Häusliche Gewalt gegen Männer

Zur Wahrnehmung von und dem Umgang mit häuslicher Gewalt gegen Männer in heterosexuellen Beziehungen


Masterarbeit, 2019

105 Seiten, Note: 1,0

S. Engels (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum theoretischen Rahmen

3. Zum begrifflichen Rahmen
3.1. Zum Umgang mit dem Begriff »Gewalt«
3.2. Zum Umgang mit dem Begriff »Häusliche Gewalt«

4. Zu den themenimmanenten Diskursen und Kontroversen

5. Zur »Kultur der Zweigeschlechtlichkeit«
5.1. „Wann ist ein Mann ein Mann?“
5.2. „Girls, it used to be said, were made of sugar and spice“

6. Umgang mit und Wahrnehmung von häuslicher Gewalt gegen Männer
6.1. Ein Blick auf den Wissenschaftsbetrieb
6.2. Ein Blick auf die (europäische) Politik
6.3. „Opfer von Gewalt – seien es Frauen, Männer oder Kinder – brauchen Schutz.“
6.3.1. Ein Blick auf die Polizei
6.3.2. Ein Blick auf die Zufluchtsorte

7. Fazit und Implikationen für eine Revolution

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Weltweit, so der Bericht über Gewalt und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (Krug et al. 2002), steht das Vorkommen von Gewalt mit dem Geschlecht des Opfers wie auch des Täters in engem Zusammenhang. Der gefährlichste Ort der Welt ist dabei das eigene Zuhause. Hier, wo die Menschen sich besonders nah, die Emotionen besonders leidenschaftlich sind, passieren die schrecklichsten Dinge (Fleming et al. 2015). Als globales Phänomen, welches erst seit ca. 35 Jahren beachtet wird, überschreitet häusliche Gewalt dabei geographische, soziale sowie kulturelle Grenzen, ist ein anerkanntes, wichtiges Anliegen der öffentlichen Gesundheit (z.B. Buller et al. 2014; Nybergh et al. 2012; Whitaker et al. 2008; Zaleski et al. 2010) und wird von dem Konsens getragen, dass eine solche Gewalt keine Legitimität hat und bekämpft werden muss (Hagemann-White 2016). Es handelt sich hierbei also nicht mehr nur um ein abweichendes Verhalten, das zuwider der normativen Erwartungen von Ehe- oder Intimpartner verläuft, sondern um ein soziales Problem, da hierunter „das mehr oder minder öffentliche Bewusstsein […] einer Diskrepanz zwischen sozialen Fakten und Normvorstellungen bzw. Wertmaßstäben“ (Ottermann 2000: 13, zit. n. Lamnek et al. 2013: 3) verstanden wird – weitestgehend aber unter dem Zuschreibungsprozess von Mann = Subjekt = Täter und Frau = Objekt = Opfer. Denn rekurrierend auf den Feminismus als ihr gesellschaftspolitisches bzw. theoretisches Fundament, fokussieren sich nicht nur Meinungsbildner, sondern auch die geschlechtersensible Gewaltforschung fast ausschließlich auf Mädchen und Frauen als Gewaltbetroffene (Mosser 2016). Nachvollziehbar, war es die Zweite Frauenbewegung, die in den 1970er Jahren (häusliche) Gewalt gegen Frauen skandalisierte und die ihr entgegengebrachten gesellschaftlichen Widerstände mit Bravour parierte. Das 1975 erschienene Buch „Against Our Will: Men, Woman and Rape“ von Susann Brownmiller (1975) steht dabei beispielhaft für den sich hieraus entwickelnden hitzigen Diskurs, dessen Tenor – Gewalt gegen Frauen – in den 1980er Jahren zunehmend Einzug in Forschungsvorhaben erhielt. Getragen von der Frauenbewegung, waren es die nun stimmhaften gewaltwiderfahrenen Frauen, die auch auf den (sexuellen) Missbrauch an Mädchen aufmerksam machten und als Reaktion auf den immer lauter werdenden Diskurs und die hiermit einhergehende erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit entstanden Notruf- und Anlaufstellen, reformierte Gesetzesgrundlagen, Präventions- und Risikominderungsprogramme und über die nun für Befragungen greifbaren hilfesuchenden Frauen entwickelte sich zunehmend eine eigene Forschungstradition (z.B. Helfferich et al. 1997; Hagemann-White et al. 1981). An ihrer Peripherie entwickelte sich mit einem zeitlichen Verzug zur englischsprachigen Forschungslandschaft (Erhart 2016) in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland auch eine gesellschaftliche (Männer-)Bewegung, deren Ausgangspunkt die Kritik und die mögliche Veränderung der traditionellen Männerrolle und des männlichen Selbstbildes waren. Obwohl sich diese kritische Männerforschung an den Grundlagen, Programmen und Kommunikationskanälen der feministischen Theorien orientierte, war sie weit entfernt von jeglicher Partizipation (für einen interdisziplinären Überblick über die deutschsprachige Männlichkeitsforschung siehe Erhart 2016). Begannen Anfang der 1990er Jahre sodann auch gewaltwiderfahrene Männer, wenn auch pointiert und zögerlich-zurückhaltend, auf den Tatbestand des (sexuellen) Missbrauchs an Jungen bzw. auf Gewalt gegen Männer aufmerksam zu machen, wurde ihre Gewaltbetroffenheit und die sich aus den Widerfahrnissen resultierenden Folgen zwar wahrgenommen, eine daran anschließende Auseinandersetzung über geschlechtsspezifische Ausmaße, Erlebensweisen, Bewältigungsstrategien oder gar eine vergleichbare Etablierung flächendeckender Hilfsangebote blieb weitgehend aus (Mosser 2016). Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass männliche, häusliche Gewaltwiderfahrnisse als sonderbare Sonderfälle wahrgenommen werden, welche nicht vertiefend verstanden werden müssten. Lenz (2010), Neutzling (2010) sowie Mosser (2016) mokieren immer wieder die hierdurch vertane Chance, diese männlichen Gewaltwiderfahrnisse und die männliche Verletzungsoffenheit als Kategorien in den öffentlichen Gewaltdiskurs zu integrieren, um im Zuge dessen auch traditionelle Männerbilder mitzudiskutieren.

Es liegt auf der Hand, dass durch diese verschiedenen Diskursgeschichten bis heute ein enormes Wissensgefälle auch bezüglich der geschlechtsspezifischen Aspekte von häuslicher Gewalt besteht: Während es eine Fülle von Untersuchungen und gut gesicherten Erkenntnissen zum Ausmaß, zu den Hintergründen und den Folgen von Gewalt gegen Mädchen und Frauen gibt, ist ein solches Wissen gegen Jungen und Männer deutlich weniger vorhanden (Bange 2016). Nachdem es einige Jahrzehnte dauerte, bis Gewalt von Frauen gegen Männer überhaupt (mit)gedacht wurde, herrscht mittlerweile aber weitgehender Konsens darüber, dass häusliche Gewalt sowohl von Männern als auch von Frauen ausgeht und Männer wie auch Frauen betreffen kann (Dutton & Nicholls 2005; Douglas & Hines 2011; Fiebert 2014). Trotzdem hat die Debatte über häusliche Gewalt gegen Männer nie eine vergleichbare Bedeutung und Wirkung erfahren (Johnson 2011), so dass sie sowohl in Forschung, der (europäischen) Politik, als auch in der Öffentlichkeit wenig Beachtung findet und wenn, eine Diskussion hierüber vielerorts über einen Hinweis auf die relative Häufigkeit weiblicher und männlicher Gewaltwiderfahrnisse in Paarbeziehungen zumindest nicht hinaus geht (Scarduzio et al. 2017; Seelau & Seelau 2005). Es gibt gar Stimmen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Medien und Medienkonsumenten, Praktizierenden oder gar von männlichen Opfern selbst, die in einer diskursiven Mitbetrachtung männlicher Opferwiderfahrnisse eine Gefahr für unser Verständnis über häusliche Gewalt sehen (Dutton et al. 2010) und ihre (Mit-)Beachtung als verboten oder unglaubwürdig bewerten (Allen-Collinson 2009; Corbally 2015). Gewalt gegen Männer erscheint damit als ein kulturell überwiegend ignoriertes Phänomen, das gesellschaftlich verleugnet und bislang so gut wie nicht als soziales und schon gar nicht als politisches Problem wahrgenommen wird. Innerhalb des wissenschaftlichen Gewalt-/Geschlechterdiskurses können daher auch zwei absolute Ansichten identifiziert werden: Ein Lager agitiert ein simplifizierendes » Patriarchatsmodell « 1 , das von der grundsätzlichen Dominanz jedes einzelnen Mannes über Frauen ausgeht und damit dazu neigt, die Gewaltwiderfahrnis von Männern zu verharmlosen, wobei sie auf den Feminismus als ihr gesellschaftspolitisches bzw. theoretisches Fundament rekurriert (Mosser 2016). Das andere Lager neigt aus empörter Echauffiertheit oder Indignation über die Nicht-Wahrnehmung und Leugnung männlicher Opferwiderfahrnisse dazu, die Gewaltwiderfahrnisse von Männern zu dramatisieren oder die Gewaltwiderfahrnis von Frauen zu bagatellisieren (Jungnitz 2007). Dem wird sich nicht angeschlossen werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass ein solcher Umgang die Konstruktion geschlechtsspezifischer Vorurteile weiter schürt, was geradezu konfliktär für eine gesamtgesellschaftlich forcierte Gewaltprävention und Gleichstellung der Geschlechter ist. Beim Versuch, häusliche Gewalt gegen Männer zu einem sozialen Problem zu machen, sahen sich bereits viele namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (siehe Fußnote Nr. 24; Kap. 6.1) mit einem hoch emotionalen Ensemble etablierter Stimmen aus Wissenschaft, Politik und (medialer) Öffentlichkeit sowie einer gut behüteten Kultur der Zweigeschlechtlichkeit konfrontiert (Kap. 5.). Deshalb sei betont, dass an keiner Stelle davon ausgegangen wird, dass häusliche Gewalt gegen Frauen kein ernsthaftes globales Problem darstellt. Spiritus rector ist jedoch die Grundannahme, dass männliche Opfer auch ihre (Be-)Achtung, ihren Raum und adäquate Hilfestellungen erhalten sollten (Turchik et al. 2016) sowie der Gedanke, dass alle Geschlechter ein Recht auf individuelle Unversehrtheit haben und absolut jede Verletzung eine eigenständige, nicht relativierbare Qualität von Verletzung und Schmerz ist, welche beachtet werden muss (Engels 2018a).

In dieser interdisziplinär angelegten Literaturarbeit wird daher aus einer kritisch feministischen Perspektive heraus der Frage nachgegangen, welche Faktoren Einfluss auf das Sozialkonstrukt der Wahrnehmung von und den Umgang mit häuslicher Gewalt gegen Männer haben. Die Wahrnehmung von und der Umgang mit dem Thema wird im Sinne des Sozialkonstruktivismus als etwas dynamisch-prozessuales verstanden, das ständig durch Wissenschaft, Politik und Kultur und durch deren darauf bezogenen Interpretationen produziert und reproduziert wird (Kap. 2.). Zu Beginn gilt es hierfür in Kapitel 3. zunächst den begrifflichen Rahmen zu setzen. Sowohl der » Gewaltbegriff «, als auch jener der » häuslichen Gewalt « sind problematisch unscharf und es existiert eine beträchtliche Spannweite an Definitionen. Die Erarbeitung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Definition erfolgt bewusst umfangreich. Mit Hilfe thematisch divergierender Studienergebnisse wird hierdurch bereits deutlich, welche Auswirkung die Wahl des (häuslichen) Gewaltbegriffes z.B. auf die (Be-) Forschung des Themas hat oder auf das Faktum, wie leicht Personenkreise alleinig durch die Definitionswahl an den Rand der Wahrnehmung gedrängt werden (können). Parallel dazu wird auch die Verwendung der Begriffe Täterin, Opfer, Widerfahrnisse geklärt. Als ein interkulturell und temporal variables soziales Konstrukt ist der Umgang mit und die Wahrnehmung von häuslicher Gewalt abhängig von den jeweiligen personalen und sozialen, materiellen und ideellen Macht-, Tausch-, solidarisierenden und kulturellen Ressourcen sogenannter »Moralunternehmer«. Diesem Gedanken folgend, werden in Kapitel 4. die konkurrierenden, um Vormachtstellung kämpfenden Diskurse im Umgang mit dem Thema vorgestellt. Deutlich wird, dass der »Diskurs der Männerbewegung« dabei keinen allzu großen Einfluss auf die gesellschaftspolitische Mehrheitsmeinung ausübt und die Wahrnehmung von häuslicher Gewalt damit entscheidend an die Wahrnehmung des Geschlechts gebunden ist. Aus dieser Sicht muss Gewalt, die von Frauen ausgeht, eine andere sein, als eine, die von Männern ausgeübt wird, so dass in einem solchen kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit sodann auch beiden Geschlechtern in jeweils unterschiedlichen Lebensbereichen ihre Gleichwertigkeit – ihre Gleichberechtigung – vorenthalten wird. In Kapitel 5. wird sich daher den Antworten zu nachstehenden Fragen genähert: „Kennt ein Indianer wirklich keinen Schmerz oder darf er diesen nur nicht zeigen?“ und „Sind Frauen tatsächlich zu lieb, zu nett, zu süß, zu brav – zu harmlos –, um häuslich gewalttätig gegen Männer zu sein?“

Das bis hierher herausgearbeitete Verständnis von häuslicher Gewalt, von Männern als Opfer und Frauen als Täterinnen, beeinflusst selbstredend nicht nur den gesellschaftlichen, sondern insbesondere auch den politisch-rechtlichen sowie den wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema, und folglich auch den von Interessenvertretungen, Hilfseinrichtungen oder der Polizei (Kap. 6). Da eine wissenschaftliche Beachtung männlicher Gewaltbetroffenheit und -Offenheit, geschlechtsspezifischer Gefährdungen oder die Verteilung von Vulnerabilitäten eine gesellschaftspolitische Sensibilisierung anregen könnte, wird im Kapitel 6.1 zunächst der konfliktäre Umgang der Wissenschaft mit dem Thema vorgestellt. Da Meinungsbilder nicht nur bottom-up, sondern auch top-down beeinflusst werden (können), wenn der Inhalt der Moral- bzw. Gewaltdiskurse zum Beispiel in rechtlich verankerten Straftatbeständen mündet, wird in Folge auch ein Überblick über die derzeitige deutsche sowie europäische Politik resp. Gesetzgebung im Umgang mit häuslicher Gewalt gegen Männer gegeben (Kap. 6.2.). Vieles deutet dabei darauf hin, dass von Seiten der Politik bzw. der Gesetzgeber weniger das Ziel verfolgt wird, gegen häusliche Gewalt vorzugehen, als vielmehr gegen Männergewalt – mit weitreichenden Folgen für die Möglichkeit, eine adäquate Hilfelandschaft einzurichten (Kap. 6.3.2.) oder den polizeilichen objektiven Blick zu wahren (Kap. 6.3.2). Bereits in diesem sodann letzten Inhaltskapitel werden immer wieder Implikationen für die Praxis gegeben, die sodann in Kapitel 7. erweitert werden. In Kapitel 7 werden zudem erstmals auch die Auswirkungen häuslicher Gewaltwiderfahrnisse auf Männer skizziert.

2. Zum theoretischen Rahmen

Gewaltdiskurse schwellen an und ab,

„(1) da sich ändert, was wir als Gewalt wahrzunehmen bereit sind (Sachdimension); (2) da sich ein Wandel in zeitlicher Hinsicht feststellen lässt (Zeitdimension); (3) da das Phänomen unterschiedlich eingestuft wird, je nachdem von wem (Sozialdimension); (4) da eine Rolle spielt, wo die Handlung vollzogen wird (Raumdimension)“ (Schroer 2000: 435).

Kulturelle Festlegungen, ein historischer Wandel, gesellschaftliche Reaktionen oder auch eine politische Einflussnahme lassen die Grenzen zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt demnach verschwimmen (Lenz 2007). Das impliziert, dass sich dem vorliegenden Thema nicht ausschließlich sozialpsychologisch bzw. mikrosoziologisch genähert werden kann, sondern es auch gilt, den soziokulturellen Kontext zu beachten. Die Wahrnehmung von und der Umgang mit häuslicher Gewalt gegen Männer wird daher als ein Sozialkonstrukt X nach Ian Hackings (1999: 6ff.) verstanden. In seinem Sinne wird davon ausgegangen, dass (0) X zum jetzigen Stand als gegeben anzunehmen ist und X unvermeidbar zu sein scheint. (1) X hätte nicht in der jetzigen Form entstehen müssen, ist so nicht von Natur aus gegeben und ist deswegen auch nicht unvermeidbar. (2) so wie es jetzt ist, ist X schlecht und (3) wir würden besser dran sein, wenn X so nicht mehr existieren würde, sondern wir es radikal umgestalten würden. Dem Folgend wird X nicht als gegeben, sondern als gemacht, ausgehandelt und wirkungsmächtig definiert begriffen. Als ein soziales und sprachliches Konstrukt wird von der Annahme ausgegangen, dass sich die Bedeutung von X zunächst aus den verschiedensten Zuschreibungsprozessen aus Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Politik und Praxis ergibt, wodurch es dynamisch-prozessual ist und folglich dekonstruiert werden kann. Zur Bearbeitung des Themas wird sich dabei dem Ansatz der Cultural Studies bedient. Zum einen werden kulturelle und soziale Gesetzmäßigkeiten herausgearbeitet, nach denen unsere Gesellschaft organisiert ist und mit denen strukturelle Vorbedingungen subjektiver Lebensformen und Identitäten eingegrenzt werden (z.B. Kultur der Zweigeschlechtlichkeit, hegemoniale Männlichkeit, patriarchale Strukturen, Viktimisierung). Neben konkreten Verhaltensweisen von Täterinnen und männlichen Opfern werden daher Normen und Einstellungen der Gesellschaft als notwendige und einflussreiche Rahmenbedingungen berücksichtigt (Schneider 1995). Zu diesen einflussreichen Bedingungen gehören der gesellschaftliche Kontext, die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit sowie die damit einhergehenden Formen und Ausmaße der tradierten und habitualisierten Vergeschlechtlichungen von Gewalt. Diese werden im Rahmen eines Sozialisations- bzw. Entkulturationsprozess vermittelt und liefern Tätern und Täterinnen, männlichen und weiblichen Opfern oder auch Dritten in Abhängigkeit des gewaltwiderfahrenen Geschlechts Argumente für oder gegen Gewalt. Es handelt sich hierbei nicht um Geschlechtsrollenstereotype, die ebenfalls zu berücksichtigen sind. Vielmehr handelt es sich nur um (sub-/teil-)kulturell stabile, gleichwohl aber auch inter- sowie intrakulturell über die Zeit variable Zuschreibungen von gewaltrelevanten Eigenschaften und Verhaltensdispositionen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einem mehr oder minder eindeutig bestimmbaren biologischen Geschlecht (Lamnek et al. 2013) – also dem Geschlechterstereotypen – zugeordnet werden. Dass Geschlechtsrollenstereotype nicht mit Geschlechterstereotypen übereinstimmen müssen, ist mitunter Voraussetzung für den Glauben, dass sich Männer und Frauen hinsichtlich ihres Umgangs mit Gewaltwiderfahrnissen langfristig umerziehen lassen. Gleichwohl diese Hoffnung in auf Gleichstellung bedachten westlichen Kulturen weitgehend vorhanden ist, kann gezeigt werden, dass tiefsitzende Manifestationen in den Einstellungen zu Geschlechterverhältnissen im allgemeinen oder zu Opfern im speziellen mit gesellschaftlichen Diskursen und Kontroversen korrespondieren, wodurch Mythen weiter verfestigt werden können (Chapleau et al. 2007). Zum anderen gilt es aber auch Konstruktionen zu beschreiben, die nicht als Universal gesehen werden müssen, sondern die ihrerseits eine veränderbare, konstruierte Größe darstellen, z.B. der Umgang der Wissenschaft, der (europäischen) Politik sowie der Hilfe- und Unterstützungslandschaft mit dem Thema. Ziel dieser nahezu ganzheitlichen Sichtweise ist zunächst Aufklärung, die an die Hoffnung eines veränderten Umgangs mit dem Thema häusliche Gewalt gegen Männer verbunden ist. Nahezu, denn ein weiterer äußerst bedeutsamer Aspekt findet in Folge nicht die Beachtung, die für eine ganzheitliche Sichtweise entscheidend wäre: „Wird eine Gesellschaft als Informationsgesellschaft bezeichnet, so liegt der Schluss nahe, dass die Prozessstrukturen, über die Informationen überwiegend vermittelt werden […], von großer Bedeutung für die gesellschaftliche Konstruktion des Problems und dessen Wahrnehmung sind“ (Lamnek et al. 2013: 230). Diese medial aufbereiteten, marktwertigen Informationen werden von Politikern oder der Öffentlichkeit als faktische Orientierungshilfen für politische und administrative Handlungsbedarfe gesehen und in entsprechende Programme gefasst. Im Sinne Scheerers (1978) politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufs haben solche Programme in Folge wiederum einen Medienwert in der nächsten Runde des Diskurses. An anderer Stelle gilt es sodann, auch den medialen Umgang mit dem Thema explizit zu erarbeiten, denn obwohl der Umgang der Medien mit dem Thema Mann = Opfer und Frau = Täterin randständig immer wieder mitbetrachtet wird, geschieht dies wohlwissend in einer nicht ausreichend erhellenden Art und Weise.

Die Annäherung an das Thema erfolgt also interdisziplinär. Es werden somit nicht nur soziologische, kriminologische, genderwissenschaftliche, viktimologische Erkenntnisse herangezogen. Mit Galtungs Theorie der strukturellen Gewalt erhält auch die Friedens- und Konfliktforschung Einzug in diese Arbeit. (Experimentelle) Sozialpsychologische Erkenntnisse werden herangezogen, um z.B. deutlich zu machen, warum für den US-amerikanischen Kulturraum auch von häuslicher Gewalt gesprochen werden kann, wenn sich die Gewalt gegen Dating-Partner richtet oder auch um die Einflussmöglichkeit einer Minderheit herauszustellen. Um die Diskrepanz in der Akzeptanz von Täterinnen zu erklären, werden unter anderem kognitions-/ und lernpsychologische Erkenntnisse herangezogen. Die zumeist mit Studienergebnissen oder Beispielen untermauerten Theorien, Annahmen, Programme, usw. resultieren z.B. auch aus forensischen Gutachten. In Bezug auf den Umgang der Polizei mit häuslicher Gewalt gegen Männer erhält zudem auch die Polizeiwissenschaft Einzug in diese Arbeit.

3. Zum begrifflichen Rahmen

Die Veröffentlichung der ersten, einzigen und nicht repräsentativen deutschen Pilotstudie über (häusliche) Gewalt gegen Männer aus dem Jahr 2007, herausgegeben von Jungnitz et al., trägt den Titel „Gewalt gegen Männer: Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland“. Die Autoren entscheiden sich Reemtsmas (1998) und Amos’ (2006) Plädoyer für den Begriff der » Gewaltwiderfahnis « aus dem Grund zu folgen, da der Begriff Erfahrung positiv besetzt ist, ein Erlebnis positiv konnotiert wird. Obwohl der Begriff der Widerfahrnis semantisch eine Erfahrung umfasst, betont das Wider, dass es sich um etwas handelt, das gegen eine Person gerichtet ist – daher wird auch hier dieser Begriff verwendet. Herausfordernder ist dagegen die Verwendung des Begriffs » Opfer «. Als Schimpfwort für die Herabsetzung einer ganzen Person verrohdet (Dittmar 2011), in der historisch gewachsenen Moralisierungsfalle einer simplifizierenden Dichotomie vom (männlichen) Täter und (weiblichem) Opfer und damit einer einseitigen Unterscheidung in Gut und Böse gefangen (Heitmeyer & Hagan 2002; vertiefend siehe Helfferich et al. 2016), plädieren z.B. Jungnitz et al. (2007) für die Verwendung des Begriffs Gewaltbetroffener. Neologismen können sicher unterstützen, den unliebsamen Begriff des Opfers zu umgehen und sollten nach Helfferich et al. (2016) bei Forschungsvorhaben auch intensiv reflektiert werden, um Rollenverwirrungen auszuschließen. Doch die Verwendung des Opferbegriffs bietet an dieser Stelle auch hilfreiche Bedeutungsmöglichkeiten, die in diesem Kontext nicht zu entbehren sind; » reflexiv « verstanden bedeutet er, sich selbst zum Opfer zu machen (oder machen zu können, zu dürfen), in einem » transitiven « Kontext, jemanden aktiv zum Opfer zu machen und » prädikativ « als Zustandsbeschreibung, also X ist Opfer von Y (Heitmeyer & Hagan 2002). In dieser Arbeit wird sodann entweder von männlichen und/oder weiblichen Opfern gesprochen und im Umkehrschluss wird sich auch der Begriffe Täterin und/oder Täter bedient; wohlwissend, dass dieser Begriff Gewalt personalisiert und die moralische Zurechenbarkeit einer Tat der exkulpierenden Auffassung von Gewalt immer wieder gegenüber stehen wird (Helfferich et al. 2016).

3.1. Zum Umgang mit dem Begriff »Gewalt«

Aller scheinbaren Offensichtlichkeit zum Trotz ist Gewalt ein problematisch unscharfer Begriff mit einer „beträchtliche[n] Spannweite an Definitionen“ (Heitmeyer & Hagen 2002: 15), über welche je nach (Forschungs-)Interesse und dem zugrunde gelegten professionsbedingten Blickwinkel Uneinigkeit besteht (Schweikert 2011a) und die Gefahr laufen, inflationär verwendet zu werden (Heitmeyer & Hagen 2002). Dieses Fehlen eines einheitlichen Gewaltbegriffes erklärt Godenzi (1994) damit, dass Gewalt in erster Linie politisch definiert wird: „Wer welche Handlung, welches Ereignis, welche Institution als gewalttätig definiert, hängt entscheidend vom sozialen Ort der evaluierenden Person ab. Gewaltdefinitionen sind Werturteile“ (Godenzi 1994: 34). Was Gewalt und wer gewalttätig ist, wird (teil‑, sub-)kulturell definiert. Dies setzt mehr oder minder geteilte Orientierungsrahmen und Deutungsmuster voraus (Lamnek et al. 2013). Die einzige Gemeinsamkeit innerhalb der vielfältigen Formen der Gewalt sieht Scherr (2004: 204) darin, „dass sie zur Verletzung der physischen und psychischen Integrität der Person führt“. Gerade für die gesellschaftliche und politische Wahrnehmung von häuslicher Gewalt gegen Männer ist eine solche Schadensdefinition insofern schwierig, als dass Jungnitz et al. (2007) zwei Mechanismen aufdecken, die insbesondere der Verletzungsoffenheit von Männern im Wege stehen: Durch den Mechanismus der » Normalität « werden Gewalthandlungen als etwas natürliches bzw. unvermeidbares verstanden und dadurch verharmlost (z.B. psychische, strukturelle Gewalt). Der Mechanismus der » Scham « und der » Nicht-Männlichkeit « greift umso stärker, je mehr die Gewalthandlungen den Intimbereich verletzen, Männer in eine Position extremer Machtlosigkeit oder in die Unterlegenheit gegenüber einer Frau bringen (z.B. physische und sexuelle Gewalt). Da Männer nicht machtlos sein können, dürfen und auch wollen, wird ein Widerfahrnis physischer und/oder sexueller Gewalt verdrängt, verleugnet oder uminterpretiert. Dobash & Dobash (1992) und Ali (2007) konnten in ihren Studien zeigen, dass die Zurückhaltung in der Offenlegung ihrer Widerfahrnisse auf Leugnung und ein generell fehlendes Eingeständnis einer Missbrauchserfahrung zurückzuführen ist. Darüber hinaus berichteten Probanden auch über Ängste, dass ihnen nahestehende Personen nicht glauben, sie lächerlich gemacht und nicht geschützt würden oder sie auf eine voreingenommene Strafverfolgung treffen, die ihnen gegenüber feindselig eingestellt sei und eher die Täterin, gemeinsame Kinder oder die Familie schützen würde (Tilbrook et al. 2010). Jungnitz et al. (2007) postulieren, dass Männer gegen sie gerichtete Gewalthandlungen nur dann als solche wahrnehmen, wenn diese über das erwartete, erlaubte Maß hinausgehen. Es ist davon auszugehen, dass nur in diesen Fällen, und vornehmlich nur dann, wenn es offensichtlich zu einer Verletzung ihrer physischen Integrität kommt, eine Tat angezeigt wird und ihre generelle Bereitschaft, sich zu offenbaren, maßgeblich von der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Opferwerdung abhängt (Tilbrook et al. 2010). Dabei werden Formen verbaler Gewalt, wie etwa verbreite Lügen über jemanden, in ihrer Wirkung einerseits als ähnlich gravierend wahrgenommen wie Stockschläge. Andererseits entsteht durch eine Fokussierung auf von Gewalthandeln indizierter Verletzung der physischen Integrität eine Scheineindeutigkeit, denn auch physische Gewalt umfasst ein weites Spektrum heterogener Handlungen (Dubet 2002). Die Folgen hiervon können dabei Auswirkungen auf die Interpretation einer Gewalthandlung oder auch den Umgang mit erhobenen Datensätzen haben: Wenn körperliche Gewalt z.B. wie in der » Conflict Tactics Scale « (kurz: CTS; Kap. 6.1.) weiter gefasst und auch die weniger schweren Formen eingeschlossen werden, deuten die generierten Datensätze auf eine annähernde Gendersymmetrie bei Gewaltwiderfahrnissen hin (u.a. Morse 1995; Nisonoff & Bitman 1979; Straus 1977-78; Klaus & Rand 1984; Krahé 2003; Döge 2011). Eine Fokussierung auf physische Übergriffe, wie es ein enger Gewaltbegriff implizieren würde (z.B. Gelles 2002), birgt demnach die Gefahr, subtile Gewaltformen und relevante Handlungen nicht zu erfassen (Popp 1997). Tilbrook et al. (2010) explorieren in ihrer Studie über die Erfahrungen erwachsener männlicher Opfer häuslicher Gewalt in Australien zudem weitreichende, kontextual-relevante Gewalthandlungen, die einem engen Gewaltbegriff deutlich entgegenstehen und Wieners (2002) betont, dass es sich zudem um ein komplexes Misshandlungssystem aus einer Vielzahl verschiedener Gewaltformen handelt. Das allgemeine Verständnis über häusliches Gewalthandeln beinhaltet daher zunächst die Bereiche psychische, physische und sexuelle Gewalt. » Psychische/verbale Gewalt « oder auch » emotionale Gewalt « (Saltzman et al. 2002) umfasst systematische und wiederholte verbale Erniedrigung, Demütigung, Beleidigung, Unterdrückung oder auch Zwang (Dutton & Goodman 2005). Es bezieht sich auch darauf, systematisch und wiederholt beherrscht oder kontrolliert zu werden, welche sozialen und/oder familiäre Kontakte gepflegt2, wie sich gekleidet oder wofür Geld3 ausgegeben wird. Psychische Gewalt kann auch Ausdruck in der systematischen und wiederholten Androhung der Zerstörung von Wertsachen, einer Selbstverletzungen/-Tötung, Verletzung und/oder Tötung der gemeinsamen Kinder oder in der Androhung des Kontaktabbruchs zu den Kindern finden oder auch darin, Geheimnisse preiszugeben und den Zugang zu Informationen und/oder Hilfe einzuschränken (Ahnlund et al. 2017). Wolf et al. (2003) postulieren, dass Männer an einer problematischen Beziehung gar festhalten, wenn eine Trennung unangenehme Folgen für sie und ihre Kinder haben kann (z.B. ein Umzug in einen alternativen Wohnsitz, der Verlust der Kinder, Aushandeln von Sorgerechtsansprüchen und Unterhaltszahlungen). Daher ist es leicht vorstellbar, dass in diesen Fällen das scheinbar schwächere Geschlecht das stärkere Gegenüber dominieren kann (vertiefend auch Buriánek 2018). »Physische Gewalt« umfasst dagegen Aktionen wie Stoßen, leichtes Schlagen (Ohrfeigen), Beißen, Spucken, schwere Schläge/Faustschläge, Tritte, an den Haaren ziehen, Werfen von Gegenständen, Waffengebrauch, bis hin zu Todschlag und Mord (u.a. Issahaku 2015; Ahnlund et al. 2017; Tilbrook et al. 2010). » Sexuelle Gewalt « 4 umfasst ein breites Spektrum von Taktiken „designed to result in sexual interaction with an individual against [their] will“ (Oswald & Holmgreen 2013: 77), so dass es entweder zu unerwünschtem, wenn auch nicht notwendigerweise zu nicht einvernehmlichem Sex kommt (Hines & Douglas 2016: 1133) oder der Sex dem Partner entzogen wird (Tilbrook et al. 2010). Unter sexueller Gewalt zählen auch Formen der » sexuellen Belästigung «, wie jemanden gegen seinen Willen streicheln, küssen, umarmen, sexuell berühren, das Verfassen sexualisierter Briefe, Kurzmitteilungen, E-Mails, Kommentare oder Telefonanrufe sexuellen Inhalts. Oder Formen der » sexuellen Demütigung « wie Verleumdungen, die analoge und digitale Weitergabe intimer Fotografien resp. Medien, die Verbreitung von Gerüchten oder Informationen über sexuelle Vorlieben, Fähigkeiten, Experimentierfreude, verletzende Beschimpfungen über den Körper, das Zeigen pornographischen Materials, des eigenen nackten Körpers oder Masturbationsakte (Ahnlund et al. 2017).5 » Sexueller Missbrauch/Vergewaltigung « bzw. die erzwungene Penetration (» force-to-penetrate «, kurz: FTP) definiert sich dagegen über Vaginal-, Oral- oder Analverkehr ohne die Zustimmung des Opfers. Es geht dabei um jene Fälle, in denen ein Mann dazu gezwungen wird, mit seinem Penis in die Vagina, den After oder den Mund einer Frau einzudringen (Weare 2018a). Da sich die meisten Studien zu Vergewaltigung und verwandten Themen auf weibliche Opfer konzentrieren (Davies & Rogers 2006; für eine Übersicht siehe Fisher & Pina 2013), Vergewaltigungsmythen, die sich gegen die Möglichkeit der Vergewaltigung eines Mannes durch eine Frau aussprechen (Moore & Rosenthal 2006), nicht nur in der Gesellschaft, sondern ebenso in sozialen, medizinischen, rechtlichen und medialen Einrichtungen allgegenwärtig sind (Todahl et al. 2009; Turchik & Edwards 2012) und es dadurch nur sehr wenig Forschung zu Vergewaltigung durch Frauen gibt (z.B. Smith et al. 2017) oder gar die Möglichkeit in Gänze ignoriert wird (Anderson & Aymami 1993), seien an dieser Stelle weitere Ausführungen erlaubt: Zunächst sei angemerkt, dass eine Vergewaltigung bzw. eine erzwungene Penetration durch eine Frau physiologisch absolut möglich ist. Sarrel & Masters (1982) fanden heraus, dass Männer Erektionen bekommen und aufrechterhalten können, selbst wenn sie nicht sexuell erregt sind und/oder negative Emotionen wie Furcht, Angst oder Terror erleben. Erregung und Stimulation ist nicht dasselbe: sexuelle Erregung geht mit sexuellem Verlangen einher, während sexuelle Stimulation eine physiologische Reaktion auf die körperliche Berührung von Körperteilen ist. Auch Fisher & Pina (2013) unterstreichen, dass „an erection can be induced by fear and is not necessarily indicative of pleasure or consent. Such heightened emotions can create unwanted arousal in men and if stimulated, in some cases, ejaculation can occur.” (Fisher & Pina 2013: 57). Das ermöglicht somit auch Frauen, Männer zum Sex zu zwingen. Gleichwohl einige neuere Studien den sexuellen Missbrauch durch Frauen untersuchen (Krahé et al. 2015; Krahé & Berger 2013; Tomaszewska & Krahé 2018), ist es nach wie vor schwierig, ein genaues Bild zu zeichnen. Generell scheinen Studien in Anzahl und Umfang begrenzt zu sein: Zumeist stammen sie aus den USA der 1980er und 1990er Jahre (z.B. Muehlenhard & Cook 1988; O’Sullivan, Byers & Finkelman 1998), verwenden unterschiedliche Definitionen (Fisher & Pina 2013), sind methodisch inkonsistent (Byers & O’Sullivan 1998) oder untersuchen (zu) spezifische Stichproben, typischerweise Studierende (Davies & Rogers 2006). Dennoch darf angemerkt werden, dass fast die Hälfte der Probanden bei Hines & Douglas (2016) angeben, in ihrer Beziehung irgendeine Form sexueller Gewalt erlebt zu haben. Nahezu ein Drittel berichten, dass sie bedroht und/oder vergewaltigt wurden. Die Anzahl sexueller Gewaltopfer liegt hiermit im numerischen Bereich misshandelter Frauen (Bennice & Resick 2003; Campbell 1989; Campbell & Soeken 1999; McFarlane et al. 2005); bei Vergewaltigungsdelikten aber etwas unter jenen Datensätzen, die bei Frauen gefunden werden (Bennice & Resick 2003; Monson et al. 2009).

Hines & Douglas (2016) fanden zudem heraus, dass die körperliche und geistige Gesundheit, insbesondere in Anbetracht der Symptome von Trauma und emotionaler Belastung, signifikant und eindeutig mit sexuellen Opfererfahrungen korreliert (Bennice & Resick 2003; Dutton 2009; McFarlane et al. 2005). Männer neigen jedoch in besonderem Maße dazu, sexuelle Übergriffe nicht der Polizei oder medizinischem Personal zu melden (Sable et al. 2006; Isely & Gehrenbeck-Shim 1997; King & Woollett 1997) oder Hilfseinrichtungen aufzusuchen (Banyard 2008; Turchik & Edwards 2012), was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass auch diese Vergewaltigungen als soziales Problem schwer wiegen (Graham 1977; Kassing & Prieto 2003). Mit dieser Erkenntnis wurden global Gesetzestexte eingeführt, die diesen Tatbestand geschlechtsneutral formulieren und so zumindest sprachlich männliche sexuelle Viktimisierung durch sexuellen Missbrauch anerkennen (Graham 2006; Kap. 6.2.). Mitunter die englische Gesetzgebung spart dagegen die Möglichkeit der Vergewaltigung durch Frauen gekonnt dadurch aus, dass sie Vergewaltigung als Penetration mit einem Penis definieren, wodurch Männer zwar Opfer anderer Männer, nicht jedoch von Frauen werden können (Javaid 2014; Turchik & Edwards 2012). Auch in Studiendesigns wird Vergewaltigung oftmals als Penispenetration definiert (z.B. McLean 2013), wodurch Täterinnen aus dem akademischen und öffentlichen Blick geraten (Graham 2006). Gleichwohl in Kapitel 6.2. vertieft auf die juristische Situation in Deutschland eingegangen wird, sei an dieser Stelle ein Ausblick erlaubt: Bereits mit der Neufassung von § 177 Strafgesetzbuch (kurz: StGB) Ende der 1990er Jahre galt die Vergewaltigung eines Mannes als strafrechtliches Delikt; bis dahin war die Verfolgung auch hier rechtlich nicht möglich, da der Tatbestand an das Eindringen in den Körper des Opfers gebunden war, und das wurde bis dahin als homosexuell und damit als nicht-männlich = weiblich phantasiert (Lenz 2007: 26).

Wurde bis hierher die Gefahr, subtile Gewaltformen und relevante Handlungen nicht zu erfassen (Popp 1997), durch die Fokussierung auf einen engen Gewaltbegriff diskutiert, rücken nachstehend die thematisch bedeutsamen Vor- und Nachteile bei der Verwendung eines weiten Gewaltbegriffs in den Fokus, um daraus den Umgang mit dem Gewaltbegriff für diese Arbeit schließend abzuleiten:

Das Risiko eines weiten Gewaltbegriffs liegt sicherlich in der Übererfassung von Gewaltdelikten, beginnend bei Bagatellhandlungen bis hin zum Einbezug von der vom norwegischen Sozialwissenschaftler und Friedensforscher Galtung (1975) entwickelten » strukturellen Gewalt «. Nach Galtung liegt Gewalt dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“ (Galtung 1975: 9). Strukturelle Gewalt ist ein Spezifikum elaborierter Industriegesellschaften westlicher Prägung. Die personale, also direkte Gewalt, ob physisch und/oder psychisch, kann sichtbar sein. „Doch menschliche Aktion kommt nicht aus dem Nichts; sie hat ihre Wurzeln“ (Galtung 2004, zit. n. Lenz 2007: 39). Eine besteht in einer auf Gewalt basierenden Kultur (heroisch, patriotisch, patriachalisch, etc.), eine weitere in einer Struktur, die selbst Gewalt ausübt, indem sie zu repressiv und exploitiert, zu eng oder zu lose ist (Galtung 2004, n. Lenz 2007). Strukturelle, wie auch die sodann » kulturelle Gewalt « ist für Galtung die Ursache direkter Gewalt. Doch die unsichtbaren Auswirkungen sind möglicherweise noch schlimmer: Personale Gewalt verstärkt die strukturelle und kulturelle Gewalt. Mit seiner Theorie weitet Galtung (1975) den Gewaltbegriff folglich auf Phänomene sozialer Ungleichheit aus und bringt diese mit sozialer Ungerechtigkeit in Verbindung. Trotz, dass sein Gewaltbegriff vielerorts kritisiert (z.B. Neidhardt 1997; Trotha 1997) und weitgehend verworfen wurde, hält das Konzept für die Betrachtung von häuslicher Gewalt gegen Männer thematisch wichtige Anhaltspunkte bereit. Carol Hagemann-White (1992) verwies bereits darauf, dass es „eine abstrakte und universal anwendbare Begriffsbestimmung“ von Gewalt nicht geben könne, da sie zu sehr mit dem Sinnzusammenhang des jeweiligen Geschehens verwoben sei (ebd.: 21). Als „Gewalt im Geschlechterverhältnis [bestimmt sie] jede Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, welche mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters zusammenhängt und unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird“ (ebd.: 23) und weist damit auf das strukturelle gesellschaftliche (Macht-)Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern hin (Müller & Schröttle 2012). Vorstellbar ist, dass ein gesellschaftlicher Ausschluss gewaltwiderfahrene Männer weiter an den Rand des Bewusstwerdens oder des Bewusstseins drängt und sie vom gesellschaftlichen Leben und seinen akzeptierten Standards ausschließt. Mögliche kulturelle, gesellschaftliche, institutionelle, organisatorische Missstände können so erst gar nicht ins Blickfeld geraten (Lenz 2007).

Bereits Schroer (2000) plädierte daher für eine überlegte Wiederverwendung des Begriffs, indem der Blick zu öffnen sei für die „sich in den Institutionen, Organisationen und Funktionssystemen ablagernden Formen der Gewalt, die zwar weniger offensichtlich, deshalb aber nicht weniger nachhaltig Lebenschancen beeinträchtigen und Leben zerstören können“ (ebd.: 444). Neben dem direkten Missbrauch erleben Befragte auch gesellschaftliche und kulturelle Kräfte, die ihr Opfererleben verstärken (Morgan & Wells 2016). Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang auch das Versäumnis der Messung »rechtliche/administrative Gewalt« zu verstehen. Tilbrook et al. (2010) verstehen hierunter die Manipulation rechtlicher und administrativer Ressourcen oder die missbräuchliche Nutzung des Rechts- und Verwaltungsapparats (z.B. Gerichte, Strafverfolgung, Kinderschutzdienste), mit dem Ziel, dem Partner oder dem Ex-Partner einen emotionalen und finanziellen Schaden zuzufügen. Diese Form von Gewalt findet bspw. Ausdruck in falschen Anschuldigungen, leichtfertiger Anzeigeerstattung, falschen Berichten über Kindesmissbrauch und anderen systembedingten rechtlichen Manipulationen. Gleichwohl diese Gewalt auch von Männern gegen Frauen verübt wird (Hines et al. 2014; Miller & Smolter 2011), wiesen Tilbrook et al. (2010) darauf hin, dass diese Form häuslicher Gewalt häufiger männliche Opfer hervorbringt, da die für die Intervention verantwortlichen Berufs- und Rechtssysteme Stereotypen folgen, denen zur Folge nur Männer in der Lage sind, schwere häusliche Gewalt zu begehen. Das führt dazu, dass externe Stellen nicht erkennen, wenn Männer Opfer häuslicher Gewalt werden (Follingstad et al. 2005; McHugh et al. 2013) und so auch fälschlicherweise zu Unrecht für gewalttätiges Handeln in der Beziehung verantwortlich gemacht werden (Hamel 2007). Die Bemühungen von Männern, diese falschen Vorwürfe zu bekämpfen, können aufgrund dieser kulturellen Neigungen, die in Kombination mit Geschlechterstereotypen von Frauen ausgenutzt werden, leicht zum Erliegen gebracht werden. Für eine Analyse männlicher Gewaltwiderfahrnisse häuslicher Gewalt wird es daher als fruchtbar erachtet, strukturelle sowie » rechtliche und administrative Gewalt « als Rahmen für und Teil der Geschlechterordnung und die darin eingewobenen Machtungleichgewichte (als eines der zentralen Funktionssysteme einer Gesellschaft) im Blick zu haben, so dass dem weiten Gewaltbegriff gefolgt und unter häuslichem Gewalthandeln physische, psychische, sexuelle, strukturelle und rechtliche/administrative Taten verstanden und in unterschiedlicher Gewichtung im Verlauf dieser Arbeit immer wieder beachtet werden. Herausgestellt werden muss, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Tatbeständen dabei nicht immer eindeutig zu ziehen sein werden (Lenz 2006).

3.2. Zum Umgang mit dem Begriff »Häusliche Gewalt«

Der Begriff häusliche Gewalt ist ebenso wie der Gewaltbegriff nicht nur unverbindlich definiert (Schweikert 2011a, 2011b), es existiert sogar eine generelle Uneinigkeit darüber, ob die Wahl des Begriffs überhaupt das beschreibt, wofür er definitorisch stehen soll. So wird häusliche Gewalt im Kontext Familie bspw. auch als familiale/familiäre Gewalt (Lamnek et al. 2013), innerfamiliäre Gewalt (Alzinger 2016), verhäuslichte Gewalt (Honig 1988) oder Gewalt im sozialen Nahraum (Löbmann & Herbers 2005), häusliche Gewalt im partnerschaftlichen Kontext als Beziehungsgewalt, Partner- oder Partnerschaftsgewalt (Adebayo 2014), Missbrauch von Intim-Partnern/Partnerschaftsmissbrauch (» Intimate-Partner-Abuse «; kurz: IPA. Dearwater et al. 1998, Tilbrook et al. 2010) umschrieben. Insbesondere im angelsächsischen Sprachraum hat sich für das Gewalthandeln zwischen Lebensgefährten, Eheleuten, Verlobten oder auch ehemaligen Beziehungen die Bezeichnung Intime Partnergewalt durchgesetzt (»Intimate-Partner-Violence«; kurz: IPV) (Rettenberger & Eher 2013). Dabei erfassen Studiendesigns mit und über die weiße Mittelschicht im US-amerikanischen Raum unter IPV auch Gewalt gegen Dating-Partner (Kamimura et al. 2017). Möglicherweise liegt das daran, dass hier das Protokoll für eine beginnende Liebesbeziehung äußerst streng ist und der Einstieg in eine Partnerschaft eine kulturell verbindliche, stark formalisierte, zeitintensive Praxis bedingt (Callahan 2007; Busby et al. 2010). Für diesen Kulturraum vermag das den Unterschied zwischen einer vergleichsweise unverbindlichen und vorübergehenden Form einer zwischenmenschlichen Beziehungen (»Affiliation«; Leary 2010) und einer engen Beziehung (»close relationship«) nach Clark & Lemay (2010)6 verringern und eine Bezeichnung von Gewalthandeln mit dem Begriff der häuslichen Gewalt auch zwischen Dating-Partnern zu erlauben. Häusliche Gewalt, als spezielle Untergruppe zwischenmenschlicher Gewalt umfasst somit Gewalthandeln in engen sowie unverbindlichen, bestehenden oder bereits beendeten homo- wie auch heterosexuellen Beziehungen, gegen den Partner oder die Partnerin, zwischen Familienmitgliedern und damit gegen Kinder, von Kindern gegen ihre Eltern, zwischen Geschwistern7 oder gegen im Haushalt lebende ältere und alte Menschen8 (WHO & London School of Hygiene and Tropical Medicine 2010; Wieners 2002; Krug et al. 2002). Im Folgenden werden unter dem Begriff der häuslichen Gewalt in einem ersten Gedankengang: physische, psychische, sexuelle, strukturelle, rechtliche/administrative Gewalthandlungen gegen Männer in intimen sowie, in Bezug auf den US-amerikanischen Raum auch unverbindlich, bestehende oder bereits beendete heterosexuelle Beziehungen durch aktuelle oder ehemalige Partnerinnen, die ständig oder zyklisch zusammenleb(t)en, verstanden.

Die Entscheidung für die Verwendung dieses Begriffes und gegen z.B. den eindeutigeren der Intimen Partnergewalt oder des im wissenschaftlichen Kontext häufig verwendeten Begriffs der Gewalt im Geschlechterverhältnis (»gender-based violence«; siehe Hagemann-White 1992) liegt die Tatsache zugrunde, dass nach Rettenberger & Eher (2013) im deutschsprachigen Raum Gewalt durch einen Intimpartner nach wie vor häufiger unter häuslicher Gewalt subsumiert wird. Auch wird anhand dieser ersten Teildefinition die Eingrenzung des Themas auf heterosexuelle Partnerschaften und die Annahme einer Geschlechterdichotomie deutlich. Konsens ist, dass das soziale Geschlecht (»gender«) auf der Basis der biologischen Gegebenheiten (»sex«) konstruiert wird. Geschlecht ist demnach eine interaktiv hergestellte soziale Praxis (»doing gender«), die jenseits ihrer Funktion einer strukturellen Absicherung von Dominanzverhältnissen eigentlich vielfältig ausgestaltet werden kann und beachtet werden sollte ( z.B. Pilcher & Whelehan 2004 ). Die Entscheidung, den Fokus auf heterosexuelle Beziehungen zu legen und einen rückschrittlichen Weg hin zu einer Geschlechterdichotomie zu gehen, beruht auf den spärlich vorhandenen und zumeist theoretischen Forschungen über lesbische, schwule, bisexuelle, inter9 - und transgeschlechtliche10 oder genderqueere11 Personen (Weis 2002; über gleichgeschlechtliche sexuelle Nötigung siehe Huitema & Vanwesenbeeck 2016; Meuser 2003; Turchik et al. 2016), was ein Wissen über die sozialen Probleme weiter einschränkt (Davies 2002; Ratner et al. 2003). Turchik et al. (2016) behaupten, dass insbesondere die nach wie vor bestehende stereotype Konzeptualisierung und zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäbe für sexuelle Gewalt (Balsam et al. 2005; Struckman-Johnson & Struckman-Johnson 1998) die Forschung über männliche und gleichgeschlechtliche Viktimisierung abschrecken. Die wenigen vorliegenden Studienergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass die Wahrnehmung von und der Umgang mit häuslicher Gewalt auch abweichen dürfte: Nach Sleath & Bull (2010) werden schwule Vergewaltigungsopfer häufiger stigmatisiert. Doherty & Anderson (2004) finden heraus, dass die Einstellung gegenüber schwulen Vergewaltigungsopfern tendenziell negativer als gegenüber heterosexuellen männlichen Opfern ist. Wolff et al. (2006) untersuchen sexuelle Übergriffe in Gefängnissen und finden heraus, dass lesbische sexuelle Übergriffe in Frauengefängnissen statistisch wahrscheinlicher sind als Übergriffe von Männern gegen Männer. Rothman et al. (2011) und Walters et al. (2013) gehen davon aus, dass die Prävalenzrate für Gewaltwiderfahrnisse in homosexuellen gar höher als in heterosexuellen Beziehungen ist. Auch in den unterbesetzten Transgenderpopulationen werden vergleichsweise höhere Gewaltraten gemeldet (Stotzer 2009). Dies entspricht auch Fichtners (2005) Anmerkung, dass vor allem das von schweren Gewaltwiderfahrnissen gekennzeichnete absolute Dunkelfeld extrem marginalisierter Bevölkerungsgruppen durch Prävalenzstudien12 kaum erhellt werden kann, da im Umkehrschluss stark marginalisierte soziostrukturelle Kontexte zum Verschweigen von Gewaltwiderfahrnissen beitragen (Godenzi 1996; Schröttle 1999). Potter et al. (2012) und Todahl et al. (2009) gehen gar ein Stück weiter und postulieren, dass häusliches Gewalthandeln auch in den jeweiligen Communities nicht diskutiert wird – nicht mal ansprechbar ist. Die Hemmschwelle, sich die eigene Viktimisierung einzugestehen, steigt hierdurch auf ein unüberwindbares Maß an. Obwohl es eine sinnvolle Weiterentwicklung wäre, geschlechtervergleichender Forschung Studien und Analysen beizustellen, die über geschlechterpolarisierende und heteronormative Bezüge hinausgehen, die sodann zwingend auch Gewaltwiderfahrnisse von Homosexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (oder genderqueeren) berücksichtigen, könnte an dieser Stelle eine differenzierte Unterscheidung und Ausweisung von Gewaltkontexten, Täterin-Opfer-Beziehungen, Gewaltformen, Gewaltqualitäten oder auch die Reflexion von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung nur oberflächlich erfolgen, was wissenschaftlich nicht nur höchst problematisch (Schröttle 2013), sondern den Menschen auch absolut nicht gerecht werden würde. Bent-Goodley (2005) und Rizo & Macy (2011) postulieren aber zu Recht, dass der Tatbestand der häuslichen Gewalt in all seinen Facetten alle geschlechtlichen und sexuellen Orientierungsgrenzen überschreitet. Darüber hinaus merken sie jedoch auch an, dass dies für ethnische, soziodemografische sowie religiöse Orientierungsgrenzen ebenso gilt. Dies soll nicht bestritten werden. Gleichwohl beziehen sich die hiesigen Ausführungen mitunter aus folgenden Gründen auf Studienergebnisse von Mehrheitsgesellschaft moderner westlicher Industrieländer: Eine reputierliche Erklärung der Muster häuslicher Gewalt ist jene des amerikanischen Soziologen Michael P. Johnson (1995, 2008), der argumentiert, dass es zwei primäre Arten häuslicher Gewalt gibt. Auf der einen Seite existiert eine Form, die er »Intimen Terrorismus« nennt. Ersichtlich wird diese Form insbesondere in klinischen Stichproben (z.B. in Schutzhäusern, medizinischen Einrichtungen oder durch Exekutivorgane). Es werden eher Straftäter als Straftäterinnen ermittelt, Gewaltwiderfahrnisse sind regelmäßig und einseitig und die Gewalt ist eskalierend. Die Schwere des Begriffs spiegelt dabei den Angstgrad der Opfer sowie den Wunsch der Täter und Täterinnen nach Kontrolle, Beherrschung und Besitz der Partnerin oder des Partners wieder (Archer 2006; Johnson 1995; Johnson & Ferraro 2000). Dobash & Dobash (1979) argumentieren, dass dieser Wunsch nach Dominanz und Kontrolle das Ergebnis sozialer, kultureller und institutioneller Normen ist, in welchen zumeist Männer sozialisiert werden und erklären anhand dessen auch die erhöhte Wahrscheinlichkeit weiblicher Opfer. Jede Gewalt, die von Frauen ausgeht, wird bei den vornehmlich weiblichen Opfern klinischer Stichproben als Selbstverteidigung gewertet (Johnson 1995; Straus 1993; Kap. 5.2. und 6.2., 6.3.1.). Forschungsergebnisse mit Gesellschaftsstichproben zeigen dagegen Gewalthandlungen, die Johnson als »gewöhnliche Paargewalt« bezeichnet.13 Diese Form häuslicher Gewalt ist weniger schwerwiegend, seltener, eskaliert nicht und kann von einem Partner/einer Partnerin oder wechselseitig im Zuge eines gemeinsamen Paarkonflikts demonstriert werden. Diese Gewalt wird daher vor allem als schädlicher Umgang mit Konflikten innerhalb einer Beziehung angesehen und wird somit durch unangemessene Konfliktlösungsstrategien ausgelöst. Johnson (2008) und Stark (2006) postulieren, dass Männer häufiger Opfer von diesen gewöhnlichen Paarkonflikten bzw. situativ gewalttätigen Widerständen werden. Johnsons Typologie hat sich zudem auch als hilfreich erwiesen, einige Kontroversen bei der Betrachtung von Täterinnen (Kap. 5.2.) oder bei der Beurteilung der Folgen für die Opfer zu lösen (Johnson & Ferraro 2000; Kap. 7.). Nach wie vor ist Johnsons (1995) Theorie auch die populärste zur Erklärung von Gewalthandlungen nicht- oder unmodern- westlicher Gesellschaften. Gewalt ist damit das Ergebnis der Aufrechterhaltung des Patriarchats und der dominierenden Rolle des Mannes über (seine) Frau(en), also im Umkehrschluss eine aktive Vermeidungsstrategie gegen eine gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter. Die höchsten Gewaltraten gegen Frauen werden auch heute noch dort nachgewiesen, in denen die soziale Stellung der Frau schwach ist (Van Dijk 2016). Analysen über Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsländern deuten zudem darauf hin, dass das Ausmaß von Gewalthandlungen in einer komplexen Beziehung zu Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter stehen.14 Dem Folgend ist es nach Archer (2006) wahrscheinlicher, dass Männer in nicht-westlichen Industrieländern häufiger Gewalthandlungen gegen Frauen begehen, wohingegen Studienergebnisse aus westlichen Industrieländern auf ähnliche Viktimisierungs- und Täter-/ bzw. Täterinnenraten hindeuten (Archer 2000; Kap. 6.1.) oder mitunter gar darauf, dass Frauen häufiger Formen Intimen Terrorismus mit einem ähnlichen Wunsch nach Dominanz und Kontrolle anwenden (Bates et al. 2014; Kamimura et al. 2017). Auch bezogen auf die gesellschaftlichen sowie individuellen Reaktionen auf häusliche Gewaltwiderfahrnisse unterscheiden sich westliche und nicht-westliche Kulturen: In modernen Gesellschaften gelten Formen häuslicher Gewalt als soziales Problem und werden nicht mehr von allen Mitgliedern unserer Gesellschaft als normaler Bestandteil des Familienlebens hingenommen, wodurch ein Eingreifen formeller sozialer Kontrolle durch Polizei, Rechtspflege, Hilfseinrichtungen möglich ist (Lamnek et al. 2013). Keyes & Ryff (2003) finden zudem Differenzen innerhalb der individuellen Reaktionen heraus: Nicht-westliche Kulturen somatisieren, während moderne westliche Kulturen eher psychologisieren. Beirens & Fontaine (2011) untersuchen z.B. die türkische Kultur und stellen auch für diese einen höheren Somatisierungsgrad fest. Kulturelle Unterschiede werden auch in Bezug auf Form, Ausdruck und Intensität von Emotionen aufgezeigt. Kitayama et al. (2009) argumentieren, dass westliche moderne Kulturen ihr unabhängiges Selbst hervorheben, während nicht-westliche Kulturen ihr interdependentes Selbst betonen. Zur Wahrung der sozialen Harmonie sind Menschen hier daher eher bereit, ihre Gefühle zu zügeln und den Ausdruck negativer Emotionen zu vermeiden. Wie bereits in diesem Kapitel hinsichtlich des amerikanischen Rituals des datings angemerkt, können aber auch kulturelle Unterschiede scheinbar vergleichbarer Gesellschaften auftreten. Hinsichtlich der Feststellung eines Tatbestandes der sexuellen Gewalt kann bspw. die „Tatsache eines körperlichen Zugriffs […] nicht zur Unterscheidung zwischen Gewalt und Intimität dienen, es werden Fragen des Willens und der kulturellen Normalität unvermeidbar.“ (Hagemann-White 2002a: 128).

Indem die Intime Terrorismusperspektive der »Theorie der sozialen Rolle« (Eagly & Wood 1999) zur Seite gestellt wird, können nach Archer (2006) auch geschlechtsspezifische Unterschiede innerhalb häuslichem Gewalthandeln bei ethnischen Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft durch das Erstarken eines Geschlechts erklärt werden. In seiner überzeugenden Studie mit Daten aus 16 verschiedenen Nationen zeigt Archer (2006), dass Gewalthandlungen zwischen Männern und Frauen im umgekehrten Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Macht von Frauen steht: Je gleichgestellter Frauen sind, desto niedriger ist ihr Gewaltwiderfahrnis Intimen Terrorismusses. Erez et al. (2009) und Raj & Silverman (2002) fanden bspw. heraus, dass sowohl weibliche als auch männliche Einwanderer aus Asien und dem Mittleren Osten toleranter gegenüber physischer Gewalt sind, wenn eine Frau sich nicht an die Kulturregeln hält. Da Frauen häufiger als Männer ihre geschlechtliche Identität entsprechend den egalitäreren westlichen Geschlechterrollen hinterfragen (Raj & Silverman 2002), entsteht ein scharfer Kontrast zwischen den traditionellen Werten der Männer und jenen moderneren der Frauen, was zu einem verstärkten Kontrollverhalten seitens des Mannes führen kann und Gewalthandlungen wahrscheinlicher macht (Archer 2006; Colucci & Montesinos 2013; Erez et al. 2009; Raj & Silverman 2002). Hellemans et al. (2015) postulieren auf der Grundlage ihrer Studienergebnissen einer repräsentativen Stichprobe türkischer Einwanderer in Flandern, dass Frauen überdurchschnittlich häufiger von physischer Gewalt (nicht jedoch von psychischer Gewalt) betroffen sind und führen dies auf der einen Seite zwar auch auf das männliche Bedürfnis nach Manifestation der patriarchalischen Kultur durch Dominanz und Kontrolle und die fehlende Befugnis türkischer Frauen zurück (auch Yüksel-Kaptanoglu et al. 2012). Auf der anderen Seite betonen die Autorinnen, dass auch der Minderheitenstatus und ein Gefühl von Einsamkeit bei türkischen Männern zu sozialem Stress, einhergehend mit Frustrationen und Ärger über die Gesellschaft und sich selbst, führen. Da diese Gefühle von Ärger und Frustration aus Angst vor Stigmatisierung nicht öffentlich ausgetragen werden können, würden sich diese gegen die Partnerin wenden (vertiefend siehe Colucci & Montesinos 2013; Taft et al. 2009). Timmerman et al. (2003) weisen auch auf einen möglichen Stellenwert einer Religionszugehörigkeit hin: Infolge eines Machtmangels oder auch der Androhung eines Machtverlusts in Verbindung mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status sind Paare, die zudem einer Religion große Bedeutung beimessen, von einem erhöhten Risiko für häusliche Gewalt betroffen. Allerdings werden auch umgekehrte Effekte beobachtet. Anhand der Daten von 6800 befragten Männern und Frauen des US-amerikanischen Familien- und Haushaltssurveys von 1978/88 analysieren Ellison et al. (2007) die Beziehung zwischen Religiosität und Gewalt gegen Partner. Personen, die häufig einen Gottesdienst besuchen, weisen ein geringeres Niveau an häuslicher Gewalttätigkeit auf, allerdings differenziert sich dieses Bild je nach der ethnischen Zugehörigkeit. Insbesondere bei Personen mit afro- und lateinamerikanischem Hintergrund war der Schutzmantel Religiosität besonders ausgeprägt.

Häusliche Gewalt kann je nach Kulturraum zum einen also Ausdruck einer Ungleichheit der Geschlechter sein (Van Dijk 2016) und zum anderen einer Vielzahl an divergierenden Mechanismen in Bezug auf die Wahrnehmung von und den Umgang mit häuslicher Gewalt unterliegen. Um das gesamte Spektrum der häuslichen Gewalt unter ethnischen Minderheiten erfassen zu können, bedarf es neben standardisierten Messungen auch kulturspezifischer Anteile, um überhaupt eine Vergleichbarkeit einer Minderheiten- und Mehrheitsgesellschaft zu erlauben. An dieser Stelle wird dem Verständnis gefolgt, dass Kultur kein statisches, homogenes Konzept ist. Es beinhaltet wettbewerbsorientierte und widersprüchliche Werte. Bei einem unbedachten Umgang mit Erkenntnissen über Mehrheits- und Minderheitengruppen würden möglicherweise nuancierte Unterschiede kultureller Normen, Wahrnehmungen, Überzeugungen oder sozial akzeptabler Verhaltensweisen ignoriert oder übersehen werden. Diese Ergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit der Überprüfung, inwieweit kulturelle Aspekte zu einem größeren Kontext beitragen, in dem häusliche Gewalt stattfindet. Aber auch im diskursiven Umgang mit Gesetzen, Richtlinien und (Hilfs-)Programmen muss darauf geachtet werden, wie Interventionen jene beeinflussen, die unter mehreren Formen von Diskriminierung leiden (Goldfarb & Goldscheid 2016). Aus all diesen Ausführungen ergibt sich die folgende Definition, dass unter häuslicher Gewalt physische, psychische, sexuelle, strukturelle, gesetzliche Gewalthandlungen gegen Männer in intimen sowie, in Bezug auf den US-amerikanischen Raum auch unverbindlichen, in einer bestehenden oder bereits beendeten heterosexuellen Beziehung durch die aktuelle oder ehemalige Partnerin, die ständig oder zyklisch zusammenleb(t)en, einer Mehrheitsgesellschaft moderner, westlicher Kulturen verstanden werden. Zuletzt und insbesondere als Überleitung zum nachstehenden Kapitel gilt es sich mit der Frage zu beschäftigen, wer eigentlich festlegt, wann eine Handlung als häusliches Gewalthandeln wahrgenommen wird und – damit einhergehend – wer festlegt, wer Täter oder Täterin und wer Opfer ist. Hierbei kommen drei Dimensionen zu Tage, die »Personale-« und die »Intime Dimension« sowie die »Geschlechterdimension«, welche sodann die Überleitung zum nachstehenden Kapitel bilden werden. In der personalen Dimension fügen Menschen anderen Menschen Formen von (häuslicher) Gewalt zu und sind sich dabei ihrer Verletzungsmacht entweder bewusst oder auch nicht bewusst, nehmen die aus ihrem Handeln resultierende mögliche Verletzung jedoch billigend in Kauf (Helfferich et al. 2016). Verletzungsmacht kann nach Gelles (2002: 1044) dabei als eine Folge von Handlungen oder auch Unterlassungen gesehen werden, die eine Person daran hindert, ihr Entwicklungspotenzial zu realisieren. In der intimen Dimension greift dieses Gewalthandeln sodann die Unversehrtheit des Opfers in einem intimen, leicht verletzbaren Bereich an, mit okkasionell zerstörerischer Wirkung (Helfferich et al. 2016). Bereits Popitz (2004) sah in dieser Verletzungsoffenheit von Menschen überhaupt die Grundlage für machtvolles, verletzendes Handeln:

„Im direkten Akt des Verletzens zeigt sich unverhüllter als in anderen Machtformen, wie überwältigend die Überlegenheit von Menschen über andere Menschen sein kann. Zugleich erinnert der direkte Akt des Verletzens an die permanente Verletzbarkeit des Menschen durch Handlungen anderer, seine Verletzungsoffenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person“ (ebd.: 63f.).

Gleichwohl Popitz seinen Ansatz nicht explizit mit der Geschlechterdimension verband, stellt sich jedoch angesichts der dichotomen Gesellschaftsstruktur die Frage, inwieweit das Eingeständnis einer Verletzungsoffenheit maßgeblich für die Beantwortung der Frage, wann ein Handeln häusliches Gewandhandeln ist, herangezogen werden kann. Denn wenn Lenz (1994: 94) folgend über der Männerkultur das Tabu liegt, den ideologischen Schein einer geschlechtsneutral, rational-funktionierenden Männergesellschaft aufzudecken, dann stellen Männer ihre durch häusliches Gewalthandeln ins Wanken gebrachte Männlichkeit nicht in Frage. Ein herausfordernder Gedanke, der in dieser Arbeit immer wieder, insbesondere jedoch in Kapitel 5.1. vertieft wird.

Die Geschlechterdimension beschreibt insofern eine gesellschaftliche Erscheinung, als dass (häusliche) Gewalthandlungen zuwider der gesellschaftlichen Vorstellung von (gegenseitiger) Fürsorge und Mithilfe verlaufen (Schneider 1990: 508) und solches Gewalthandeln eng verbunden mit der Herstellung, Aufrechterhaltung und Ausnutzung von Macht und Dominanz gesehen wird und somit eine gesellschaftliche, machtsichernde Herstellungs- und Ordnungsfunktion hat (Helfferich et al. 2016). In Mehrheitsgesellschaften moderner westlicher Industrieländer unterliegt häusliche Gewalt daher nicht nur informell-privater, sondern auch formell-öffentlicher sozialer Kontrolle durch die Androhung und Ergreifung legalisierter sowie als mehr oder minder legitim empfundener Gewaltmaßnahmen von Seiten offizieller Kontrollorgane. Auf die hierfür richtungsweisenden Diskurse wird im folgenden Kapitel sodann eingegangen.

4. Zu den themenimmanenten Diskursen und Kontroversen

Wie gezeigt wurde, ist häusliche Gewalt ein interkulturelles, milieudivergierendes und temporal variables soziales Konstrukt. „Wer oder was strafrechtlich verfolgt wird, ist abhängig von den gesellschaftlich definierten Übeln bzw. den Rechtsgütern, vor welchen resp. welche es [eine Gesellschaft] zu schützen gilt“ (Lamnek et al. 2013: 35). Kollektive Orientierungshilfen und Leitvorstellungen prägen dabei den Sinnhorizont und beeinflussen jene Entscheider, die eine Sache oder eine Person als delinquent oder zumindest normabweichend sehen möchten. Sowohl (Ent-)Kriminalisierungsbemühungen, als auch Anstrengungen zum Erhalt des gegenwärtigen normativen Status quo sind interessen-, affekt-, wertgebunden und entsprechen mitunter auch nur minimal divergierenden Sozialisationserfahrungen, sind damit nicht nur milieuabhängig, sondern auch Seinverbunden im Sinne der Wissenssoziologie Karl Mannheims. Die subjektive Wahrnehmung von normabweichendem, wie auch Kontrollverhalten kann somit nur über den im Sozialisationsprozess erworbenen Bezugsrahmen abgeleitet werden (Lamnek et al. 2013). Das ist jedoch „eine Frage der Definitionsmacht und diese ist abhängig von den jeweiligen personalen und sozialen, materiellen und ideellen, Macht-, Tausch-, solidarisierenden und kulturellen Ressourcen der Moralunternehmer.“ (Ottermann 2000, n. Lamnek et al. 2013: 36; »Moralunternehmer«15 ). Abweichungsbemühungen vom normativen Status quo sind daher das Ergebnis erfolgreicher sozialer Problematisierungs- und Mobilisierungsprozesse. Nach Ottermann (2003b, n. Lamnek et al. 2013: 36f.) vermag die Übertreibung in der Darstellung bestimmter Gewaltarten oder -ausmaße als überdurchschnittlich gesellschaftlich riskant oder die Fokussierung auf äußerst vulnerable Personenkreise, besondere Kontrollmaßnahmen zu legitimieren und eine gesellschaftlich weitreichende Identifikation mit den Kontrollinstanzen herzustellen. Die dominierende Grundhaltung zu häuslicher Gewalt ist folglich das Ergebnis sozialer Problematisierungs- und Mobilisierungsbemühungen von Moralunternehmern, die sich bei ihrer Perspektive auf das Phänomen teils widersprüchlicher resp. gegensätzlicher, aber interessen-, affekt- und wertgebundenen Weltanschauungen bedienen. Wie noch gezeigt wird, kann es „als ein typisches Merkmal sozialer Probleme angesehen werden, dass die für einen kollektiven Akteur oder eine Gruppe optimale Lösung eines sozialen Problems für einen anderen kollektiven Akteur gerade zu einem sozialen Problem wird“ (Groenemeyer 1999b: 44, zit. n. Lamnek et al. 2013: 38). Hinsichtlich des Verlaufs gesellschaftspolitischer Debatten sind nicht nur die Definitionshoheit, die schlagfertige, kommunikative Überzeugungskraft, materielle und immaterielle Ressourcen und (kontrollierte) mediale Präsenz maßgeblich. Die Debatte wird zudem geleitet von wissenschaftlichen Befunden, (Kriminal-)Statistiken, Expertisen und Praxisberichten von Polizei und Justiz, Frauenhäusern, Kinderschutzeinrichtungen, Familienberatungsstellen, etc., die zugleich Legitimitäts- und Plausibilitätsgrenzen implizieren. Ihre Einflussnahme hängt sodann davon ab, wie gesellschaftliche Gruppierungen ihre Botschaft aufnehmen, wahrnehmen, deuten und umsetzen (Ottermann 2003a, n. Lamnek et al. 2013: 38). Sinnstiftender Filter innerhalb der Informationsverarbeitung ist dabei, Sender- und Empfängerunabhängig, der eigene milieuabhängige Bezugs- bzw. Deutungsrahmen. „Die subjektiven Interpretationen kommunikativ vermittelter Inhalte bzw. die individuellen Meinungsäußerungen sind von daher zwar immer perspektivisch, d.h. den Sozialisationserfahrungen bzw. -räumen entsprechend (ideologisch-attributional) verzerrt […]“ (Ottermann 2003a, zit. n. Lamnek et al. 2013: 39f.), geben dadurch aber keineswegs Auskunft über ihre Richtigkeit. Vielmehr ermöglichen sie eine andere Sicht der Dinge, welche vorübergehend eingenommen werden muss, soll die Güte eines zunächst befremdlich wirkenden Arguments abgeschätzt werden (ebd.; zum Einfluss von Minderheiten siehe Kap. 6).

[...]


1 Der Begriff » Patriarchat « meint wörtlich » Väterherrschaft « und beschreibt in der Soziologie, der Politikwissenschaft und in verschiedenen Gesellschaftstheorien ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, die von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert werden (Hillmann 2007).

2 Gewalthandlungen, die auf eine soziale Isolation des Partners weg von seiner Familie und dem gesellschaftlichen Umfeld abzielen, bezeichnen Tilbrook et al. (2010) als » soziale Gewalt «. An dieser Stelle wird auf eine weitere Unterteilung verzichtet und Bestrebungen, den Partner zu isolieren, werden unter psychische Gewalt gefasst. Gleiches gilt für » spirituelle Gewalt «.

3 Tilbrook et al. (2010), Krug et al. (2002) oder auch Mwaura (2010) sehen in Bezug auf finanzielle Aspekte eine weitere Form häuslicher Gewalt: die »finanzielle« oder auch »wirtschaftliche Gewalt« . Diese Gewalt geht für sie mit der Kontrolle der Finanzen des Partners einher. Im Folgenden wird ihr unisono keine weitere Relevanz beigemessen, gleichwohl nicht ausgeschlossen wird, dass solche Gewaltformen in Studienergebnissen unter psychische oder rechtliche/administrative Gewalt subsumiert wurden.

4 In der Diskussion um »sexuelle Gewalt« findet sich im wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskurs die weitverbreitete Annahme, dass es sich bei diesen Gewalttaten um »sexualisierte Gewalt« oder wie Harten (1995: 133) sie nennt, pseudo-sexuelle oder asexuelle Akte handelt, bei der Sexualität instrumentell zur bewussten systematischen Einschüchterung (Brownmiller 1975), insbesondere zur Unterdrückung von Frauen eingesetzt wird (Roock 2012). Nach Seifert (1993) oder auch Hagemann-White (1995, 2016) steht die Sexualität des zumeist angenommenen, männlichen Täters somit nicht im Mittelpunkt, sondern wird instrumentell in den Dienst physischer und psychischer Gewalt gestellt. In seinem Essay diskutiert Roock (2012) die gesellschaftspolitischen und psychologischen Konsequenzen eines solchen Umgangs mit dem Thema, wenn auch bezogen auf weibliche Opfer männlicher Täter. Ihm folgend, jedoch übertragen auf das hiesige Thema, sollte sich bei der Verwendung des Begriffs bewusst sein, dass aus Täterinnenperspektive dieser Begriff zwar psychische oder physische Gewalt sexualisierten Inhalts zur Machtdemonstration beinhaltet, nicht jedoch die weibliche Sexualität. Der Ausschluss einer biologisch-triebgesteuerten weiblichen Sexualität erscheint zum jetzigen Zeitpunkt des Diskurses jedoch als verfrüht, so dass an dem Begriff der sexuellen Gewalt festgehalten, Formen sexualisierter Gewalt hierunter aber gefasst werden.

5 Durch die zunehmende Digitalisierung kann sich für häusliches Gewalthandeln auch der Digitalität bedient werden. Für solche Akte hat sich der Begriff der »digitalen Gewalt« etabliert und umfasst dabei alle Formen von Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel oder digitaler Medien bedienen, sowie Gewalt, die im digitalen Raum stattfindet, also bspw. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen. Beispiele für digitale Gewalt sind: der Ausschluss aus Onlinegruppen, Bloßstellen und Anschwärzen, Doxing, als dass Veröffentlichen von personenbezogenen Daten, Cyber-Stalking, die offene Androhung von Gewalt, wie auch das Filmen von Vergewaltigungen und das Veröffentlichen dieser Aufnahmen, Bildmontagen mit pornographischen Inhalten, das Hochladen dieser auf Dating- und Sex-Websites, das Veröffentlichen von Kontaktdaten auf Dating-Websites, das Zusenden von pornografischen Inhalten und sexualisierten Bedrohungen (Drucksache 19/6174 2018: 1). An dieser Stelle wird auf eine solche Spezifizierung verzichtet und häusliche Gewalthandlungen, die sich digital ihren Weg bahnen, werden unter psychische und/oder sexuelle Gewalt gefasst.

6 Nach Clark & Lemay (2010) werden enge Beziehungen oft darüber charakterisiert, dass eine hohe gegenseitige, dauerhafte Abhängigkeit zwischen Interaktionspartnern besteht (d.h. die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen des Einen beeinflussen jene des Anderen). Innerhalb der Beziehung besteht ein hohes Maß an Intimität und die Motivation, den jeweils anderen auch ohne Gegenleistung bei Bedarf zu unterstützen. Zudem gibt es in engen Beziehungen die Tendenz, die andere Person gedanklich in das Selbst einzuschließen (Aron et al. 2004).

7 Vertiefend siehe u.a. zu Geschwisterbeziehungseffekten Harcourt et al. (2014) und Stocker et al. (2002); zu den Auswirkungen von Häuslicher Gewalt zwischen Geschwistern Finkelhor et al. (2006) und zum Einfluss wechselseitigen Verhaltens u.a. Whiteman et al. (2014).

8 Da dies im Verlauf dieser Arbeit keine weitere Relevanz hat, soll dennoch folgender Einwand eingebracht werden: Der demografische Wandel bedingt zunehmend eine Beschäftigung mit häuslicher Gewalt gegen im Haushalt lebende ältere und alte Menschen. Repräsentative Studienergebnisse aus Schweden (Ahnlund et al. 2017), Großbritannien (Biggs et al. 2009), Irland (Naughton et al. 2012), Deutschland (u.a. Wetzels et al. 1995; Wetzels & Greve 1996), Finnland (Kivelä 1994), Kanada (Brozowski & Hall 2010) oder den USA (für ein Review siehe Lachs & Pillemer 2004) deuten auf zum Teil hohe Prävalenzraten hin und darauf, dass Opfermerkmale, wie z.B. ein höheres Lebensalter, Alkoholabusus, Erkrankungen, wie z.B. Depression, Alzheimer oder Demenz, das Fehlen enger Freundschaftsbeziehungen, soziale Probleme, ein hoher Pflegebedarf, die Wohnsituation, ebenso wie Merkmale in der Beziehungsqualität, wie z.B. innerfamiliäre Konflikte oder eine schlechte prämorbide Beziehung, mit allen Formen von häuslicher Gewalt zzgl. Vernachlässigung (also die Verweigerung oder Unterlassung irgendeines Teils der Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, die für den älteren oder alten Menschen lebensnotwendig sind, wie z.B. die Weigerung, für Essen, Flüssigkeit, Kleidung, Medikamente, persönliche Sicherheit zu sorgen, Sowarka et al. 2002) gegen ältere und alte Menschen in Verbindung stehen. Wenn nicht direkt, sodann indirekt unterstreichen die Studienergebnisse die Bedeutung der Forschung zur Viktimisierung für die Beurteilung der geschlechtsspezifischen Unterschiede auch bei der Untersuchung älterer oder alter Menschen (Ahnlund et al. 2017), mit weitreichenden praktischen Implikationen für die nationale und kommunale Hilfs- und Unterstützungslandschaft (Sowarka et. al. 2002).

9 »Intergeschlechtlich« umfasst Personen, deren Körper dem medizinischen Maßstab von Mann und Frau nicht folgen. Dabei ist es keine Bezeichnung, die von allen Betroffenen uneingeschränkt akzeptiert wird. Bezeichnung wie intersexuell/intergeschlechtlich, Hermaphrodit und Zwitter werden synonym verwendet. „Intergeschlechtlichkeit kann zusätzlich eine Geschlechtsidentität sein“ (TransInterQueer 2012 zit. nach Focks 2014), d.h. eine selbstgewählte Identitätsbezeichnung als Zwitter, Inter*, o.ä. (Focks 2014).

10 »Transgeschlechtlich« (auch: transgender, transsexuell, transident, inbetween, usw.) umfasst Personen, die sich einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen oder ihre Geschlechtsidentität jenseits der binären Geschlechterordnungen leben und damit die Geschlechterdichotomie Frau/Mann in Frage stellen (Focks 2014).

11 Der Begriff »genderqueer« wird von Personen bevorzugt verwendet, die sich zwar differenziert in der binären Geschlechterordnung positionieren könn(t)en, die o.g. Begriffe, mitunter aufgrund ihrer wahrgenommenen Pathologisierung, aber ablehnen und stattdessen vielfältige Selbstbezeichnungen wählen (Focks 2014).

12 Gewaltprävalenzstudien untersuchen entweder bevölkerungsweit oder fokussiert auf spezifische (Bevölkerungs-)Gruppen und Gewaltkontexte, das dimensionale Ausmaß von Gewalt. Als »Dunkelfeldstudien« benannt, erfassen sie das Ausmaß der nicht institutionell registrierten Gewalt; als »Viktimisierungsstudien« bezeichnet, werden Menschen danach befragt, ob sie Gewaltwiderfahrnisse in bestimmten Erfassungszeiträumen haben. Neben dem Gewaltausmaß interessieren auch die Täter-Opfer-Kontexte, die Tatorte oder die Formen, Schweregrade, Häufigkeiten und Folgen der widerfahrenen Gewalt (Schröttle 2016).

13 Johnsons Bezeichnungen wurden vielerorts als semantisch herabwürdigend gewertet. Gloor und Meier (2003) schlagen daher den Mustern der jeweiligen Gewaltformen folgend, für » Gewöhnliche Paargewalt « die Bezeichnung » Gewalt als spontanes Konfliktverhalten« und für » Intimen Terrorismus« die » Systematische Kontrolle und gewalttätiges Verhalten « vor.

14 Für z.B. afrikanische Länder geht nach Mazibuko & Umejesi (2015) häusliche Gewalt mit der sozioökonomischen Benachteiligung, welche die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung durch den Kolonialismus erfährt, einher. Chisale (2016a) und Phiri (2002) betonen das Patriarchat, das die Art der Eheführung bestimmt. Owino (2010) und Phiri (2002) beschuldigen dagegen voreingenommene, naive biblische Interpretationen als Grund für häusliche Gewalt in schwarzafrikanischen Gemeinschaften, da Männer das hier beschriebene Patriarchat mittels Unterwerfung der Frauen durchsetzen und nach Heggen (1996) auch keinen Widerspruch zwischen ihrem Verhalten und dem christlichen Glauben erkennen. Afrikanische Theologinnen haben auf Grund dessen häusliche Gewalt in christlichen Ehen sowie in afrikanischen, unabhängigen Kirchen in der Sub-Sahara untersucht (Dreyer 2011; Kapuma 2015; Mwaura 2010; Phiri 2002). Ihre Ergebnisse zeigen, dass sich Kirchen der Fälle von häuslicher Gewalt zwar bewusst sind, dennoch von einer Trennung abraten und anstatt dessen die Frauen ermutigen, hart um ihre Ehe zu kämpfen, da eine Scheidung gegen Gottes Willen sei. In traditionellen afrikanischen Kontexten verdienen Menschen Respekt auf Grund ihres Alters: Ein jüngerer Mensch kann Ältere somit nicht zu ihren ehelichen Angelegenheiten befragen oder auf häusliches Gewalthandeln ansprechen (Chisale 2016b). Nach Owino (2010) und Phiri (2002) geht es daher zunächst darum, die Gemeindemitglieder vom äußerst verinnerlichten biblischen Patriarchat solange zu befreien, bis häusliches Gewalthandeln nicht mehr als Korrekturmaßnahme für eine fehlende Unterwerfung der Frau toleriert wird (Baloyi 2013).

15 Kriminalisierungsbemühungen in Form der Definition eines sozialen Problems hat Howard Becker als » Moralunternehmertum « (1963: 147ff., zit. n. Dellwing 2015: 119) bezeichnet. Nicht nur Regeln sind „the product of someone’s initiative“, auch die Form ihrer Durchsetzung hängt von der Aktivität sozialer Akteure ab. Sebastian Scheerer (1986, zit. n. Dellwing 2015: 120) greift dieses Konzept auf und erweitert es um den » atypischen Moralunternehmer «, wenn avantgardistische Gruppen sich der Forderung nach Kriminalisierung annehmen, um ihre moralisch ausreichend hochwertigen Ziele zu verfolgen.

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Häusliche Gewalt gegen Männer
Untertitel
Zur Wahrnehmung von und dem Umgang mit häuslicher Gewalt gegen Männer in heterosexuellen Beziehungen
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
105
Katalognummer
V992621
ISBN (eBook)
9783346357328
ISBN (Buch)
9783346357335
Sprache
Deutsch
Schlagworte
häusliche, gewalt, männer, wahrnehmung, umgang, beziehungen, heterosexuelle
Arbeit zitieren
S. Engels (Autor:in), 2019, Häusliche Gewalt gegen Männer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/992621

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