenzbereich der bienséance, nämlich sowohl die Geständnisszene als auch die Pavillon-Szene, im Allgemeinen sind jedoch keine Verstöße gegen die bienséance zu finden.

Die Handlung spielt sich - abgesehen von einem kurzen Prolog und ebenso kurzen Epilog - innerhalb exakt eines Jahres ab. Diese zeitliche Begrenzung ist gleichzusetzen mit der 24-Stunden- Regelung im Drama, denn ein Jahr war, verglichen mit den heroisch-galanten Vorgängern, eine sehr knappe Zeitspanne für die Handlung eines Romans.

Besondere Aufmerksamkeit gebührt der unitéde lieu, denn ihr kommt sowohl in den Tragödien Racines als auch bei der Princesse eine bedeutende Rolle zu. Bei der Princesse de Clèves muß die Einheit des Ortes, wie auch schon die der Zeit, etwas weiter gefaßt werden als in Phèdre. Der Ort des Geschehens ist hier nämlich ‚der Hof‘. Auch der Landsitz Coulommiers ist noch zur höfischen Welt dazuzuzählen, wenngleich hier die Affektgrenzen schon gelockert sind. Nur so sind die Geständnis- und die mit starken erotischen Signalen versehene Beobachtungs-Szene überhaupt möglich.

Phèdre spielt sich nur an einem einzigen Schauplatz ab, dennoch ist auch hier ein unsittliches Geständnis möglich. Die Erklärung für diese Tatsache kann eine These Wolfgang Matzats bieten, die besagt, daß der Bühnenraum im racineschen Theater immer einen Grenzbereich darstellt,8 wie wir ihn bei der Princesse in Coulommiers vorfinden: “Der Bühnenraum wird damit zu einem Ort, an dem die Normen einer Handlungswelt nur noch beschränkte Geltung haben, wo sich mit den

Raum- und Zeitbezügen auch die Bindungen der Personen an ihre Welt auflösen.”9 Phèdres Raum ist demnach also gelöster von der Norm als der alltägliche Lebensraum der Princesse. Sie muß immer wieder aus der freieren Welt Coulommiers‘ an den Hof zurückkehren - im Roman wird die Verbindung zur Gesellschaft und deren Normen dadurch viel evidenter und wichtiger.

Die exemplarische höfische Mitte, in der sich öffentliches und privates Geschehen verbinden, ist zugleich für die Princesse der Ort der Kollision mit der überindividuellen Norm. Ihre persönlichste Handlung, das Geständnis, erfolgt auf dem Lande, aber ausdrücklich ausgelöst durch den Zwang zur Rückkehr an den Hof.10 An diesem Zitat Köhlers läßt sich des Weiteren erkennen, daß der höfische Ort eine Art Zwang, ja Gefängnis für die Princesse darstellt. Eine Flucht ist nur möglich, wenn sie ihr momentanes Leben aufgibt. Auch Phèdre sieht sich diesem Konflikt ausgeliefert, denn auch sie ist gefangen im tragischen Raum, dem sie nicht entkommen kann. “Voilà donc une première définition du héros tragique: il est enfermé, celui qui ne peut sortir qu’en mourir.”11 Die Tragik wird dadurch forciert, daß man dem anderen, dem gleichzeitig gehaßten und geliebten Menschen (in unseren Fällen Hippolyte und Nemours), nicht ausweichen kann: “A et B sont enfermés dans le même lieu: c’est finalement l’espace tragique qui fonde la tragédie”12, denn ein Ausweichen ist nur möglich durch “la mort, le crime, l’accident ou l’exil.”13

Bleibt noch die letzte der drei Einheiten: die unitéd ’ action. Auch diese hat Mme de Lafayette strikt eingehalten, bezieht sich doch der Inhalt konsequent auf nur einen Handlungsstrang: den fatalen Konflikt der Princesse zwischen ihrer verbotenen Leidenschaft und ihrer raison. Auch alle eingeschobenen Handlungen - beispielsweise die Berichte über Mme de Tournon und Sancerre oder Mme de Poitiers - sind Bestandteil der Handlungsführung, da auch sie sich auf das Thema der verbotenen Liebschaft beziehen und Einfluß auf die Entscheidung der Princesse ausüben. Ihr Konflikt zeigt in seiner Grundform wiederum die Nähe zur Dramatik: Der Konflikt raison / passion gilt als klassisch für die Tragödien des 17. Jahrhunderts; er ist jene große Antithese, “die sich durch das gesamte Schrifttum der klassischen Epoche zieht.”14

3 Die erste Leidenschaftserfahrung

3.1 Der Konflikt zwischen raison und passion

Die innere Gespaltenheit ist das auffälligste Merkmal dieses Bildes vom Menschen. Zwischen Geist und Leidenschaft, Vernunft und Gefühl, Wille und Trieb scheint ein Abgrund zu klaffen. Das Ich ist keine geschlossene Einheit. 15 Sowohl Phèdre als auch die Princesse de Clèves sehen sich diesem Konflikt ausgesetzt: sie lieben einen Mann, den sie aus Gründen der Vernunft nicht lieben dürften, und ganz in der Tradition des 17. Jahrhunderts versuchen sie, ihre Leidenschaften von der Vernunft domestizieren zu lassen.16 Die Tragik der Heldinnen besteht nun darin, daß es für sie kein Entrinnen aus diesem Konflikt gibt. Gleichgültig, auf welche Weise sie auch versuchen, sich dagegen zu wehren, es gelingt ihnen nicht. Dieses Dilemma wird auch als “fol amour” bezeichnet. Die Leidenschaften gefährden die Ordnung des Daseins, müssen daher unterdrückt und kontrolliert, aus dem Lebensalltag ausgeschlossen und verdrängt werden. Die Leidenschaft geht bei beiden Frauen schließlich so weit, daß sie um ihre Vernunft, um ihr Selbst bangen müssen. So fragt sich Phèdre, kurz bevor sie Oenone ihre Liebe zu Hippolyte gesteht:

Insensée, où suis-je? et qu’ai-je dit?

Où laissé-jeégarer mes voeux et mon esprit? Je l’ai perdu: les dieux m’en ont ravi l‘ usage. (V. 179 - 181)

Dieses Gefühl der Hilflosigkeit in Bezug auf die eigenen Leidenschaften wird sowohl im Roman als auch im Drama als Entwicklung dargestellt und bestimmt somit die gesamte Handlung: Leidenschaftserfahrung kann als eine kontinuierliche Bewegung von raison zu passion und damit als kohärenter Handlungsablauf interpretiert werden. Die Erfahrung, die im Zentrum dieser Sujetbewegung steht, setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Das Erlebnis, daß man der Leidenschaft nicht Herr zu werden vermag, daß sie stärker ist als die Vernunft, bildet die erste Komponente...Die zweite Komponente ihrer Erfahrung besteht in der Erkenntnis, daß es für ihre Leidenschaft keine Möglichkeit der Erfüllung gibt.17

In der Princesse de Clèves wird diese Entwicklung immer wieder auch durch die eingeschobenen Episoden forciert. Hierdurch wird die Princesse an ihre eigene, ganz ähnliche Situation erinnert, die Berichte übernehmen die Rolle einer moralischen Instanz, die die Princesse innerlich aufhorchen lassen und den Beschluß zur Tugendhaftigkeit festigen. In diesen Situationen sieht sie ihre eigene mißliche Lage klar und deutlich vor sich und kann die Gefahr, die von ihrer Leidenschaft ausgeht, genau einschätzen. Besonders deutlich kommt diese Klarsicht in den Monologen zum Ausdruck. Die lucidité finden wir auch bei Phèdre wieder: “Les personnages de Racine sont terriblement lucides, ils s’analysent le couteau á la main. Ils se voient dans le miroir en train de lever le bras pour frapper, dans une profonde horreur...”18 Durch diese lucidité wird die Situation der Frauen noch um ein Moment tragischer, denn obgleich sie sich ihrer Lage vollends bewußt sind, können weder Phèdre noch die Princesse etwas an ihren Gefühlen ändern. Sie besitzen nicht mehr die Willenskraft, die ein corneille’scher Held noch besaß: “Die Idee des willensstarken Helden ist in der zeitgenössischen Anschauung vom Menschen, bei La Rochefoucauld und den Jansenisten, gebrochen.”19 Für sie ist die Leidenschaft unüberwindlich und unaufhebbar.20 Diese Einsicht ergibt sich für unsere Heldinnen aus einem Erkenntnisprozeß, der durch verschiedene Erlebnisse ausgelöst wird, ganz besonders durch die Erfahrung von Eifersucht, auf die ich noch im Verlaufe dieser Arbeit zu sprechen kommen werde.

Während das Sujetfeld der äußeren Sujetbewegung meist eine moralisch wertende Komponente aufweist, verbinden sich mit dem Sujetfeld der inneren Sujetbewegung immer die Oppositionen von Unwissenheit und Wissen, Illusion und Erkenntnis, Täuschung und Enttäuschung. Jedes Erlebnis führt nicht nur einen neuen Zustand herbei, sondern bedeutet auch einen Fortschritt im Wissen um die eigene Existenz.21

Das Feld der äußeren Sujetbewegung wird somit bestimmt von einer Welt der Normen, denen sich die Heldinnen unterwerfen müssen. Diese Normenwelt entspricht der raison, denn sie beinhaltet die Werte der Gesellschaft, der bienséance. Sowohl Phèdre als auch die Princesse werden in ihrem Verhalten durch diese Normen beeinflußt: Phèdre verbietet die biens á nce und damit die raison, sich inzestuös zu verhalten; sie handelt somit nach allgemein - gesellschaftlichen, aber auch familiären Normen. Die raison wird bei Phèdre durch Oenone verkörpert. Die praktisch veranlagte Amme, die der Regelpoetik zufolge niemals eine tragische Figur sein darf, ist es, die Phèdre zu den entscheidenden Handlungen überredet. Beispielsweise erklärt sie ihr, ganz raisonnable, daß nach dem Tode Thésées ihre Liebe zu Hippolyte nicht mehr unerlaubt sei. Sie ist es auch, die Hippolyte bei seinem Vater des inzestuösen Verhaltens anklagt, um die Schuld von Phèdre abzuwenden. Phèdre ist zu diesem Zeitpunkt zu einem solchen praktisch-vernünftigen Verhalten nicht mehr fähig. In ihr sehen wir die passion verkörpert, denn seit sie Hippolyte verfallen ist, kann sie nicht mehr klar denken. (Mehr hierzu in Kapitel 4.2)

Bei der Princesse de Clèves ist die Norm zunächst ganz klar durch die Mutter institutionalisiert. Mme de Chartres erzieht ihre Tochter in einem streng christlichen Sinne. Das Verhalten der Princesse wird durch die verinnerlichten moralischen Ansichten der Mutter bestimmt - diese konstituieren ihre raison. “Ihr Verhalten bleibt eine dauernde Flucht vor den elementaren Gewalten des Lebens.”22, vor denen sie die Mutter noch vom Totenbett aus warnt. Diese Flucht bedeutet für die Princesse jedoch auch immer, wie oben bereits beschrieben, eine Flucht vor der höfischen Welt des Scheins, in der ihre anerzogene Vorstellung der bienséance keine Geltung zu haben scheint. In der Hofgesellschaft herrscht nämlich eine andere Form der bienséance vor: “Les règles du savoir-vivre y sont codifiées avec soin: c’est le règne de l’étiquette.”23

Auch Phèdre versucht zu fliehen, um ihrer Leidenschaft entgegenzuwirken: sie flieht Hippolyte. Hier handelt es sich um ein Ausweichen vor der geliebten Person, da eine Flucht im eigentlichen Sinne nur durch den Tod zu erreichen ist, dem Phèdre zu Beginn der Tragödie bereits sehr nah steht. Es zeigt sich, daß der Leidenschaftskampf der Princesse mehr an die Gesellschaft gebunden ist, als jener der Phèdre. So schafft es die Princesse auch, im Gegensatz zur Tragödienheldin, sich endgültig vom Objekt ihrer Begierde zurückzuziehen (Zum vermeintlichen Unterschied dieser Lösungen mehr in Kapitel 5.3.). Odette Virmaux vermutet sogar, daß das Verhalten der Princesse völlig anders gewesen wäre, wenn sie nicht in den ihr aufgelegten Normen gefangen wäre: “On en vient même à douter que les passions qu’on nous décrit auraient pu naître dans d’autres conditions que celles-la.”24

Die engere Verbundenheit der Princesse zur Gesellschaft ist zwar offensichtlich, doch die Grundvorstellungen von bienséance und raison sind bei beiden Protagonistinnen gleich. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, daß beide Autoren die moralischen Vorgaben des 17. Jahrhunderts auf ihre Werke appliziert haben.

Das Widerspiel von Vernunft und Leidenschaft ist kein bloßer Gegensatz von Kräften innerhalb des einzelnen Menschen: es ist ein Gegensatz, der sich im Grunde aus der sozialen Natur des Menschen ergibt. Denn die Werte, welche die Vernunft gegen den Ansturm der Affekte verteidigt, sind gesellschaftlicher Ordnung.25

Wie diese gesellschaftliche Ordnung und ihre Werte durch die passions in ihren Fundamenten erschüttert werden, zeigen die Anfangsmomente der Leidenschaft, die bei beiden Heldinnen sehr ähnlich sind.

3.2 Le coup de foudre

L’héros y est saisi, lié comme dans un rapt, et ce saisissement est toujours d‘ ordre visuel: aimer, c’est voir26

Schon zu Beginn der Leidenschaft steht fest: der Konflikt zwischen raison und passion ist unausweichlich, er wird eine Entscheidung fordern. Wie unwiderruflich die Problematik ist, zeigen die ersten Begegnungen der Paare. Es handelt sich in allen Fällen um Liebe auf den ersten Blick, die wie der berühmte Blitz in die Psyche der Protagonisten einschlägt. Keiner der von der Leidenschaft ergriffenen Helden kann sich von diesem Zeitpunkt an mehr von seinem Schicksal lösen - die Leidenschaft hat sie befallen wie eine Krankheit. Die passion beginnt, ihre Macht unter Beweis zu stellen. “Zunächst wird der Held der Geschichte aus einem Zustand der Sorglosigkeit und der Unwissenheit in den Zustand der Leidenschaft versetzt. Dieses erste zentrale Erlebnis fällt zusammen mit dem Augenblick, in dem der Held das Objekt seiner Leidenschaft zum ersten Mal erblickt.”27 Auf diese Augenblicke wird sowohl bei Phèdre als auch bei der Princesse im Text deutlich hingewiesen.

So geschieht es beispielsweise dem Prince de Clèves, als er seine spätere Gemahlin im Juweliergeschäft sieht, aber “das Paar, das einander im Hause eines Juwelenhändlers wahrgenommen hatte, konnte unmöglich das vom Schicksal bezeichnete Liebespaar sein. Das Gegenstück bildet die erste Begegnung zwischen dem Herzog von Nemours und der Fürstin Clèves.”28 Dieses Zusammentreffen scheint vom Schicksal vorherbestimmt zu sein: der König selber fordert Mme de Clèves auf, mit Nemours zu tanzen; “quand ils commencèrent à dancer, il s’éleva dans la salle un murmure de louanges. Le Roi et les Reines se souvinrent qu’ils ne s’étaient jamais vus, et trouvèrent quelque chose de singulier de les voir danser ensemble sans se connaître” (p. 91)

Die Princesse und Nemours sind nach dieser Begegnung aufgewühlt, das Vernunftwidrige ist in ihr Leben eingedrungen, es hat sie “schockartig im Innersten erschüttert.”29 Nach dieser Szene ist klar: “Der Zufall der Begegnung beim Ball kettet die Prinzessin und den Herzog von Nemours aneinander, und von diesem Augenblick an entscheidet die Liebe selbstherrlich über ihr Geschick. Sie entgehen ihrer Bestimmung so wenig wie die liebenden Frauen Racines.”30

Tatsächlich ist auch Phèdre im Innersten erschüttert, als sie Hippolyte, ebenfalls kurz nach ihrer Hochzeit, zum ersten Mal sieht:

Mon mal vient de plus loin. A peine au fils d’Égée Sous les lois de l’hymen je m’étais engagée, Mon repos, mon bonheur semblait être affermi, Athènes me montra mon superbe ennemi. Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue; Un trouble s’éleva dans mon âmeéperdue; Mes yeux ne voyaient plus, je ne pouvais parler; Je sentis tout mon corps et transir et brûler. (Phèdre, V. 269 - 276)

Allen ersten Begegnungen gleich ist die Tatsache, daß sich die Personen in ein Gegenüber verlieben, welches sie noch nie zuvor gesehen haben: der coup de foudre basiert auf rein äußerlichen Eigenschaften. “L’amour s’attache à une personne que l’on connaît mal et que l‘ on ne cherche pas à connaître.”31 In der Princesse de Clèves ist das alleinige Achten auf Äußerlichkeiten Zeichen für die Oberflächlichkeit der Gesellschaft. Mme de Lafayette legt viel Wert auf die Beschreibungen des Aussehens ihrer Helden, das eine magische Anziehungskraft auf das Gegenüber ausübt. Eher schicksalhafte Vorherbestimmung als Magie ist in diesem Zusammenhang das Schlüsselwort zu der von Phédre beschriebenen Szene der ersten Begegnung: sie geht hier noch nicht auf das Äußere Hippolytes ein. Sie ist sogar von diesem ersten Augenblick an so sehr ihrer Sinne beraubt, daß sie nicht einmal mehr sehen kann - ein Zeichen für den Einbruch des Schicksals, der Leidenschaft, die ab jetzt die Protagonistin in Besitz genommen hat.

4 Die Geständnisszenen

4.1 Phèdre, II,5

Von diesem Zeitpunkt an versucht Phèdre alles, ihre Leidenschaft zu überwinden: sie mimt gegenüber Hippolyte die injuste mar â tre, sorgt dafür, daß er sich fern von ihr aufhalten muß, doch alles vergebens:

Vaines précautions! Cruelle destinée!

Par monépoux lui-même à Trézène amenée, J’ai revu l’ennemi que j’avaiséloigné: Ma blessure trop vive aussitôt a saigné.

(Phèdre, I,3; V. 301 - 304)

Phèdre beschließt, lieber schuldlos zu sterben (“Je voulais en mourant prendre soin de ma gloire,...V. 309), als sich noch weiter ihren Liebesqualen auszusetzen: sie ißt nicht mehr, magert ab, wartet auf den nahen Tod, als die confidente Oenone sie zu einem ersten Geständnis drängt. Kurz darauf trifft die Nachricht vom Tode Thésées ein und Oenone überzeugt Phèdre davon, daß ihre Liebe zu Hippolyte nun nicht mehr verwerflich sei oder den Regeln der bienséance widerspräche:

Vivez, vous n ’ avez plus de reproche à vous faire: Votre flamme devient une flamme ordinaire. Thésée en expirant vient de rompre les noeds Qui faisaient tout le crime et l ’ horreur de vos feux. Hippolyte pour vous devient moins redoutable, Et vous pouvez le voir sans vous rendre coupable. (V.349 - 355)

Zur Klimax der Tragödie, dem aveu Phèdres gegenüber Hippolyte, kommt es also nur, weil Phèdre auf Oenone hört, die einzige raison, die ihr noch bleibt. Die hoffnungslos Verliebte trifft sich mit dem Objekt ihrer Leidenschaft unter dem Vorwand, sich für ihren Sohn einsetzen zu wollen. Dieses Vorhaben kann sie jedoch nicht lange in die Tat umsetzen; zu stark ist ihre passion, und das Gespräch steigert sich in dramatischer Weise zur absoluten Hilflosigkeit Phèdres.32 Schon zu Beginn der Szene ist sie so konfus, daß sie der Unterstützung Oenones bedarf, um sich daran zu erinnern, wie sie das Gespräch mit Hippolyte eröffnen soll: sie bittet ihn, ihrem Sohn gegenüber nachsichtig zu sein und sich nicht an diesem für all ihre Grausamkeiten zu rächen. In dieser Bitte klingt mit, daß sie es nicht ertragen könnte, würde er sie deswegen hassen. Phèdres Äußerungen werden im weiteren Verlauf immer unfreiwilliger, sie hat sich immer weniger unter Kontrolle, das merkt sie schon in den Versen 627- 630, in denen sie Hippolyte mit seinem Vater vergleicht:

Que dis-je? Il n’est point mort, puisqu’il respire en vous.

(...)

Je le vois, je lui parle, et mon coeur... je m’égare, Seigneur; ma folle ardeur malgré moi se déclare.

Auch an späterer Stelle wiederholt sie noch einmal, daß ihr Geständnis unfreiwillig ist:

... Cet aveu que je viens de faire, Cet aveu si honteux, le crois-tu volontaire? (V. 693 - 694)

Der Verlust ihrer Vernunft läßt sie über die gegebenen Tatsachen verzweifeln. Sie fragt sich, weshalb die Vergangenheit nicht anders abgelaufen ist:

Que faisiez-vous alors? Pourquoi, sans Hippolyte Des héros de la Grèce assembla-t-il l’èlite? Pourquoi, trop jeune encor, ne pûtes-vous alors Entrer dans le vaisseau qui le mit sur nos bords? (V.645 - 648)

Eine ganz ähnliche Aussage über den ungerechten Verlauf der Vergangenheit finden wir auch in der Princesse de Clèves, als Mme de Clèves sich fragt, weshalb sie den Duc nicht schon vor ihrer Hochzeit habe kennenlernen können:

Pourquoi faut-il, s’écria-t-elle, que je vous puisse accuser de la mort de Monsieur de Clèves? Que n’ai-je commencé à vous connaître depuis que je suis libre, ou pourquoi ne vous ai-je pas connu devant que d’être engagée? Pourquoi la destinée nous sépare-t-elle par un obstacle si invincible? (p.233)

In beiden Fällen wird eine Machtlosigkeit dem Schicksal gegenüber zum Ausdruck gebracht.

Phèdres Geständnis baut nun auf dieser Vergangenheits-Illusion auf: es ist äußerst bild- und metaphernreich, sie vergleicht sich und Hippolyte mit Thesée und Ariadne, spinnt daraus den Anfang einer leidenschaftlicheren Liebesbeziehung. An keiner Stelle verläßt Phèdre jedoch diese Bildebene, so daß Hippolyte, um die Situation zu retten, vortäuschen kann, er habe Phèdres wahre Intention nicht verstanden. Durch sein Verhalten wird dem Leser bzw. Zuschauer noch deutlicher, wie stark Phèdre gegen die geltenden Normen verstößt.33

Hippolytes Replik jedoch treibt Phèdre erst recht zu noch größerer Offenheit und damit zu noch stärkerem Normverstoß: sie wird direkt, duzt Hippolyte und spricht ihre Gefühle unmißverständlich aus:

Eh bien! Connais donc Phèdre dans toute sa fureur. J’aime. Ne pense pas qu’au moment que je t’aime, Innocente à mes yeux, je m’approuve moi-même, (V. 672 - 674)

An dieser Stelle wird zum einen noch einmal das Unfreiwillige ihres Geständnisses deutlich, zum anderen kommt die lucidité Phèdres klar zum Vorschein. Doch die Klarsicht hilft nicht: kurz nach diesem offenen Geständnis gerät Phèdre völlig außer sich, sie wirkt wahnsinnig, wenn sie Hippolyte nun auffordert, sie, “ce monstre affreux” (V. 703), umzubringen. Auch diese Sätze beinhalten eine starke Metaphorik, denn Phèdre will, daß Hippolyte sie mit seinem Schwert ersticht, was als sexuelle Anspielung gelesen werden kann.

Schließlich steht Phèdre kurz vor dem Selbstmord; schon fordert sie Hippolyte auf: ”Prête-moi tonépée. Donne” (V. 710, 711), als Oenone als raison eingreift und sie zur Besinnung bringt. Beide gehen von der Bühne ab.

Phèdres Reaktion auf ihr eigenes Geständnis erfahren wir in der ersten Szene des nächsten Aktes: sie schämt sich zutiefst und bereut ihre Tat:

Importune, peux-tu sohaîter qu’on me voie? De quoi viens-tu flatter mon exprit désolé? Cache-moi bien plutôt; je n’ai que trop parlé. Mes fureurs au dehors ont osé se répandre: J’ai dit ce que jamais on ne devait entendre. (V. 738 - 742)

Sie erkennt, wieder kurzzeitig Herr ihrer raison, wie unangemessen ihr Geständnis war:

Das für unseren Zusammenhang wichtigste Merkmal der Geständnisszenen besteht darin, daß die leidenschaftlichen Figuren sich situationsunangemessen verhalten bzw. daß sie jeweils die in der fiktiven Situation geltenden Normen durchbrechen. Sie werden den Wertvorstellungen, die in der dramatischen Welt dominieren - gloire, tendresse und bienséance - untreu...34

4.2 La scène de l’aveu der Princesse de Clèves

Auch die Princesse wird diesen Normen untreu - jedoch nur bedingt.

Wie Phèdre, so versucht auch die Princesse immer wieder, sich von Nemours fernzuhalten, und auch ihr gelingt dies nicht - immer wieder ist sie ‚hin und weg‘, wenn sie Nemours wieder begegnet. Einer dieser Versuche, sich von dem Duc fernzuhalten, ist die Flucht nach Coulommiers, wo das Geständnis ihrem Gatten gegenüber stattfindet. Hier finden wir eine erste Parallele zu Phèdre: auch dem aveu der Princesse geht eine Entscheidung der raison voraus. Allerdings wohnt diese Vernunftinstanz der Princesse selber inne. Daher ist ihr Geständnis - und hierin besteht der erste große Unterschied zu Phèdre - freiwillig.

“L’aveu est préparé”35, im Verlaufe der Erzählung bringt der Prince selber seine Frau sogar auf den Gedanken, das Geständnis zu machen, spricht er sich doch im Zusammenhang mit der Geschichte der Mme Tournon für die sincérité aus: “La sincérité me touche d’une telle sorte, que je crois que, si ma maîtresse, et même ma femme, m’avouait que quelqu’un lui plût, j’en serais affligé sans en être aigri.” (pp. 116/117)

Ab dem Zeitpunkt an kann die Princesse über ein mögliches Geständnis nachdenken. Das aveu kommt zwar plötzlich für Mme de Clèves, weil es aus der spontanen Situation heraus und aufgrund des Drängens des Prince entsteht, dennoch ist es so überlegt, daß sie während des Geständnisses indirekt zugibt, sich schon länger mit dem Gedanken getragen zu haben: “...j’ai de la force pour taire ce que je crois ne pas devoir dire. L’aveu que je vous ai fait n’a pasété par faiblesse.” (p.172) Diese Sätze scheinen das absolute Gegenstück zu den Äußerungen Phèdres zu sein, die, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, nicht verstehen kann, wie sie Worte, die sie nicht hätte aussprechen dürfen, geäußert hat. Allerdings läßt sich in diesen Sätzen auch eine Gemeinsamkeit festmachen, nämlich die lucidité der Figuren.

So freiwillig das aveu der Princesse ihrem Gatten gegenüber auch ist: auf gewisse Weise geschieht es auch involontairement: sie will schließlich nicht dem Duc de Nemours ein Liebesgeständnis machen. Dies ist aber trotzdem der Fall, denn Nemours beobachtet die Szene heimlich. Trotz lucidité und Freiwilligkeit des Geständnisses verliert auch die Princesse die Fassung, wenn auch nicht in solch einem Ausmaß wie Phèdre: die Princesse kniet weinend vor ihrem Gatten nieder. Der Grund hierfür dürfte unter anderem auch in der Angst liegen, von M. de Clèves wegen des Geständnisses gehaßt oder gar mißachtet zu werden: “Ayez pitié de moi, et aimez-moi encore, si vous pouvez.” (p.171) Die Bitte um Nachsicht für das Verhalten, in das die Leidenschaft die Frauen getrieben hat, taucht auch bei Phèdre auf, und zwar zu Beginn ihres Gesprächs mit Hippolyte.

Während des eigentlichen Geständnisses hat sich Mme de Clèves in ihren Äußerungen sehr unter Kontrolle. Sie spricht in keinem Satz klar aus, worum es geht, dennoch versteht der Prince sie nur zu gut. Schließlich ist es nicht sie, sondern er, der ausspricht, daß sie einen anderen liebt. Dieses ‚Drumherumreden‘ ist mit dem metaphernreichen Geständnis der Phèdre zu vergleichen. Schließlich ist auch hier klar, welch Ungeheuerlichkeit eigentlich zum Ausdruck gebracht werden soll, als Phèdre sich und Hippolyte in die Sage des Ariadnefadens phantasiert.

Völlig unterschiedlich ist die Motivation beider Geständnisse. Die Princesse versucht, sich durch einen Verstoß gegen die Norm den Weg der Tugend zwingend zu erhalten.

Es erscheint zunächst als Akt ehelicher Treue, als Huldigung gegenüber der Sitte. Es ist zugleich eine egoistische Tat der Selbstbefreiung; es entlastet Madame de Clèves von einem unerträglichen, seelischen Druck. Aber es verliert seinen Wert als sittliche Handlung erst recht dadurch, daß es in der selbstbespiegelnden Reflexion zum außergewöhnlichen Verhalten verklärt wird. Und in letzter Rücksicht bedeutet das Geständnis den verschleierten Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ordnungen, denen es zu dienen scheint; eine unbewußte Triebkraft darin ist die Leidenschaft selbst, die ihr Lebensrecht fordert und sich an der Sitte stößt. So schließt die Rettung der Sittlichkeit ihre Auflösung in sich ein.36

Den egoistischen Akt der Selbstbefreiung im Sinne La Rochefoucaulds kann man sicherlich auch für Phèdre annehmen, drohte sie doch unter der Last der verbotenen Liebe zusammenzubrechen, bevor sie sie gestand. Jedoch wird durch die unterschiedliche Motivation zum Geständnis für Phèdre dieser Aspekt zur reinen Nebensache. Phèdre leidet, im Gegensatz zu Princesse, nicht so sehr unter der Tatsache, daß ihre Leidenschaft gegen die bienséance verstößt. Ihre Hauptqual besteht darin, daß ihre Liebe verschmäht wird. Die Princesse hat aufgrund der von Gesellschaft und Mutter indoktrinierten Normen ein schlechtes Gewissen. Phèdre hat dies nicht, zumal sie denkt, daß Thésée tot sei. Auf diesen unterschiedlichen Voraussetzungen gründen auch die verschiedenen Reaktionen der Heldinnen nach dem Geständnis: die Princesse kann sich erleichtert fühlen, ja sie empfindet sogar Ruhe, denn ihre raison scheint gesiegt zu haben: “...enfin le calme revint dans son esprit. Elle trouva même de la douceur à avoir donné ce témoignage de fidélité à un mari qui le méritait si bien...” (pp.174 /175)

Phèdre dahingegen, die die Übermacht ihrer unerwiderten Leidenschaft erfahren hat, schämt sich und bereut (vgl. Kap. 3.1). Sie ist sich ihrer Schwäche vollkommen bewußt; daher kann sie Thésée gegenüber auch erst die volle Wahrheit offenbaren, als ihr der Tod schon sicher ist. Hier geht von der Welt der Normen und der bienséances keine Sicherheit aus, die Leidenschaft revoltiert. Diese Erfahrung der Haltlosigkeit macht auch die Princesse de Clèves noch im Laufe der Zeit: sie merkt, daß Leidenschaften nicht durch ein einfaches Geständnis zu bezwingen sind, daß Nemours sie immer noch verwirrt und schlimmer: sie kann nichts gegen die Eifersucht ihres Ehemanns tun. Die Konsequenz ist, daß sie es schließlich doch, wie Phèdre, bereut, das Geständnis gemacht zu haben: “Ne parlons point de cette aventure...elle me fait honte et elle m’est aussi trop douloureuse par les suites qu’elle a eues.” (p.229)

Die Werte, für die man lebt und handelt, sind als Illusion durchschaut und ihrer Gültigkeit entkleidet. Auch im Geständnis ihrer Liebe gegenüber dem Prinzen wirken... die Kräfte der Auflösung, die den Menschen der Hilfe schützender Ordnungen berauben und in der Einsamkeit vor das Nichts stellen.37

Die Geständnisse beider Frauen haben Macht über den weiteren Verlauf der Handlung. Auch sie können den schicksalhaften Weg der Leidenschaft nicht abwenden. Im Gegenteil: sie führen letztendlich in die Katastrophe, denn durch das aveu wird neues Unheil heraufbeschworen. “Le mot y détient une puissance objective...: il est coup de fouet”38

Daß die Sprache sowohl für die Figuren Racines als auch für die Princesse de Clèves eine besondere Bedeutung hat, ist ein vielbesprochenes Thema: Matzat bezeichnet beispielsweise die höfische Diskurspraxis als eine Art Gefängnis für Mme de Clèves und die anderen Figuren bei Hofe;39 auch Roland Barthes untersucht das Verhalten der Sprache im Zusammenhang mit den Affekten der racineschen Figuren: “L’emoi le plus spectaculaire, c‘ est-à-dire le mieux accordé à la tragédie, c’est celui qui atteint l’homme racinien dans son centre vital, dans son langage.”40 Diese Beobachtung läßt sich nicht nur für Phèdre bestätigen (vgl. Punkt 3.1), auch für die Princesse lassen sich mehrere Belege für die These Barthes‘ finden. Beispielsweise können der Prince und die Princesse nicht mehr miteinander reden, nachdem klar geworden ist, daß es Nemours ist, den die Princesse liebt: “Ils demeurèrent quelque temps sans se rien dire et se séparèrent sans avoir la force de se parler.”(S. 180)

Reden ist Handeln: “...le mot dévoile une situation intolérable, c’est-à-dire que, magiquement, il la fait exister.”41 Auch diese Aussage gilt für beide Werke. Durch Phèdres Geständnis wird der weitere Handlungsverlauf bestimmt, und zwar dergestalt, daß Oenone Hippolyte falsche Absichten unterstellt und ihn deswegen eines Verbrechens bezichtigt, das er nicht begangen hat. Das Drama nimmt seinen Lauf, als Phèdre durch die Worte ihres Gatten erfährt, daß Hippolyte eine andere liebt. Innerlich getroffen unterläßt sie es nun, zu sprechen und Hippolyte zu entlasten; Thésée vertraut auf die verlogenen Worte Oenones und verflucht seinen Sohn, der, wiederum durch Worte, ins Verderben gestürzt wird.

Die Parallele zu der Princesse de Clèves besteht nicht nur darin, daß das Geständnis den weiteren Verlauf der Handlung bestimmt, sondern auch darin, daß die alles zerstörende Eifersucht durch das gesprochene Wort ausgelöst wird und daß dieses Wort neue, unwiderrufliche Situationen schafft. Die Princesse erkennt dies selbst, als sie ihre tragische Situation beschreibt: “...j’ai hasardé tout mon repos et même ma vie.” (p.191)

Comment les a-t-elle hasardés? En parlant à son mari, en lui faisant son aveu inoui. A ce moment, elle a rompu le calme - déjà compromis - qui lui permettait de vivre; elle a précipité le drame, qu’il luiétait encore possible de maîtriser.42

5 Tragische Momente

5.1 Eifersucht als Handlungsantrieb und Schuldfragen

La jalousie est le plus grand de tous les maux, et celui qui fait le moins de pitié aux personnes qui le causent. Maxime n ° 503 43

Les inquiétudes de la jalousie sind es schließlich auch, die das größte Verderben bewirken, sowohl in der Princesse de Clèves als auch in Phèdre.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Princesse zum ersten Mal Eifersucht verspürt, kann sie sich noch ihrer raison sicher sein, doch nach der ‚Brief-Szene‘ beginnt sie zu begreifen, daß ihre Leidenschaft ihre Vernunft beherrschen kann: “Je suis vaincue et surmontée par une inclination qui m’entraine malgré moi. Toutes mes résolutions sont inutiles;...” (p. 167) Einem Aufbäumen gleich faßt sie nach dieser Erfahrung den Entschluß, sich von M. de Nemours loszureißen und nach Coulommiers zu flüchten. Sogar die mögliche Folge dieser Flucht wird ihr schon in diesem Moment bewußt:“...et si Monsieur de Clèves s’opiniâtre à l’empecher ou à en vouloir savoir les raisons, peut-être lui ferai-je mal, et à moi-même aussi, de les lui apprendre.” (p. 168) Obwohl sie weiß, daß ein Geständnis weder für sie noch für den Prince gut sein kann, hält sie es für sinnvoll, wenn sie sich dadurch von den Qualen befreien kann, die ihr die verbotene Liebe zufügt. Die Eifersucht treibt sie also regelrecht nach Coulommiers und in das Geständnis; die jalousie erhält somit eine erste epische Funktion. Doch diese soll nicht die einzige bleiben:

Die epische Funktion der jalousie ist von nun an, nachdem sie das Geständnis mit ausgelöst hat, eine doppelte: 1. muß sie den Tod Clèves verursachen, da ohne diesen Tod der Verzicht kein echter Verzicht wäre und der Motivierung des devoir ermangeln würde; 2. muß die Eifersucht, welche die Princesse für sich selbst fürchtet, verstärkt durch das erschreckende Beispiel des Gatten, neben devoir zum Hauptmotiv des Verzichts werden.44

Die Eifersucht macht die Princesse also auch in gewisser Weise schuldig, denn durch das Geständnis erzeugt sie beim Prince das für ihn tödliche Leiden. Der Prince ist nach dem aveu nicht mehr Herr seiner raison. “La jalousie défigure M de Clèves, et même le dégrade, puisqu’il en arrive à mentir à sa femme et à la faireépier, et il meurt en la maudissant.”45 Diese Schuld bildet schließlich auch einen perfekten Vorwand für den Verzicht der Princesse, dessen eigentlicher Grund jedoch die Angst vor erneuter Eifersucht ist. Auf die Motive für den Verzicht werde ich im nächsten Kapitel näher eingehen.

Das Motiv der Eifersucht stellt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen La Princesse de Clèves und Phèdre dar, denn auch in Phèdre erhält die jalousie epische Kraft und auch hier macht sich die Heldin aufgrund ihrer Eifersucht schuldig. “La veritable invention, la précieuse invention de Racine, ce n’est pas Hippolyte amoureux c’est Phèdre jalouse.”46 Um das Eifersuchtsmotiv und damit ein erneutes Erliegen Phèdres Vernunft vor der passion in sein Drama einzuführen, hat Racine sogar eine neue Figur in die Sage der Phädra einfließen lassen: “L’invention d’Aricie permet de montrer cette chute et la terrible jalousie de Phèdre, qui subvertit une deuxième fois sa volonté raisonnable.”47

Ohne dieses Moment der Eifersucht könnte die Tragödie noch verhindert werden, denn Phèdre ist kurz davor, Thésée zu gestehen, daß Hippolyte unschuldig ist.

La tragédie pourrait finir là par l’aveu de Phèdre à Thésée; mais non, voici que Thésée lui-même lui révèle l’événement qui nous montre une autre face du caractère de la reine: Hippolyte et Aricie s’aiment. Du coup il n’y a plus de place que pour la vengeance, le remords cède sa puissance à la jalousie.48

Phèdre verliert, genau wie die Princesse de Clèves, im Augenblick der Eifersucht erneut die Kontrolle über ihre Vernunft. Wir finden sogar sinngemäß gleiche Aussagen über den psychischen Zustand der Heldinnen, wenn von ihren Eifersuchtserfahrungen die Rede ist. So klagt Phèdre:

Ah! douleur non encoreéprouvée!

A quel nouveau tourment je me suis réservée!

Tout ce que j’ai souffert, mes craintes, mes transport, La fureur de mes feux, l’horreur de mes remords, Et d’un cruel refus l’insupportable injure, N’était qu’un faible essai du tourment que j’endure. (V. 1225 - 1230)

Auch die Eifersuchtsqualen der Princesse übersteigen all ihre bisherigen Erfahrungen:

..ce qu’elle pouvait moins supporter que tout le reste,était le souvenir de l‘état où elle avait causées la pensée que Monsieur de Nemours aimait ailleurs et qu’elle était trompée. Elle avait ignoré jusqu’alors les inquiétudes mortelles de la défiance et de la jalousie. (p.167).

Nachdem Phèdre von Hippolytes Liebe zu Aricie erfahren hat, verschweigt sie die Wahrheit vor Thésée, und verschuldet so den Tod ihres Geliebten. Der Unterschied zum Handeln der Princesse liegt auf der Hand: zwar bringt das durch ihre Eifersucht ausgelöste Handeln jeweils einem Mann den Tod, jedoch agieren sie erneut aus völlig unterschiedlichen Motivationen heraus: während die Princesse versucht, durch das Geständnis auf tugendhafte Weise ihre bedrohte raison wieder vollends zurück zu erlangen und den bienséances zu entsprechen, unterläßt Phèdre, wenig tugendhaft, das Geständnis gegenüber Thésée aus purer Rache. Demnach ist Phèdre aufgrund ihrer Intention schuldiger als die Princesse. Auf der anderen Seite kann man Phèdre aber auch als völlig unschuldig bezeichnen, da ihr Handeln fremdbestimmt ist - ihr Fehlverhalten ist durch ihre Erbschuld und den Fluch der Götter vorherbestimmt.

Einen solchen fremden Einfluß gibt es bei Mme de Clèves nicht: sie ist in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen sind jedoch geprägt von den gesellschaftlichen Normen, d.h., auch die Princesse ist in ihrem Handeln eingeschränkt und abhängig. Da das Geständnis im Sinne der bienséance gemacht wurde, ist sie nach dem Tod ihres Gatten eigentlich unschuldig im Sinne der gesellschaftlichen Vorgaben. Sie gibt sich jedoch selber die Schuld am Tod ihres Gatten. “Damit ist das Schicksal der Liebenden besiegelt. Was ihre Vereinigung in absehbarer Zeit, nach einer angemessenen Trauerfrist, scheinbar ermöglicht, macht diese Vereinigung in Wirklichkeit unmöglich.” Die Princesse kann sich “nicht mit der Vorstellung abfinden, ihr Glück auf den Tod ihres Gatten gründen zu wollen”49. Die gewichtigeren Gründe für ihren Verzicht liegen jedoch an anderer Stelle.

5.2 Der tragische Ausweg

L’amour aussi bien que le feu ne peut subsister sans un mouvement continuel - et il cesse de vivre dès qu’il cesse d’espérer ou de craindre. Maxime n ° 75 50

Das wichtigste Antriebsmoment für den Verzicht der Mme de Clèves stellt die Angst vor Enttäuschung und erneuter Eifersucht und die Sehnsucht nach repos dar . Le devoir, die moralische Verpflichtung sich selber und ihrem toten Gatten gegenüber, ist der unwichtigere Faktor: “Les raisons qu’elle avait de ne pointépouser Monsieur de Nemours lui paraissaient fortes du côté de son devoir et insurmontables du côté de son repos.” (p.236)

Daß die Princesse jedoch den strengen Forderungen sich selbst gegenüber nicht nachkommen können wird und ihre Leidenschaften nicht unter Kontrolle bringen kann, zeichnet sich schon in dem Moment ab, als sie den Entschluß faßt, den Blicken des Duc, der sie nach dem Tod ihres Ehemanns nicht aus den Augen verliert, auszuweichen: “Mais cette persuasion, quiétait un effet de sa raison et de sa vertu, n’entraînait pas son coeur. Il demeurait attaché à Monsieur de Nemours avec une violence qui la mettait dans unétat digne de compassion, et qui ne lui laissa plus de repos.” (p.224)

Schließlich gelangt sie jedoch zu der Überzeugung, daß ein Erhalt ihrer Liebe im ehelichen Alltag nicht möglich wäre, die Gewöhnung die Leidenschaft sterben und Nemours Liebe erblassen ließe.51 Sie behält recht: als Nemours einsieht, daß keine Chance zur glücklichen Ehe mit der Princesse besteht, verblaßt seine Liebe allmählich:

Si M. de Nemoursépousait la princesse, il cesserait sans doute de l’aimer, car il n’aurait plus rien à souhaiter. Mais, quand il voit qu’elle luiéchappe définitivement, “le temps et l’absence”éteignent sa passion.52

Wenn die Princesse also die Kraft für den Verzicht aufbringt und dem Duc in einem letzten Gespräch mitteilt, daß ihre Liebe keine Zukunft habe, dann sieht es zunächst so aus, als habe die Vernunft letztendlich gesiegt. “...die Princesse de Clèves glaubt, durch den Verzicht auch die durch die Liebe verlorene Kraft der Selbstbestimmung, der Autonomie, wiederzuerlangen.”53 Doch der Schein trügt: die Princesse stirbt kurze Zeit nach ihrem Rückzug aus der höfischen Welt. Dieser Rückzug bedeutet schon vor dem physischen einen gesellschaftlichen Tod - das Opfer im Kampf gegen die Leidenschaft ist also das eigene Leben.

Der Liebesverzicht der Princesse de Clèves ist der einzige Weg, aus den Trümmern aller Hoffnungen auf Erfüllung des individuellen Wesens wenigstens die Idee dieses Wesens zu retten, indem ein letzter Willensakt sie dem Zugriff des Schicksals entzieht. Daß diese Lösung - obgleich ästhetisch ‚wahr‘ - eine Scheinlösung ist, und daß sich das Schicksal schadlos hält, zeigt sich daran, daß sie mit der Abkehr von der Welt, der Flucht in die Einsamkeit und mit baldigem Tod erkauft wird. Die ‚Lösung‘ entlarvt sich damit selbst.54

Eine erfüllte Liebesbeziehung wäre nur möglich gewesen, wenn sie weiter in das tägliche Spiel des Scheins eingebettet gewesen wäre. Dies ist aber nach den Tod des M. de Clèves nicht mehr nötig. Die Princesse flieht also auch, um sich ihre Liebe zu erhalten, die in der Hofwelt keine Zukunft hat. Sie flieht vor der Welt der Normen, die ihr keinen Halt bieten kann: weder in Bezug auf den Bestand ihrer Liebe, noch auf ihre Vorstellung von Moral.:“Sa décision finale ne sera donc pas motivée par la bienséance, qu’elle utilisera seulement pour se donner le temps de réfléchir. C’est que la bienséance demeure trop floue et trop libérale.”55 Mit diesem weiten Begriff der bienséance kommt die Princesse nicht zurecht. Sie flieht, weil ihr Gefängnis der Hofgesellschaft keine Grenzen mehr hat - es handelt sich nur noch um Scheingrenzen. Die Flucht ins Kloster soll ihr helfen, sich die Grenzen selber zu setzen und dadurch ein zufriedenes Leben en repos zu führen. Die Rechnung geht nicht auf: die Princesse stirbt jung und unglücklich.

Auch Phèdre sieht keine andere Lösung , als die Welt zu verlassen, denn ihr ist es unmöglich geworden, ihr bisheriges Leben fortzusetzen. Die Liebe Hippolytes zu Aricie macht ihre tragische Situation perfekt: sie erkennt, daß sie keine Chance auf Erwiderung ihrer Leidenschaft hat. Durch die Eifersuchtserfahrung begreift sie außerdem, daß sie den Kampf gegen ihre Leidenschaft verloren hat und auch sie hat nun das Ziel, ähnlich wie die Princesse, sich ihre raison durch einen letzten vernunftgesteuerten Akt zu erhalten, der jedoch gleichzeitig das Scheitern gegenüber der passion beinhaltet. Sie verflucht Oenone kurz bevor sie das Gift schluckt, was deutlich macht, daß sie sich ihrer eigenen raison wieder bewußt wird und sich gleichzeitig von der praktischen Vernunft ihrer Amme lossagt.

Phèdres Konflikt war, im Gegensatz zu dem der Princesse, von vornherein unlösbar, da er vom göttlichen Fatalismus ausgelöst wurde. Die Ursache liegt hier also nicht in der Gesellschaft oder bei der Protagonistin selber, sondern in der Macht der Götter. In diesem Aspekt zeigen sich ganz deutlich die unterschiedlichen glaubenstheoretischen Hintergründe der Autoren: Während Racines Phèdre eindeutig unter der Prämisse der jansenistischen Glaubensideologie geschrieben wurde, basiert die Princesse de Clèves auf der Glaubenstheorie der Jesuiten, die ihren Anhängern die Möglichkeit der Korrektur menschlichen Versagens zugestanden.

Die große Gemeinsamkeit der beiden Werke besteht darin, daß die Leidenschaft der Protagonistinnen Sieger im Kampf gegen ihre raison bleibt; die Vernunft scheitert. Der Ausweg aus der jeweiligen Situation verdeutlicht die Tragik beider Heldinnen, denn beide Lösungen verkörpern ein Scheitern in der Welt und dieses Scheitern macht das Hauptmerkmal für tragische Helden aus. Nach Gelfert bedeutet der Begriff des Scheiterns, “..daß jemand gegen die Niederlage kämpft und doch zugleich versagt. Das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit, von Sich - Aufbäumen und Erliegen, von Schuld und übermäßigem Leid macht die Bestimmungsmerkmale des Tragischen aus.”56 All diese Kriterien treffen sowohl auf die Princesse als auch auf Phèdre zu.

6 Zusammenfassung

Mit der vorliegenden Arbeit kommt zum Ausdruck, daß ein Vergleich der Princesse de Clèves und der Phèdre sehr ergiebig ist. Beide Werke sind sich zunächst in ihrem Aufbau sehr ähnlich: der Roman hätte auch als Tragödie geschrieben worden sein können, zumindest könnte er in ein Drama umgeschrieben werden, beachtet er doch alle Vorgaben der klassischen Regelpoetik. Viele Aspekte mußten in diesem Zusammenhang leider unbeachtet bleiben. Lohnend wäre beispielsweise auch eine Stilanalyse der Werke gewesen oder, neben dem Aufzeigen dramatischer Elemente in der Princesse de Clèves, die Verdeutlichung romanesker Elemente der Phèdre.

Inhaltlich weisen die Werke ebenfalls viele Gemeinsamkeiten auf. Grob betrachtet behandeln sie beide den Konflikt zwischen amour und passion. Die Heldinnen versuchen, vor dem Objekt ihrer Leidenschaft zu fliehen und damit auch ihrer passion Herr zu werden - es gelingt ihnen nicht. In dramatischen aveu - Szenen gestehen sie schließlich ihre verbotene Leidenschaft. Diese Geständnisse haben, auch wenn sie völlig unterschiedlich motiviert sind, verheerende Folgen für den weiteren Verlauf der Plots: einmal ausgesprochen, können sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Eifersucht ist in beiden Werken das Moment, was den katastrophalen Ausgang herbeiführt; die Eifersucht ist es, die beide Heldinnen schließlich zu Handlungen führt, die sie schuldig werden läßt.

Beide Figuren sind im eigentlichen Sinne des Wortes tragisch: sie sind gefangen zwischen passion und raison und dieser Situation können sie nur durch ein Opfer entkommen, welches das tragische Scheitern der Charaktere zum Ausdruck bringt. Es ließ sich weiterhin feststellen, daß der Konflikt der Princesse de Clèves eng an die gesellschaftlichen Konventionen gebunden ist, daß ihre Problemsituation durch gesellschaftliche und moralische Normen ausgelöst wird, was bei Phèdre nicht der Fall ist. Die Princesse de Clèves kann somit auch als Kritik an der scheinheiligen Hofgesellschaft des 17. Jahrhunderts gelesen werden. Phèdre dahingegen ist die Darstellung eines rein psychischen Konflikts der Heldin.

7 Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Lafayette, Madame de: La Princesse de Clèves. Texte présenté et commenté par Jean Mesnard. Paris, 1980.

La Rochefoucauld: Maximes. Présentation par Jaques Truchet. Paris, 1977.

Racine, Jean: Phèdre. Préface et commentaire par Emmanuel Martin. Paris, 1992.

Sekundärliteratur:

Auerbach, Erich: “Racine und die Leidenschaften”. In.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. 1967.

Barthes, Roland: Sur Racine. Paris, 1970.

Dédéyan, Charles: Racine et sa Phèdre. Paris, 1965.

Galle, Robert: Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik. München, 1986.

Gelfert, Hans-Dieter: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Göttingen, 1995.

Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. In (ders.): Gesellschaft, Literatur, Wissenschaft. Gesammelte Schriften. München, 1967. S. 100 - 116.

Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ Princesse de Clèves ‘. Hamburg, 1959.

Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Klassik I. Stuttgart 1983. S. 62 - 92.

Matzat, Wolfgang: “Affektrepräsentation im klassischen Diskurs: La Princesse de Clèves”. In: Fritz Nies, Karlheinz Stierle (Hrg.): Französische Klassik: Theorie, Literatur, Malerei. München 1985. pp. 231 - 266.

Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik. München, 1982. S 138 - 207.

Niderst, Alain: La princesse de Cleèves. Le roman paradoxal. Paris, 1973.

Petriconi, H.: “Der Verzicht auf Liebe”. In: ders.: Metamorphosen der Träume. Frankfurt, 1971. S. 99 - 114.

Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 9. Aufl., erw. und bibliogr. aktualisierter Nachdr. der durchges. und erg. Aufl.1988. München, 1997.

Rohou, Jean: La tragédie classique.

Virmaux, Odette: Les héroines romanesques de Madame de La Fayette. Paris, 1981.

[...]


1 Aufgrund der quantitativen Beschränkung dieser Arbeit werde ich nicht näher auf die Inhalte und Aussagen der Regelpoetiken eingehen und sie als bekannt voraussetzen.

2 Zur Terminologie vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. 9. Auflage. München, 1997.

3 Nach Pfister ist das Fehlen des vermittelnden Kommunikationssystems , also die Absolutheit des dramatischen Textes, ein Grundmerkmal des Theaterstücks. Vgl.: Pfister: Das Drama.

4 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. In (ders.): Gesellschaft, Literatur, Wissenschaft. Gesammelte Schriften. München, 1986. S. 114.

5 Alle Seitenangaben beziehen sich auf dieédition Flammarion, Paris 1980.

6 Vgl.: Galle, Robert: Geständnis und Subjektivität. München 1986. S. 39.

7 Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ Princesse de Clèves ‘ . Hamburg 1959.S. 64.

8 Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. München 1982. S. 170.

9 Ebda.

10 Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ Princesse de Clèves ‘ . Hamburg 1959. S. 78.

11 Barthes, Roland: Sur Racine. Paris, 1970. S. 20.

12 Barthes, Roland: Sur Racine. Paris 1970. S. 36.

13 Ebda. S. 37.

14 Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Klassik I. Stuttgart 1986. S. 66.

15 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S.109.

16 Vgl.Köhler, Gerhard: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. S. 66.

17 Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. S. 142.

18 Dédéyan, Charles: Racine et sa Phèdre. Paris, p. 131.

19 Hess,Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”.S. 110.

20 Vgl: Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. S. 142.

21 Ebda. S. 143.

22 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S. 113.

23 Virmaux,Odette: Les héroines romanesques de Mme de La Fayette. Paris, 1981. p. 85.

24 Ebda. p. 86.

25 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S. 112.

26 Barthes, Roland: Sur Racine. S.22.

27 Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. S. 143.

28 Petriconi,H.: “Der Verzicht auf Liebe”, in: ders.: Metamorphosen der Träume.Frankfurt 1971. S. 103.

29 Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ Princesse de Clèves ‘ . Hamburg 1959. S. 19.

30 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S.111.

31 Niderst, Alain: La princesse de Clèves. Le roman paradoxal. p.93.

32 Vgl: Dédéyan, Charles: Racine et sa Phèdre.

33 Vgl.:Matztat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. München, 1982. S. 176.

34 Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. München 1982. S. 176.

35 Niderst, Alain: La princesse de Clèves. Le roman paradoxal. Paris, 1973. S.101.

36 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S. 113.

37 Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk S. 113.

38 Barthes, Roland: Sur Racine. Paris, 1970. p.42.

39 Vgl.: Matzat, Wolfgang: “Affektrepärsentation im klassischen Diskurs: La princesse de Clèves” S. 235.

40 Barthes, Roland: Sur Racine. p.40.

41 Barthes, Roland: Sur Racine. p.42.

42 Niderst, Alain: La princesse de Clèves. Le roman paradoxal. Paris, 1973. p.99.

43 La Rochefoucauld: Maximes et réflexions divers. Présentépar Jaques Truchet. Paris,1977.p.88.

44 Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ La princesse de Clèves ‘ . Hamburg, 1959. S. 25 f.

45 Niderst, Alain: La princesse de Clèves. Le roman paradoxal. Paris, 1973. p. 102.

46 Dédéyan, Charles: Racine et sa Phèdre. Paris 1965. p. 127.

47 Rohou, Jean: La tragédie classique. S. 246.

48 Dédéyan, Charles: Racine et sa Phèdre. p.122.

49 Petriconi, H.: “Der Verzicht auf Liebe”, in (ders) : Metamorphosen der Träume.S. 104.

50 La Rochefoucauld: Maximes et réflexions diverses. p.51.

51 Vgl.:Hess, Gerhard: “Madame de Lafayette und ihr Werk”. S.112.

52 Nidest, Alain: La princesse de Clèves. p.94.

53 Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Klassik I. Stuttgart 1983. S. 65.

54 Köhler, Erich: Madame de Lafayettes ‚ Princesse de Clèves ‘ . Hamburg 1959. S. 71.

55 Niderst, Alain: La princesse de Clèves. p.105.

56 Gelfert, Hans-Dieter: Die Tragödie. S.14.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
La Princesse de Clèves im Vergleich zu Racines Phèdre
Université
University of Cologne
Note
1,0
Auteur
Année
2000
Pages
24
N° de catalogue
V99100
ISBN (ebook)
9783638975490
Taille d'un fichier
410 KB
Langue
allemand
Mots clés
Princesse, Clèves, Vergleich, Racines, Phèdre
Citation du texte
Nadine Schaaf (Auteur), 2000, La Princesse de Clèves im Vergleich zu Racines Phèdre, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/99100

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