Das Kontrollverhalten des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Europäischen Gerichtshof. Die Public Sector Purchasing Program-Entscheidung von 2020


Term Paper (Advanced seminar), 2020

31 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

Einleitung

1 Der ‚Tanz‘ von BVerfG und EuGH – Kontext der Korrektur
1.1 Aus Perspektive des Grundgesetzes – Einzelermächtigung vor Vorrang
1.2 Aus europäischer Perspektive – Vorrang vor Einzelermächtigung
1.3 Unvereinbare Perspektiven?
1.4 Friedliche Koexistenz vor PSPP?

2 Das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
2.1 Was bedeutet PSPP
2.2 Gerichtlicher Schlagabtausch – Bis einer heult?

3 Einordnung: PSPP als ‚Ende des Tanzes‘ und die Korrektur des EuGH
3.1 Verhältnismäßigkeit
3.2 Flüchtigkeitsfehler des EuGH und schlechte Manieren ?
3.3 Verdrängung des Grundgesetzes?
3.4 Das Urteil als Begrenzung des ‚spill-overs‘ oder Sicherung staatlicher Präferenzen?

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Aus theoretischer Perspektive kann die europäische Integration der Judikative(n) als Umformung einer Vielzahl verfassungsgerichtlicher Einzelsysteme (Nationalstaaten) zu einer „Gesamtarchitektur von Verfassungsgerichten in Europa“, mit einem neuartigen Akteur, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), beschrieben werden (vgl. Wahl 2015, S. 836). Der EuGH fungiert dabei als „ legitimierte Institution “, die „ supranationale Normen verbindlich durchzusetzen “ (Zapka 2014, S. 261) vermag.

Am 05. Mai 2020 verneinte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor wenigen maskierten Zuschauern die Bindungswirkung eines EuGH-Urteils teilweise hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Ankaufs von Wertpapieren durch das Europäische System der Zentralbanken1 (ESZB) unter Leitung der Europäischen Zentralbank (EZB).2

Einen Tag später schrieb der Rechtswissenschaftler Dimitros Kyriazis aus Oxford:

This judgment […] might bring forth a new era in the relationship between the German FCC and the ECJ, and thus between EU law supremacy and Member State sovereignty.” (Kyriazis 2020)

Die Entscheidung des BVerfG schlug in Deutschland und Europa hohe Wellen und führte zu ablehnenden Stellungnahmen der europäischen Kommission (vgl. von der Leyen 10.05.2020) und des europäischen Gerichtshofes (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union 8.05.2020) sowie einem (kleinen) Schock an der Börse (vgl. boerse.ARD.de 2020). Selbstverständlich hat jedes Urteil des Bundesverfassungsgerichts Tragweite, doch das PSPP-Urteil sorgte für besondere Aufregung.

Die Entscheidung beendete einen Zustand der Ungewissheit um die Frage, ob sich das BVerfG tatsächlich als Kontrolleur über den EuGH stellen würde, da es ein Urteil des EuGH für Ultra-vires, d.h. außerhalb der Kompetenzen der Europäischen Union, und somit für nicht bindend erklärte (vgl. Kyriazis 2020). Das BVerfG verhinderte also die verbindliche Durchsetzung supranationaler Normen durch den EuGH und korrigierte somit die Entscheidung des Gerichts.

Diesem Sachverhalt nähert sich die vorliegende Hausarbeit, indem sie als Fallstudie3 explorativ das Korrekturverhalten des BVerfG gegenüber dem EuGH anhand der PSPP-Entscheidung untersucht. Ein Fall (Kontrollmechanismus), an dem primär zwei Untereinheiten (BVerfG und EuGH) beteiligt sind wird innerhalb eines (theoretischen) Zeitpunktes untersucht: Die PSPP-Entscheidung.4

Dabei wird die Ultra-vires Kontrolle anhand des PSPP-Urteils als Anknüpfungspunkt einer Analyse des Verhältnisses der Gerichte genommen5, um die Frage zu beantworten inwiefern das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Public Sector Purchasing Program-Urteils den Europäischen Gerichtshof kontrolliert?

Es kann nicht Anspruch dieser Arbeit sein eine umfassende Diskussion der europa- und verfassungsrechtlichen Aspekte der ultra-vires Kontrolle oder der ökonomisch-juristischen Verhältnismäßigkeit des PSPP zu liefern. Diese Hausarbeit bewertet nicht primär die PSPP-Entscheidung in ihrer ‚Richtigkeit‘. Auch auf politische Folgen des Urteils im weiteren Sinne wie z.B. ‚Lob aus Polen‘ für die Entscheidung und damit verbundene Sorgen um die Nachahmung weniger rechtsstaatlicher Mitgliedsstaaten (vgl. Möllers 2020, S. 503) wird nicht weiter eingegangen. Darüber hinaus kann diese Hausarbeit keinen tieferen Einstieg in die systemtheoretischen Referenzen vieler der behandelten Autoren liefern. Zapka und Mayer beziehen sich in ihren Analysen explizit auf Luhmanns Systemtheorie, wobei Mayer jedoch den Bezug lediglich zur Abgrenzung herstellt. Seiner Ansicht nach ist Luhmanns Begriff des Systems dem System im Europarecht zumeist fremd und die begriffliche Überschneidung nicht intendiert (vgl. Mayer 2000, S. 36). Zapka hingegen bedient sich systemtheoretischer Inhalte zur Analyse (vgl. Zapka 2014, S. 60). Haltern spricht über die Perspektiven der Gerichte als ‚in sich logisch‘ aber inkompatibel und eröffnet somit ebenfalls systemtheoretische Bezüge (vgl. Haltern 2020, S. 819).

Diese Hausarbeit wird die Grundzüge des Sachverhalts der Entscheidung darstellen, sie anhand vorangegangener Rechtsprechung kontextualisieren, zentrale Thesen zum Verhältnis der Gerichte hinterfragen und somit eine Einordnung des PSPP-Urteils in einen breiteren politischen Diskurs zur Rolle des BVerfG in der europäischen Integration ermöglichen. Im Rahmen dieser Hausarbeit wird der systemtheoretische Begriff des Mehrebenensystems für die Europäische Union verwendet, um das Ineinandergreifen von mitgliedsstaatlicher Verfassungsgerichtsbarkeit und supranationaler Gerichtsbarkeit erfassen zu können. Dabei bezeichnet Mehrebenensystem einen

Oberbegriff für nicht-unitarische Systeme, in denen mehrere Entscheidungsebenen bestehen, die nicht notwendigerweise in einem Über-/Unterordnungsverhältnis zueinander stehen. “ (Mayer 2000, S. 9)

Das Erste Kapitel wird sich mit den verfassungsrechtlichen6 Perspektiven der Gerichte befassen. Hierbei wird die Letztentscheidungskompetenz als Kernproblem positioniert, die Ultra-vires Kontrolle als Instrument aus der ‚deutschen‘ Perspektive eingeführt und die Diskrepanz der Perspektiven herausgearbeitet, sowie erläutert, warum trotzdem eine Stabilität des Verhältnisses bestand. Der verfassungsrechtliche Kontext der PSPP-Entscheidung soll also in diesem Kapitel dargestellt werden. Der Abschnitt befasst sich mit juristischen Quellen, dem deutschen Grundgesetz sowie dem europäischen Primärrecht. Dabei werden Beiträge der ehemaligen Verfassungsrichter Di Fabio und Voßkuhle (welcher an der PSPP-Entscheidung noch beteiligt war), sowie weiterer Rechtswissenschaftler*Innen herangezogen. Insbesondere bei der Einordnung der unterschiedlichen Perspektiven wird außerdem Klaus Zapkas Arbeit verwendet, welche einen systemtheoretischen Erklärungsansatz für die Stabilität des Verhältnisses bietet.

Das Zweite Kapitel liefert eine Einführung in die Sachfragen der PSPP-Entscheidung und in das Verfahren vor dem BVerfG sowie in weitere Verfahren. Hier werden insbesondere Beiträge des Rechtswissenschaftlers Patrick Sikora zu den Verfahren, die zur PSPP-Entscheidung hinführten, herangezogen, sowie die Entscheidungen des BVerfG selbst.

Das Dritte Kapitel befasst sich mit der Frage, was das BVerfG mit der PSPP-Entscheidung korrigierte. Dabei stehen zwei konfligierende Ansichten im Zentrum: Franz Mayers BVerfG-kritische und Ulrich Halterns BVerfG-freundliche Haltung zum Thema. Die Darstellung anhand der Argumente dieser beiden Autoren, beleuchtet verschiedene Aspekte der Entscheidung und wird durch politikwissenschaftliche Beiträge ergänzt. Dabei wird festgestellt, dass hier nicht von einer juristischen ‚Verbesserung‘ einer Fehlentscheidung gesprochen werden kann. Die Entscheidung beruht vor allem auf der Entwicklung der Integration. Es folgt abschließend eine kurze Erläuterung, inwiefern sich die Entscheidung in politikwissenschaftliche (Groß-)Theorien der Integration einordnen lässt.

Das Fazit zeigt dann, dass anhand dieser Hausarbeit die PSPP-Entscheidung jedenfalls als Kontrolle des EuGH gesehen werden kann, jedoch nicht als die eines ‚korrekteren‘, sondern eines mitgliedsstaatlichen, d.h. perspektivisch anders positionierten Gerichts. Alle Teile der Hausarbeit verbindend wird hier argumentiert, dass die Kontrolle des EuGH durch das BVerfG aus dem Kontext des Verhältnisses schon lange möglich war, unterschätzt und nun durch die PSPP-Entscheidung offensichtlich beansprucht wurde. Dabei ist der Kontext wichtiger als das PSPP selbst.

1 Der ‚Tanz‘ von BVerfG und EuGH – Kontext der Korrektur

Kann das BVerfG Korrektor7 des Europäischen Gerichtshofs sein? Das PSPP-Urteil bejaht dies eindeutig. Trotzdem widmet sich der folgende Abschnitt zunächst den verfassungsrechtlichen Grundlagen eines möglichen Korrekturverhältnisses, um die Ursprünge der Kontrolle zu verstehen und zu erklären, warum die Entscheidung des BVerfG durchaus überraschend sein konnte.

Für das gerichtliche Korrekturverhältnis zwischen (den europäischen) Ebenen ist die entscheidende Frage die der Letztentscheidungskompetenz (vgl. Mayer 25.05.2020, S. 7). Diese meint die Befugnis zur verbindlichen Entscheidung, wer worüber und wie weit entscheiden darf. Kompetenz-Kompetenz ist somit Letztentscheidungskompetenz (Mayer 2000, 29). Als konstitutives Element von Verfassungsgerichten (vgl. Jestaedt et al. 2011, S. 284) ist Letztentscheidungskompetenz verknüpft mit Souveränität, weshalb die Frage nach Staatlichkeit für das Verhältnis von BVerfG und EuGH so prägnant ist (vgl. Di Fabio 06.02.2012, S. 7).

Zwei Normen machen die Zuordnung der Letztentscheidungskompetenz im europäischen Mehrebenensystem besonders kompliziert: Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, welcher eine Letztentscheidungskompetenz des EuGH nahelegt und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, welches eine Letztentscheidungskompetenz beim BVerfG (und allgemein mitgliedsstaatlichen Institutionen) logisch erscheinen lässt. Selbstverständlich ist eine Zuspitzung des Konfliktes auf zwei Normen reduzierend, jedoch veranschaulicht diese Dualität das Verhältnis sinnvoll. Während der Anwendungsvorrang, welcher dem europäischen Recht Vorrang vor nationalem Recht einräumt, die Funktionsfähigkeit der Union sichern soll, schützt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung die Verfassungsidentität der Mitgliedsstaaten (vgl. Voßkuhle 2010, S. 6).

Dieses Verhältnis wird im Folgenden erläutert: Einerseits aus der mitgliedsstaatlich-deutschen Perspektive des Grundgesetzes, andererseits aus der supranational-europäischen Perspektive des Europarechts.

1.1 Aus Perspektive des Grundgesetzes – Einzelermächtigung vor Vorrang

Die Spannung zwischen EuGH und BVerfG ist schon im Grundgesetz (GG) erkennbar. Im Verfassungstext findet sie sich primär zwischen der Präambel, Art. 23 I GG, Art. 38 I GG und Art. 79 III GG.

Das Kerninstrument zur Wirksamkeit europäischen Rechts für Deutschland ist gemäß Art. 23 I GG das Zustimmungsgesetz des Bundestages zu europarechtlichen Verträgen. Die Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben und insbesondere Art. 38 I GG und Art. 79 III GG durch die deutschen Legislative prüft das BVerfG, sofern es angerufen wird (Mayer 25.05.2020, 6). Insofern kontrolliert das BVerfG den EuGH, indem es die ‚Umsetzung‘ von Europarecht durch die deutschen Institutionen prüft. So hat das BVerfG nur mittelbar Zugriff auf Europarecht, aber auch nur so entfaltet Europarecht in Deutschland überhaupt Wirkung. Das BVerfG kann also korrigieren, indem es Zustimmungsgesetze oder ‚Umsetzungsmaßnahmen‘ für nichtig, weil verfassungswidrig erklärt (vgl. Mayer 25.05.2020, S. 6).

Während die Präambel die Integration als Ziel („vereintes Europa“) beinhaltet (vgl. Haltern 2017, S. 251), verbietet Art. 79 III GG dem Gesetzgeber bestimmte Normen zu ändern: die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Demokratieprinzip und den deutschen Föderalismus (Mayer 25.05.2020, 28). Art. 38 GG garantiert als Demokratieprinzip, dass „ die Union nur Kompetenzen wahrnehmen darf, die ihr vom Bundestag in verfassungsgemäßer Weise übertragen worden sind. “ (Fischer und Fetzer 2019, Rn. 347) Hier findet sich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verfassungsrechtlich verankert in Form eines Gebots der demokratischen Rückbindung an den deutschen Gesetzgeber. Art. 79 III GG setzt der Integration eine absolute Grenze, da er den inhaltlichen Kern des Art. 38 I GG für unabänderlich erklärt (vgl. Jestaedt et al. 2011, S. 402).

Grundsätzlich gilt jedoch - wenn auch nicht explizit vertraglich - der Anwendungsvorrang des Europarechts, aber dem BVerfG zufolge nur, weil dieser auf Basis des GG durch Zustimmung Deutschlands eingeräumt wurde (vgl. Voßkuhle 2010, S. 5; vgl. Fischer und Fetzer 2019, Rn. 344). Insofern gelten für den Anwendungsvorrang die oben beschriebenen verfassungsrechtlichen Grenzen. Außerdem kann der Anwendungsvorrang des Europarechts nur bestehen, sofern das europäische Recht seinen eigenen Anforderungen, insbesondere seinen kompetenziellen Grenzen genügt. Diese Grenzen werden im folgenden Abschnitt zur Ultra-vires vertieft. Gleichzeitig folgert das BVerfG insbesondere aus der Präambel den Grundsatz der ‚Europarechtsfreundlichkeit‘. Dies bedeutet, dass bei der Auslegung des GG auch die europäische Integration berücksichtigt werden muss (vgl. Voßkuhle 2010, S. 7). Außerdem besteht der „ Grundsatz der Loyalen Zusammenarbeit “ aus Art. 4 Abs. III des Vertrags über die Europäische Union (EUV) auch aus Sicht des BVerfG (vgl. Thiemann 2016, S. 3–4).

Die deutsche Verfassungsarchitektur integriert Europarecht als deutsches Recht über die „ Brücke “ der Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber (vgl. Haltern 2017, S. 532) und erzeugt somit gewissermaßen eine „ Parallelversion des europäischen Rechts “ (Mayer 25.05.2020, S. 6). Das BVerfG hat somit mittelbaren Zugriff auf das Europarecht, auch wenn die letztverbindliche Interpretation dessen im Grundsatz dem EuGH gem. Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorbehalten ist.

Das BVerfG identifizierte schon seit den 70er Jahren verschiedene Korrekturbedürfnisse, hatte jedoch bis zum 5. Mai 2020 niemals eine Entscheidung des EuGHs aufgehoben, d.h. eingreifend korrigiert. Das BVerfG beschäftigte sich im Rahmen der Integration und hinsichtlich des EuGH bereits häufiger kritisch mit Themen wie dem Schutz der Grundrechte, der Verfassungsidentität und – vorrangiges Interesse dieser Hausarbeit – der Ultra-vires Kontrolle. Diese Haltung des BVerfG wurde in Deutschland kritisiert. So könne zwar ein theoretischer Vorbehalt des GG gegenüber der Integration bestehen, jedoch gebe es keinen denkbaren Anlass diese Funktion zu aktivieren, da dies die europäische Integration als Ganzes infrage stellen würde (vgl. Höreth und Ketelhut 2017, S. 78–79; vgl. Mayer 25.05.2020, S. 6–7). Dennoch hielt das BVerfG an ihrer Haltung fest und letztendlich gilt „ das Grundgesetz […] so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt “ (Pötzsch 2008). Die Korrekturbedürfnisse lassen sich primär mit der Qualität der EU als Nicht-Nationalstaat begründen, sondern als ‚bloß‘ von Staaten abgeleitetes Gebilde (vgl. Haltern 2017, S. 470).

Eine besondere Rolle für die Korrekturbedürfnisse des BVerfG hinsichtlich dem EuGH spielt die Rechtsfortbildung. Zwar ist diese im Grundsatz vom BVerfG gebilligt, als integrative Notwendigkeit für ein politisch schwerfälliges Europa auch in Deutschland anerkannt und insbesondere durch die ‚ effet utile ‘ - Doktrin gerechtfertigt, welche eine möglichst effektive, d.h. integrative, Auslegung des Europarechts aus Art. 4 III EUV fordert (Di Fabio 06.02.2012, 9). Es besteht jedoch die Sorge, dass starke Rechtsfortbildung durch den EuGH als „supranationale Machtdemonstrationen“ (Di Fabio 06.02.2012, S. 10) die Integration an den Mitgliedsstaaten vorbei vorantreiben könnte (vgl. Haltern 2017, S. 474).

Es muss somit aus Perspektive des Grundgesetzes ein „ Notbremse-Verfahren “ geben, um nationale Verfassungsidentität oder, wie im Falle der Ultra-vires Kontrolle, nationale Kompetenzen gegenüber einem weitestgehend autonom rechtsfortbildenden EuGH zu schützen (vgl. Voßkuhle 2010, S. 7–8).

Die Ultra-vires Kontrolle

Hier greift das Ultra-vires Prinzip. Es ermöglicht eine Korrektur, wenn außerhalb eingeräumter Befugnisse gehandelt wurde. Dabei folgt dieses Prinzip der (ursprünglich) völkerrechtlichen Natur des Europarechts. Ultra-vires bedeutet , jenseits der [eigenen] Kräfte‘. Völkerrechtliche Verträge existieren aufgrund von Zugeständnissen teilnehmender Staaten. Institutionen des Europarechts verstanden aus dieser völkerrechtlichen Perspektive, wie der EuGH und die EZB haben also nicht die Letztentscheidungskompetenz sich über die Ermächtigung der Mitgliedsstaaten hinausgehende Kompetenzen zu verschaffen. Entscheidend für die Kompetenzen europäischer Institutionen ist das ‚ Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ‘, d.h. die Mitgliedsstaaten ermächtigen die EU in einzelnen, begrenzten Sachbereichen zum Handeln. Sehen die teilnehmenden Staaten durch einen Akt der völkerrechtlichen Organisationen ihre Souveränität beschnitten, muss ihnen die Möglichkeit der Kontrolle eingeräumt werden (vgl. Naujoks 2016, S. 23–25).

Die Ultra-vires Kontrolle besteht also völkerrechtlich, solange es sich bei der europäischen Union nicht um einen Staat handelt. Auch wenn das Prinzip ursprünglich völkerrechtlich konnotiert war, argumentiert Di Fabio, ist es auch „ eine klare Konsequenz der unionalen Verbundsarchitektur und des verfassungsrechtlichen Übertragungsmechanismus “ ist (Di Fabio 06.02.2012, S. 13). Die Ultra-vires Kontrolle mag also aus dem klassischen Völkerrecht stammen, ist aber im europäischen Kontext nicht bloß archaisches Artefakt.

Bereits 1993 nannte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Maastricht-Vertrag die Ultra-vires Kontrolle als Möglichkeit:

„Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.“8

Aus historischer Perspektive lässt sich allerdings ein ‚ unklarer Kurs ‘ (vgl. Stein 2011, S. 219) des BVerfG erkennen. Besonders in den Anfangsjahren des EuGHs und während seiner ‚ revolutionären Phase ‘ (vgl. Rasmussen 2008, S. 91–97) in den 60er Jahren stand das BVerfG hinter der integrativen Rechtsprechung des EuGH (vgl. Stein 2011, S. 220). Den Jahren der Harmonie folgten die Jahre der Kooperation im Rahmen der Solange -Entscheidungen hinsichtlich des Ausbaus des europäischen Grundrechtsschutzes (1974-1986). Erst mit der Entscheidung zum Vertrag von Maastricht 1993 wurde der Ton schärfer.9 Mit der Lissabon-Entscheidung wurde dem Ultra-vires Prinzip Form und Raum gegeben und es wurde in einen EU-skeptischeren Ton10 eingebettet. (Mayer 25.05.2020, S. 6) Diesem Urteil folgte allerdings die Honeywell -Entscheidung, welche die Ultra-vires Kontrolle nur als zulässig erachtetet, wenn Kompetenzverstöße besonders bedeutsam und ‚offensichtlich‘ seien und, wenn zuvor der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren konsultiert wurde.11 Somit entschärfte das BVerfG das Instrument durch eine Verringerung der Kontrolldichte mittels Erhöhung der Anforderungen für die Ultra-vires Kontrolle (vgl. Haltern 2017, S. 476–477). Das BVerfG entwickelte eine Rechtsprechung, die häufig als ‚bellen, ohne zu beißen‘ beschrieben wurde, wobei das BVerfG zwar seine Kompetenz, europarechtliche Urteile auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen aufrechterhielt, diese aber nie ausschöpfte (vgl. Mayer 25.05.2020, S. 12).

Während im Bereich der Solange-Rechtsprechung ein kooperatives Verhältnis der Gerichte zu beobachten war, bildet der Ultra-vires Diskurs insbesondere im konfliktträchtigen Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik (vgl. Zapka 2014, S. 5) ein Gegenbild. Ein Grund dafür liefert Di Fabio:

"Bei der Auslegung von Kompetenztiteln wird der Europäische Gerichtshof die Grenze unzulässiger Rechtsfortbildung viel schneller erreichen [als bei Grundrechten], weil das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung konstitutiv für die supranationale Idee ist." (Di Fabio 06.02.2012, S. 13)

[...]


1 Die EZB bzw. der EZB-Rat verantwortet und leitete die Programme wie das PSPP, durchgeführt werden sie aber von den nationalen Zentralbanken der Mitgliedsstaaten, welche im Zusammenschluss des ESZB inklusive der EZB agieren. Siehe dazu: Deutsche Bundesbank (Hg.) (2015): Organisation im Europäischen System der Zentralbanken. Das Eurosystem im ESZB. Online verfügbar unter https://www.bundesbank.de/de/bundesbank/eurosystem/organisation/organisation-im-europaeischen-system-der-zentralbanken-604320, zuletzt aktualisiert am 13.04.2015, zuletzt geprüft am 21.09.2020.

2 Vgl. BVerfG, Urteil vom 05.05.2020, Aktenzeichen 2 BvR 859/15, Rn. 116.

3 Als methodischer Bauplan dieser Hausarbeit wurde Gerring, John (2004): What Is a Case Study and What Is It Good for? In: American Political Science Review 98 (2) zugrunde gelegt.

4 Das Urteil als Zeitpunkt ist eine Vereinfachung: Die Entscheidung wird in dieser Hausarbeit nicht als singuläres Ereignis betrachtet, sondern steht für einen komplexen Sachverhalt und Rechtsstreit. Es soll hier nicht nur um das Urteil im engeren Sinne, sondern um Begründung, Konstellation und Kontext gehen. Die Entscheidung soll als Angelpunkt dieser Hausarbeit wirken, um welchen das Kontrollverhältnis erläutert wird.

5 Diese Hausarbeit folgt strategisch einem ähnlichen Muster wie Larissa Naujoks veröffentlichte Masterarbeit „Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH. Ultra-vires-Überprüfung des umstrittenen OMT-Beschlusses.“ (Naujoks 2016)

6 ‚verfassungsrechtlich‘ als Adjektiv im „funktionellen Sinne“ beschreibt jedenfalls das europäische Primärrecht, auch wenn es keine Verfassung im engeren Sinne darstellt (vgl. Thiemann 2016, 35).

7 Personalisierungen des Gerichts sollen nicht unterschlagen, dass einzelne (fehlbare) Menschen als Richter*Innen hinter den Urteilen stehen (vgl. Mayer 25.05.2020, 13), wenngleich eben diese Fehlbarkeit qua Letztentscheidungskompetenz zumindest für die Auslegung des Grundgesetzes irrelevant ist.

8 BVerfGE 89, 155 (5. Leitsatz).

9 Das Ultra-vires Prinzip findet schon eine erste Erwähnung in der Cloppenburg-Entscheidung des BVerfG 1987, allerdings noch sehr abstrakt (vgl. Mayer 2000, S. 97).

10 Das BVerfG verwendete unterschiedliches Vokabular: ‚ Ultra-vires -Akte‘ benennen seit der Lissabon-Entscheidung, was in der Maastricht-Entscheidung noch ‚ ausbrechende Rechtsakte‘ waren. Die Latinisierung dieses Begriffes nähert sich einem völkerrechtlichen Vokabular an. Dies würde zur Stoßrichtung des Lissabon-Urteils passen. Zu den Gründen hinter dieser Umbenennung gibt es anscheinend noch keine Untersuchung.

11 Vgl. BVerfGE 126, 286 (1. Leitsatz).

Excerpt out of 31 pages

Details

Title
Das Kontrollverhalten des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Europäischen Gerichtshof. Die Public Sector Purchasing Program-Entscheidung von 2020
College
University of Münster
Grade
1,3
Author
Year
2020
Pages
31
Catalog Number
V991045
ISBN (eBook)
9783346369369
ISBN (Book)
9783346369376
Language
German
Keywords
PSPP, EuGH, BVerfG, EZB
Quote paper
Till Kammerlohr (Author), 2020, Das Kontrollverhalten des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Europäischen Gerichtshof. Die Public Sector Purchasing Program-Entscheidung von 2020, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/991045

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