Gottfried von Straßburgs Minnegrotte. Ein Paradoxon der Raumkonzeption


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

28 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Allgemeine Fakten zur Grottenepisode
2.1 Die Minnegrotte
2.2 Tristan und Isoldes Leben in der Minnegrotte

3 Forschungsfrage und Hypothesen

4 Das Element des Raumes
4.1 Die Minnegrotte als Sakralbau
4.2 Die Minnegrotte in ihrer Umgebung
4.2.1 paradisus oder locus amoenus
4.2.2 keltische Anderswelt
4.3 Der Raum der Minnegrotte
4.3.1 Der Weg zur Minnegrotte
4.3.2 Innenraum und Außenraum
4.3.3 Die Minnegrotte als Organismus

5 Das Element der Zeit
5.1 Die Zeit der Minnegrotte
5.2 Der Tagesablauf in der Minnegrotte

6 Beantwortung der Forschungsfrage und Conclusio

Bibliographie

1 Einleitung

Nachdem ich mich 2012/13 schon ein Semester lang im Rahmen von Prof. K.s Vorlesung Tristan und Isold - Gottfrieds "senemaere" und die europäische Tristantradition mit Gottfried von Straßburgs Tristan auseinandergesetzt und mich dieses Werk von Beginn an in seinen Bann gezogen hatte, war ich sehr erfreut, in Prof. H.s Seminar Räume, Raumkonzeptionen und Raumwahrnehmung in der Literatur des Mittelalters erneut darauf zu stoßen. An der Arbeit mit Literatur fasziniert mich immer wieder, welch unterschiedliche Aspekte und Aussagen ein Werk aufweist, je nachdem aus welcher Perspektive man es betrachtet bzw. mit welcher Fragestellung man an es herantritt. So geschah es auch dieses Mal, dass ein Roman, von dem ich geglaubt hatte, ihn schon bis ins Detail zu kennen, mir abermals neue Einblicke und Erkenntnisse gewährte.

Eine Besonderheit des Menschen ist es, die Welt visuell wahrzunehmen, was zur Folge hat, dass in unserer Vorstellung die meisten sprachlichen Begriffe als räumliche, sichtbare Objekte erscheinen. Um mit Jurij Lotman zu sprechen: „Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen, […]“1. Daher verwundert es auch nicht, dass seit Jahrzehnten Mediävisten versuchen, das Rätsel um Gottfrieds Tristan, besonders jenes der Schüsselszene der Minnegrotte, zu ergründen. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass die Vielzahl der verschiedensten Interpretationen sich nicht nur nicht widersprechen, sondern sogar in all ihrer Gegensätzlichkeit plausibel anmuten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, darzulegen, dass der Minnegrotte nicht eine einzige eindeutige Aussage zugemessen werden kann und somit auch nicht ein gültiges Raumkonzept, sondern dass Gottfried von Straßburg absichtlich und kalkuliert auf die Ambivalenz setzte. Er verstand es unterschiedlichste literarische und demnach auch räumliche Konzepte zu verschmelzen und etwas völlig Neues, Paradoxes, aber in sich Stimmiges zu erschaffen.

Bei den angesprochenen Raumkonzeptionen, die den theoretischen Unterbau dieser Arbeit bilden, handelt es sich um den mythischen Raum nach Ernst Cassirer, den Chronotopos nach Michail Bachtin sowie die Heterotopie nach Michel Foucault. Was die Werke zu den verschiedenen literarischen Konzepten, die die mediävistische Forschung dieser Schlüsselszene des Romans zuspricht, betrifft, so stütze ich mich vor allem auf Rainer Gruenter (1961), Andreas Hammer (2007), Herbert Kolb (1962), Jan-Dirk Müller (2002 & 2003), Friedrich Ranke (1925) und Armin Schulz (2003).

Die vorliegende Arbeit zum Thema Gottfrieds Minnegrotte – ein Paradoxon der Raumkonzeption gliedert sich in fünf Teile. Nach der Präsentation einiger Fakten zum Raum der Minnegrotte, zu ihrer Ausstattung und dem Wunschleben des Paares kommt es zur Formulierung der Forschungsfrage und der Hypothesen. Im Anschluss daran widme ich mich dem Element des Raumes und versuche die verschiedenen literarischen Konzepte, wie Sakralbau, locus amoenus, paradisus oder auch keltische Anderswelt, mit den Raumkonzepten in Beziehung zu setzen. Dabei beschäftige ich mich des Weiteren mit dem Weg zur Minnegrotte und ihrer erreichbaren Unerreichbarkeit, der Trennung in Außen- und Innenraum sowie dem Kuriosum der Minnegrotte als lebendem Organismus. Da auch das Element der Zeit eine Rolle bei der Konzeption von Sonderräumen spielt, behandelt der vierte Teil dieses Thema, indem die Zeit in der Minnegrotte sowie der Tagesablauf des Paares während des Wunschlebens Gegenstand der Untersuchung ist. Schließlich sollte ich aufgrund der gesammelten Ergebnisse in der Lage sein, die Hypothesen zu verifizieren bzw. falsifizieren und die Forschungsfrage zu beantworten.

2 Allgemeine Fakten zur Grottenepisode

2.1 Die Minnegrotte

Grundsätzlich handelt es sich bei Gottfried von Straßburgs Minnegrotte um eine Höhle aus grauer Vorzeit, die Tristan zufällig während der Jagd gefunden hatte:

daz selbe hol was wîlent ê

under der heidenischen ê

vor Corinêis jâren,

dô risen dâ hêrren waren,

gehouwen in den wilden berc. (16689–16693) 2

Die Grotte befindet sich demnach in unwegsamer Wildnis und in ihrem aus Fels, Wald und Einöde bestehenden Umland gibt es keine Anzeichen menschlicher Besiedelung. Dennoch ist sie nur zwei Tagesreisen vom Hof und somit von der Zivilisation entfernt. Außerordentlich ist die paradiesische nähere Umgebung der Grotte, die alle Attribute eines locus amoenus, wie eine frische Quelle, schattenspendende Linden, farbenfrohe Blumen und zwitschernde Vögel enthält. Dies zeigt schon, dass es sich bei Gottfried nicht um eine klassische Waldleben-Szene wie beispielsweise bei Béroul oder Eilhart handelt, sondern, dass es der Leser mit einer besonderen Höhle zu tun bekommt:

[…] was der Minnen benant:

la fossiure a la gent amant,

daz kiut: der minnenden hol. (16699–16701)

Dass die Grotte der Liebesgöttin gewidmet ist, zeigt auch ihre Form und Bauart. Sie führt in den Berg hinab und ist rund, weit, hoch und steil mit schneeweißen, glatten Wänden. Die Decke bildet ein Gewölbe, das oben in einen kronenförmigen, mit Schmiedearbeit verzierten und Edelsteinen ausgelegten Schlussstein mündet und der Boden besteht aus grünem Marmor. Einziges erwähntes Möbelstück ist das in der Mitte der Grotte erhöht stehende Bett aus Kristall, dessen Gravur es der gottinne Minne (16723) weiht.

Besonderes Augenmerk legt Gottfried des Weiteren auf die Beschreibung der drei kleinen Fenster und der ehernen Tür der Grotte. Innen an der Tür sind zwei einander zugewandte Riegel, einer aus Zedernholz und der andere aus Elfenbein sowie ein goldenes Schnappschloss angebracht, das mittels einer verborgenen Klinke aus Zinn von außen bedient werden kann.

2.2 Tristan und Isoldes Leben in der Minnegrotte

Mit Harfe, Horn, Jagd-Armbrust und Schwert ausgestattet verlassen Tristan und Isolde in Begleitung von Kurvenal und des Jagdhundes Hüdan Markes Hof. Zurück bleibt Brangäne, um vielleicht doch noch eine Versöhnung mit dem König in die Wege zu leiten. Nach Erreichen der Minnegrotte wird auch Kurvenal an den Hof zurückgesandt. Er soll die Botschaft verbreiten, das Paar wäre nach Irland gefahren und alle zwanzig Tage Nachrichten zur Minnegrotte bringen. Schließlich ist das Paar endlich und erstmals völlig alleine:

si haeten eine gerade schar:

dane was niuwan ein und ein. (16852f.)

Trotz der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit in der Wildnis mangelt es in Gottfrieds fantastischer Version Tristan und Isolde an nichts. Sie können auf herkömmliche Nahrung verzichten, denn sie werden durch das sogenannte Speisewunder durch die Liebe im Anblick des Gegenübers ernährt. Außerdem erleben sie einen immerwährenden Frühling im Rahmen des Wetterwunders. Selbst an höfischer Gesellschaft, die sogar den Glanz des Artushofes übertrifft, fehlt es den beiden dank der üppigen Fauna und Flora des Paradiesgartens nicht:

ir zweier geselleschaft

diu was in zwein sô herehaft,

daz der saelige Artûs

nie in dekeinem sînem hûs

sô grôze hôhgezît gewan […] (16859-16863)

Der Tagesablauf des Liebespaars verläuft in einem kontinuierlichen, ungewöhnlich straffen Zeitplan. Nach dem morgendlichen Spaziergang erzählen sich Tristan und Isolde antike Geschichten unglücklicher Liebe, bevor sie in der Mittagshitze zum gemeinsamen Musizieren mit Harfe und Gesang in die Minnegrotte zurückkehren. Von Zeit zu Zeit gehen sie auch auf die Jagd, aber nur zum Vergnügen und nicht um Beute zu erlegen, wie Gottfried betont.

Während Béroul und Eilhart die Verbannung vom Hof als Tiefpunkt in der Geschichte Tristan und Isoldes schildern, verleiht ihr Gottfried besondere Bedeutung, worauf die fantastisch-mythischen, aber auch sakralen Elemente hinweisen. Diese Vielfalt an teilweise widersprüchlichen Bedeutungsinhalten macht es schwer, wenn nicht gar unmöglich die Minnegrottenszene eindeutig zu interpretieren.

3 Forschungsfrage und Hypothesen

Der derzeitige Forschungsstand weist eine sehr große Uneinigkeit in Bezug auf die Interpretation bzw. Lesart der Minnegrottenepisode auf. In diesem Zusammenhang lässt sich auch keine eindeutige Zuordnung zu einer Raumtheorie vornehmen, weshalb sich die Frage stellt: Ist Gottfrieds Minnegrotte ein Paradoxon der Raumkonzeption?

Hypothesen:

- Da die Minnegrottenszene sowohl von mythischen Elementen, als auch von der Einmischung des Zufalls und der symbolischen Sinngebung des Ortes gekennzeichnet ist sowie darüber hinaus über eine Schwelle verfügt und Orte vereint, die nicht miteinander verträglich sind, kann davon ausgegangen werden, dass es sich gleichermaßen um einen mythischen Raum nach Ernst Cassirer, eine Heterotopie nach Michel Foucault und einen Chronotopos nach Michail Bachtin handelt.
- In allen drei Raumtheorien spielt neben dem Element des Raumes auch jenes der Zeit eine Rolle, um besondere Räume zu definieren. Es ist anzunehmen, dass auch die zeitliche Ausgestaltung des Lebens in der Minnegrotte, in Form von Heterochronien oder verändertem Zeitkonzept, sowohl dem mythischen Raumkonzept als auch der Heterotopie und dem Chronotopos zuzuordnen ist.

4 Das Element des Raumes

4.1 Die Minnegrotte als Sakralbau

Die Minnegrottenepisode ist eines der ersten Beispiele einer Minneallegorie in weltlicher Dichtung. Die Höhle an sich stellt ein Symbol der Reinheit der wahren Liebe dar und es scheint, als habe Gottfried diesen Raum schon in der Absicht geschaffen, ihn anschließend allegorisch auszudeuten. Es handelt sich um ein Werk spiritualer Baukunst, das sich aus den der Liebe innewohnenden Tugenden zusammensetzt. Auch das Wunschleben der Protagonisten gleicht dem Bild einer idealen, über alle menschlichen Bedürfnisse erhabenen Existenz auf der Basis purer Liebe.

Friedrich Ranke3 ortet das Gattungsvorbild für Gottfrieds Grottenallegorie in der theologischen Literatur, aber nicht im Sinne jener geistlichen Dichter, die das Herz des Gottesfürchtigen als Palast Christi schildern, sondern er zieht Vergleiche mit der allegorischen Ausdeutung der Kirche. Das christliche Gotteshaus wird einerseits allegorisch-symbolisch auf die ecclesia spiritualis, die Gemeinde der Gläubigen und andererseits tropologisch oder mystisch-moralisch als das Abbild der menschlichen Seele ausgedeutet.

Gottfrieds Allegorese der Minnegrotte folgt dem Typus und Schema der tropologisch-mystischen Ausdeutung des Kirchengebäudes, wodurch es zu einer Gleichstellung der Liebesgrotte mit dem Tempel Gottes kommt. Diese nie dagewesene weltliche Allegorie wurde in der Forschung nicht selten als Häresie oder gar Blasphemie gewertet.4 Des Weiteren verwendet Gottfried zur Bezeichnung der Grotte mehrmals den Ausdruck clûse (u.a. 17223), der eindeutig dem religiösen Wortschatzbereich entstammt. Auch der Verzicht auf leibliche Nahrung und der aus Geschichtenerzählen und Singen bestehende Tagesablauf erinnern an ein eremitenhaftes, Gott geweihtes Leben, sodass Ranke schlussendlich von „einer in die Sphären religiöser Andacht emporgesteigerten Liebesverherrlichung, einer Liebesreligion“5 spricht, deren Oberhaupt nicht Gott, sondern die gottinne Minne ist.

Die Tatsache, dass die Ausgestaltung der Grotte einem Sakralbau gleicht und ihre symbolische Auslegung, lassen sich nun mit verschiedenen Raumkonzepten in Verbindung setzen. So spricht für eine Heterotopie nach Foucault6, dass hier Orte vereint werden, die in mehrerlei Hinsicht nicht miteinander verträglich sind, denn der Leser wird von Gottfried mit einem Zufluchtsort für ein ehebrecherisches Liebespaar konfrontiert, der zugleich ein Tugendgebäude darstellt. Außerdem ist die Rede von einer vorzeitlichen, von unzivilisierten Riesen erbauten Höhle in der Wildnis, die dennoch über die kunstvolle Architektur einer Kathedrale verfügt.

Für einen Chronotopos spricht in diesem Zusammenhang die symbolische Sinngebung, der der gesamte Innenraum der Grotte unterzogen wurde. Des Weiteren ist eben dieser besondere Raum der Grotte angefüllt mit historischer Zeit, wodurch es zu einer Verschmelzung von räumlichen und zeitlichen Momenten und Merkmalen kommt.7

4.2 Die Minnegrotte in ihrer Umgebung

4.2.1 paradisus oder locus amoenus

Die Forschung suchte selbstredend nach weiteren literarischen Vorbildern Gottfrieds. Laut Rainer Gruenter8 führte die veränderte höfische Liebesauffassung dazu, dass Thomas de Bretagne, die vermeintliche Quelle Gottfrieds, den Schauplatz des rauen Waldlebens, wie er bei Eilhart und Béroul geschildert wird, in sein Gegenteil verkehrte und einen weltlichen paradisus nach dem Vorbild der topischen Lustortschemata der mittellateinischen Dichtungslehre schuf. Es handelt sich um die Variante locus amoenus mit Schloss, wobei der Grottenraum durch seine kunstvolle Architektur als Schloss verstanden wird. In diesem Zusammenhang finden sich demnach zwei typische Schauplätze der Artusepik, der mit der Wildnis kontrastierende Lustort und das durch âventiure gefundene Schloss, denn Tristan findet die Grotte während der Jagd.

Herbert Kolb9 weist wegen des französischen Namens der Grotte, la fossiure a la gent amant und aufgrund des Bildes der Höhle in der Wildnis auf einen Zusammenhang mit der französischen Literatur jener Zeit, insbesondere dem Typus der Beschreibungen von Jenseitswanderungen, aber auch der allegorischen Minnedichtung hin. Die topische Bedeutung der Höhle ist einerseits der Übergang von irdischen zu unirdischen Gefilden und andererseits ist sie wiederum ein Sinnbild der Minne.

Für die Beschreibung der Grotte und ihrer Umgebung, aber auch des Wunschlebens greift Gottfried demnach nicht nur auf den Formelbestand des antiken locus amoenus, sondern auch des paradisus der spätantiken und mittelalterlichen Dichtung zurück. Die Plagen des irdischen Lebens werden negiert. Das Paar leidet keinen Hunger aufgrund des in geistige Zusammenhänge eingegliederten Speisewunders, es friert nicht dank dem Wetterwunder und es mangelt ihm nicht an höfischem Gefolge durch die Personifizierung des Lustortes im Gesellschaftswunder. Diese drei „Wunder“ bedeuten eine ideale Unabhängigkeit von der Realität. Weiters beschäftigt sich das ideale Liebespaar in idealem Ambiente auch mit den idealen Tätigkeiten höfischen Lebens. In diesem Sinne ist alles Nützliche aus dieser Sphäre zweckfreien Seins ausgelagert, selbst die Jagd dient dem bloßen Vergnügen. Diese Verklärung der Liebe zwischen Tristan und Isolde verlangt jedoch, dass die körperlichen Vorgänge noch weniger angesprochen werden als bisher.

Wieder ist es nicht möglich Gottfrieds Beschreibung der Minnegrotte auf einen Anspielungshorizont zu reduzieren:

„So wird der sakrale Raum der Grotte durch die antike Hirtenlandschaft paganisiert, und gleichzeitig wird die bukolische Umgebung der Grotte durch die Bernhardisch inspirierte ʽEmpfindsamkeit’ Gotfrids, der in der Grottenbeschreibung mit christlichen Symbolen arbeitet, vergeistigt und ʽromantisiert’ […]. Alle diese Beziehungen lassen sich umkehren. Denn wir können auch sagen, dass die Grotte als antike curia Veneris in einem geistlichen paradisus claustralis liegt […]“10

4.2.2 keltische Anderswelt

Was Kolb als Erzählmuster von Jenseitswanderungen oder Traumerzählungen klassifiziert, definiert Andreas Hammer11 in Verbindung mit den Kriterien des mythischen Raums und der mythischen Zeit, die noch genauer ausgeführt werden, als Typus der Beschreibung keltischer Anderswelten. Die Ausstattung der Höhlenumgebung – weniger des Innenraums – zeigt Ähnlichkeiten zur Anderswelt im keltischen Erzählgut. Dies rührt auch daher, dass die mittelalterlichen, klerikalen Kompilatoren mit den ihnen zur Verfügung stehenden rhetorischen Mitteln des locus amoenus und paradisus arbeiteten und die Schilderungen der keltischen Anderswelt ihnen bekannten Traditionen anpassten, was jedoch aufgrund der Analogie der jeweiligen Motive auch einleuchtend anmutete. Dennoch gilt auch für die Minnegrotte selbst, dass sie wie die Anderswelt dadurch gekennzeichnet ist, wundervoller und prächtiger als alles bisher Dagewesene zu sein.

Neben all den motivischen Übereinstimmungen die Bäume und Blumen, Vögel, aber auch Gewässer betreffend, ist besonders der weiße Hirsch hervorzuheben, der nicht nur erzählstrukturell, sondern auch farblich als der Anderswelt zugehörig zu betrachten ist. Dem Motiv des Hirsches misst auch Johannes Rathofer12 besondere Bedeutung zu, da erst seine Verfolgung durch Markes Jäger und die Verwechslung der Spuren des Tieres mit jenen des Liebespaares, also die wechselseitige Stellvertretung, Außenstehenden den Zutritt zur Grotte gewährt. Die epische Funktion des Hirsches wird mit dem Ende des Wunschlebens als erfüllt angesehen.

[...]


1 Jurij Lotman: Künstlerischer Raum, Sujet und Figur. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 7. Aufl., 2007. S. 530f.

2 Zitiert nach: Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu hg., ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellekommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Stuttgart: Reclam 20113.

3 Vgl. Friedrich Ranke: Die Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. In: Schriften der Königsberger gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse, 2. Jhg., H. 2. Berlin: 1925. Wieder abgedruckt in Friedrich Ranke: Kleinere Schriften. Bern: Francke, 1971. S. 10ff.

4 Vgl. Rüdiger Krohn, Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu hg., ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellekommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Bd. 3: Kommentar, Nachwort und Register. Stuttgart: Reclam 20113. S. 269.

5 Vgl. Friedrich Ranke: Allegorie der Minnegrotte. S. 16.

6 Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 20077. S. 324.

7 Vgl. Michail Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008. S. 82ff.

8 Vgl. Rainer Gruenter: Das wunnecliche tal. In: Euphorion 55 (1961), H. 4, S. 352ff.

9 Vgl. Herbert Kolb: Der Minnen hus. Zur Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan. In: Euphorion 56 (1962). H. 3, S. 231ff.

10 Rainer Gruenter: Das wunnecliche tal. S. 396.

11 Vgl. Andreas Hammer: Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg und im „Iwein“ Hartmanns von Aue. Stuttgart: Hirzel Verlag, 2007. S. 158ff.

12 Vgl. Johannes Rathofer: Der ʽwunderbare Hirsch’ der Minnegrotte. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 95 (1966), S. 34ff.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Gottfried von Straßburgs Minnegrotte. Ein Paradoxon der Raumkonzeption
Hochschule
Universität Salzburg  (Germanistik)
Veranstaltung
SE Ältere deutsche Literatur - Räume, Raumkonzeptionen und Raumwahrnehmung
Note
1
Autor
Jahr
2014
Seiten
28
Katalognummer
V992867
ISBN (eBook)
9783346356338
ISBN (Buch)
9783346356345
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gottfried von Straßburg, Minnegrotte, Tristan und Isolde, locus amoenus, Ort, Zeit, keltische Anderswelt, Chronotopos, Heterotopie, Michail Bachtin, Michel Foucault
Arbeit zitieren
Mag. Marion Koppenberger (Autor:in), 2014, Gottfried von Straßburgs Minnegrotte. Ein Paradoxon der Raumkonzeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/992867

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