Entstigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie in der Erwerbsarbeit

Möglichkeiten und Grenzen der Entstigmatisierung


Bachelorarbeit, 2020

70 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1 Psychische Störungen
1.1 Prävalenz
1.2 Auswirkungen
1.3 Störungsbild Schizophrenie
1.3.1 Epidemiologie
1.3.2 Ätiologie
1.3.3 Symptomatik
1.3.4 Verlauf
1.3.5 Behandlungsmöglichkeiten

2 Stigmatisierung
2.1 Prozess der Stigmatisierung
2.2 Ursachen und Funktionen
2.3 Formen
2.3.1 Grundlegende Komponenten von Stigmatisierung
2.3.2 Stigmatisierende Darstellungen in den Medien
2.4 Folgen
2.5 Strategien zur Entstigmatisierung
2.5.1 Protest
2.5.2 Aufklärung
2.5.3 Kontakt
2.5.4 Individuelle Stigmabewältigung durch Empowerment

3 Erwerbsarbeit und psychische Störungen
3.1 Die Bedeutung von Erwerbsarbeit
3.2 Arbeitsmarktsituation von Menschen mit psychischen Störungen

4 Fragestellung

5 Ausgewählte Programme zur Entstigmatisierung
5.1 Fighting the stigma because of Schizophrenia – Open the Doors
5.2 See Change

6 Möglichkeiten und Grenzen der Entstigmatisierung
6.1 Identifizierung von Möglichkeiten
6.1.1 Allgemeine Möglichkeiten
6.1.2 Möglichkeiten am Beispiel eines Workshops
6.2 Identifizierung von Grenzen

7 Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

BAG WfbM Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen

BAR . Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation

BASTA Bündnis für psychisch erkrankte Menschen

DRV Deutsche Rentenversicherung Bund

DSM-V ... Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen

EM-Renten Erwerbsminderungsrente

ICD-10 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz

WHO .. Weltgesundheitsorganisation

WPA Weltverband für Psychiatrie (World Psychiatric Association)

Einleitung

Psychische Störungen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet und genau wie körperliche Erkrankungen ein Teil des normalen Lebens. Dennoch stellen psychische Störungen ein Tabuthema dar und sind mit negativen Vorurteilen behaftet. Menschen mit psychischen Störungen gehören zu den am stärksten stigmatisierten Gruppen in der Gesellschaft (Gaebel & Priebe, 2005, 218; Stuart, 2008, 187). Oft wird das Stigma psychisch krank zum übergeordneten Merkmal, hinter dem alle Eigenschaften eines Individuums verschwinden. Obwohl alle Menschen mit psychischen Störungen von Stigmatisierung betroffen sind, hebt sich die psychiatrische Diagnose der Schizophrenie wegen der besonders starken Stigmatisierung ab (Sartorius, 2005, 245). Stigmatisierende Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Störungen entwickeln sich aus einem komplexen Stigmatisierungsprozess und resultieren häufig aus Unwissen und infolgedessen aus Vorurteilen (Häfner, 2017, 204; Hoffmann-Richter, 2000, 18). Zur Veränderung dieses Umstands wurden in den vergangenen Jahren weltweit zahlreiche Programme und Kampagnen zur Bekämpfung von Stigmatisierung durchgeführt. Allgemein kommt dem Thema der Stigmatisierung auch in der politischen und gesellschaftlichen Debatte eine immer größere Bedeutung zu (Aktionsbündnis Seelische Gesundheit, n.d., o.S.). In der Antistigma-Arbeit lassen sich bereits Erfolge verzeichnen (von Kardorff, 2010, 279). Dennoch sind Maßnahmen zur Entstigmatisierung psychischer Störungen nach wie vor erforderlich.

Stigmatisierung führt zu sozialer Ausgrenzung und zu Benachteiligungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Dies trifft auch auf den Bereich der Erwerbsarbeit zu. Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht für Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht auf Arbeit vor wie für Menschen ohne Behinderungen (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2017, 24-25). Dennoch sind Menschen mit psychischen Störungen im besonderen Maße von Arbeitslosigkeit betroffen. So ist bspw. die Arbeitslosenquote unter Menschen mit Schizophrenie um ein Vielfaches höher als in der allgemeinen Bevölkerung (Bunt, 2015, 117). Die Erwerbsarbeit stellt einen bedeutsamen Teilhabebereich dar und ist zugleich entscheidend für die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Gruber, Rauch & Reims, 2016, 143). Entsprechend hat die Exklusion aus dem Arbeitsmarkt gravierende Folgen für die Betroffenen. Daher ist es wichtig, dass Menschen mit psychischen Störungen die Teilhabe am Erwerbsleben ermöglicht wird.

Aufgrund der massiven Stigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie und dem häufigen Ausschluss aus dem Erwerbsleben hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, Maßnahmen zur Entstigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie im Kontext von Erwerbsarbeit zu identifizieren.

Aufbau der Arbeit

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird sich der Thematik genähert, indem in den Kapiteln 1 bis 3 die theoretischen Grundlagen geschaffen werden. Einleitend gibt Kapitel 1 einen Überblick über psychische Störungen im Allgemeinen, deren Epidemiologie (Abschnitt 1.1) sowie deren Auswirkungen (Abschnitt 1.2). Weiterführend erfolgt in Abschnitt 1.3 eine ausführliche Darstellung des für diese Arbeit relevanten Störungsbilds der Schizophrenie. Im Anschluss thematisiert Kapitel 2 die theoretischen Grundlagen von Stigmatisierung. Hierbei wird ein Zusammenhang zu psychischen Störungen im Allgemeinen sowie zum Störungsbild der Schizophrenie im Speziellen hergestellt. Zunächst werden zentrale Begriffe definiert, damit anschließend der Prozess der Stigmatisierung (Abschnitt 2.1) sowie die Ursachen und Funktionen (Abschnitt 2.2) beschrieben werden können. Des Weiteren werden verschiedene Formen (Abschnitt 2.3) und Folgen von Stigmatisierung (Abschnitt 2.4) sowie Strategien zur Entstigmatisierung (Abschnitt 2.5) vorgestellt. Im Fokus des dritten Kapitels steht der Teilhabebereich der Erwerbsarbeit. Neben der Bedeutung von Erwerbsarbeit (Abschnitt 3.1) wird auch die Situation von Menschen mit psychischen Störungen auf dem Arbeitsmarkt (Abschnitt 3.2) umrissen. Nach den theoretischen Ausführungen der ersten drei Kapitel widmet sich das vierte Kapitel der Fragestellung dieser Arbeit. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht folgende Forschungsfrage: Welche Maßnahmen zur Entstigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie lassen sich im Kontext von Erwerbsarbeit identifizieren? Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden in Kapitel 5 zunächst zwei ausgewählte Antistigma-Programme vorgestellt. Darauf aufbauend erfolgt in Kapitel 6 die Identifizierung von Möglichkeiten der Entstigmatisierung. Leitend hierfür sind die theoretischen Ausführungen der in Abschnitt 2.5 vorgestellten Strategien zur Entstigmatisierung. Weiterhin werden in Kapitel 6 auch Grenzen der Entstigmatisierung herausgearbeitet. Die vorliegende Arbeit schließt in Kapitel 7 mit einer Zusammenführung der wichtigsten Erkenntnisse, der Beantwortung der Forschungsfrage sowie einem kurzen Ausblick ab.

1 Psychische Störungen

Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit widmet sich zu Beginn der terminologischen Klärung des Begriffs der psychischen Störung. In Abschnitt 1.1 werden die Häufigkeit psychischer Störungen in der Bevölkerung sowie in Abschnitt 1.2 die Auswirkungen psychischer Störungen betrachtet. Anschließend wird in Abschnitt 1.3 näher auf das für diese Arbeit relevante Störungsbild der Schizophrenie eingegangen. Dieser Abschnitt beschränkt sich dabei auf einen Überblick über die Störung und stellt nicht den Anspruch an eine vollständige Beschreibung.

Anfangs sei darauf hingewiesen, dass im Rahmen dieser Arbeit überwiegend der Begriff Störung verwendet und auf die problembehafteten Begriffe Krankheit und Erkrankung verzichtet wird. Der Begriff Krankheit bzw. Erkrankung geht auf das biomedizinische Krankheitsmodell zurück (Wirtz, 2017, 1345-1346). Aus der Perspektive dieses Modells liegen für jede Krankheit eine spezifische Ätiologie und ein bestimmter Verlauf vor. Anhand dessen erfolgt die Klassifizierung einer Erkrankung. Weitere externe Faktoren wie z. B. kritische Lebensereignisse werden ausgeklammert. Das impliziert eine Fokussierung auf die Krankheit an sich und nicht auf den von ihr betroffenen Menschen (Franke, 2012, 133-135; Wirtz, 2017, 1346). Engel (1977) kritisiert an der unidirektionalen biomedizinischen Sichtweise, dass Krankheiten keinem rein körperlichen Phänomen zugeschrieben werden dürfen. Eine Trennung von Körper und Seele (Leib-Seele-Dualismus) sei nicht zielführend. Vielmehr müsse die Gesamtverfassung der betroffenen Person betrachten werden, indem psychosoziale sowie verhaltensbezogene Zustände berücksichtigt werden. Daher wurde das bio-psycho-soziale Entstehungsmodell entwickelt (Engel, 1977, 130, 132). Dieses Modell wendet sich von der dichotomen Sichtweise ab und betrachtet den Menschen als eine bio-psycho-soziale Einheit. Das heißt, es werden neben körperlich-physiologischen Faktoren auch psychologische und soziale Determinanten für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten berücksichtigt (Pech, Rose & Freude, 2010, 236). Im Kontext des bio-psycho-sozialen Verständnisses findet der Begriff der Störung Verwendung, „[…] um defizitorientierte diagnostische Einschätzungen abzulösen.“ (Ommert, 2020, 17). Vor diesem Hintergrund kann eine möglichst wertneutrale Grundlage geschaffen werden. Auch in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) und dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-V) findet der Begriff psychische Störung aufgrund seiner deskriptiven Funktion Verwendung mit dem Ziel, stigmatisierenden Assoziationen entgegenzuwirken (Franke, 2012, 82; Jäger & Jacobi, 2014, 50).

Der Begriff der psychischen Störung wird gemäß DSM-V folgendermaßen definiert:

Eine psychische Störung ist als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen. Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamem Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten. Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie z. B. der Tod einer geliebten Person, sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. (Falkai & Wittchen, 2018, 26).

Für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen ist prinzipiell nicht ein alleiniger Faktor verantwortlich, sondern vielmehr wird von einer multifaktoriellen Verursachung ausgegangen. Bei einer ungünstigen Kombination biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren scheinen Personen in Kombination mit Stressereignissen vulnerabler für die Entstehung einer psychischen Störung zu sein (Jäger & Jacobi, 2014, 48). Dieser Erklärungsansatz liegt dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell zugrunde. Vor allem in der Schizophrenie- Forschung kommt dem Modell eine bedeutende Rolle zu. Dieses wird daher in Abschnitt 1.3.2 näher erläutert.

1.1 Prävalenz

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass von den 870 Mio. in der europäischen Region lebenden Menschen jederzeit 100 Mio. von Angstzuständen und Depressionen, über 21 Mio. von Störungen durch Alkohol, über 7 Mio. von der Alzheimer-Krankheit und anderen Formen von Demenz, ca. 4 Mio. von Schizophrenie, 4 Mio. von bipolaren affektiven Störungen und 4 Mio. Menschen von Panikstörungen betroffen sind (WHO, 2006, 1).

Für Deutschland liegen Daten zur Epidemiologie basierend auf dem Zusatzmodul Psychische Gesundheit der vom Robert-Koch-Institut durchgeführten Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland vor. Die Ergebnisse der Studie beruhen auf einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe (18-79 Jahre, n=5317) und umfassen die Häufigkeit von voll ausgeprägten psychischen Störungen im Zeitraum von zwölf Monaten vor der Befragung (Jacobi et al., 2014, 79). Die geschätzte 12-Monats-Prävalenz einer psychischen Störung beträgt insgesamt 27,7%. Etwa jede dritte Frau (33,3%) und etwa jeder vierte bis fünfte Mann (22,0%) im Alter von 18 bis 79 Jahren erfüllen im Zeitraum eines Jahres die Kriterien für mindestens eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen Störungen (Jacobi et al., 2014, 81). Die Störungsgruppen mit den höchsten Prävalenzraten stellen Angststörungen (15,3%), affektive Störungen (9,3%) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7%) dar (ebd., 83). Beachtenswert ist auch die hohe Komorbidität. Im 12-Monats-Zeitraum weisen 49,8% der betroffenen Frauen und 36% der betroffenen Männer mehr als eine Diagnose auf (ebd.). Damit gehören psychische Störungen für einen erheblichen Anteil der Bevölkerung zum Leben dazu.

1.2 Auswirkungen

Die Folgen psychischer Störungen zeigen sich auf vielfältige Weise in verschiedenen Lebensbereichen. Sie wirken sich erheblich auf der individuellen Ebene der Betroffenen aus und umfassen ein breites Spektrum an Leidenszuständen, die Einfluss auf den Alltag und die Funktionsfähigkeit der Betroffenen nehmen. Auf der sozialen Ebene wird die Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz deutlich. Aufgrund von Interaktionsproblemen nehmen Betroffene häufig zahlreiche soziale Rollen nicht mehr wahr, was zu sozialer Isolation führen kann. Auch im Kontext von Erwerbsarbeit, die als ein wichtiger Teilhabebereich zu verstehen ist, kommt es zu Einschränkungen für die Betroffenen. Viele gehen ihrem Beruf nicht mehr nach oder können nicht ihr gesamtes Potenzial ausschöpfen (z. B. wegen fehlendem Konzentrations- oder Leistungsvermögen) (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation [BAR] e.V., 2010, 21; Jacobi & Müllender, 2017, 7-11).

Das Resultat sozialer und beruflicher Schwierigkeiten spiegelt sich in einer drastisch reduzierten Lebensqualität wider. Der Leidensdruck kann so groß sein, dass der einzige Ausweg im Suizid gesehen wird. Die Wahrscheinlichkeit durch Suizid zu sterben, beträgt bei Menschen mit depressiven Störungen, von Schizophrenie Betroffenen, bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit und bei Menschen mit biopolaren Störungen 4 bis 10% (BAR, 2010, 21; Jacobi & Müllender, 2017, 8).

Weiterhin ist problematisch, dass psychische Störungen – im Vergleich zu körperlichen Erkrankungen – für Außenstehende, aber auch für die betroffene Person selbst, nicht äußerlich sichtbar sind. Dies kann zu einer fehlenden Krankheitseinsicht und folglich zu einer Verweigerung der Mitarbeit im therapeutischen Rahmen, aber auch zu mangelnder Unterstützung durch das soziale Umfeld führen (BAR, 2010, 17).

Neben dem störungsbedingten Belastungserleben werden Betroffene häufig auch mit stigmatisierenden Einstellungen der Öffentlichkeit konfrontiert. Das bedeutet, dass zu den belastenden Auswirkungen der Störung an sich eine weitere Hürde – nämlich die der Stigmatisierung– genommen werden muss, die bspw. eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit zusätzlich erschwert (ebd.).

Nachdem nun eine einheitliche Grundlage zum Verständnis psychischer Störungen geschaffen wurde, gibt das folgende Kapitel einen Überblick über das in dieser Arbeit im Fokus stehende Störungsbild der Schizophrenie.

1.3 Störungsbild Schizophrenie

Der Begriff der Schizophrenie wurde von den Psychiatern Emil Kraeplin und Eugen Bleuler geprägt, die das Störungsbild der Schizophrenie bereits im 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert beschrieben. Ursprünglich bezeichnete Kraeplin das Störungsbild als Dementia praecox, was als vorzeitige Verblödung verstanden werden kann und durch eine ungünstige Verlaufsform der Störung im Sinne einer gravierenden Persönlichkeitsveränderung gekennzeichnet ist (Möller, 2015, 156; Rey, 2011, 800-801). 1911 führte Bleuler die neue Bezeichnung Schizophrenie ein (Möller, 2015, 156; Paulitsch, 2019, 115). Er verfolgte damit das Ziel, einen weniger abwertenden Krankheitsbegriff zu etablieren (Finzen, 2013a, 89) und lehnte damit gleichzeitig Kraeplins Annahme der unabwendbaren Verblödung (dementia), d. h. der schlechten Prognose im Hinblick auf den kognitiven Leistungsabfall, sowie einen stets frühen Beginn der Störung (praecox) ab (Gonther, 2017, 244).

Der Begriff Schizophrenie stammt aus dem Altgriechischen und ist ein künstlich gebildetes Wort, was wörtlich übersetzt gespaltenes Zwerchfell bedeutet (Gonther, 2017, 242). Das Wort Zwerchfell (griech.: phren) ist hier synonym zu dem Wort Geist zu verstehen. Der Zusammenhang von Zwerchfell und Geist lässt sich auf die antike Vorstellung zurückführen, „[…] dass in der Mitte zwischen Brust und Bauch der Sitz der menschlichen Seele und des personalen Geistes anzunehmen sei.“ (ebd.). Mit dem griechischen Begriff schizoein (dt.: spalten) verdeutlicht Bleuler die „[…] Aufspaltung der inneren Wesensglieder Denken, Fühlen, Wollen und Handeln sowie die Ablösung des Gefühls der Ich-Identität, also der personalen Einheit, vom gesamten Erleben.“ (Gonther, 2017, 243).

Die Schizophrenie kommt in allen Kulturkreisen vor und zeichnet sich durch ein heterogenes Erscheinungsbild und vielfältige Verlaufsformen aus (Caspar, Pjanic & Westermann, 2018, 83; Rey, 2011, 800, 802). Bereits nach Bleulers Verständnis handelt es sich nicht um eine einzelne Krankheit, sondern vielmehr um eine Gruppe der Schizophrenien (Rey, 2011, 799). Aus gegenwärtiger Sicht beschreibt Paulitsch (2019) das Störungsbild folgendermaßen: „Die Schizophrenie wird derzeit als heterogene Krankheit des Gehirns mit unterschiedlichen Ausprägungen und Verläufen definiert und weist eine Kombination von Symptomen, wie Wahnphänomene, Halluzinationen, Ich-Störungen, formale Denkstörungen, Störungen des Affekts und psychomotorische Auffälligkeiten auf.“ (ebd., 116). Somit wirkt sich die Störung beträchtlich auf die Wahrnehmung, die Gedanken, das Bewusstsein bzw. das Ich-Erleben und den Antrieb sowie die Psychomotorik aus (BAR, 2010, 26; Rey, 2011, 799).

1.3.1 Epidemiologie

Bei der Betrachtung epidemiologischer Studien zeigt sich, dass weltweit etwa 1% der Gesamtbevölkerung von einer Schizophrenie betroffen ist (Lebenszeitrisiko) (Paulitsch, 2019, 116). In Deutschland erkranken während eines Jahres zwischen zehn und 20 Menschen pro 100.000 Einwohner neu (Inzidenz) (Gonther, 2017, 278). Männer und Frauen sind von der Störung etwa gleichermaßen betroffen. Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich jedoch hinsichtlich des Erkrankungsalters feststellen: Bei Männern wird häufig zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr, bei Frauen zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr eine Diagnose gestellt (Caspar et al., 2018, 85).1

Komorbidität

Schizophrene Störungen gehen oftmals mit anderen psychischen Störungen einher. Zu den häufigsten komorbiden Störungen zählen Abhängigkeitserkrankungen, wie Nikotin-, Alko-hol-, und Drogenabhängigkeit. Ebenso sind aber auch soziale Phobien oder Panikstörungen vertreten (Caspar et al., 2018, 86; Möller, 2015, 181).

1.3.2 Ätiologie

Nach heutigen Theorien zur Ätiologie wird von einer komplexen multifaktoriellen Verursachung der Schizophrenie ausgegangen. Die Störung wird demzufolge nicht von einem Einzelfaktor ausgelöst, sondern vielmehr durch das Zusammenspiel medizinisch-biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren (Caspar et al., 2018, 86). Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes hat sich die Integration der verschiedenen Faktoren in das sog. Vulnerabilitäts-Stress-Modell bewährt (ebd.). Bei der Entstehung der Störung steht die genetische Vulnerabilität im Mittelpunkt, die Rey (2011) wie folgt definiert:

Unter Vulnerabilität (engl. »vulnerability« = Verletzlichkeit) versteht man eine Prädisposition, die den Ausbruch einer Erkrankung begünstigt, aber als alleinige Ursache dafür nicht ausreicht. Diese Verletzlichkeit führt dazu, dass bestimmte äußere Einflüsse, im Vulnerabilitäts-Stress-Modell allgemein definiert als Stress, mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch der Erkrankung führen. (ebd., 832).

Wenn also mehrere Stressereignisse in bestimmter Weise mit der individuellen Disposition einer Person zusammenwirken, können sie das Auftreten der schizophrenen Symptomatik begünstigen (Bäuml, 2008, 34). Bei Personen mit einer niedrigen Vulnerabilitätsschwelle „[…] können Stressfaktoren wie kritische Lebensereignisse (sog. life events), alltägliche Stressoren, oder deren Kombination mit höherer Wahrscheinlichkeit zur Entstehung oder Aufrechterhaltung von Symptomen führen.“ (Caspar et al., 2018, 86). Demnach muss eine Person mit einer hohen Vulnerabilitätsschwelle einem erheblichen Ausmaß an Stress ausgesetzt sein, um für die Störung anfällig zu sein. Es wird vermutet, dass zur Entstehung der Störung ca. 70% genetische und ca. 30% nicht genetische Faktoren beitragen (Paulitsch, 2019, 116-117).

Auf medizinisch-biologischer Ebene spielen genetische Faktoren eine entscheidende Rolle (Caspar et al., 2018, 86). Auf der Grundlage von zahlreichen Familien-, Zwillings- und Adoptivstudien zeigt sich eine familiäre Häufung. Das bedeutet, dass das Risiko, selbst an einer Schizophrenie zu erkranken, mit dem Verwandtschaftsgrad steigt (Möller, 2015, 157; Paulitsch, 2019, 117). Aber auch „[…] prä- und perinatale Traumata (z. B. Geburtskomplikationen oder Virusinfektionen) und neurobiologische Veränderungen (z. B. dopaminerge Dysfunktion)“ (Caspar et al., 2018, 86) können die Vulnerabilität erhöhen.

Zu den psychologischen Faktoren zählen bspw. kognitive Defizite im Sinne einer Störung der Informationsverarbeitung (Finzen, 2013a, 143) oder kognitive Verzerrungen wie die Neigung zum voreiligen Schlussfolgern (Caspar et al., 2018, 86).

Ein geringer sozioökonomischer Status und die stigmatisierenden Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Schizophrenie wirken auf der sozialen Ebene und können zu einer Störungsentstehung bzw. Aufrechterhaltung beitragen (ebd., 86-87).

1.3.3 Symptomatik

Die schizophrene Störung zeichnet sich durch eine Vielzahl an verschiedenen Symptomen aus, welche das Erleben und Verhalten der Betroffenen bestimmen. Dies schlägt sich in einem heterogenen klinischen Erscheinungsbild nieder (Caspar et al., 2018, 83). Im Wesentlichen lassen sich die Störungsmerkmale in eine Positiv- und Negativsymptomatik unterteilen. Bei den positiven Symptomen handelt es sich um psychische Funktionen, die bei Menschen ohne diese Störung nicht auftreten. Das heißt, dem Erleben und Verhalten der betroffenen Person wird etwas Neues beigefügt. Charakteristische positive Symptome sind u. a. Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen. Die Negativsymptomatik zeichnet sich durch eine Verminderung bzw. einen Verlust des gesunden Erlebens und Verhaltens aus. Formale Störungen des Denkens, psychomotorische Störungen sowie Affektverflachung sind Teil der Negativsymptomatik (ebd.; Möller, 2015, 165-169; Rey, 2011, 802). Allerdings ist für die Diagnose Schizophrenie hauptsächlich die Positivsymptomatik ausschlaggebend (Rey, 2011, 802). Die charakteristischen Symptome der Schizophrenie können ursächlich für eine tiefgreifende Verunsicherung der betroffenen Menschen sein, da die Differenzierung zwischen ihrem eigenen, subjektiven Erleben und äußeren Einflüssen der Wirklichkeit nicht gegeben ist. Durch die erheblichen Auswirkungen auf die Wahrnehmung und die Gedanken kann die Fülle von Sinnesreizen nicht richtig verarbeitet werden, was zum Verlust des Bezugs zur Realität und folglich zu Ratlosigkeit bis hin zu schweren Angstzuständen führen kann (BAR, 2010, 26).

1.3.4 Verlauf

Verlaufsuntersuchungen ergeben eine grobe Einteilung in drei Verlaufsformen. Etwa 10-20% der Betroffenen erleben lediglich eine Einzelepisode mit kompletter Remission in ihrem Leben (Bäuml, 2008, 8). Weitere 40-60% durchlaufen eine rezidivierende Form mit teils vollständiger Remission zwischen den einzelnen Episoden (ebd.). Bei einem weiteren Drittel kommt es nach mehreren Episoden zu einer Manifestation der Störung und ggf. zu einem chronischen progredienten Residualzustand (Bäuml, 2008, 8; Gonther, 2017, 256), in dem meist die Negativsymptomatik in den Vordergrund tritt (Finzen, 2013a, 102). Bei schwerwiegenden Verläufen kommt es zu einer Entwicklung kognitiver Defizite und starker sozialer Beeinträchtigungen. All dies führt zu enormen Einbußen hinsichtlich beruflicher und sozialer Kompetenzen (Häfner, 2017, 135) sowie zu einer Begünstigung suizidaler Krisen2 (Finzen, 2013a, 103).

Wie bereits in Abschnitt 1.3.1 erwähnt, liegt das Ersterkrankungsalter zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr. Dieser Altersabschnitt stellt eine wichtige Lebensphase dar. Üblicherweise beinhaltet sie den steilsten und mitunter erheblichsten sozialen Aufstieg und umfasst bedeutsame Lebensereignisse wie den Schul- bzw. Ausbildungsabschluss, den Einstieg in das Berufsleben, die erste eigene Wohnung, das Eingehen einer festen Partnerschaft und die Familiengründung (Häfner, 2017, 142). Nach Rey (2011) sind „all dies […] Meilensteine der sozialen Entwicklung, die mit dem Beginn der Störung kollidieren.“ (ebd., 810). Bei Männern lässt sich ein prognostisch eher ungünstiger Störungsverlauf feststellen. Dies lässt sich auf das jüngere Alter bei Störungsbeginn und den damit einhergehenden niedrigeren Stand der sozialen Entwicklung zurückführen (ebd., 811). Nach Häfner et al. (1996) stellte sich bei der Untersuchung von Verwirklichungen sozialer Rollen bei Störungsbeginn Folgendes heraus: „»Ehe und Partnerschaft« sind bei 52% der Frauen verwirklicht, aber nur bei 28% der Männer. Mit den Bereichen »eigene Wohnung« (54% Frauen versus 39% Männer) und »Berufstätigkeit« (52% Frauen versus 37% Männer) verhält es sich ähnlich.“ (Häfner et al., 1996, zit. n. Rey, 2011, 810). Der prognostisch günstigere Verlauf bei Frauen lässt sich also durch einen gefestigten und höheren sozialen Status zum Zeitpunkt der ersten Anzeichen für die Störung erklären (Häfner, 2017, 148-149).

Im Allgemeinen ist die Prognose stark abhängig vom Beginn einer geeigneten Behandlung. Je frühzeitiger interveniert wird, desto günstiger ist der Störungsverlauf (Möller, 2015, 181).

1.3.5 Behandlungsmöglichkeiten

Bisher ist die Schizophrenie nicht ursächlich heilbar. Dennoch kann mithilfe der im folgenden genannten Ansätze zu einer Behandlung der Symptome und somit zur Linderung des Leidens beigetragen werden. Mindestens 60-70% der Betroffenen sind angesichts der Schwere der Störung auf eine über mehrere Jahre andauernde Therapie angewiesen. Aufgrund der multifaktoriellen Genese der Schizophrenie stellt die Behandlung ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen Behandlungsansätzen dar. Dabei sind die Pharmakotherapie, die Psychotherapie und soziotherapeutische Interventionen von zentraler Bedeutung (Rey, 2011, 835).

An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass Menschen mit Schizophrenie im besonderen Maße mit Stigmatisierung konfrontiert werden (Sartorius, 2005, 245). Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff Schizophrenie als Metapher für jegliche Sachverhalte verwendet, die in einem negativen und/oder widersinnigen Kontext stehen. Mit der Störung wird u. a. Unberechenbarkeit und Gewalttätigkeit assoziiert. Der abwertende Sprachgebrauch trägt maßgeblich zur Stigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie bei. Wegen der durch die Stigmatisierung verursachten sozialen Folgen und des enormen Leidensdrucks kann das Stigma als zweite Krankheit angesehen werden. Demnach darf im Rahmen von Therapien nicht ausschließlich die Symptomatik als solche behandelt werden, sondern der Fokus muss auch auf die Bewältigung des Stigmas gelegt werden (Finzen, 2013b, 19, 22-25). Der umfangreiche Themenkomplex der Stigmatisierung steht im Fokus des folgenden Kapitels.

2 Stigmatisierung

Menschen mit psychischen Störungen sind Stigmatisierungen auf vielfältige Weise ausgesetzt (Rüsch, Berger, Finzen & Angermeyer, 2004, 3). Das Stigma, das psychischen Störungen anhaftet, führt zu Diskriminierung (Aydin & Fritsch, 2015, 246) und gesellschaftlicher Ausgrenzung (Röhm, Hastall & Ritterfeld, 2019, 622). Vor diesem Hintergrund bietet das zweite Kapitel einleitend einen Überblick über den zentralen Begriff Stigma. Im Anschluss wird in Abschnitt 2.1 der Prozess von Stigmatisierung erläutert. Abschnitt 2.2 bietet einen Überblick über Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung. Die verschiedenen Formen von Stigmatisierung sowie die damit verbundenen Folgen werden in Abschnitt 2.3 bzw. 2.4 näher beleuchtet. Angesichts der gravierenden Auswirkungen von Stigmatisierung besteht deutlicher Handlungsbedarf hinsichtlich eines Abbaus von Stigmatisierung. Daher werden in Abschnitt 2.5 verschiedene Strategien zur Entstigmatisierung dargelegt. Im Hinblick auf das für diese Arbeit ausgewählte Störungsbild der Schizophrenie wird im vorliegenden Kapitel neben psychischen Störungen im Allgemeinen insbesondere ein Bezug zu diesem Störungsbild hergestellt.

Der Begriff Stigma findet seinen Ursprung im Griechischen und steht für ein körperliches Zeichen, das etwas Schlechtes oder moralisch Verwerfliches über den Träger des Stigmas aussagt. Diese Zeichen – z. B. in Form von Brandmarken oder Schnitten – sollten der Öffentlichkeit zeigen, dass es sich um einen Sklaven, Verbrecher oder Verräter handelt (Goffman, 1975, 9) und ihn auf diese Weise erniedrigen, seines Ansehens berauben (Häfner, 2017, 201) sowie einen Hinweis darauf geben, diese Person zu meiden (Goffman, 1975, 9).

Der Soziologe Erving Goffman legte mit seiner Abhandlung Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity den Grundstein für die Betrachtung von Stigmatisierung. Den Begriff Stigma erklärt Goffman (1975) folgendermaßen:

Während der Fremde vor uns anwesend ist, kann es evident werden, daß er eine Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen in der Personenkategorie, die für ihn zur Verfügung steht, unterscheidet […]. In unserer Vorstellung wird sie so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma […]. (ebd., 10-11).

Ein Stigma bezeichnet also eine Eigenschaft einer Person, „die zutiefst diskreditierend ist […]“ (Goffman, 1975, 11). Eine abweichende Eigenschaft wird durch die Diskrepanz zwischen dem, was von einer Person erwartet wird (virtuale soziale Identität) und dem, was die Person tatsächlich ist (aktuale soziale Identität), wahrgenommen (ebd., 10). Kommt es nun zu einer Diskrepanz, beschädigt sie die soziale Identität des Stigma Trägers und „hat den Effekt, dieses Individuum von der Gesellschaft und von sich selbst zu trennen, so daß es dasteht als eine diskreditierte Person angesichts einer sie nicht akzeptierenden Welt.“ (ebd., 30).

Hohmeier (1975) hingegen führt an, „den Begriff – nicht wie bei Goffman [Herv. i. O.] – für ein Merkmal selbst, sondern für die negative Definition des Merkmals bzw. dessen Zuschreibung zu verwenden.“ (ebd., 7). Den Stigma-Begriff bringt Hohmeier in Verbindung mit dem Begriff des Vorurteils: „Ein Stigma ist danach der Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben werden.“ (ebd., 7). Dem Träger des Stigmas werden häufig noch eine Reihe weiterer negativer Eigenschaften zugeschrieben, die unabhängig von dem tatsächlich gegebenen Merkmal sind. Diese Generalisierung wird als master status bezeichnet (ebd., 7-8).

Durch eine solche Gesamtverurteilung der Person werden andere Eigenschaften nur noch bedingt wahrgenommen: „[…] ihr Aussehen, ihr Handeln, ihr Sprechen, kurz die gesamte Person [wird] nur mehr über ihr Stigma wahrgenommen“ (von Kardorff, 2010, 283).

2.1 Prozess der Stigmatisierung

Der Begriff der Stigmatisierung beschreibt „[…] den Prozess von der Zuschreibung eines Stigmas bis zur damit einhergehenden Diskriminierung“ (Röhm et al., 2019, 617) bzw. die soziale Reaktion auf ein Stigma. Zur Erklärung des Phänomens der Stigmatisierung werden verschiedene Komponente herangezogen: Es wird zwischen Aspekten der Kognition, des Affekts sowie verhaltensbezogenen Aspekten, basierend auf den Annahmen der Stereotypisierung, Vorurteilen und der Diskriminierung, unterschieden (Rüsch et al., 2004, 4). Link und Phelan (2001) veranschaulichen den Prozess der Stigmatisierung in ihrer Ausarbeitung Conzeptualizing Stigma. Auf Grundlage dieser Konzeption definieren sie Stigmatisierung wie folgt: „Thus, stigma exists when elements of labeling, stereotyping, separation, status loss, and discrimination occur together in a power situation that allows them.“ (Link & Phelan, 2001, 377). Im Folgenden werden diese Komponenten näher erläutert.

Komponente 1 – Differenzierung und Etikettierung von Unterschieden Zu Beginn der Stigmatisierung steht die Wahrnehmung bestimmter vorhandener Merkmale einer Person. Die meisten davon werden gesellschaftlich ignoriert und stellen keine Relevanz dar (z. B. die Farbe des eigenen Autos). Ein Teil dieser Merkmale ist jedoch sozial relevant und führt zu einer Unterscheidung. Dabei handelt es sich um Merkmale, die eine Abweichung von der Allgemeinheit darstellen (Link & Phelan, 2001, 367). Diese Unterschiede bezeichnen Link und Phelan (2001) als Etikett. Andere Begriffe wie Attribut erachten sie als unpassend, da sich diese auf die Person selbst bzw. ihre innewohnenden Eigenschaften beziehen. Ein Etikett hingegen wird von außen befestigt und verdeutlicht so, dass die Identifizierung menschlicher Unterschiede ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse ist (ebd., 368). Unterschiede können bspw. aufgrund von Symptomen einer psychischen Störung identifiziert werden. Es müssen aber nicht immer sichtbare Abweichungen sein. Auch das Wissen um eine Diagnose – unabhängig davon, ob sich Symptome beobachten lassen oder nicht – ist ausreichend, um eine Person mit einem Etikett zu versehen (Schulze, 2004, 850-851).

Komponente 2 – Assoziierung mit negativen Attributen Die zweite Komponente umfasst das Etikett, welches nun mit einem negativen Stereotyp verknüpft wird. Stereotype lassen sich auf der kognitiven Ebene verorten. Sie stellen in der Bevölkerung bekannte und kollektiv vereinbarte Vorstellungen bzw. Wissensstrukturen (soziale Repräsentationen) dar. Stereotype Vorstellungen von psychischen Störungen werden schon im frühen Kindes- und Jugendalter erworben (Rüesch, 2005, 198). Mithilfe von Stereotypen lassen sich Informationen über verschiedene soziale Gruppen kategorisieren (Aydin & Fritsch, 2015, 247; Corrigan & Kleinlein, 2006, 16; Möller-Leimkühler, 2005, 46). Die Kenntnis von Stereotypen bedeutet nicht gleichsam diese zu befürworten (Rüsch et al., 2004, 4).

Bei dem ausgewählten Störungsbild der Schizophrenie gehören zu den gängigen Stereotypen Aggressivität (Wundsam, Beitinger & Kissling, 2007, 319), Gefährlichkeit, Unberechenbarkeit (Häfner, 2017, 205) und die Vorstellung, die Störung sei unbehandelbar (Meise, Sulzenbacher & Hinterhuber, 2001, 76).

Komponente 3 – Trennung Die dritte Komponente umfasst die affektive Dimension von Stigmatisierung. Wenn Menschen einem Stereotyp zustimmen, fließen Emotionen in die Einstellungskomponente ein. Dies wird dann als Vorurteil bezeichnet (Aydin & Fritsch, 2015, 247; Häfner, 2017, 204; Ottati, Bodenhausen & Newman, 2006, 99). Durch die Aktivierung negativer Stereotype kommt es zur Abgrenzung gegenüber dem Träger eines Stigmas. Die Differenzierung von wir und ihnen führt dazu, dass die Anderen als grundsätzlich verschieden angesehen werden. Im Extremfall wird ihnen die Existenz menschlicher Eigenschaften gänzlich abgesprochen (Link & Phelan, 2001, 370).

Komponente 4 – Statusverlust und Diskriminierung Am Ende des Prozesses kommt es schließlich zur Diskriminierung des Trägers eines Stigmas. „Als Diskriminierungen gelten gewöhnlich Äußerungen und Handlungen, die sich in herabsetzender oder benachteiligender Absicht gegen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen richten.“ (Hormel & Scherr, 2010, 7). Die Diskriminierung ist somit auf der verhaltensbezogenen Ebene zu verorten: Sie „benennt den Verhaltensaspekt, die Reaktion der Umwelt […]“ (Häfner, 2017, 204). Negative Eigenschaftszuschreibungen werden als Legitimation für abschätzige und benachteiligende Handlungen herangezogen (von Kardorff, 2010, 279; Link & Phelan, 2001, 370-371). Eine unausweichliche Konsequenz ist der Statusverlust. Die stigmatisierte Person wird in der sozialen Statushierarchie herabgesetzt (Link & Phelan, 2001, 371).

Ein entscheidendes Kriterium der Stigmatisierung stellt die Abhängigkeit von Macht dar. Link und Phelan (2001) betonen, dass soziale, wirtschaftliche und politische Macht notwendig ist, damit die Stigmatisierung ihre Wirkung entfaltet und es infolgedessen zu negativen Auswirkungen kommt (ebd., 375). Es bedarf also eines Machtgefälles zwischen Stigmatisierenden und Stigmatisierten.

2.2 Ursachen und Funktionen

Für die Planung von Strategien zur Entstigmatisierung ist die Kenntnis von Ursachen und Funktionen von Stigmatisierung erforderlich. Nach Haghighat (2001) lassen sich die Ursachen von Stigmatisierung auf vier Erklärungsebenen ansiedeln:

- Kognitive Ursprünge
- Psychologische Ursprünge
- Ökonomische Ursprünge
- Evolutionstheoretische Ursprünge (ebd., 207-208)

Aus den Ursachen ergeben sich auch die entsprechenden Funktionen von Stigmatisierung. Grundsätzlich erfüllen Stigmata bestimmte Aufgaben, die das soziale Zusammenleben regulieren. Dabei wirken sie auf der Mikroebene (Ebene einzelner Individuen) und Makroebene (gesellschaftliche Ebene) (Grausgruber, 2005, 24). Nachfolgend werden die vier Erklärungsebenen näher beschrieben.

Kognitive Ursprünge Kognitive Prozesse sind automatische Abläufe, die sich der bewussten Kontrolle weitgehend entziehen. Das Prinzip der kognitiven Ökonomie ist ein solcher Prozess: Um den konstanten Informationsfluss verarbeiten zu können, werden die Informationen reduziert, indem sie nach bestimmten Prinzipien sortiert werden (Gaebel, Baumann & Zäske, 2004, 876). Vor allem in Situationen, in denen Menschen Gefahr und Bedrohungspotenzial sehen, ermöglichen kognitive Prozesse schnelle Entscheidungsfindungen (Finzen, 2013b, 28). Menschen mit psychischen Störungen können bspw. als eine Bedrohung für die eigene Identität wahrgenommen werden. Zum Schutz der Identität kann mithilfe stigmatisierender Einstellungen die soziale Isolation der vermeintlich bedrohlichen Person und infolgedessen Abgrenzung zu dieser herbeigeführt werden. Dies wird „[…] durch Herausstellen der eigenen „Normalität“ und Ablehnung der Abweichung des anderen […]“ (Hohmeier, 1975, 11) erreicht. Demnach können Stigmata auf der Mikroebene als Entlastungsfunktion und damit einhergehend als Strategie zur eigenen Identitätssicherung verstanden werden (Grausgruber, 2005, 25; Haghighat, 2001, 209; Hohmeier, 1975, 22).

Im Kontext sozialer Urteilsbildung dienen Stigmata sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene der Orientierung (Grausgruber, 2005, 24, 26; von Kardorff, 2010, 279). Wie bereits erwähnt, beinhalten Stigmata bestimmte Vorstellungen und Erwartungen, die mit einer Interaktionspartnerin oder einem Interaktionspartner verknüpft werden. Auf dieser Grundlage werden Vermutungen über eine Person angestellt (Grausgruber, 2005, 24). „Stigmata strukturieren damit Situationen im voraus und erleichtern die Einstellung darauf; sie verringern Unsicherheit und stellen eine Entscheidungshilfe dar.“ (Hohmeier, 1975, 10).

[...]


1 Es wird vermutet, dass eine höhere Toleranz gegenüber schizophrenen (Früh-)Symptomen bei Frauen durch das soziale Umfeld vorliegt, sodass es zu einer zeitlichen Verzögerung der Erstaufnahme in eine Klinik kommt (Häfner, 2017, 142; Rey, 2011, 807).

2 Die Lebenserwartung Menschen mit Schizophrenie ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um mehr als 10 Jahre verringert. Ursächlich sind u. a. kardiovaskuläre Risikofaktoren (z. B. Übergewicht) und hohe Suizidraten (Häfner, 2017, 192-193). Das Suizidrisiko ist bei Menschen mit Schizophrenie im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung fünf- bis zehnmal höher (Finzen, 2013b, 71).

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Entstigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie in der Erwerbsarbeit
Untertitel
Möglichkeiten und Grenzen der Entstigmatisierung
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Rehabilitationswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
70
Katalognummer
V993904
ISBN (eBook)
9783346358516
ISBN (Buch)
9783346358523
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schizophrenie, Stigma, Erwerbsarbeit, Stigmatisierung, psychische Störungen, Entstigmatisierung
Arbeit zitieren
Rebecca Doll (Autor:in), 2020, Entstigmatisierung von Menschen mit Schizophrenie in der Erwerbsarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/993904

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