Intertextuelle Bezüge zwischen Gottfried Kellers "Spiegel, das Kätzchen" und Walter Moers’ "Der Schrecksenmeister" als Spiegel des zeitgenössischen Literaturverständnisses


Bachelorarbeit, 2020

48 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vorbetrachtungen: Intertextualität
2.1. Intertextualitätstheorien und die Schwierigkeit des Konkreten
2.2. Auf dem Weg zur passenden Intertextualitätstheorie – Genette und Pfister/Broich
2.3. Exkurs: Bloom – psychologisierte Intertextualität

3. Analyse: Spiegel, das Kätzchen als Folie für den Schrecksenmeister
3.1. Kellers Die Leute von Seldwyla und Moers’ Der Schrecksenmeister – Kontext
3.2. Palimpseste und Transformation – Handlung und Erzählstruktur
3.3. Figurenkonstellationen
3.3.1. Echo und Spiegel
3.3.2. Eißpin und Pineiß
3.3.3. Izanuela und die Berghine
3.3.4. Fjodor F. Fjodor und die Eule
3.3.5. Floria von Eisenstadt und das Frauchen
3.4. Die Diegesen: Seldwyla und Sledwaya
3.5. Motiv: Liebe
3.6. Der Schrecksenmeister – ein Gattungspotpourri?
3.7. Paratextuelle Autorinszenierung

4. Intertextualität zwischen Der Schrecksenmeister und Spiegel, das Kätzchen - Ergebnisse

5. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Welcher Schriftsteller kann reinen Gewissens behaupten, ausschließlich aus sich selbst zu schöpfen? Wer wirft den ersten Stein? Ich bestimmt nicht.“ —Walter Moers1

Ob Die Stadt der Träumenden Bücher oder Ensel und Krete:2 Die Romane von Walter Moers sind bis zum Rand gefüllt mit Anspielungen auf kanonische Texte der Weltliteratur. Mal tauchen sie offensiv in Form von Anagrammen oder Zitaten auf – da wird ein Johann Wolfgang von Goethe zu „Ojahnn Golgo van Fontheweg“3 –, mal werden Figuren oder Motive ohne Markierung übernommen und patchwork -ähnlich in den zamonischen Kontext eingefügt. Ein besonderes Ausreizen dieser Technik lässt sich in dem 2007 erschienenen Roman Der Schrecksenmeister erkennen. Der Autor gibt (wie in den meisten anderen seiner Werke) vor, er habe die Erzählung lediglich „übersetzt“4 – das Original stamme von Hildegunst von Mythenmetz, seinem schon aus Ensel und Krete bekannten intradiegetischen Erzähler, der als „bedeutendste[r] Großschriftsteller von Zamonien“5 gelte. Im Schrecksenmeister geht Moers aber noch einen Schritt weiter. Intradiegetisch behauptet Mythenmetz, er habe das Werk von dem „Klassiker“6 Gofid Letterkerl in ein „etwas zeitgemäßeres Neuzamonisch“7 übertragen. Wen das Anagramm in diesem Namen noch nicht überzeugt hat, dem fällt spätestens beim Lesen des Klappentexts auf: Es handelt sich um eine Übertragung von Gottfried Kellers Kunstmärchen Spiegel, das Kätzchen. Handlung, Figuren und sogar der Name des Schauplatzes „Sledwaya“ machen keinen Hehl aus der Übernahme von Kellers Novelle. Der Schrecksenmeister ist damit inhärent intertextuell und stellt Rezipient*innen vor die Frage, wie sie diese Bezugnahme in ihre Lektüre integrieren. Die vorliegende Arbeit hat deswegen zum Ziel, Kellers und Moers’ Texte auf intertextuelle Spuren hin zu untersuchen, um schließlich Aussagen über ihre rezeptionsästhetische Wirkung und deren Bedeutung für die Lektüre treffen zu können. Dabei bietet insbesondere das daraus folgende Autorschaftsverständnis Erkenntnisse über Literatur. Es kann zwar nicht als alleiniger Spiegel eines zeitgenössischen Literaturverständnisses verstanden werden, wohl aber erreicht es eine differenzierte Perspektive auf die postmoderne Autorfigur.

Zunächst ist allerdings zu klären, wie literarische Texte sich aufeinander beziehen können und welche Zugänge die Intertextualitätstheorie zur Beschreibung dieser Phänomene bietet. Im ersten Teil werden darum die Ansätze von Pfister/Broich und Genette mit einem kurzen Exkurs in die Bloomsche Intertextualität herangezogen, um ein operationalisierbares Intertextualitätsverständnis für den zweiten Teil zu schaffen, in dem dann Spiegel, das Kätzchen und Der Schrecksenmeister einer textimmanenten Betrachtung unterzogen werden. Die Ergebnisse dienen im letzten Schritt dazu, Aussagen über das Literatur- und Autorschaftsverständnis in Moers’ Werk zu treffen.

2. Vorbetrachtungen: Intertextualität

An den Bezügen zwischen zwei Einzeltexten zeigen sich die augenfälligsten Beispiele für verschiedene Kategorien der Intertexualität. Dass Walter Moers’ Werk dafür besonders geeignet ist, wurde bereits angedeutet. Doch obwohl viele Bezüge im Schrecksenmeister auf Spiegel, das Kätzchen bereits ohne eine tiefgehende Analyse zu erhaschen sind, lassen sich je nach Auswahl der zu verfolgenden Intertextualitäts­theorie weitere und vor allem aussagekräftigere Ergebnisse erzielen. Das liegt vor allem an der diversifizierten Forschungsgeschichte, auf deren Nährboden verschiedenste Ansatzpunkte für diese Theorien entstehen konnten. Aus diesem Grund sollen im Folgenden für die Analyse relevante Intertextualitätsbegriffe erläutert werden, um dabei auch ihren jeweiligen Nutzen und ihre Limitierungen aufzuzeigen.

2.1. Intertextualitätstheorien und die Schwierigkeit des Konkreten

Viele Intertextualitätstheorien teilen zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind äußerst weit gefasst und folgen oft auch einem poststrukturalistischen Textverständnis. Dieser Umstand begründet sich in der Forschungsgeschichte: Bachtins Konzept der Dialogizität und Kristevas Intertextualitätsbegriff wurden zur Grundlage vieler weiterer Ansätze. Während in Bachtins Dialogizität noch das Gegenüber von Stimmen im modernen „polyphone[n] Roman“ 8 der hauptsächliche Forschungsgegenstand ist, erweitert Kristevas Lesart das Konzept deutlich in poststrukturalistischer Manier. Sie verortet den Einzeltext in einem „intertextuellen Raum“ 9 , der sich auf der horizontalen Ebene zwischen Autor und Leser und auf der vertikalen Ebene zwischen anderen Texten bewegt – dabei ist anzumerken: Text, das kann im poststrukturalistischen Sinne fast alles sein. 10 Spätere Beiträge wie der Lachmanns sind dann oft Weiterentwicklungen dieser Begriffe. 11 Auf diese Weise bildet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein enormer Forschungskomplex um das Thema. Die Abstraktion und Reichweite der Intertextualitätstheorie von Kristeva macht sie folglich, wenn auch literaturontologisch äußerst relevant, zu einem schwierigen Werkzeug der Textarbeit. Denn, so erkennt Pfister:

„Jeder Gegenstand, auf den sich ein Text beziehen kann, ist immer schon ein besprochener oder beschriebener, und jedes seiner Strukturelemente, von den Wörtern über die Syntax bis hin zu bestimmten Textsortenmustern und allgemeinen Texteigenschaften, gehört ihm nicht allein, sondern er teilt sie mit anderen, in mancher Hinsicht mit allen anderen Texten.“ 12

Es liegt also auf der Hand, dass sich eine konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit entscheiden muss, was sie als intertextuell wertet und was nicht. An dieser Stelle soll trotzdem dafür plädiert werden, das Konzept nur so weit zu beschneiden, wie es für eine gewinnbringende Interpretationsleistung nur irgend möglich sein kann. Denn käme ein sehr enger Intertextualitätsbegriff zur Anwendung, würden sich literaturwissenschaftliche Betrachtungen nur noch in der Darstellung von manifesten, im Text offenkundig zur Schau gestellten Referenzen erschöpfen und keinen Mehrwert bieten. Herrmann beispielsweise trifft in ihrem Artikel zur Praxis der Intertextualitätstheorie anhand von Ernst Meisters Lyrik weitreichende Einschränkungen, wenn sie Intertextualität auf „prägnante Beziehungen zwischen konkreten Texten13 limitiert, nur literarische und philosophische Texte als Bezugsquelle zulässt und gar eine spezifische Funktion der Bezugnahme voraussetzt.14 So verkürzt gibt es wenig Spielraum, eine umfassende und gegenüber unerwarteten Bezügen offene Lektüre vornehmen zu können. Ternès beobachtet zugespitzt:

„Die Theorien von Kristeva, Barthes u. a. werden im Namen der Operationalisierbarkeit oft so weit vereinfacht, bis vom Konzept der Intertextualität nur noch ein theoretischer Restbestand übrigbleibt, der sich von der klassischen Zitat-, Allusions- oder Motivforschung kaum mehr unterscheidet .“ 15

Will eine intertextuelle Arbeit gelingen, muss sie also die Limitierungen enger und weiter Intertextualitätsbegriffe thematisieren und im gesamten Analyseprozess hinterfragen. Vielmehr als sich für eine Lesart zu entscheiden, muss das Verhältnis der drei Instanzen Autor, Leser und Text bei der Lektüre in den Blick genommen werden, fast im Sinne eines hermeneutischen Zirkels immer vom einen aufs andere geschlossen werden, das Konkrete im Abstrakten (also das Textuelle im Intertextuellen) und andersherum betrachtet werden. So kann eine literaturwissenschaftliche Arbeit damit Erfolg haben, ihren Gegenstand umfassend aufzuarbeiten, auch wenn ein gewisses Maß an Trennschärfe der Theorien verloren gehen mag. Die Grade an Sicherheit der Interpretation sollen dabei genauso dokumentiert werden.

2.2. Auf dem Weg zur passenden Intertextualitätstheorie – Genette und Pfister/Broich

Um diese Aufgabe zu bewältigen, sind Theorien nötig, die sich auf dem operationalisierbaren Spektrum der Intertextualitätsforschung befinden. Hierfür ziehe ich die zwei womöglich praxiskonformsten Ansätze heran: Pfisters Schalenmodell und Genettes Palimpsestemodell. Außerdem soll ein kurzer Exkurs über Blooms Intertextualitätsbegriff dazu dienen, noch einen weiteren sehr spezifischen Blickwinkel einnehmen zu können.

Gérard Genettes Form der Intertextualität, die er selbst Transtextualität nennt, findet sich vollends ausgereift in der 1982 erschienenen Monographie Palimpsestes. La littérature au sécond degré. Darin setzt er sich zum Ziel, alle textuellen Eigenschaften zu erfassen, die über den Einzeltext hinausgehen und ihn mit anderen Texten verknüpfen; in seinen Worten: „was ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“ 16 . Dafür entwirft er fünf Kategorien. Die erste und wahrscheinlich eindeutigste nennt er sogleich Intertextualität, grenzt den Begriff im Vergleich zu Bachtin und Kristeva aber deutlich ein: Bei ihm lassen sich darunter alle Phänomene subsumieren, die eine „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ 17 zum Gegenstand haben. Es müssen also faktische Zeichen vom einen Text in den anderen übertragen worden sein, um diese Definition zu erfüllen. Konkret haben wir es mit Zitaten, Plagiaten oder (wortgetreuen, aufdeckbaren) Anspielungen zu tun, die Intertextualität nach Genette konstituieren. Der zweite Typus nach Genette ist die Paratextualität . Sie zeichnet all das aus, was neben dem eigentlichen Text liegt, also Vorworte, Nachworte, Umschläge, Klappentexte, Fußnoten etc. Die Unterscheidung zwischen Paratext und Text ist vor allem eine pragmatische, weil es zwischen den einzelnen paratextuellen Merkmalen deutliche Abstufungen in der Textnähe gibt. So ist eine Fußnote noch stärker im Text verankert als ein Lesebändchen. Beide werden hier aber zusammengefasst, weil sie andere Voraussetzungen als der tatsächliche Text mit sich bringen. Weil es aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Palimpseste noch nicht allzu viel literaturwissenschaftliche Vorstöße in diesem Bereich gibt, resümiert Genette anschließend: „Wie man sieht, ist die Paratextualität vor allem eine Fundgrube von Fragen ohne Antworten.“ 18 Die dritte Kategorie nennt Genette Metatextualität . 19 Damit ist vor allem der kommentierende Text über einen anderen gemeint. 20 Denkbare Textformen sind Rezensionen, Briefe, Tagebücher, Forschungs­literatur oder Reklame; allerdings handelt Genette diesen Typ kurzerhand in einem Absatz ab, um mehr Platz für den vierten einzuräumen: Die Hypertextualität . Sie ist deswegen von besonderem Interesse, weil Genette hier „endlich die Theorien der Intertextualität, wie sie Kristeva, Bachtin […] und Riffaterre verfolgen“, 21 erreicht. Das bedeutet konkret, dass er die Beziehungen zwischen zwei Einzeltexten (dem vorangehenden Hypotext und dem darauffolgenden Hypertext) in den Fokus nimmt, dabei aber nur solche Phänomene betrachtet, die sich nicht mit den drei anderen Typen definieren lassen. Nach dem Ausschlussprinzip sind damit also alle Einzeltextreferenzen gemeint, die nicht buchstabengetreu wiedergegeben sind, sich nicht neben dem eigentlichen Text befinden und darüber hinaus nicht in einer Kommentarfunktion zu anderen Texten stehen. Übrig bleibt eine Menge – um nur einige zu nennen: Übersetzungen, Travestien, Parodien und Pastiches, aber auch Mischformen. 22 Anhand dieser Vorannahmen baut Genette seine weitere Theorie aus. Zunächst aber soll der fünfte und letzte Typus, die Architextualität, genannt werden. Mit ihr ist die latente, nicht explizit gemachte „Bauform“ 23 eines Textes gemeint, zum Beispiel, wenn ein Text strukturelle Merkmale einer bestimmten Gattung aufweist. Hier ist keine Thematisierung der Bezüge mehr vonnöten; stattdessen kann von einem Erwartungshorizont gesprochen werden, in dem sich der Text bewegt, wenn er einer Gattungskonvention folgt oder einer bestimmten Textsorte angehört. 24 Damit steht die Architextualität als abstrakteste Form der Transtextualität in einem ähnlichen Verhältnis zu anderen Texten, wie sie Kristeva für die Ambivalenz deutlich gemacht hatte, nämlich in einem ständigen Austausch. 25

Genette fährt fort, diverse Begriffe der Literatur- und Gattungstheorie aufzugreifen und in seine Theorie einzuarbeiten. Zunächst wendet er sich der Parodie und ihren verwandten Textformen zu. Nach einigen poetologischen Betrachtungen kommt er zu einer Unterteilung der Gattungen nach zwei hypertextuellen Bezugskriterien: Dem (modal-funktionellen) Register und der (stofflich-qualitativen) Beziehung. Anschließend führt er ein Schema an, das die Unterschiede verdeutlicht: 26

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

* z. B. Robert Neumann, Mit fremden Federn. (A. d. Ü.)

Dass mit dem Register der Hypertextualität die Haltung und der Ausdruck des impliziten Autors gegenüber seinem Ursprungsmaterial gemeint ist (Genette nimmt immer nur einen Text als Hypotext an 27 ), wird hier noch einmal besonders deutlich. Eine Parodie geht mit dem Ursprungsmaterial demnach „lockerer“ um als eine Transposition, eine Persiflage ist nach Genette per Definition wertender als ein Pastiche. 28 Die Unterscheidung zwischen Transformation und Nachahmung hingegen wirft mehr Fragen auf. Genette betont den qualitativen Unterschied zwischen beiden Beziehungstypen:

„Um es [den Hypotext, A. d. V.] zu transformieren, genügt es, irgendeinen seiner Bestandteile irgendwie abzuändern […]. Einen Text nachzuahmen ist etwas ganz anderes: Nachahmung setzt voraus, daß ich in dieser Aussage eine bestimmte, typische Manier erkenne […] und daß ich eine andere, geläufige oder weniger geläufige Meinung in dieser Manier (in diesem Stil) ausdrücke“. 29

Genettes Theorie hat eine systematisierende Relevanz, die in dieser Arbeit von Nutzen sein wird. Konkrete Kriterien, die den Grad an Intertextualität zu messen im Stande sind, stellt er allerdings nicht auf. 30 Darum lohnt es sich an dieser Stelle, einen Blick auf Manfred Pfisters und Ulrich Broichs Schalenmodell zu werfen. Sie verschreiben sich in ihrem 1985er Sammelband Intertextualität. Formen, Funktionen, Anglistische Fallstudien einem skalierbaren Verständnis von Intertextualität und schaffen so womöglich eine der operationalisierbarsten Intertextualitätstheorien. Aus einer zusammengefassten Begriffsgeschichte destilliert Pfister die Notwendigkeit, zwischen dem universalen poststrukturalistischen Intertextmodell und dem enger gefassten strukturalistischen und hermeneutischen Konzept zu vermitteln.

„Möglich erscheint uns das schon deshalb, weil die beiden Modelle einander nicht ausschließen, vielmehr die Phänomene, die das engere Modell erfassen will, prägnante Aktualisierungen jener globalen Intertextualität sind, auf die das weitere Modell abzielt. In unserem Vermittlungsversuch wollen wir daher von dem übergreifenden Modell der Intertextualität ausgehen und innerhalb dieser weit definierten Intertextualität diese dann nach Graden der Intensität des intertextuellen Bezugs abstufen.“ 31

Konkret entwerfen Pfister und Broich ein „Bündel von Kriterien“ 32, mittels dessen eine Aussage über die Intertextualität des Gesamttextes getroffen werden könne. Als Denkfigur nutzen sie dafür Kreise, in deren Mitte die höchstmögliche Intensität der Intertextualität liegt, während sie nach außen hin weiter abnimmt, je weniger Kriterien erfüllt werden. Anschließend treffen sie eine Einteilung in sechs solcher Parameter:

(1) Referentialität, (2) Kommunikativität, (3) Autoreflexivität, (4) Strukturalität, (5) Selektivität und (6) Dialogizität. Im Folgenden werden diese Kriterien kurz beschrieben.

Mit der (1) Referentialität ist bei Pfister und Broich eigentlich eine Thematisierung des Hypotexts im Hypertext gemeint. Ein Text bezieht sich also explizit auf einen anderen; Pfister und Broich sehen hier Parallelen zu Genettes Metatextualität. 33 Relevant ist, hier noch einmal auf ihr Verständnis von Intensität hinzuweisen: Ein Zitat, so merkt Pfister an, sei als solches wenig intensiv referentiell, weil es eine einfache Übernahme des Geschriebenen darstelle. Werde dieses hingegen im Text bezogen auf den Ursprungstext thematisiert, werde also der Hypotext als Kontext mit einbezogen, steige die Intensität der Referentialität. 34 Die (2) Kommunikativität hängt in größerem Maße von der Bewusstheit der Übernahme ab, die Autor*in und Leser*in an den Tag legen. Bemerkenswerterweise setzen Pfister/Broich für dieses Kriterium eine Kenntnis des Hypotexts bei beiden Instanzen voraus, wenn sie sagen, dass

„der harte Kern maximaler Intensität hier erreicht ist, wenn sich der Autor des intertextuellen Bezugs bewußt ist, er davon ausgeht, daß der Prätext auch dem Rezipienten geläufig ist und er durch eine bewußte Markierung im Text deutlich und eindeutig darauf verweist.“ 35

Am deutlichsten wird dieses Konzept, wenn Pfister das Gegenbeispiel des Plagiats anbringt, dessen Intertextualität per se sehr intensiv ist, in diesem Parameter jedoch als schwach bewertet werden muss. 36 Die (3) Autoreflexivität ist ähnlich der Referentialität eine Thematisierung der Intertextualität, hier jedoch auf der Metaebene. Wenn eine intertextuelle Bezugnahme in ihrem Wesen als intertextueller Verweis reflektiert wird, dann ist das Kriterium der Autoreflexivität gegeben. Während es also beim ersten Kriterium noch um den Hypotext ging, der thematisiert wird, ist es nun die Bezugnahme selbst. Mit der (4) Strukturalität nähern sich Pfister und Broich formalen Parametern. Sie erkennen eine hohe Intensität auf diesem Kriterium, wenn „ein Prätext zur strukturellen Folie eines ganzen Textes wird.“ 37 Demgegenüber stehen solche Hypertexte, die nur punktuell Referenzen aufbauen, zum Beispiel in Zitaten, Anspielungen oder anderen Einzelbezügen. Die (5) Selektivität beschreibt die semantische und pragmatische Prägnanz der Bezüge. Hier ist – fast schon umgekehrt zur Referentialität – das Zitat am intensivsten, weil es konkret aus einem Sinn­zusammenhang entnommen wird und damit spezifische Hypotextelemente abruft. Anspielungen auf ganze Gattungen hingegen tragen weniger Sinnkonstitution in sich, was ihre Intensität schmälert. 38 Die bereits wohlbekannte (6) Dialogizität bezieht sich tatsächlich auf Bachtins Theorie, indem sie die zwischen Hypertextelement und Hypotextelement auftretenden Spannungen in den Blick nimmt. Dabei zählt die ironische Unterminierung von Aussagen des Hypotextes durch satirische Mittel als hoch intensive Form, wohingegen reine Übersetzungen nur die geringste Intensität beanspruchen können. 39 Die Hommage an Bachtin komplettiert den Katalog der qualitativen Kriterien. Deutlich wird, dass einige der Kriterien meist zusammen auftreten, andere hingegen in einem fast konträren Verhältnis zueinander stehen (zum Beispiel die Selektivität und die Kommunikativität).

Die gesamte Typologisierungsvielfalt, die die Beiträge im Sammelband von Pfister und Broich entfalten, lässt sich an dieser Stelle nicht umfassend darstellen. Relevant ist vor allem, wie sich der relativ formale Zugang Genettes und die eher inhaltlichen Kriterien von Pfister/Broich kombinieren lassen.

2.3. Exkurs: Bloom – psychologisierte Intertextualität

Einen völlig anderen Ansatz wählt Bloom, dessen Werk The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry die Black Box der Autorinstanz aufbricht und durchweg psycho­logisiert. Bei ihm wird eine Dichterfigur 40 ersonnen, die, wie schon im Titel ersichtlich, Angst vor den Einflüssen ihrer Vorgänger hat. Diese Sichtweise wirkt zunächst höchst individualisiert und weniger wie eine modellfähige Literaturtheorie; aber, wie Berndt et al. anmerken, handelt es sich hierbei nicht um die Beschreibung tatsächlicher Personen, sondern um eine „intertextuelle Kunstfigur“ 41 , die aus einer „kulturellen Imagination“ 42 entsteht. Das bedeutet, dass Blooms Dichter in dieser Lesart eine Folie für die intertextuelle Lektüre ist, nicht aber im hermeneutischen Sinne gedeutet werden kann.

Ein zentraler Begriff in seiner Theorie ist die Fehllektüre, der Dichter bei der Beschäftigung mit ihren Einflüssen erliegen. Sie rezipieren kanonische Werke vorangegangener Künstler in dem Wunsch, diese zu überflügeln. Um das zu schaffen, müssen sie sich von ihnen unterscheiden – schließlich ist die Dichterfigur im kulturellen Gedächtnis nicht austauschbar, das heißt, Dichter wollen sich selbst in ihrer Kunst bewahren. Aus diesem Umstand – dem Hin- und Hergeworfensein zwischen Abgrenzung und Überbietung – entstehen nach Blooms Theorie „intertextuelle Spuren im Text“ 43 . Diese teilt er in sechs verschiedene Bearbeitungstypen ein, die an dieser Stelle nicht aufgeführt werden müssen. 44 Relevant ist, dass Bloom das Bild eines Dichters zeichnet, den die Angst vor der Kopie und der Wunsch nach Individualität maßgeblich im Schaffensprozess beeinflussen. Das wiederum führt ihn dazu, im Text gegen seine Einflüsse anzuschreiben und damit tatsächlich erst diese Einflüsse offenzulegen.

[...]


1 Moers, Walter: Stellen Sie sich, Herr von Mythenmetz! Eine Erwiderung auf die haltlosen Vorwürfe des größten zamonischen Dichters. In: DIE ZEIT (23.08.2007). https://www.zeit.de/2007/35/L-Moers (04.08.2020). S. 2.

2 Vgl. Moers, Walter (2004): Die Stadt der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. 13. Aufl. München: Piper 2009, Moers, Walter (2000): Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erklärungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller. 19. Aufl. München: Goldmann 2002.

3 Moers, Walter (2007): Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. 6. Aufl. München: Piper 2009. S. 275.

4 Ebd. S. 3.

5 Ebd. Hinterer Klappentext.

6 Ebd. S. 379.

7 Ebd. S. 380.

8 Bachtin, Michail (1963): Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. München: Carl Hanser 1971 (= Literatur als Kunst). S. 48.

9 Kristeva, Julia (1967): Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt am Main: Athenäum 1972 (= Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Texte 8). S. 347.

10 Vgl. Berndt, Frauke, Lily Tonger-Erk u. Sebastian Meixner: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2013 (= Grundlagen der Germanistik 53). S. 40.

11 Vgl. ebd. S. 132.

12 Pfister, Manfred: I. Konzepte der Intertextualität. In: Intertexualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich u. Manfred Pfister. Tübingen: Max Niemeyer 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). S. 12.

13 Herrmann, Karin: Dialogizität und Intertextualität. Terminologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters. In: Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Hrsg. von Karin Herrmann u. Sandra Hübenthal. Aachen: Shaker 2007 (= Sprache & Kultur). S. 22.

14 Vgl. ebd. S. 21–25.

15 Ternès, Anabel: Intertextualität. Der Text als Collage. Wiesbaden: Springer VS 2016. S. 18.

16 Genette, Gérard (1982): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2018 (= Edition Suhrkamp Aesthetica 683). S. 9.

17 Ebd. S. 10.

18 Genette, G.: Palimpseste. S. 13.

19 In dieser Untersuchung soll der Begriff nicht von dem der Paratextualität getrennt betrachtet werden; erstens, weil eine Grenzziehung hier aufgrund der mangelnden Spezifik dieser Definition in Palimpseste sowieso schwierig wäre, und zweitens, weil Genette selbst in seinem später erschienenen Werk Paratexte auch metatextuelle Phänomene unter dem Oberbegriff Paratext zusammenfasst.

20 Vgl. Genette, G.: Palimpseste. S. 13.

21 Berndt, F., L. Tonger-Erk u. S. Meixner: Intertextualität. S. 119.

22 Vgl. Genette, G.: Palimpseste. S. 20.

23 Berndt, F., L. Tonger-Erk u. S. Meixner: Intertextualität. S. 124.

24 Vgl. Genette, G.: Palimpseste. S. 14.

25 Vgl. Kristeva, J.: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. S. 347–348.

26 Abbildung aus Genette, G.: Palimpseste. S. 44.

27 Vgl. Berndt, F., L. Tonger-Erk u. S. Meixner: Intertextualität. S. 120.

28 Wobei er ausdrücklich keine deutlichen Grenzen zwischen diesen modalen Abstufungen sehen will. Es sei naiv, diese Einteilung binär zu sehen, und die Verortung des Satirischen zwischen dem Spielerischen und dem Ernsten könne in der Praxis auch nicht streng vollzogen werden. Trotzdem bieten die Einteilungen eine Orientierung zur Lektüre solcher Hypertexte. Vgl. Genette, G.: Palimpseste. S. 45.

29 Genette, G.: Palimpseste. S. 17.

30 Im Folgenden fasse ich aus Gründen der Stringenz auch Genettes Transtextualität unter dem Überbegriff der Intertextualität; allerdings verwende ich die Begriffe Hypotext und Hypertext als Bezeichnungen für sich aufeinander beziehende Texte, weil sie prägnant und unmissverständlich sind, während der Begriff Prätext erstens keine Entsprechung auf der Bezugsseite hat („Posttext“ wäre hier angebracht, ist aber nicht in Benutzung) und zweitens die implizierte zeitliche Komponente nicht das bedeutendste Merkmal ist, sondern die Bezugnahme als solche (es wäre schließlich möglich, Bezüge auf Texte festzuschreiben, die es so noch nicht gibt – also quasi eine umgekehrte Intertextualität, deren Untersuchung sicher Früchte trüge).

31 Pfister, M.: I. Konzepte der Intertextualität. S. 25.

32 Ebd. S. 26.

33 Vgl. Pfister, M.: I. Konzepte der Intertextualität. S. 26.

34 Vgl. ebd.

35 Ebd. S. 27.

36 Vgl. ebd.

37 Ebd. S. 28.

38 Vgl. Pfister, M.: I. Konzepte der Intertextualität. S. 28.

39 Vgl. ebd. S. 29.

40 Blooms Theorie ist in der männlichen Form gehalten, welcher ich hier folge, weil das Geschlechterverhältnis einen relevanten Teil seiner Argumentation ausmacht.

41 Berndt, F., L. Tonger-Erk u. S. Meixner: Intertextualität. S. 69.

42 Ebd.

43 Ebd.

44 Vgl. ebd. S. 77.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Intertextuelle Bezüge zwischen Gottfried Kellers "Spiegel, das Kätzchen" und Walter Moers’ "Der Schrecksenmeister" als Spiegel des zeitgenössischen Literaturverständnisses
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
48
Katalognummer
V991199
ISBN (eBook)
9783346354860
ISBN (Buch)
9783346354877
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Walter Moers, Intertextualität, Der Schrecksenmeister, Gottfried Keller, Narratologie, Spiegel das Kätzchen
Arbeit zitieren
Max Philipp Saukel (Autor:in), 2020, Intertextuelle Bezüge zwischen Gottfried Kellers "Spiegel, das Kätzchen" und Walter Moers’ "Der Schrecksenmeister" als Spiegel des zeitgenössischen Literaturverständnisses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/991199

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