1. Theoretischer Teil:
1.1. Einleitung und Fragestellung
In unserer Lehrveranstaltung „Experimentalpraktikum II“ beschäftigten wir uns mit dem Thema: „ ARBEITSGEDÄCHTNISKAPAZITÄT UND ZEITREPRODUKTION “. Gegenstand der Untersuchung waren folgende Fragestellungen:
Gelingt es der Versuchsperson die Zeit genauer zu reproduzieren d.h. die verstrichene Zeit nochmals vergehen zu lassen, wenn die Aufgabe, welche sie im ersten Teil der Untersuchung zu bearbeiten hatte einfacher zu lösen ist, als bei höherer Anforderung ? Fällt einer Versuchsperson mit hoher koordinativer Arbeitsgedächtniskapazität die exaktere Zeitreproduktion leichter, als einer Versuchsperson mit niedrigerer Arbeitsgedächtniskapazität ?
1.2. Zeiterleben, Zeitschätzung und Zeitreproduktion
Zeitreproduktion bezeichnet die Wiederherstellung eines Zeitintervalls. Das Reproduzieren eines Zeitintervalls wird dadurch erleichtert, daß Wahrnehmungsinhalte in Form von inneren Bildern (mentale Modelle) erinnert und gespeichert werden, welche zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgerufen werden können. Durch Zeitschätzung läßt sich die Dauer eines Ereignisses bzw. die Dauer zwischen zwei Ereignissen beurteilen, herstellen oder reproduzieren. Diese Dauer läßt sich entweder durch Reproduktion der Zeitspanne definieren oder mit Hilfe einer numerischen Skala, z.B. Sekunden, Minuten und Stunden darstellen. Sieht man von numerischen Skalen ab, ist die Zeitwahrnehmung eine subjektive Erfahrung im menschlichen Bewußtsein. In unserem Experiment wollen wir feststellen, inwieweit sich durch subjektive Zeitwahrnehmung die Dauer eines Ereignisses reproduzieren läßt.
Theoretische Konzeptionen zur Zeitschätzung stammen aus der Physiologie bzw. Der Kognitionspsychologie. Physiologische Modelle münden explizit in der Annahme, daß irgendwo im Organismus ein „Zeitorgan“ existiert, das quasi als innere Uhr fungiert (Aschoff, 1985, zit von Funke, 1988). Leider konnte dieses sogenannte „Organ“ bis zum heutigen Tag noch nicht lokalisiert werden. Theorien zur Zeitschätzung unterscheiden sich danach, welche Faktoren als einflußreich beim Zustandekommen
von Zeittäuschung erachtet werden. Zeittäuschung bezeichnet man als Abweichungen der subjektiv empfundenen von der innerhalb eines begrenzten Intervalls tatsächlich vergangenen Zeit. In vielen Alltagssituationen erweisen sich subjektiv erlebte und objektiv verstrichene Zeit als diskrepant.
Die Annahme besteht, daß die Exaktheit der Zeitschätzung davon abhängt, ob die Tätigkeit, welche man während des zu reproduzierendes Zeitabschnittes ausführt, einem schwer oder leicht fällt. Ein Modell zu dieser Thematik stammt von Thomas und Weaver (1975). Das „processing effort“ - Modell, welches beschreibt, daß der kognitive Aufwand, den jemand in einer gegebenen Zeit betreibt, für die Zeitempfindung ausschlaggebend ist. Somit beeinflussen Speicher- und Abrufoperationen die Zeitschätzung. Die Zeitschätzung wird als separate Aufgabe begriffen ( „temporal task“). Je höher die nicht zeitbezogenen Aufgabenanforderungen bei gleicher Gesamtzeit sind, um so kürzer wird die subjektive Zeitempfindung wahrgenommen. Um die subjektive Zeitwahrnehmung der verschiedenen Versuchspersonen zu erfassen und zu vergleichen, mußten wir in unserem Experiment auf numerische Meßinstrumente (Uhr) zurückgreifen.
1.3. Das Arbeitsgedächtnis (working memory)
Als Arbeitsgedächtnis wird ein komplexes kurzfristige Gedächtnissystem bezeichnet, welches sowohl die zu verarbeitende Information speichert, wie auch Verarbeitungsprozesse gewährleistet. Die von dem Arbeitsgedächtnis zu einem Zeitpunkt aktivierte Informationsmenge kann Gegenstand der Verarbeitung durch kognitive Operation werden. Die Konditionierung von Prozeduren und Repräsentationen ist eine eigenständige Teilaufgabe und kommt als Quelle individueller Differenzen in Frage.
Es gibt verschiedene Theorien, die das Arbeitsgedächtnis beschreiben. Das differenzierteste Modell des Arbeitsgedächtnisses geht auf den Psychologen Allan Baddeley (1986) zurück. Nach seiner Theorie hat das Arbeitsgedächtnis nur eine begrenzte Kapazität und trägt aktiv zur Bearbeitung von Informationen bei, die zur Lösung von Aufgaben notwendig sind. Es hat eine zentrale Kontrollfunktion (central executive). Diese besteht darin, die eingehenden Informationen zu selektieren und zu koordinieren. Dieses geschieht durch Aufmerksamkeitsverteilung und Zuweisung von Verarbeitungsstrategien.
Die zentrale Exekutive hat mehrere Hilfssysteme, von denen wir zwei näher beschreiben:
1.) Die artikulatorische Rückkoppelungsschleife, welche nochmals in zwei Subsysteme unterteilt wird:
a.) ein phonologischer Speicher
b.) eine artikulatorische Wiederholungsschleife
2.) das Teilsystem für visuell-räumliche Informationsverarbeitung.
Abb.1: Das Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (1986)
(aus Schönpflug/Schönpflug, 1995, S.)
Die Koordinierung ist ein notwendiger Verarbeitungsaufwand zur Regulierung und Kontrolle des Informationsflusses zwischen Verarbeitungsschritten, wenn mindestens eine schrittweise Abstufung (Kaskadenstruktur) der zu beachtenden kognitiven Prozesse unterstellt wird (Carlson und Lundy, 1992). Eine Kaskadenstruktur besteht im wesentlichen aus einzelnen Operationen einer Abfolge, die interner Natur sind, die Repräsentation im Arbeitsgedächtnis erzeugen und für weitere Operationen bereitstellen. Entstehen Verluste bei den verschiedenen einzelnen Verarbeitungsschritten, so führt dies zu zusätzlichen „Kosten“ in Folge notwendiger Wiederholungen von Verarbeitungsprozessen. Mayr und Kliegel (1993) postulieren, daß unterschiedlichen Leistungen bei Anforderungen mit sequentieller und koordinativer Komplexität auf die Instabilität temporärer Repräsentation und damit auf die Funktionsweise zurückzuführen sind. Koordinative Komplexität verweist auf Anforderungen, die nicht durch unabhängige Teilschritte bearbeitet werden können. Bei der hingewiesenen Instabilität von Repräsentationen stehen die für notwendig koordinativen Aktivitäten im Vordergrund, welche sich im erhöhten kognitiven Aufwand ausdrücken. Um die Arbeitsgedächtniskapazität der Versuchsperson zu erfassen, bedienten wir uns zweier Aufgaben:
a.) verbale Koordination („Die Buchstabenaufgabe“,siehe Anhang).
b.) figural-räumliche Koordination („Die Schiffe-versenken-Aufgabe“,s.o.), (Aufgaben nach Oberauer, 1993, S.74 ff.)
Indem wir die figural-räumliche und verbale Koordinationsfähigkeit der einzelnen Versuchsperson untersuchten, beababsichtigten wir auf die individuelle Verarbeitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses rückzuschließen. Die Aufgabe des Hauptversuchs beinhaltet zusätzlich eine dritte Anforderung an die Koordinationsfähigkeit:
den nummerischen Faktor.
Dieser nummerische Koordinationsfaktor geht auf das Berliner Intelligenzstrukturmodell (BIS) von Jäger, 1982/1984 zurück (aus Oberauer, 1993, S. 59):
(Abb. 1A: BIS von Jäger, 1982)
Jäger geht von zwei Facetten aus, welche sich in vier, bzw. drei Faktoren untergliedern lassen.
1.) „Die operative Facette“:
a.) Bearbeitungsgeschwindigkeit (B) b.) Merkfähigkeit (M)
c.) Einfallsreichtum (E)
d.) Verarbeitungskapazität (K)
2.) „Die inhaltsgebundene Facette“:
a.) verbal (V)
b.) figural (F)
c.) nummerische (N)
Für Oberauer (1993) stellt die „Verarbeitungskapazität“ den zentralen Begriff zum Verständnis des Arbeitsgedächtnisses und kognitiver Prozesse dar. Er definiert den Faktor „Verarbeitungskapazität“ nach Jäger (1982) folgendermaßen: „Verarbeitung komplexer Information bei Aufgaben, die nicht auf Anhieb zu lösen sind, sondern Heranziehen, Verfügbarhalten, vielfältiges Beziehungsstiften, formallogisch exaktes Denken und sachgerechtes Beurteilen von Information erfordern.“ (Oberauer, 1993, S. 59, nach Jäger, 1982).
1.4. Mentale Modelle
Man könnte ein mentales Modell als Konstrukt zur Kennzeichnung einer Wissensstruktur bezeichnen. Diese mentalen Modelle bestehen nur in der Kognition. Bezogen auf unseren Versuch würde das heißen, daß sich die Versuchsperson zur Zeitreproduktion kognitiver Konstrukte bedienen können, sofern es ihnen neben den Anforderungen der Koordinationsaufgaben noch gelingt.
Während der Übungsphase haben die Versuchsperson die Möglichkeit, sich ein Vorstellungsmodell der Lösungsstrategie zu entwerfen. Man kann davon ausgehen, daß verschiedene Versuchsperson auf den unterschiedlichen Gebieten (visuell, verbal und numerisch) Schwächen und Stärken haben. Auch die Zeitreproduktion wäre mit Hilfe eines mentalen Modells denkbar. Beispielsweise könnte eine Versuchsperson anhand der Erinnerung an die Ereignisse, die während des in Frage stehenden Zeitintervalls stattgefunden haben, die Dauer des Intervalls rekonstruieren oder er könnte die Anzahl der Items der zu lösenden Aufgabe als Rekonstruktionshilfe benutzen (z.B. die Zahlenreihen der Zählaufgabe, siehe Anhang).
Nach Schönpflug/Schönpflug (1995) ist es ungeklärt, inwieweit es sich bei mentalen Modellen um Vorstellungen, um Begriffe oder um Erinnerungen handelt. Hierbei stellt sich die Frage, ob mentale Modelle bewußt (explizit) oder unbewußt (implizit) sind. Zu Hinterfragen wäre auch, ob es notwendig ist, daß sie bewußt sind, denn eine innere Vorstellung setzt sich oft zusammen aus bewußtem und unbewußten, wobei man vielleicht später gar nicht mehr weiß, was einmal bewußt aufgenommen und später als unbewußt interpretiert wurde. Das Material, welches wir als menschliches Wissen bezeichnen, setzt sich zusammen aus Sprachlichem und Bildlichem, aus Erinnertem, Vorgestelltem und Gedachtem.
Nach Oberauer können kognitive Operationen als mentale Simulationen verstanden werden, die in einem semantischen Raum stattfinden. Dabei führt man vorgestellte Handlungen mit vorgestellten Gegenständen durch. Der semantische Raum umfaßt drei Dimensionen:
1. den physikalischen Raum
2. die Zeitdimension und
3. verschiedene Merkmalsdimensionen in denen mentale Inhalte verglichen und verändert werden können.
Oberauer nennt die mentalen Simulationsobjekte auch Sinnelemente („cognitive units“).
Mit diesen Sinnelementen baut man sich in einem semantischen Raum mentale Modelle auf. Diese Sinnelemente werden von ihm definiert als Objekte mit bestimmten Eigenschaften und in bestimmten Zuständen zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten.
1.5. Hypothese
„Die Arbeitsgedächtnishypothese besagt, daß die Begrenztheit der koordinativen Kapazität des Arbeitsgedächtnisses die Informationsgrundlage dieses mentalen Modells beeinträchtigen kann und so Einfluß auf die Zeitreproduktion nehmen kann“ (Dutke, 1997, Seite 60). Für unseren Versuch heißt das, daß Personen unter höheren Anforderungen an das koordinative Arbeitsgedächtnis bei der Bildung mentaler Modelle behindert sind, und somit die Zeit weniger exakt reproduzieren als Personen mit geringerer Anforderung an das koordinative Arbeitsgedächtnis. Wir gehen davon aus, daß die Zeitwahrnehmung „leerer“, d.h. „langweiliger“ und „erfüllter“, d.h. „kurzweiliger“ Zeitabschnitte durch Reizintensität, Frequenz, Dauer und Stellung der Reize beeinflußt wird. Die Frequenz und Stellung der Reize, sind für die Wahrnehmung einer zeitlichen Dauer aufeinanderfolgender Abschnitte eines Geschehens verantwortlich.
Die Reizintensität wiederum kann bewirken, daß die Aufmerksamkeit von sämtlichen anderen oberflächlichen Reizen abgelenkt wird und sich auf den intensivsten Reiz konzentriert und das Zeitempfinden komprimiert. Im allgemeinen kann man davon ausgehen, daß zeitliche Perspektive sich aus der Interaktion wiederkehrender Bedürfnisse mit Umwelteinflüßen im Sinne einer Konditionierung entwickelt (Arnold, 1993).
Die Frage in Bezug auf die Koordinationsleistung der Versuchsperson, bestand darin, festzustellen, ob die Arbeitsgedächtniskapazität und die koordinativen Anforderungen im Hauptversuch die Zeitreproduktionsleistung beeinflussen.
Versuchteilnehmer mit hoher Arbeitsgedächtniskapazität sind den Versuchspersonen mit geringer Arbeitsgedächtniskapazität in Bezug auf ihre Zeitreproduktionsleistung überlegen, wobei bei hoher koordinativer Anforderung der Unterschied noch größer sein sollte, als bei niedriger koordinativer Anforderung.