Der "eindimensionale" Mensch. Zur Aktualität von Herbert Marcuses Kritik


Thèse Scolaire, 2018

35 Pages, Note: 1

Anonyme


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Einleitung

2 „Der eindimensionale Mensch“
2.1 Rationale Irrationalität
2.2 Sprache
2.2.1 Widerspruchslosigkeit
2.2.2 Totalität
2.3 Denken
2.4 Entfremdung
2.5 Bedürfnisse
2.6 Bewusstsein
2.7 Alternativen

3 Aktuelle Analysen
3.1 Entfremdung
3.2 Bewusstsein und Bedürfnisse
3.3 Sprache

4 Vergleich aktueller Diagnosen mit der Analyse Herbert Marcuses

5 Die Herrschaft der Sprache über das Denken

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

Abstract

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach der Aktualität von Herbert Marcuse 1964 im Buch „Der eindimensionale Mensch“ formulierten Gesellschaftskritik nach. In dieser wird die herrschende Gesellschaftsordnung als von Eindimensionalität geprägt beschrieben. Sprache, Denken und Handeln sind laut Marcuse von dieser beeinflusst, Bedürfnisse und das Bewusstsein der Menschen sind manipuliert und das Subjekt ist von sich selbst entfremdet. Das bewirkt, dass das System nicht infrage gestellt werden kann, es weder sprachlich noch gedanklich möglich ist, aus gegebenen Mustern auszubrechen und strukturelle Probleme aufzuzeigen sowie Alternativen zu entwickeln.

Obwohl Autoren nicht von Eindimensionalität sprechen, werden Diagnosen erstellt, die denen Marcuses sehr ähnlich sind, auch in der heutigen Gesellschaft sind Subjekte von sich selbst entfremdet, es herrschen falsche Bedürfnisse und ein falsches Bewusstsein, die Alltagssprache ist manipuliert und unser Denken beeinflusst. Anhand moderner Analysen wird erklärt, inwie-fern und warum die Gedanken von Herbert Marcuse in der heutigen Gesellschaft aktuell sind und auch heute noch von Eindimensionalität gesprochen werden kann.

1 Einleitung

Wir leben in einer zwiegespaltenen Gesellschaft: Einerseits ist der Lebensstandard, den wir genießen hoch wie nie, es gibt unzählige Arten, das eigene Leben zu gestalten, die indivi-duelle Freiheit scheint extrem groß, gerade in Europa können die Grundbedürfnisse aller erfüllt werden. Andererseits leben wir in einer Zeit des Turbokapitalimus und der Wirtschafts-krisen. Die existierenden Atomwaffen könnten jegliches Leben auf der Erde mehrfach aus-löschen, Umweltkatastrophen sowie die Zerstörung der Umwelt nehmen immer weiter zu. 1964 veröffentlicht Herbert Marcuse das Buch „Der eindimensionale Mensch“, in dem er die Missstände der Gesellschaft wie die Bedrohung durch Atomwaffen und die Vernichtung von antikapitalistischer Opposition auf eine Ursache zurückführt: die Eindimensionalität, die durch den Kapitalismus verursacht wird und Sprache und Denken beeinflusst. All diese Diagnosen erstellte Marcuse allerdings in den 1960er Jahren, was die Frage aufwirft, ob sie trotzdem noch aktuell sind. Diese Frage versucht die vorliegende Arbeit zu beantworten, indem aktuelle, gesellschaftskritische Werke verglichen, analysiert und in Zusammenhang mit dem Werk Herbert Marcuses gebracht wurden.

Da sich Marcuses Gesellschaftsanalyse über sämtliche Teile der Gesellschaft erstreckt, war es leider nicht möglich, alle Aspekte dieser in der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen, wes-halb ich mich auf die Themen Entfremdung, Bedürfnisse und Bewusstsein sowie Sprache konzentrierte, da mir diese als wesentliche Aspekte der von Marcuse beschriebenen Ein-dimensionalität erscheinen, vor allem Entfremdung von einigen Autoren in der heutigen Gesellschaft explizit beschrieben wird, beim Thema Bedürfnisse und Bewusstsein die Medien eine wesentliche Rolle spielen und gerade diese sich in den letzten Jahrzehnten stark ver-ändert haben und mir die Sprache schließlich als wesentliches Mittel zur Verankerung der Eindimensionalität erscheint.

Zu Beginn der Arbeit werden wichtige Aspekte des Buches „Der eindimensionale Mensch“ zusammengefasst. Anschließend werden aktuelle Diagnosen verschiedener Autoren ver-glichen. Dieser Abschnitt beginnt mit Analysen der Entfremdung, wird mit Diagnosen bezüglich Bewusstsein und Bedürfnisse fortgesetzt und mit einer Analyse sprachlicher Aspekte beendet. Die in Kapitel drei vorgestellten Diagnosen werden im vierten Teil nun mit der Analyse Marcuses verglichen, wobei die Gliederung des vorhergehenden Abschnitts beibehalten wird. Da mir Sprache als wesentlich für eine Gesellschftsanalyse erscheint, wird im letzten Kapitel genauer auf diese eingegangen.

2 „Der eindimensionale Mensch“

Das Buch „Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, in dem die damalige Ordnung der Gesellschaft auf philosophischer und soziologischer Ebene kapitalismuskritisch untersucht wird, veröffentlichte Herbert Marcuse 1964 in den USA, wohin er noch vor Hitlers Machtantritt aus Deutschland flüchten konnte. Dieses Werk ist der kritischen Theorie zuzuordnen, welche sich als Aufgabe setzte, die Marxschen Gedanken weiterzuführen und zu aktualisieren. Neben Marcuse waren Adorno und Horkheimer bedeutende Vertreter dieser Denkrichtung. Außerdem wurde im Rahmen der StudentInnenproteste in den 60er Jahren immer wieder Bezug zu Herbert Marcuse und besonders zu dem Buch „Der eindimensionale Mensch“ hergestellt. Während Adorno und Horkheimer jenen Protesten kritisch gegenüberstanden, war Marcuse ihnen durchaus positiv gesinnt.

Unter Eindimensionalität versteht Marcuse den Zustand, in dem keine Opposition zum herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystem existiert und existieren kann, die Eindimensionalität der heutigen Gesellschaft ist jener Faktor, der ein Ausbrechen, eine Alternative verhindert. Diese Eindimensionalität ist in verschiedensten Lebensbereichen verankert, im Denken, der Sprache, der Politik, den individuellen Bedürfnissen, die Unterdrückung des Subjekts durch den Kapitalismus hat sich in allen Lebensbereichen manifestiert.

2.1 Rationale Irrationalität

Zu Beginn stellt Marcuse fest, dass eine „komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit“ (Marcuse, S. 21) in unserer Gesellschaft herrscht, welche eine Folge des technischen Fortschritts ist. Es ist diese besondere Unfreiheit, die das zentrale Thema des Buches ist, sie ist nämlich eng mit der Eindimensionalität der Gesellschaft verbunden.

Der technische Fortschritt nähert sich nach Marcuse jenem Punkt, an dem eine technische Weiterentwicklung eine totale Veränderung der Organisationsform der Gesellschaft notwendig machen würde, da durch diese Weiterentwicklung die Grundbedürfnisse der Menschheit mit minimalem Arbeitsaufwand befriedigt werden können. Daraus folgt, dass grundsätzlich weniger Arbeit notwendig wäre, um einen bestimmten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Diese neue Organisation der Arbeit würde vor allem aufgrund von mehr Freizeit den Lebensstandard sogar erhöhen. Die technologische Weiterentwicklung, die eben jenes möglich macht, wird durch die Art, in der unsere Gesellschaft organisiert ist, unterstützt und verstärkt - ein logischer, rationaler Vorgang. Gleichzeitig ist diese Organisationsform aber so starr, dass eben jene Änderung der Arbeitsorganisation, die notwendig wäre, nicht vollzogen wird. Die Arbeitszeiten haben nicht abgenommen, es ist notwendig, für sein Über-leben immer länger und immer mehr zu arbeiten. Dies widerspricht aber der technologischen Weiterentwicklung. In ihrer den Fortschritt unterstützenden Organisationsform ist unsere Gesellschaft also rational organisiert, in dieser Rationalität aber wird die notwendige Folge verhindert. Dies ist für Marcuse das „irrationale Element ihrer Rationalität“ (vgl. ebd. S. 37).

Es stellt sich nun die Frage, wieso nicht schon längst erkannt wurde, dass weniger Arbeitsaufwand nötig ist.

Wenn Unternehmen und Politik in einer Weise zusammenarbeiten, die eben jenen „rasenden Stillstand“ fördert, Medien den aktuellen Zustand propagieren und das Denken dahingehend beeinflussen, dass keine Opposition mehr gedacht wird, wird auch keine Alternative zu den jetzigen Produktionsweisen gefunden werden. Der Missstand, die Konsequenz des Fort-schritts wird nicht erkannt, weil unsere Gesellschaft eindimensional ist. In dieser einen Di-mension, der einzigen, die in Denken und Handeln existiert, ist es nicht möglich, die Organi-sationsform zu ändern, da es dazu eine zweite Dimension, eine reflektierende und analysie-rende, bräuchte. So verhindert eben die Eindimensionalität, die Sprache und Denken beeinflusst, den Umbau der Gesellschaft, indem sie Bedürfnisse und Bewusstsein manipuliert.

2.2 Sprache

Marcuse erklärt, dass sich die Eindimensionalität der Gesellschaft auch in der Sprache manifestiert. Der Satzbau wird vereinfacht, Sprache wird funktionalisiert, sie wird dahin-gehend verändert, dass Kritik zu formulieren nur mehr schwer möglich ist (vgl. ebd. S. 108f).

2.2.1 Widerspruchslosigkeit

Die Sprache gleicht Widersprüche an, bringt einander widersprechende Lebensbereiche zusammen, indem einander widersprechende Bestandteile eines Satzes oder einer Phrase nahtlos miteinander verbunden werden. So gibt Marcuse das Beispiel eines Atombunkers, der bei einer Aufzahlung von 1 000$ mit Gesellschaftsspielen und Fußboden ausgestattet wird. Problematisch macht diese Werbung, dass ein Atombunker, also etwas, das für die schreck-lichsten Folgen der herrschenden Gesellschaftsordnung steht, beworben wird wie etwas Alltägliches wie etwa ein Buch. Unangreifbar wird diese Aussage, weil sie vollkommen rational ist: Für einen höheren Preis werden mehr Leistungen angeboten. Dass diese Leistun-gen für einen Atombunker angeboten werden, gerät in den Hintergrund. Es wird eine rationale Aussage über eben jenen irrationalen Sachverhalt gemacht, die nicht anzufechten ist. Durch diese logische Verbindung von Gegensätzen ist es schwer, die richtige Formulierung für Kritik zu finden, da das zu kritisierende als Fakt erscheint (vgl. ebd. S. 108f).

2.2.2 Totalität

Durch die Verknüpfung von Nomen mit immer den gleichen Erläuterungen werden Phrasen laut Marcuse zu „hypnotischen Formeln“ (vgl. ebd. S. 110). Durch ständiges Wiederholen dieser hypnotischen Formeln werden diese im Subjekt verankert, es denkt nicht mehr an andere Möglichkeiten, das Substantiv und das Adjektiv zu kombinieren. So werden unver-änderbare Vorstellungen von eben diesen Nomen erzeugt, welche Marcuse totalitär nennt, da auf diese Vorstellungen nun in einer bestimmten Art reagiert wird. So wird die Äußerung einer solchen Formel laut Marcuse zum Zwang, ein bestimmtes Reaktionsmuster zu voll-ziehen (vgl. ebd. S. 110).

Durch eine individualistische Sprache - Ihr Auto, Ihre Zeitung,…- wird eine falsche Vertraulichkeit hergestellt, die dazu führt, dass nicht nur eine Angleichung zwischen Dingen und ihrer Funktion stattfindet, sondern auch eine Identifikation des Subjekts mit seiner Tätigkeit. Lese ich etwa die Zeitung, werde ich zum Zeitungsleser, fahre ich Auto zum Autofahrer, arbeite ich als Sekretär, werde ich zum Sekretär. So setze ich mich mit meiner Funktion gleich, ich setze aber auch andere mit ihrer Funktion gleich, ich sehe etwa die Supermarktverkäuferin als Supermarktverkäuferin, nicht als individuelle Person, die als Supermarktverkäuferin arbeitet. So werden Menschen etwa zu Teilen bzw. Eigenschaften des Unternehmens, in welchem sie arbeiten, sie werden entmenschlicht.

So ist diese an ihre Funktion angepasste, verkürzte, ihrer Vielfalt beraubten Sprache jene des eindimensionalen, undifferenzierten Denkens (vgl. ebd. S.114).

2.3 Denken

Betrachtet man Subjekte und Objekte im Sinne ihrer Art des Seins (Realität) und ihrer Idee (Denken), sind sie in der Realität etwas anderes als sie im Denken sind. Das was Subjekte im Denken sind, sind sie nicht in der Realität, mehrdimensionales Denken reproduziert die Realität nicht, sondern setzt ihr etwas entgegen, hält ihr seine eigene Wirklichkeit entgegen. Das vom Denken Erdachte ist aber aus Sicht der Realität reine Potenzialität. Da das Denken der Realität widerspricht, bzw. ihr nicht entspricht, macht die Verwirklichung der Gedanken die Änderung der Realität notwendig. Ist im Denken etwas, ist es in der Realität nicht. Da das Gedachte aber auf Verwirklichung drängt, bedeutet dieses Ist im Denken ein Sollen. Diese Spannung zwischen ist und sollen ist Zeichen des dialektischen, zweidimensionalen Denkens (vgl. ebd. S. 148f).

Wird das Denken aber auf seine Potenzialität reduziert, wird dem Gedachten der Drang und das Recht Realität zu werden abgesprochen, ist dieses nicht mehr fähig, zwischen dem Denken und den Objekten, die gedacht werden, zu unterscheiden. Das heißt, im Denken kann nicht mehr etwas sein, was in der Realität sein soll, sondern es wird nur noch das gedacht, was bereits in der Realität ist. Die Änderung der Realität ist also nicht mehr notwendig, da die Gedanken ihr nicht mehr widersprechen (vgl. ebd. S. 152).

Die Wissenschaften beanspruchen laut Marcuse jeglichen Wahrheitsanspruch, da sie nicht, wie das dialektische Denken, das die Realität verneinende Urteil enthalten. Die völlige Objektivität der Wissenschaften aber widerspricht der wirklichen Wahrheit, die nur dann erreicht werden kann, wenn Wahrnehmung sich von Objektivität entfernt hat, wenn Objekte nicht so wahrgenommen werden, wie sie erscheinen, sondern wenn sie in ihrer Geschicht-lichkeit als von Menschen geschaffen und verändert anerkannt werden (vgl. ebd. S. 155). Auch in der Philosophie hat sich das eindimensionale Denken insofern manifestiert, als Empirismus und Positivismus herrschen. Im Empirismus wird nicht von den Dingen abstrahiert, das einzelne Objekt ist vorherrschend. Durch den Verlust der Fähigkeit zur Verallgemeinerung verliert Philosophie ihre Notwendigkeit, sie wird immer weiter verdrängt (vgl. ebd. S. 159ff). So spricht Marcuse von einem „akademischen Sadomasochismus“ (ebd. S. 187): Intellektuelle halten den Geltungsanspruch ihrer Arbeit bewusst klein, da diese sich einerseits nicht mit wissenschaftlich oder technisch absoluten Aussagen beschäftigt, anderer-seits aber jegliche Fähigkeit zur Abstraktion aufgibt, indem sie versucht durch Empirismus diese Absolutheit zu erreichen. Auch der Positivismus, der sich auf tatsächliche Objekte be-schränkt, unterstützt und verstärkt die herrschende Organisationsform der Gesellschaft, indem eben nicht über das Gegebene hinausgegangen wird. Es wird nicht infrage gestellt, es werden keine Alternativen entworfen – genauso, wie es die herrschenden Institutionen anstreben (vgl. ebd. S. 187).

2.4 Entfremdung

Aus der oben beschriebenen Eindimensionalität in Sprache und Denken folgen drei für die heutige Gesellschaft charakteristische Phänomene: Entfremdung, falsche Bedürfnisse und ein falsches Bewusstsein.

Von Entfremdung kann gesprochen werden, wenn man sich von etwas emotional entfernt. Es kann sich um Objekte handeln, zu denen ich meinen Bezug verliere, Personen, mit denen meine Beziehung immer loser wird, die mir nichts mehr bedeuten, aber auch um mich selbst. Kann ich mich selbst nicht mehr als Ich sehen, sondern nur als jene Rolle, die ich gerade ausfülle, verliere ich die Beziehung zu mir selbst, bin ich von mir selbst entfremdet. Zwar ist nicht bedenkenlos von Entfremdung zu sprechen, wenn sich die Subjekte mit der Art, in der sie leben, mit der Rolle, die sie spielen, identifizieren. Diese Lebensweise aber ist nicht freiwillig, sie ist von der Gesellschaft vorgegeben. Dadurch, dass ich mich mit meinem fremdbestimmten Dasein identifiziere und nicht mit mir selbst, entfremde ich mich von mir. So sehe ich ausschließlich mein Dasein als Realität, und nicht mich, meine Persönlichkeit, meine Individualität. Dieses Dasein aber entspricht nur einer Dimension. Durch eben jene Identifikation geht nun die andere Dimension, mein Selbst, das, wie beim Denken beschrie-ben, dem Dasein etwas entgegensetzt, verloren. Alles geschieht nun in dieser einen Dimen-sion des Daseins, die Dimension des individuellen, selbstständigen Denkens geht verloren (Ebd. Vgl. S31).

Während die Entfremdung des Arbeiters/der Arbeiterin von der Industriegesellschaft offensichtlich war - es war klar, dass er/sie sich nicht mit einer Gesellschaft identifizieren, eine Gesellschaft unterstützen konnte, die ihn/sie offensichtlich mit psychischen und phy-sischen Methoden ausbeutet, deren lebende Negation er/sie war -, verkörpert der/die Arbei-terInn diese Negation heute weniger deutlich (vgl. ebd. S. 24). Das heißt nicht, dass diese/r nicht mehr ausgebeutet wird, doch im Gegensatz zu früher ist er/sie nicht sich selbst nahe und der Gesellschaft entfremdet, sondern eben der Gesellschaft nahe und von sich selbst entfremdet. Das bedeutet, dass er/sie sich nicht gegen die Gesellschaft auflehnen wird, identifiziert er/sie sich doch mit ihr.

2.5 Bedürfnisse

Ob eine Handlung begangen oder unterlassen, genossen oder abgelehnt wird, ist eine Frage von Bedürfnissen, welche von den gesellschaftlichen Einrichtungen beeinflusst bzw. von diesen auferlegt werden. Es kann zwischen wahren und falschen Bedürfnissen unterschieden werden.

Als falsch werden jene Bedürfnisse betrachtet, die dem Subjekt von außen „eingeimpft“ werden und Institutionen, die die Bedürfnisse beeinflussen, dazu dienen, das Subjekt zu unterdrücken. So werden etwa durch Werbung unsere Bedürfnisse dahingehend manipuliert, dass das, was von der breiten Masse gewollt werden soll, wie etwa ein neues Auto, ein Luxusurlaub, auch von ihr gewollt wird und daher kein Bedürfnis nach mehr Freiheit und einem selbstbestimmten Leben aufkommt. Im Gegenteil, die fremdbestimmten Bedürfnisse führen zum Wunsch nach Heteronomie. Um aufrührerische Gedanken zu verhindern, werden Gedanken verändert, indem Bedürfnisse erzeugt und gedeckt werden, die Unterdrückung und Entmenschlichung genießbar machen und möglicherweise verstecken (vgl. ebd. S. 44). So ist man unter eigentlich schlechten Verhältnissen, also unter der Unterdrückung des Subjekts, zufrieden. Weiters wird ausschließlich kurzweiliges Glück erzeugt, wenn diese falschen Bedürfnisse erfüllt und allgemeine Probleme nicht gelöst werden (vgl. ebd. S. 24f). Um das herrschende System zu hinterfragen, muss man sich bewusst werden, dass dieses nicht optimal ist und ein Bedürfnis nach Verbesserung entwickeln. Gerade derartige Bedürfnisse werden aber unterdrückt. So wird durch die Beeinflussung der Bedürfnisse Veränderung verhindert.

Unter dem Begriff der Freiheit herrscht nach Marcuse tatsächliche Unterdrückung, da es zwar Möglichkeiten gibt zu wählen (zwischen Waren im Supermarkt, Parteien, Lebens-weisen,…), entscheidend ist aber, dass die Wahlmöglichkeiten vorgegeben sind. So wählen wir unter diesen Möglichkeiten eben das, was unseren Bedürfnissen entspricht, und glauben, diese erfüllt zu haben. Tatsächlich können wir unsere wahren Bedürfnisse aber nicht erfüllen (vgl. ebd. S. 27). Es wird bestimmt, unter welchen Möglichkeiten wir wählen können. Diese Bestimmung der Wahlmöglichkeiten hat den Anschein, als würde frei gewählt und damit den wahren Bedürfnissen nachgegangen werden. Dies ist aber nicht der Fall, da eben die Wahl-möglichkeiten fremdbestimmt sind. Dieser Vorgang führt zu Entfremdung von mir selbst, da ich der Überzeugung bin, Bedürfnissen nachzugehen, die die meinen sind, obwohl dies nicht der Fall ist (vgl. ebd. S. 28).

2.6 Bewusstsein

Auch beim Bewusstsein unterscheidet Marcuse zwischen wahr und falsch. Wahr wäre ein Bewusstsein, das das Wahrgenommene so verarbeitet, interpretiert und schließlich in Begriffe formt, das es so genau und angebracht verarbeitet und analysiert wie möglich (vgl. ebd. S. 220).

Der hohe Lebensstandard, den wir genießen, lässt uns glauben, dass es keine gröberen Probleme auf der Welt gäbe, es ginge uns doch gut. Wir sehen nicht die Zerstörung der Umwelt, die Ausbeutung von Menschen, die dieser hohe Lebensstandard verursacht, denn unser Gewissen, welches uns dies bewusst machen würde und von uns eine Änderung verlangte, geht verloren. Daraus folgt, dass es uns als nichts Schlechtes erscheint, diesen Lebensstandard zu verteidigen, also den jetzigen Zustand aufrechtzuerhalten. Dies liegt durchaus im Interesse der herrschenden Institutionen, tun wir so doch das, was uns gesagt wird, im festen Glauben, das Richtige zu tun, zur Verbesserung oder Erhaltung des Lebens-standards beizutragen. Das führt zu einem „glücklichen Bewusstsein“ (ebd. S. 91), welches uns die Verbrechen unserer Gesellschaft, wie Umweltverschmutzung, aber auch Unter-drückung des Individuums und Totalität, akzeptieren lässt und sich ausschließlich auf einen hohen Lebensstandard besinnt (vgl. ebd. S. 26). Kurz: Laut Marcuse ist das glückliche Bewusstsein der Ansicht, dass die Realität so sein muss, wie sie ist und alle Waren vom System zur Verfügung gestellt werden (vgl. ebd. S. 103). Die Produkte des Produktionsapparats erzeugen ein falsches Bewusstsein, das „gegen seine Falschheit immun ist“ (ebd. S. 32), fördern diese Produkte doch jenen hohen Lebensstandard, der das glückliche Bewusstsein erzeugt. Dieses Bewusstsein fördert wiederum einen Lebens-stil, der sich jeder Alternative widersetzt, ist man doch von dessen Richtigkeit überzeugt und sich aufgrund eines fehlenden Gewissens keiner Probleme bewusst. So wird ein eindimen-sionales Handeln und Denken befördert (vgl. ebd. S. 32).

Um nun zu einem wahren Bewusstsein zu kommen, muss die Gesellschaft objektiv wahr-genommen und ihre Grausamkeiten müssen erkannt. Dies passiert nicht, weil die fortge-schrittenen Möglichkeiten der Gesellschaft aus Sicht der herrschenden Institutionen logisch und Beweis von technischem Können und Macht sind (vgl. ebd. S. 259).

2.7 Alternativen

Für die Befreiung aus der herrschenden Unterdrückung ist es laut Marcuse notwendig, die Technologie zu transzendieren, indem der technische Fortschritt zu Ende gebracht wird. Denn erst wenn die Grundbedürfnisse der Menschen mit einem minimalen Arbeitsaufwand erfüllt werden können und werden, kann es zu dieser Vollendung des Fortschritts kommen. Die technischen Möglichkeiten scheinen schon gegeben, allerdings müssen immer noch viele extrem harte Arbeit leisten, um überleben zu können (vgl. ebd. S. 236ff).

Auch eine Abkehr von der heutigen Überflussgesellschaft würde die Menge an gesell-schaftlichen Mitteln, die gerecht aufgeteilt werden könnten, erhöhen, da diese dann nicht mehr von wenigen verschwendet werden würden (vgl. ebd. S. 253).

Weiters könnte der Zusammenbruch der Informationsmedien, die den Kapitalismus auch in die Freizeitwelt transportieren, sowie wesentliches Mittel der Vermittlung eindimensionaler Sprache und Gedanken sind, zur Zerstörung des Systems führen (vgl. ebd. S. 257).

Marcuse setzt seine Hoffnung in jene Gruppen, die außerhalb der Gesellschaft in schreck-lichen Verhältnissen leben, die von der Politik sowie der Arbeit ausgeschlossen sind. So besteht ihre Opposition, auch wenn sie ein falsches Bewusstsein haben. Sie sehen, dass das System ihnen keinen Profit liefert. Beginnen diese Gruppen, sich zu mobilisieren und das System anzugreifen, kann dies zu einem Umsturz führen. Dies muss allerdings nicht der Fall sein, ist das Gesellschaftssystem doch kräftig genug, sich gegen diese Gruppen zu wehren und mit Waffengewalt, durch Ruhigstellung, durch finanzielle Versprechungen oder andere Art, ihre negierende Position zu vernichten. Auf jeden Fall dringt aber ein kleiner Teil der Irrationalität des Systems durch seine Mauern der Eindimensionalität, allerdings nur, wenn jene Gruppen sich erheben, bevor das System die Gefahr erkennt und die erwähnten Maßnahmen ergreift, bevor die Positionen der Außenstehenden wirksam gemacht werden können (vgl. ebd. S. 267f).

[...]

Fin de l'extrait de 35 pages

Résumé des informations

Titre
Der "eindimensionale" Mensch. Zur Aktualität von Herbert Marcuses Kritik
Note
1
Année
2018
Pages
35
N° de catalogue
V993521
ISBN (ebook)
9783346359407
Langue
allemand
Mots clés
Marcuse, Kritische Theorie, Der eindimensionale Mensch, Postmarxismus, Gesellschaftskritik, linke Theorien, Entfremdung, Frankfurter Schule
Citation du texte
Anonyme, 2018, Der "eindimensionale" Mensch. Zur Aktualität von Herbert Marcuses Kritik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/993521

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