Integration als Sozialpädagogische Aufgabe. Begünstigende und hemmende Faktoren bei der Integration Geflüchteter beeinflussen


Masterarbeit, 2018

92 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was bedeutet Integration und wer sind die Geflüchteten?
2.1 Integration (Definition und Ansätze)
2.2 Wer sind die Geflüchteten?

3. Erhebungsmethode
3.1 Erhebungsmethode Experteninterview
3.1.1 Was ist ein Experte?
3.1.2 Formen von Experteninterviews
3.1.3 Dimensionen des Expertenwissens
3.1.4 Durchführung von Experteninterviews
3.2 Erhebungsmethode narratives Interview
3.2.1 Phasen des narrativen Interviews
3.2.2 Probleme im narrativen Interview

4. Auswertungsmethode Grounded Theory
4.1 Durchführung der Methode Grounded Theory

5. Darstellung derErgebnisse
5.1 Relevante Kategorien von A
5.2 Relevante Kategorien aus den Experteninterviews

6. Theoretische Rahmung derErgebnisse

7. Fazit

8. Ausblick

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang

1. Einleitung

„Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, das war nicht immerso“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, am 31.08. 2015)

„Deutschland ist ein starkes Land. (...) Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden. “ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, am 31. August in Berlin bei ihrer Pressekonferenz zur Flüchtlingskrise.)

Diese Zitate deuten eine Zeit an, in der Deutschland mit einer sogenannten Willkommenskultur Menschen begrüßt, die aufgrund von Krieg ihre Länder verlassen mussten. Es ist das Jahr 2015, das sehr prägend war für Deutschland. Aufgrund der Kriegssituationen in mehreren Ländern, wie Syrien, Afghanistan oder Irak waren viele Menschen dazu gezwungen ihr Land zu verlassen. Deutschland öffnete seine Türen für viele dieser Menschen. Parolen wie „Wir schaffen das“ von Angela Merkel und eine durchaus ausgeprägte Willkommenskultur gaben Hoffnung und Zuversicht. Drei Jahre später, heute und hier ist die Frage, was von dieser Hoffnung geblieben ist und ob das Motto „Wir schaffen das“ wirklich umgesetzt wird. Im Jahre 2015 wurden 476649 Asylanträge gestellt, allen voran Menschen aus Syrien, die dem dortigen Krieg entfliehen wollten (vgl. Forschungsbericht 28, BAMF, S. 28). Angesichts dieser Tatsache ist daher auch die Beschäftigung mit dem Thema „Integration“ sehr wichtig. Im Rahmen meiner Masterarbeit möchte ich die folgende Fragestellung bearbeiten:

„ Wie kann Integration gelingen? Welche Faktoren beeinflussen das Gelingen der Integration und welche wirken eher hemmend auf die Integration von Geflüchteten? Welche Rolle kommt der Sozialpädagogik zu?“

Um die Fragen beantworten zu können wurden zwei erzähl generierende Texte verfasst. Der Erzählstimulus, der den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten vorgesagt wurde lautete wie folgt: „Ich würde mich gerne mit dir über dein Leben hier in Deutschland unterhalten, würde gerne von dir erfahren, wie du aus deiner persönlichen Sicht deine Zeit hier erlebst? Was ist deiner Meinung nach wichtig, damit Du hier gut ankommst und gut leben kannst/ dich wohl fühlen kannst?“ Der für das Experteninterview kreierte Erzählstimulus lautet wie folgt:

„Über Integration wird ja 'viel geredet, es gibt 'viele unterschiedliche Meinungen, was sie genau ist. Wie würden Sie diesen nicht einheitlichen Begriff aus ihrer fachlichen Perspektive heraus, erfassen und welche Rolle kommt dabei der Sozialpädagogik/der Sozialen Arbeit zu?“ Bei der Beantwortung dieser Fragen war es mir wichtig, nicht nur die Situation aus der Sicht der Experten zu durchleuchten, sondern auch die Perspektive der Menschen zu zeigen, die selbst betroffen sind. Daher wurden auch zwei Interviews mit Geflüchteten durchgeführt, die zu einer besonderen Schutzgruppe gehören, nämlich zu den sogenannten unbegleiteten Minderjährigen. Im Vergleich dazu habe ich auch die Expertensicht anhand zwei, voneinander unabhängigen, Sozialpädagogen dargestellt. Wichtig war mir dabei insbesondere zu schauen, welche Prozesse im Rahmen der Integration von Geflüchteten stattfinden, wie die Sicht der Experten auf die Zielgruppe und den Anforderungen sind, die ihnen gestellt werden. Aber auch die persönliche Sicht der Geflüchteten auf ihre eigene Position und Situation in Deutschland war ein Ziel, das zu durchleuchten galt.

Die Masterarbeit beginnt neben dieser Einleitung mit einem Kapitel, der eine theoretische Rahmung von Integration aufzeigt und daran anschließend ein Überblick darüber gegeben wird, wer Geflüchtete sind. Im Kapitel drei werden die angewandten Methoden zur Erhebung dargestellt und reflektiert. Kapitel vier beschäftigt sich mit der Auswertungsmethode Grounded Theory. Sowohl die Erhebungs- als auch die Auswertungsmethode werden reflektiert. Anschließend erfolgt die Ergebnisdarstellung im Kapitel fünf, in der wichtige Faktoren des Integrationsprozess aufgezeigt werden. Dies erfolgt zunächst aus der Sicht der interviewten Jugendlichen (Kapitel 5.1) und anschließend aus der Sicht der Experten (Kapitel 5.2).

Daran schließt die theoretische Rahmung der Ergebnisse, die bestimmte Prozesse aufzeigen, welche die Integration durchaus erschweren. Die Masterarbeit endet mit einem Fazit, in der die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden und mit einem Ausblick, der als Anregung zur weiteren Reflexion gedacht ist.

2. Was bedeutet Integration und wer sind die Geflüchteten?

In Deutschland herrscht eine rege Diskussion zum Thema Integration von Geflüchteten. Was genau aber meint Integration und wer zählt zu der Gruppe der Geflüchteten? Im Folgenden möchte ich aufzeigen, welches Verständnis von Integration bislang herrschte und wie sich die Sichtweise auf diesen Begriff verändert hat.

2.1 Integration (Defmitionund Ansätze)

Integration kann sowohl als ein sozialwissenschaftlich-analytischer als auch als normativpolitischer Begriff aufgefasst werden. Dabei liegt der Fokus bei dem sozialwissenschaftlichanalytischen Verständnis von Integration darauf, wie Teilhabeprozesse von Zugewanderten in der Gesellschaft erfolgen. Aus der normativ-politischen Sichtweise werden Ziele von Integration formuliert, die aufzeigen, welches Verständnis vom Zusammenleben in der Gesellschaft vorliegen (vgl. A. Polat, 2017, S. 21).

Der Begriff Integration wird von Rinus Penninx, einem niederländischen Migrationsforscher wie folgt definiert: ,,[] a basic and at the same time comprehensive heuristic definition of integration: the process of becoming an accepted part of society“ (Penninx, 2004, S. 12 zit. nach Hoesch, 2018, S. 81). Eine weitere Definition von Integration ist: „dassMenschen sich bei der Beteiligung an den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen ihren Begabungen, ihrem Leistungsvermögen und ihrer Leistungsbereitschaft entsprechend möglichst uneingeschränkt und eigenständig entfalten können, dass sie diskriminierungsfrei arbeiten und leben können. Bezogen auf den einzelnen Zuwanderer ist es das Ziel von Integration, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, als zugehörig und akzeptiert zu werden“ (Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration, 2004, S. 233f zit. nach Hoesch, 2018, S. 81). Beide Definitionen von Integration zeigen eine Sicht auf den Begriff der Integration, in der die Teilhabe von Zugewanderten an gesellschaftlichen Prozessen im Vordergrund stehen.

In der Entwicklung des Integrationsbegriffes gab es unterschiedliche Auffassungen darüber, was sie genau ist und wie sie auszusehen hat. So kann man in alte und neue Ansätze unterscheiden. Integration kann als ein Prozess verstanden werden, in der sowohl die Zugewanderten, als auch die Aufnahmegesellschaft beteiligt werden. In diesem Zusammenhang ist Integration unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit zu betrachten, in erster Linie geht es hier um den sozialen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt und damit einhergehend auch um alle Prozesse, die sich auf soziale Mobilität, oder gleiche Zugangschancen für alle im Bildungssystem beziehen (vgl. Hoesch, 2018, S. 82). Integration kann aber auch als eine Angleichung der Verhaltensweisen, kultureller Praktiken, Werte etc. an die Aufnahmegesellschaft definiert werden. Hier spricht man die ethnischeZugehörigkeitan (vgl. ebd. S. 82).

Auch herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, was Integration ist. So gibt es die Integrationstheorie von Esser, der einen assimilativen Ansatz von Integration verfolgt. Dieser Ansatz versteht Integration als die Angleichung der Zuwanderer an die Mehrheitsgesellschaft (vgl. A. Polat, 2017, S. 21). Diese ältere Auffassung steht in Kritik, denn es folgt eine einseitige Forderung nach Anpassung seitens der Minderheitengesellschaft an die Mehrheitsgesellschaft, aber auch die Aufgabe von eigener Identität seitens der Minderheitengesellschaft ist eine Voraussetzung der diesem Integrationsverständnis zu Grunde liegt. Daher beschäftigt sich die jüngere Assimilationsforschung damit, mit diesem Verständnis von Integration zu brechen. Hartmut Esser definiert den Assimilationsbegriff wie folgt: „Assimilation bedeutet im Zusammenhang interethnischer Beziehungen zunächst ganz allgemein die „Angleichung“ der Akteure beziehungsweise Gruppen in gewissen Eigenschaften an einen „Standard“. In einem, manchmal auch bewusst zur Abwehr vorgetragenen, naiven Verständnis wird dabei oft die - mehr oder weniger erzwungene und auferlegte - Homogenisierung einer Bevölkerung und die Aufgabe kultureller, religiöser und ethnischer Identitäten gemeint, der dann gelegentlich die (offensichtlich attraktivere) Idee der einer multikulturellen Vielfalt eines friedlichen Miteinanders der verschiedenen Gruppen entgegenstellt wird“ (Esser, 2004, S. 45 zit. nach Hoesch, 2018, S. 82f).

Assimilation wird also mit einer erzwungenen Anpassung der Minderheitengesellschaft an die Mehrheitsgesellschaft assoziiert. Esser unterscheidet zwischen Sozialintegration und Systemintegration. Mit Systemintegration ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft als ein Ganzes gemeint. Sozialintegration hingegen meint den Einbezug von individuellen Akteuren in ein bestehendes Sozialsystem wie z.B. in die Gesellschaft.

Die Sozialintegration wird von Esser in vier Dimensionen aufgeteilt: die Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation. Bei Kulturation geht es um den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten, darunter fällt auch die Sprache. Platzierung zeigt auf, wie die Besetzung von Positionen in relevanten gesellschaftlichen Strukturen aussieht, darunter fällt auch der Arbeitsmarkt oder das Bildungssystem, aber auch die Rechte von Einzelnen in Bezug auf politische Partizipation, bis hin zu Einbürgerung. Die Dimension Interaktion beschäftigt sich mit sozialen Prozessen, wie die Aufnahme sozialer Beziehungen zur Aufnahmegesellschaft. Die letzte Dimension bildet die Identifikation. Hier geht es um die Entwicklung von emotionaler Zugehörigkeit zum sozialen System, in dem man sich befindet (vgl. Hoesch, 2018, S. 92). Im Assimilationsansatz nach Esser spricht man von kultureller, struktureller, sozialer und identifikatorischer Assimilation, wobei alle Dimensionen in Abhängigkeit zueinander stehen. Die Strukturelle Assimilation (Platzierung) wird in diesem Prozess als Zentral gesehen, dem folgt jedoch ein Mindestmaß an Kulturation bevor. Erst durch Platzierung wird auch Interaktion und Identifikation ermöglicht. Gegenüber dem Verständnis von Integration als Assimilation steht ein interaktionistisches Verständnis, das von Pries folgendermaßen definiert wird: „Eine so verstandene interaktionistische und teilhabeorientierte Integration setzt an der Leitvorstellung einer möglichst chancengerechten Teilhabe aller Menschen und sozialen Gruppen einer Gesellschaft [...] an. Integration ist dann vor allem ein 'wechselseitiger Verständigungsprozess und eine Einladung zur Teilnahme an allen für wichtig erachteten gesellschaftlichen Aktivitäten und Bereiche. [...] Es ist ein ergebnisoffener Prozess. Es ist empirisch nicht belegt, welche Stufenfolge zu eigenständiger Lebensführung und sozialer Akzeptanz führt. [...] Integration sollte nicht als Diktat oder „Anpassungskeule“ einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber irgendwelchen (konstruierten) Gruppen von „Anderen“ verstanden werden, Integration ist vielmehr eine Verhandlungssache, bei der es um die Teilhabechancen aller Gruppen eines Sozialgeflechtes gehtf...] Integration ist nicht eine Entweder oder Entscheidung, sondern eine Sowohl als auch Einladung bezüglich Loyalitäten, Heimatgefühlen, identitären Verortungen und Lebensperspektiven (Pries, 2014, S.52ff. Zit. nach A. Polat, 2017, S. 21). Pries Definition von Integration betont insbesondere die Wichtigkeit von Teilhabe von Zugewanderten an gesellschaftlichen Prozessen, damit einhergehend auch die Bereitstellung von Möglichkeiten wie Teilhabechancen und Chancengleichheit. Die Integration ist nicht wie bei der Assimilationstheorie nur von der Seite der Zugewanderten zu vollziehen, sondern sie versteht sich als ein gegenseitiges Verhandlungsprozess, in der auch die Aufnahmegesellschaft sich aktiv beteiligt. Um wen geht es dabei aber genau, wenn man von Geflüchteten spricht? Im Folgenden wird eine Definition aufgezeigt.

2.2 Wer sind die Geflüchteten?

Flucht ist eine spezifische Form von Migration, wobei auch eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Flucht und Migration nicht möglich ist (vgl. Mecheril, 2004, S. 38). Die Unterscheidung erfolgt jedoch nach den gesetzlichen Bestimmungen, die nicht nur unterschiedliche Zuordnungen und Etikettierungen begründen, sondern auch die Lebensumstände der Betroffenen beeinflussen (vgl. ebd. S. 38). Geflüchtete sind die Personen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention, aus dem Jahre 1951 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen (vgl. Schirilla, 2016, S. 26). Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention besagt folgendes:

„Jede Person, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose [...] außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“ (zit. nach Treibei, 1999, S. 160, zit. nach Mecheril, 2004, S. 38). Nach Artikel 16 a des Grundgesetzes kann den politisch Verfolgten Asyl gewährt werden (vgl. Schirilla, 2016, S. 26f). Die oben genannte Genfer Flüchtlingskonvention lässt sich in § 3 Abs. 1 AsylVerG (Asylgesetz) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetzes wiederfinden. Auch hier findet eine Abstufung statt. Je nach Verfolgungskonstellation können unterschiedliche Aufenthalte gewährt werden, wie z.B. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder aber auch der subsidiäre Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG). Subsidiärer Schutz schränkt den Aufenthalt der Betroffenen auf zunächst ein Jahr ein und setzt auch die Familienzusammenführung, die in Bezug auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete eine wichtige Rolle spielen, zunächst aus (vgl. ebd. S. 28). Von subsidiärer Schutz Betroffene sind unter anderem Personen, denen in ihren Herkunftsländern Gewalt, Folter, Diskriminierung, erniedrigende Behandlung und Rechtlosigkeit droht (vgl. ebd. S. 27).

Neben diesen beiden Formen der Anerkennung als Geflüchteter, gibt es zahlreiche andere Formen, die den Status der Geflüchteten in Deutschland aufzeigen, wie z.B. Asylbewerber, das sind Personen, die sich noch im Prozess des Asyls befinden, oder aber auch Geduldete, das sind Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. All die Personen bilden die Zielgruppe dieser Masterarbeit, vor allem aber die Unbegleiteten Minderjährigen Geflüchteten, die vom rechtlichen Status her als Geflüchteter nach der Genfer Flüchtlingskonvention, oder als jemand mit subsidiärer Schutz oder sogar auch als Geduldeter sein kann.

3. Erhebungsmethode

Im Rahmen der Masterarbeit kamen zwei verschiedene Erhebungsmethoden zur Anwendung. Für das Interview mit den beiden Sozialarbeitern wurde die Methode des Experteninterviews und für die Jugendlichen ein ursprünglich narratives Interview, welches allerdings in einen offenen Leitfadeninterview überging, verwendet. Im Folgenden werden diese beiden Erhebungsmethoden vorgestellt und begründet.

3.1 Erhebungsmethode Experteninterview

Das Experteninterview gehört zu den am häufigsten verwendeten Methoden der empirischen Sozialforschung, die sowohl als eigenständiges Verfahren als auch im Rahmen von Methodentriangulation (verschiedene Methoden untersuchen ein Phänomen) eingesetzt wird. Lange Zeit war die Methode wenig in der Literatur vertreten, erst seit den 1990er Jahren erfuhr dieser einen Aufschwung, jedoch wird in den gängigen Lehr- und Handbüchern noch immer das Experteninterview nur kurz erwähnt (vgl. Meuser und Nagel, In: Pickel u.a., 2009). Einigkeit herrscht darüber, dass es sich beim Experteninterview um eine qualitative Methode der Sozialforschung handelt. Das Ziel der Methode ist vor allem die Rekonstruktion komplexer Wissensbestände. Die Methode wird vor allem zur explorativen Zwecken eingesetzt, wobei sie ein, wenig strukturiertes, Erhebungsinstrument bildet (vgl. Meuser und Nagel, In: Pickel u.a. 2009, S. 465). Obwohl sie wenig Beachtung in den Hand- und Lehrbüchern erhält, wird sie trotzdem als ein Verfahren beschrieben, das bei „geeigneten Personen zeiteffektiv und erfahrungsgestütztes Expertenwissen abholen kann (vgl. ebd. S. 466). Das Experteninterview stellt somit ein Instrument der Datenerhebung dar, das auf einen spezifischen Modus des Wissens bezogen ist, nämlich dem Expertenwissen (vgl. ebd. S. 466). Was genau ist aber ein Experte, welche Merkmale und Eigenschaften machen einen Experten aus? Diese Frage wird im Folgenden erläutert.

3.1.1 Was ist ein Experte?

Wie der Name der Erhebungsmethode Experteninterview bereits zeigt, steckt das Wort „Experte“ darin, das wiederum heißt, dass man sich genauer mit dem Begriff des Experten auseinander setzen muss. Experte kommt aus dem lateinischen „expertus“ und bedeutet erprobt, bewährt. In Lexika werden Experten als Sachverständige, Fachleute oder Kenner beschrieben (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 9). Der Begriff an sich geht zurück zu Alfred Schütz, der eine Unterscheidung von drei Idealtypen des Wissens vornimmt. Dies sind der „Experte“, „der Mann auf der Straße“ und der „gut informierte Bürger“ (Schütz, 1972). Daran schließt die wissensoziologische Diskussion an, in der die Unterscheidung von Experte und dem Laien gemacht wird (vgl. Meuser und Nagel, In: Pickel u.a. 2009, S. 467). Hitzier, Honer, Maeder bezeichnen den Experten alsjemanden, der sich durch eine „institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit“ auszeichnet. Bogner und Menz zeigen ebenfalls die Rolle des Experten darin auf, dass sie in der Praxis in einem bestimmten organisationalen Funktionskontext hegemonial werden und so die Handlungsbedingungen anderer Akteure in relevanter Weise mitstrukturieren (vgl. ebd. S. 467). Die erworbene Expertise ist somit sozial institutionalisiert und an einen spezifischen Funktionskontext gebunden (vgl. ebd. S. 468).

Allgemein lässt sich sagen, dass Experten zu einer Funktionselite gehören, die über ein besonderes Wissen verfügen. Dieses Wissen bezieht sich vor allem auf soziale Sachverhalte, die mit Hilfe des Experteninterviews erschlossen werden können (vgl. Gläser/ Laudel, 2006, S. 9f.). Das besondere Wissen, der in die Situation und Prozesse involvierten Menschen, werden dem Forscher durch die Methode zugänglich gemacht und so die Rekonstruktion von Sachverhalten ermöglicht (vgl. ebd. S. 11). Experten sind somit Menschen, die aufgrund ihrer Beteiligung an sozialen Sachverhalten über Expertenwissen verfügen, beziehungsweise diese erworben haben (vgl. ebd. S. 11).

Weiterhin gibt es in der Methodendebatte die Auffassung, dass Experten bis zu einem bestimmten Grad auch ein Konstrukt des Forschers sind. Der Expertenstatus wird in dieser Auffassung der Person durch den Forscher verliehen (Meuser und Nagel In: Pickel u.a. 2009, S. 466). Es findet eine Zuschreibung vom Forscher statt. Diese Definition des Experten ist aber unzureichend, denn sie begünstigt die Nivellierung des Gefälles zwischen Experten und Laien (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 11). Die Zuschreibung des Forschers erfolgt durch gesellschaftliche Konventionen, die aufzeigen, dass ein Experte jemand ist, der in herausgehobenen sozialen Positionen agiert und somit eindeutig zugeordnet werden kann. Experten sind demnach Personen in einer Expertenkommission oder in Beratungsgremien tätig, oder sie besitzen Professorentitel oder Ähnliches (vgl. ebd. S. 11). Meuser und Nagel definieren den Experten als Angehörige einer Funktionselite, betonen aber auch, dass es sich bei bestimmten Berufsgruppen, wie zum Beispiel Sozialarbeiter oder Personalräte irreführend klingt (vgl. Meuser und Nagel, In: Garz und Kraimer, 1991, S. 443). Bogner, Littig und Menz zeigen auf, dass die Definition des Experten als „Funktionselite“ die Gefahr birgt, sich den geltenden Konventionen unkritisch gegenüber zu verhalten. Demnach ist es wichtig, dass sowohl ein spezifisches Forschungsinteresse als auch die soziale Repräsentativität des Experten gleichzeitig vorliegen. Der Experte ist dann nicht nur ein Konstrukt des Forschers wie oben genannt, sondern auch die der Gesellschaft (vgl. ebd. S. 11). Als Experte wird nach Meuser und Nagel derjenige angesprochen, der „in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung“ oder der „über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt“ (Meuser und Nagel, In: Garz und Kraimer, 1991, S. 443).

In Rahmen meiner Masterarbeit entschied ich mich jeweils zwei Sozialpädagoglnnen zu interviewen. Beide Personen sind auf der Leitungsebene in der von Jugendhilfe organisierten Jugendwohngruppen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete tätig.

3.1.2 Formen von Experteninterviews

Experten sind für die Forschung nicht nur interessant, weil sie über ein „besonderes Wissen“ verfügen, sondern vor allem auch weil sie sich in sozialen oder organisationalen Positionen befinden und somit Teil des Handlungsfeldes sind und mit ihrem Wissen und Deutungen einen breiten sozialen Kontext prägen können ( vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 17). Dennoch ist auch das Ziel an dieses besondere Wissen zu gelangen und es im Rahmen des Forschungsinteresses verwenden zu können. Es gibt drei verschiedene Formen von Experteninterviews, die in der Forschung eingesetzt werden um an das „besondere Wissen“ zu gelangen, das explorative, das systematisierende und das theoriegenerierende Experteninterview, die im Folgenden erläutert werden.

Das explorative Experteninterview hat die Funktion einer ersten Orientierung in einem thematisch neuen oder unübersichtlichen Feld. Dies kann bedeuten, dass diese Form des Interviews dazu genutzt wird eine Schärfung des Problembewusstseins zu erlangen, aber auch Dinge wie thematische Strukturierung und Generierung von Hypothesen können mit dieser Form des Experteninterviews bezweckt werden (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 64).

Die Rolle des Experten in dieser Form kann zweierlei sein, entweder bildet er selbst ein Teil des zu untersuchenden sozialen Handlungsfeldes und ist dann die zentrale Zielgruppe der Untersuchung (hier steht das Deutungswissen des Experten im Vordergrund), oder aber er dient als komplementäre Informationsquelle, der über die eigentlich interessierende Zielgruppe sein Wissen zur Verfügung stellt (hier steht das Prozesswissen im Vordergrund), (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014. S. 23).

Die explorative Form des Experteninterviews hat das Ziel zum „technischen Wissen“ oder zum „Prozesswissen“ des Experten zu erfahren.

Die zweite Form des Experteninterviews bildet das systematisierende Experteninterview, das sich an der Teilhabe vom exklusiven Expertenwissen orientiert. Der Experte ist hier der Träger vom Handlungs- und Erfahrungswissen, das er aus der Praxis gewonnen hat und reflexiv und spontan kommunizieren kann. Er übernimmt die Rolle eines „Ratgebers“ oder ist der Inhaber vom spezifischen gültigen Kenntnissen und Informationen, dem sogenannten Fachwissen (vgl. ebd. S. 24; vgl. Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 65). Hierfür wird ein ausdifferenzierter Leitfaden eingesetzt. In der Praxis wird diese Form des Experteninterviews am meisten verwendet (vgl. ebd. S. 65).

Die dritte und die letzte Form des Experteninterviews bildet das theoriegenerierende Experteninterview, in dem die kommunikative Erschließung und die analytische Rekonstruktion der subjektiven Dimension des Expertenwissens im Vordergrund stehen. Die subjektive Dimension umfasst zum Beispiel die Handlungsorientierungen, implizite Entscheidungsmaximen, handlungsanleitende Wahrnehmungsmuster, Weltbilder, Routinen etc. Dabei hat das Interview das Ziel das Deutungswissen des Experten, aus dem Datenmaterial, zu erschließen. Das Wissen ist nicht vollständig reflexiv verfügbar, sondern kann auch als impliziertes Wissen deutlich werden (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 25). Die oben genannten subjektiven Dimensionen können somit als Ausgangspunkt zur Theoriegenerierung genutzt werden. Eine analytische und interpretative Auseinandersetzung mit den empirischen Daten ermöglicht das Erarbeiten von Zusammenhängen und die Entwicklung von Theorien. Das systematisierende Experteninterview ist offener und lockerer organisiert, folgt aber dennoch einer gewissen thematischen Strukturierung (vgl. ebd. S. 25).

3.1.3 Dimensionen des Expertenwissens

In den unterschiedlichen Formen des Experteninterviews werden verschiedene Wissensformen angesprochen. Das sogenannte „Sonderwissen“ des Experten lässt sich mittels analytischer Differenzierung in drei Dimensionen wiedergeben, das technische Wissen, das Prozesswissen und das Deutungswissen. Im Folgenden werden diese drei Formen des Expertenwissens erläutert.

Das technische Wissen umfasst das Wissen über Daten, Fakten und Informationen, die dem Forscher zur Verfügung gestellt werden. Es ist das sogenannte Fachwissen des Experten. Das Charakteristische am technischen Wissen ist, dass sie über Fachspezifische Anwendungsroutinen sowie durch die Herstellbarkeit und Verfügung über Operationen und Regelabläufen hergestellt werden können (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2009, S.71). Sie dient dabei als das Wissen über Dinge oder Zusammenhänge, die objektiv sind und vom Träger des Wissens abstrahiert betrachtet werden können, weil sie personenunabhängig existieren (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 18).

Im Vergleich hierzu umfasst die zweite Dimension des Expertenwissens das Prozesswissen die Einsicht in Handlungsabläufe, Interaktionsroutinen, organisationale Konstellationen, Ereignisse etc. (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 71). Dieses Wissen zielt auf das praktische Erfahrungswissen des Experten aus seinem eigenen Handlungskontext. Die Befragten sind aufgrund ihrer praktischen Tätigkeit direkt in diese Abläufe involviert oder verfügen aufgrund der Nähe zum persönlichen Handlungsfeld, über genauere Kenntnisse (vgl. ebd. S. 71) Diese Form des Wissens ist somit stärker Standort- und personengebunden (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 18). Die dritte und damit die letzte Dimension des Expertenwissens bildet das Deutungswissen, in der subjektive Relevanzen, Regeln, Sichtweisen und Interpretationen des Experten im Vordergrund stehen. Der Experte ist nichtjemand, der einen „Wissensvorsprung“ besitzt, sondern es geht vielmehr darum die subjektive Perspektive auf Ideologien, Ideen, Erklärungsmuster etc. zu durchleuchten. Das Deutungswissen ist somit an seinen subjektiven Träger gebunden und kann nicht vom Subjekt getrennt methodisch wahrgenommen werden (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 19). Insbesondere in der theoriegenerierenden Form des Experteninterviews wird auf das Deutungswissen gezählt. Das Deutungswissen des Experten ist aber immer eine Abstraktions- und Systematisierungsleistung des Forschers, welches sich aus den Daten des Interviews erschließt (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 71).

Neben diesen drei Dimensionen, die nach Bogner und Menz erstellt wurden, gibt es in der Theorie auch die Auffassung nach Meuser und Nagel, die die Wissensdimensionen des Experten in Betriebswissen und Kontextwissen einteilen. Das Betriebswissen wird dann wichtig, wenn es um das Handeln und den institutioneilen Maximen und Regeln des Experten geht. Die Experten sind hier Entwickler und Implementeure, die Verantwortung für Programme und Maßnahmen tragen und so auch strukturelle Bedingungen der Programimplementationen rekonstruieren (vgl. Meuser und Nagel In: Pickel u.a. 2009, S. 471). Rückt hingegen das sogenannte Kontextwissen in den Fokus des Forschers, steht nicht der Experte selbst im Vordergrund, sondern die Lebensbedingungen, Handlungsweisen, Entwicklungen von bestimmten Zielgruppen, auf die das Expertenhandeln gerichtet ist und in der der Experte eine Auskunft über die Kontextbedingungen des Handelns der Zielgruppe geben soll (vgl. ebd. S. 470f).

Wie genau wird sieht aber die Durchführung von den Experteninterviews aus? Dies wird im Folgenden aufgezeigt.

3.1.4 Durchführung von Experteninterviews

Die Experteninterviews, egal welcher Form erfolgen immer anhand von konstruierten Leitfäden. Leitfädenkonstruktionen erfüllen zwei verschiedene Funktionen im Rahmen eines solchen Interviews, zum einen dienen sie zur Strukturierung des Themenfeldes der Untersuchung, zum anderen stellen sie ein konkretes Hilfsmittel dar, zu der in der konkreten Erhebungssituation zurückgegriffen werden kann (vgl. Bogner, Littig, Lenz, 2014, S. 27). Leitfäden geben somit dem Forscher in der Interviewsituation eine Orientierung. Ist das Ziel des Experteninterviews das Deutungswissen des Experten zu erschließen, plädieren Meuser und Nagel bei der Wahl eines angemessenen Erhebungsinstruments auf einen offenen Leitfaden. Steht aber die Rekonstruktion des handlungsorientierten Wissens von Experten können auch standardisierte Befragungen durchgeführt werden (vgl. Meuser und Nagel In: Bogner, Littig, Menz, 2009, S. 51). Was ein Leitfaden genau ist und wie sie verstanden wird, ist in der Literatur und der Praxis der qualitativen Forschung ebenfalls sehr unterschiedlich. So kann ein Leitfaden lediglich einige wichtige Themen beinhalten, die im Interview besprochen werden sollen, aber auch schon teilstandardisierte Formen haben, in denen bereits konkrete Fragen ausformuliert sind (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 28). Wie detailliert der Leitfaden ist häng immer vom Interesse und den Bedarf des Forschers ab (vgl. ebd. S. 28). Der Leitfaden im Experteninterview ermöglicht dem Forscher eine thematische Kompetenz zu entwickeln und damit auch ein ertragreiches Interview zu erzielen (vgl. Meuser und Nagel, in Bogner, Littig, Menz, 2009. S. 52). Die investierte Zeit in den Leitfaden bringt mit sich, dass der Forscher sich mit der Thematik ausführlich auseinander setzt und sich inhaltlich und methodisch gut auf die Interviewsituation vorbereiten kann (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 28). Das Erstellen eines Leitfadens erfolgte im Rahmen meiner Masterarbeit eher so, dass ich bestimmte Themenbereiche bezüglich des Themas Integration von Geflüchteten aufschrieb, zunächst ein Mindmap mit den mir wichtigen Punkten erstellt und im Anschluss an diese Fragen formulierte. Im Interview dienten die erstellten Fragen tatsächlich als Stütze und konnten zum Teil gestellt werden. Bei der direkten Durchführung des Interviews entschied ich mich allerdings für einen offenen Erzählstimulus, der erzählgenerierend wirken sollte. Dennoch wurde auf den Erzählstimulus nicht lange erzählt, sodass ich immer wieder mit Fragen aus dem Leitfaden andocken musste, um neue Erzählungen zu generieren.

Bei der Durchführung des Experteninterviews sind auch allgemeine Regeln zu beachten, die erheblich die Qualität der Daten beeinflussen können. Ein aktives Zuhören hilft dem Forscher während des Interviews sich auf den Inhalt der Ausführungen zu konzentrieren und ermöglicht die Einschätzung von fehlenden Informationen (vgl. Gläser/ Laudel, 2006, S. 168). Dabei ist es wichtig den Interviewpartner in seinem Redefluss nicht zu unterbrechen und Pausen, die der Interviewer benötigt auch zuzulassen. Wird dagegen diese Pause vom Forscher nicht ausgehalten und bereits mit einer anderen Frage weiterverfahren, können dabei viele Informationen verloren gehen (vgl. ebd. S. 168f.). In meiner eigenen Durchführung von den beiden Experteninterviews habe ich schwer die Pausen wirklich aushalten können, das zeigt sich in Bemerkungen wie „schwierige Frage“ etc. Im Anschluss an die Datenerhebung erfolgt die Dokumentation dieser Daten. In der Regel erfolgt eine Aufzeichnung in Form einer Tonaufnahme. Hierfür ist die Zustimmung des Interviewpartners nötig (vgl. Bogner, Littig, Menz, 2014, S. 40). In den beiden Experteninterviews ließ ich meine Experten eine Zustimmung für die Aufnahme unterschreiben. Im Anschluss erfolgt die Transkription des vorliegenden Interviews. Die Transkription sollte ganz genau erfolgen, das heißt wenn es für die Analyse der Daten wichtig ist müssen auch Pausen, Lachen, Stottern und Äußerungen wie „hm“, „mhm“ etc. ebenfalls transkribiert werden. Eine Anonymisierung der Daten muss ebenfalls bei der Transkription erfolgen (vgl. Gläser/ Laudel, 2006, S. 188f.). Bei beiden durchgeführten Experteninterviews wurden solche Äußerungen, Pausen etc. vermerkt.

Die Vorbereitung und die Durchführung der von mir durchgeführten Experteninterviews erfolgten anders als in der Theorie verwurzelt. Ich habe zur Anfang einen Erzählstimulus formuliert, mit dessen Hilfe eine Erzählung des Experten angeregt werden sollte. Die beiden Interviewten beendeten allerdings ihren Redeflussjeweils nach ein paar Minuten, sodass ich mit Fragen ansetzen musste. Für die Vermeidung solchen Fehlstarts hätte ein ausführliches Gespräch über die eingesetzte Methode im Vorgespräch helfen können, was ich offensichtlich nicht ausführlich genug tat. Abgesehen davon wäre auch ein intensiveres Befassen mit der Form des Experteninterviews wichtig, um solche Fehlstarts zu vermeiden.

3.2 Erhebungsmethode narratives Interview

Als zweite Erhebungsmethode wurde das narrative Interview gewählt. Diese Methode wurde für die Befragung der beiden minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten eingesetzt. Das narrative Interview ist eine besondere Form des offenen Interviews, das sich in drei Phasen unterteilt, die Aushandlungsphase, die Haupterzählung und der Nachfrageteil. Sie folgt nicht dem üblichen Frage- und- Antwort Schema, sondern der Interviewte soll etwas über den im Gespräch festgelegten Gegenstand erzählen. Diese Erzählung soll als Stegreiferzählung erfolgen. Stegreiferzählungen bilden eine spontane Erzählung, die ohne eine Vorbereitung oder Standardisierung erfolgen sondern aus dem Stand erzählt werden (vgl. Uwe Flick u.a. 1995, S. 183; vgl. Lamnek, 2005, S. 357). Die Erzählung einer selbsterlebten Geschichte soll ermöglichen, dass vergangenen Erfahrungen rekonstruiert und in einen Zusammenhang gebracht werden können (vgl. Flick u.a., 1995, S. 183). Das narrative Interview verfolgt somit das Ziel die Anregung einer Erzählung. Schütze definiert Erzähltexte wie folgt:

„Erzählungen eigen erlebter Erfahrungen sind diejenigen vom thematisch interessierenden faktischen Handeln abgehobenen sprachlichen Texte, die diesem am nächsten stehen und die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns auch unter der Perspektive der Erfahrungsrekapitulation in beträchtlichen Maße rekonstruieren“ (Schütze, 1997, S. 1 zit. In Lamnek, 2005, S. 357). Die Erzählungen ermöglichen somit einen Einblick in die Strukturen der Orientierungsmuster des Handelns vom Interviewten und sie beinhalten aber auch retrospektive Interpretationen des erzählten Handelns (vgl. ebd. S. 358). Neben der Erzählung als eine Darstellungsform im Narrativen Interview, welches als die Hauptdarstellungsform gilt, können die Interviews aber auch andere Formen der Darstellung erhalten, nämlich Beschreibungen und Argumentationen. Argumentationen dienen dazu einen erklärenden Zusammenhang zwischen den Eigentheorien aufzuzeigen. Sie liegen auf der Ebene der praktischen Erläuterungen und sekundären Legitimationen (vgl. ebd. S. 357; Flick u.a. 1995, S. 183). Beschreibungen hingegen haben das Ziel Zustände, Situationen und typische Verfahrensweisen aufzuzeigen. Sie fangen dabei auch psychische Situationen, Veränderungen und routinierte Handlungs- und Ereignisabfolgen ein. Dadurch haben sie einen Berichtscharakter (vgl. ebd. S. 357; vgl. ebd. S. 183). Somit sind diese drei Darstellungsformen für das narrative Interview von Bedeutung. Im Rahmen meiner Interviews mit den beiden minderjährigen Geflüchteten sind alle drei Formen der Darstellung auffindbar, wenn auch die Erzählungen eher kurz und nicht sehr umfangreich waren, könnte man dennoch deutlich aufzeigen um welche Form der Darstellung sich in den jeweiligen Abschnitten handelt.

Das narrative Interview ermöglicht als Erhebungsmethode die Relevanzsysteme der Interviewten auszuarbeiten, daher ist sie besonders gut geeignet um in der Biografie- und der Lebenslaufforschung eingesetzt zu werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 360).

3.2.1 Phasen des narrativen Interviews

Lamnek beschreibt in seinem Text fünf Phasen des narrativen Interviews. Diese sind die Erklärungsphase, Einleitungsphase, Erzählphase, Nachfragephase und Bilanzierungsphase. Die Erklärungsphase umfasst die Aufklärung des Interviewten über die Besonderheiten und Funktionen des narrativen Interviews. Im Rahmen der Erklärungsphase muss die Forscherin den Interviewpartner darüber informieren, was eine Geschichte und Erzählung ist und welche Aufgabe auf den Interviewten zukommt (vgl. Lamnek, 2005, S. 358). Zur Auflockerung der Stimmung und zur Schaffung eines vertrauten Settings kann in diesem Zusammenhang auch über allgemeine technische Modalitäten wie die Aufzeichnung des Gesprächs, die Anonymisierung der Daten, die Transkription besprochen werden. Im Anschluss erfolgt die Redeübergabe an den Interviewpartner (vgl. ebd. S. 358, vgl. Flick u.a. 1995, S. 184). In meinen beiden Interviews mit den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten war dieses Gespräch nicht sehr ausführlich, die Erklärung der Methode meinerseits erfolgte wenig detailliert. Zwar wurde erwähnt, dass sie offen und ehrlich über alles reden können, was ihnen zu dem vorgelegten Erzählstimulus einfällt, aber dennoch waren beide Jugendlichen nach relativ wenig Sätzen mit ihren Ausführungen fertig, sodass ich immer wieder nachfragen musste und so das narrative Interview eher einen Charakter eines offenen Leitfadeninterviews bekam. Um solche Fehler zu vermeiden muss daher eine ausführliche Erklärung vor dem eigentlichen Interview stattfinden.

Die zweite Phase bildet die Einleitungsphase. In dieser Phase wird eine Eingangsfrage, die sogenannte Erzählstimulus von der Forscherin vorgegeben. Diese muss offen gefragt werden, damit es den Interviewten ermöglicht wird eigene Begründungen, Beschreibungen und Argumentationen einzufügen. Der Erzählstimulus dient dazu eine Erzählung zu generieren und den Interviewten in einen „Zugzwang“ (Girtler, 1984, S.156 zit. nach Lamnek, 2005, S. 358) zu überführen (vgl. Lamnek, 2005, S. 358). Ich habe mich für einen offenen Erzählstimulus entschieden, der auch erzählgenerierend war:

„Ich würde gerne mit dir über dein Leben hier in Deutschland sprechen und zwar geht’s mir darum aus deiner persönlichen Sicht zu erfahren, wie du dich hier fühlst, ob es dir gut geht, ob du dich hier wohl fühlst, was deiner Meinung nach wichtig ist, dass du hier gut ankommst und dein Leben gut leben kannst?“

Den dritten Schritt bildet die Erzählphase, welche sich durch ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Interviewten und der Forscher/In charakterisiert. Der Erzählanteil des Interviewten überwiegt hier enorm, kann aber auch durch Pausen und Schweigen seinerseits unterbrochen werden (vgl. ebd. S. 358). Seitens der Forscher sind lediglich Äußerungen wie „hm“ oder nonverbale Gesten wie das Kopfnicken erlaubt (vgl. ebd. S. 359). Die vierte Phase bildet der Nachfragephase, die die Klärung von unklar gebliebenen Fragen oder Widersprüchlichkeiten verfolgt (vgl. ebd. S. 359). Im Nachfrageteil wird ebenfalls Erzählstimulus gesetzt und so die Erzählung maximal ausgeschöpft. Dies geschieht durch immanente Fragen. Im Anschluss erfolgt dann die Bilanzierungsphase, welche die letzte Phase des narrativen Interviews bildet (vgl. Flick u.a. 1995, S. 184). In dieser Phase werden Fragen nach der Motivation und der Intention gestellt. Dies geschieht durch exmanente Fragen. Im Vordergrund steht eine Bilanz aus der Geschichte zu ziehen und somit dem ganzen einen Sinn zu verleihen (vgl. ebd. S. 184 und Lamnek, 2005, S.359).

3.2.2 Probleme im narrativen Interview

Obwohl das narrative Interview eher so aufgebaut ist, dass dem Interviewten ein großer Redeanteil eingeräumt wird, kann es dennoch Vorkommen, dass er sich an seine Rolle des Erzählers nicht ganz gewöhnen kann. Die Übernahme einer langen Erzählung ist dann eine ungewohnte Aufgabe für den Interviewten, weil er Interviews eher mit einem Wechselspiel von Frage und Antwort verbindet (vgl. Flick u.a. 1995, S. 184f.). Auch bei meinen beiden Interviews haben die Interviewten auf Nachfragen meinerseits gewartet und eher kurze Antworten geliefert. Vermieden werden kann dies durch eine ausführliche Rollenklärung in der Einstiegsphase (siehe oben). Eine weitere Fehlerquelle bildet der Interviewer selbst, in dem er seine Aufgabe als schwierig auffasst und bei Erzählungen der Lebensgeschichte sowie intimeren Geschichten weniger persistent agiert, sondern eher dazu neigt die unangenehmen Fragen möglichst rasch zu entledigen oder gar die Bitte nach einer ausführlichen Erzählung verkürzt auszusprechen (vgl. ebd. S. 185). Das geschah zwar bei mir nicht unbedingt, aber die Aufforderung nach einer ausführlicheren Erzählung hätte durchaus an ein oder anderen Stelle im Interview stattfinden können.

Auch das Fragen nach Motiven, Zuständen, Routinen können ein narratives Interview erschweren, denn dadurch werden Beschreibungen oder Argumentationen angeregt, aber keine Erzählungen, die den Hauptanteil des narrativen Interviews bilden (vgl. ebd. S. 185). Auch in meinem Interview mit den beiden unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erfolgten solche Nachfragen, wodurch die Erzählung gehemmt wurde.

Meine Wahl fiel auf diese Form des Interviews, weil ich einen größtmöglichen Anteil an Erzählung erzielen wollte, in der die beiden Interviewten ihre Sicht auf ihre Situation in Deutschland darstellen, über ihre Erfahrungen erzählen und dadurch alle Faktoren, die sie für sich als wichtig empfinden und die im Integrationsprozess unterstützend wirken, oder die den Integrationsprozess hemmen, benennen können. Die erzielten Ergebnisse werden im Kapitel fünf dargestellt.

4. Auswertungsmethode Grounded Theory

Die Datenanalyse und Interpretation der gesammelten Daten erfolgte anhand der Methode „Grounded Theory“. Grounded Theory wurde ursprünglich von den Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss 1967 entwickelt (vgl. Strauss/ Corbin, 1996, S. 9). Sie verfolgt das Ziel der Entwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie, die aus der Untersuchung eines Phänomens abgeleitet uns vorläufig bestätigt wird (vgl. Strauss/ Corbin, 1996, S. 7). Dies geschieht durch das systematische Erheben und Analysieren der Daten, die sich auf das Phänomen beziehen (vgl. ebd. S. 7). Dadurch bildet sie eine theoriegenerierende Methode. Am Anfang steht somit nicht die Theorie, sondern ein Untersuchungsbereich im Vordergrund (vgl. ebd. S. 8). Die Erstellung einer Theorie, die diesem Untersuchungsgegenstand gerecht wird, ist das Ziel von Grounded Theory (vgl. ebd. S. 9). Die Analyse im Rahmen von Grounded Theory erfolgt durch ein Kodierverfahren. Im Kodierverfahren werden die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und neu zusammengesetzt. In diesem Prozess werden aus den Daten Theorien entwickelt (vgl. ebd. S. 39).

4.1 Durchführung der Methode Grounded Theory

Das Kodierverfahren umfasst das offene, das axiale und das selektive Kodieren. Kodierverfahren wird durch Anstellen von Vergleichen und durch Stellen von Fragen an das vorliegende Datenmaterial, in diesem Fall, die erstellten Transkripte, untersucht (vgl. Strauss/ Corbin, 1996, S.44). Der Kodierprozess baut somit auf der Leitidee eines ständigen Vergleiches der Daten miteinander (vgl. Strübing, 2004, S. 18). Die erste Herangehensweise an den Kodierprozess ist die des offenen Kodierens (vgl. Strauss, 1991, S.58).

Beim offenen Kodieren geht es um die Feinanalyse von Daten, daher muss der Text sehr genau gelesen werden (vgl. ebd. 1996, S. 53). Mithilfe der Feinanalyse werden sogenannte Codes/Konzepte gebildet, die später zu mehreren Kategorien zusammengefasst werden (vgl. ebd. S. 47). Codes/Konzepte sind Ergebnisse der Feinanalyse, das analytische Herauspräparieren von einzelnen Phänomenen (vgl. Strübing, 2008, S. 20). Die Vorgehensweise im offenen Kodieren ist sehr kleinschrittig, das vorliegende Dokument wird Zeile für Zeile, Wort für Wort sehr genau analysiert (vgl. Strauss, 1991, S. 58). Das offene Kodieren verfolgt in erster Linie das Ziel Zugang zum Forschungsmaterial zu eröffnen, daher sind jede Art von Interpretationen an den Daten wichtig und es gibt kein Richtig oder Falsch (vgl. ebd. S. 58).

Im Rahmen der Feinanalyse können sich auch in-vivo-Codes ergeben. Das sind Codes, die direkt vom Interviewten entstammen und sehr prägend wirkten.

Das offene Kodieren war der erste Schritt, den ich bei der inhaltlichen Feinanalyse angegangen bin. Zunächst habe ich mich von Zeile zur Zeile vorgearbeitet und mal pro Zeile, mal pro Abschnitt Codes gebildet. Da ich insgesamt vier Interviews durchgeführt hatte habe ich pro Teilnehmer verschiedene Codes und Kategorien gebildet. Die Feinanalyse erfolgte für die Textpassagen, die auf das Thema bzw. das Phänomen sehr prägend klangen. Bei den restlichen Textstellen wurde eine allgemeine Analyse/ Interpretation durchgeführt. Nach der Feinanalyse ergaben sich bei dem Experteninterview von Herrn G. 39 Codes und 8 Kategorien, bei Frau M. 18 Codes und 7 Kategorien. Das narrative Interview von A. ergab insgesamt 31 Codes und 7 Kategorien. Das narrative Interview mit S. ergab hingegen lediglich 10 Codes und 4 Kategorien.

Im axialen Kodieren werden die gebildeten Kategorien Mithilfe von Kodierparadigma in Bezug zueinander gesetzt und hinsichtlich der ursächlichen Bedingungen (Ereignisse, die zum Auftreten des Phänomens beitragen), des Phänomens (das Ereignis/der Sachverhalt), dem Kontext (Zeit, Ort, Dauer, soziales, politisches und kulturelles Umfeld und individuelle Biografie), der Handlung/Interaktion (Strategien/Taktiken), den intervenierenden Bedingungen (strukturelle Bedingungen) und den Konsequenzen (Ergebnisse/Resultate von Handlungen) hin untersucht. Daraus wird eine Neuzusammenstellung von Kategorien ermöglicht (vgl. Strauss/Corbin, 1996, S. 75). Das Kodierparadigma ermöglicht systematisch über die Daten nachzudenken und komplexe Beziehungen herauszuarbeiten. Durch die Einsetzung des axialen Kodierens wird das Wissen über die Beziehungen zwischen der untersuchten Kategorie und den anderen Kategorien bzw. Subkategorien angehäuft, vermehrt (vgl. Strauss, 1991, S. 63).

Im Rahmen der Analyse und Interpretation der Interviews nach der Methode Grounded Theory wurde bei den Experteninterviews und bei den narrativen Interviews ebenfalls bestimmte Kategorien als Phänomen anhand des Kodierparadigmas hinsichtlich der ursächlichen Bedingungen, der Handlungsstrategie, den Konsequenzen und dem Kontext hin untersucht. Das selektive Kodieren dient der Bildung von Kemkategorien und der in Beziehungssetzen mit anderen Kategorien mit dem Ziel der Verfeinerung. Dabei werden andere Kategorien der unter Fokus stehenden Kategorie untergeordnet (vgl. Strauss, 1991, S. 63). Unterstützt wird der ganze Prozess durch Memos. Diese sind schriftliche Analyseprotokolle, die sich auf das Ausarbeiten der Theorie beziehen (vgl. Strauss/ Corbin, 1996, S. 169). Auch diese beiden Schritten erfolgten, ich untersuchte alle Kategorien anhand des Kodierparadigmas und setzte dann das axiale Kodieren an, um Kemkategorien zu bilden. Die gebildeten Kernkategorien werden weiter unten (Ergebnisdarstellung) aufgezeigt.

Meine Wahl der Methode des Grounded Theory für die Auswertung liegt darin begründet, dass durch eine textnahe Analyse und Interpretation des vorliegenden Datenmaterials fürjeden einzelnen Interviewteilnehmer wichtige Themenkomplexe in Bezug auf Integration herausgearbeitet werden konnten. Dadurch kann aufgezeigt werden welche Faktoren die Integration aus der Sicht des Experten beeinflussen, aber auch welche Faktoren für die Jugendlichen im Integrationsprozess eine Rolle spielen. Auch ein Vergleich zwischen Expertensicht und den Jugendlichen wird mit dieser Methode ermöglicht. Die subjektiven Sichtweisen der einzelnen Teilnehmer wird durch Grounded Theory gut dargestellt und führt in der Datenanalyse zu den fundierten Ergebnissen. Im Vergleich zu anderen qualitativen Methoden wird nicht eine zuvor formulierte Theorie oder Hypothese bestätigt oder verworfen, sondern erst aus den Daten heraus mithilfe der Grounded Theory eine Theorie generiert, die die anfänglich gestellte Fragestellung beantwortet und diesem gerecht wird.

5. Darstellung der Ergebnisse

Ausgehend von der Fragestellung welche Faktoren eine gelungene Integration von Geflüchteten begünstigen und welche diese erschweren, habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit zwei unbegleitete minderjährige Geflüchtete interviewt. Das Ziel war die Perspektive von betroffenen Jugendlichen aufzuzeigen und die Faktoren, die für sie eine wichtige Rolle im Integrationsprozess spielen zu verdeutlichen. Im Folgenden möchte ich vor der eigentlichen Ergebnisvorstellung die interviewten Personen in anonymisierter Form vorstellen. Beide beteiligten Jugendlichen werden im Rahmen der Jugendhilfe in einer Jugendwohngruppe betreut. Jugendlicher A stammte aus Syrien, ist 18 Jahre alt und lebt seit circa 1,5 Jahren in Deutschland. Aufgrund des Krieges in Syrien ist er zunächst in die Türkei geflohen und später nach Deutschland. Jugendlicher S. kommt aus Afghanistan, ist 17 Jahre alt und lebt seit circa zwei Jahren in Deutschland. Beide leben in der gleichen Wohngruppe und haben ähnlichen Alltag. Sie sind beide Schüler, während A sein letztes Schuljahr absolviert und sein Abitur macht, möchte S sein mittleren Schulabschluss beenden und im Anschluss eine Ausbildung machen. Die Kategorien beziehen sich auf A, da A als Hauptinterview genutzt wurde, aber es werden durchaus auch Parallelen zu S mit aufgezeigt.

5.1 Relevante Kategorien von A

Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse darstellen, die mit der Auswertungsmethode Grounded Theory erstellt werden konnten. Relevante Kategorien, die die Faktoren der Integration darstellen, aus der Perspektive von A sind folgende:

Das Positive Bild -von Deutschland (Kategorie 1)

Sowohl A als auch S zeigen ein sehr positives Bild von Deutschland auf. A begründet seine Flucht neben dem Krieg auch mit dem Wunsch nach einer besseren Zukunft. Deutschland wird von ihm als ein Land dargestellt, das viele Chancen für eine erfolgreiche Zukunft bietet. Diese positive Sicht wird ihm durch seine Verwandten in Deutschland vermittelt: „unddie haben uns immer gesagt also dass man hier was dass man hier immer so viele Chance hat, dass man sein Leben seine Zukunft besser, hinkriegt“( Zeile 23-24 Interview A). Für ihn scheint seine Zukunft besonders wichtig zu sein, er möchte etwas erreichen und Deutschland bietet ihm diese Chance. Dabei wird vor allem die Chance auf Bildung stark betont: „bessere Chance hat dass man seine Schule macht und sein Abitur und sein Studium“ (Zeile 30 Interview A). Die Chance auf Bildung wird dreifach betont: Schule, Abitur und Studium. Und das genau in der Reihenfolge wie auch seine aktuellen Ziele sind. Die positive Sicht auf Deutschland wird im Anschluss durch ein Vergleich zwischen der Türkei, wo er sich zuvor befand und Deutschland verdeutlicht. Seiner Auffassung nach herrschen in der Türkei schwierige Bedingungen, um auf dem Bildungsweg etwas erreichen zu können. Der Vergleich zwischen der Türkei und Deutschland dient auch dazu, eine Argumentation für seine Flucht nach Deutschland zu liefern: „dann bin ich einfach hergekommen 'weil ich finde in der Türkei so kein (2) was heißt kein Bock so aber da, kann man halt nicht so zur Schule gehen da muss man halt arbeiten um zu überleben“ (Zeile: 26-28 Interview A). Durch seine Wortwahl wie „da kann man halt nicht“ distanziert er sich von den schlechten Bedingungen in der Türkei, in dem er den Personalpronomen „man“ benutzt, obwohl er sich in dieser Position selbst befand. Es zeigt, dass er eventuell eine schwierige Zeit in der Türkei hatte, über die er nicht offen reden kann. Wenn er aber von seiner Zeit in Deutschland spricht, dann steht er mit seinen Wünschen und Vorstellungen im Mittelpunkt und benutzt Possessivpronomen „mein“ oder Personalpronomen „ich“: „mein Ziel“, „ich will“, „ich bin gerade dabei“ (Zeile: 31-32 Interview A). In Deutschland erfährt er seiner Meinung nach den vollen Zugang zur Bildung. Er geht dabei in eine aktive Rolle über, in der er selbstbestimmt handeln kann: „Ich will mein Ziel erreichen“, „mein Ziel war seitdem ich ein Kind bin Autoingenieur zu werden“(Zeile: 31-32 Interview A).

Sein positives Bild von Deutschland zeigt sich auch daran, wie er sich zum deutschen Staat äußert. Er bezieht sich, wenn er vom deutschen System spricht auf die Gesellschaft, welche er durch einen starken Zusammenhalt charakterisiert. Das deutsche System wird somit mit den Menschen in Deutschland gleichgesetzt, es findet keine Differenzierung seinerseits zwischen den Gesetzten, der Regierung und den Menschen statt, sondern das deutsche System mit all seinen Regeln wird lediglich auf ein positives Menschenbild seinerseits reduziert. Hilfe und Unterstützung wird somit individualisiert: „hier gibt’s nicht zum Beispiel so einer der auf der Straße lebt, ich meine wenn ich jetzt auf der Straße lebe, da gibt’s jemanden der mich helfen kann“ (Zeile: 45-46 Interview A). Er betont ganz stark den Zusammenhalt in der Gesellschaft, die sein Bild von Deutschland ebenfalls positiv beeinflusst: „ich merke dass auch hier Menschen alle Zusammenhalten“ (Zeile: 49 Interview A). Den gesellschaftlichen Zusammenhalt bezieht er insbesondere auf die Unterstützung von Bedürftigen, wie zum Beispiel die Arbeitslosen, die durch Steuerabgaben finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen. Dass dies aber durch eine gesetzliche Verpflichtung geschieht und nicht auf die Freiwilligkeit der Bürger beruht, spricht er nicht an. Er bezieht das Steuersystem eher darauf, dass die Menschen in Deutschland gesellschaftlich gesehen Zusammenhalten und sich unterstützen: „ich merke dass auch hier Menschen alle Zusammenhalten, ich meine du arbeitest ja jetzt und zahlst Steuern damit andere Leute die, arbeitslos sind leben können, so sagen wir mal wie so ein Kreislauf. Unddasfmde ich halt super so, dass es so System gibt“ (Zeile: 49-51 Interview A). Er betont immer wieder im Laufe des Gesprächs wie gut er Deutschland findet. Versucht dadurch das positive Bild von Deutschland aufrechtzuerhalten, alles wird beschönigt: „Aber auf jeden Fall positive Sachen sind tausend Mal mehr als Negative“ (Zeile:139 Interview A). Im Umkehrschluss wird aber auch deutlich, dass es durchaus negative Erfahrungen gibt, auf die er aber nicht näher eingeht. Der Versuch ein positives Bild von Deutschland aufzuzeigen bricht allerdings am Anfang bereits mit dem Satz: „Naja -wohl fühle ich mich nicht zwar so ganz genau, aber es ist besser als im Krieg“ (Zeile: 7 Interview A). Diese Aussage ist sehr prägend für sein Empfinden, denn trotz des positiven Bildes von Deutschland, das er während des Gespräches aufzeigt, fühlt er sich hier nicht ganz wohl. Er löst somit die Verbindung zwischen das Wohlgefühl und Deutschland auf, beziehungsweise relativiert diesen Zusammenhang. Er kontrastiert dabei zwischen zwei Extremen, nämlich das Wohlfühlen und dem Krieg und positioniert sich im Moment genau zwischen diesen zwei Extremen. Es ist noch nicht genug da, damit er sich richtig wohl fühlen kann, aber es ist besser als Nichts. Der Krieg stellt somit eine „worst case“ Szenario dar, während er sich nun in einer Situation befindet, der etwas besser ist als im Krieg, aber noch nicht ganz optimal. Seine Anwesenheit in Deutschland klingt wie eine Notlösung, nichts Optimales, aber dennoch immerhin besser als die Situation davor, in der er sich befand. Es klingt auch eher so, als würde er für seine Anwesenheit in Deutschland eine Rechtfertigung liefern wollen, denn er erwähnt zwar den Krieg, aber geht kaum darauf ein. Dadurch bekommt man den Eindruck, dass er lediglich eine Begründung seiner Flucht aufzeigt, beziehungsweise sich verpflichtet fühlt seine Flucht nach Deutschland rechtfertigen zu müssen.

Auch in dem Wunsch nach mehr Akzeptanz in der Gesellschaft zeigt sich, wie das positive Bild von Deutschland zu bröckeln scheint. Er äußert den Wunsch nach mehr Reflexion in der Gesellschaft, damit einhergehend möchte er auch so wie er ist akzeptiert und angenommen werden: „Ja dass die Leute denken so dass egal wo und egal welche Nationalität, gibt es davon schlechte und gute Menschen, das war ja mehr nicht. Die sollen mal ihre Finger gucken, die sind ja auch nicht alle gleich das heißt die Menschen sind ja auch nicht alle gleich“ (Zeile: 129-131 Interview A). Er möchte dadurch aufzeigen, dass er ein guter Mensch ist und fordert die Akzeptanz der Gesellschaft. Aufgrund dieser Tatsache kann man davon ausgehen, dass A ein Bild von einem „guten Flüchtling“ darstellen möchte, um eine Akzeptanz seitens der Gesellschaft zu erlangen. Und dennoch wird die Gesellschaft in Deutschland und damit einhergehend die Menschen mit einem positiven Gefühl verbunden: „Ja die Menschen eigentlich an sich. Es gibt hier auch schlechte Menschen, es gibt auch 'viele Gute“ (Zeile: 161-162 Interview A), „Dasfinde ich halt die die Gesellschaft hier gefällt mir voll“ (Zeile:166-167 Interview A). Diese positive Sicht auf die Menschen bzw. die Gesellschaft verdeutlicht ebenfalls seine Situationen, denn er versucht trotz aller negativen Erfahrungen (vgl. Zeile 105-114) ein gutes Bild von den Menschen hier aufrechtzuerhalten und verdrängt dabei die Rassismuserfahrungen, die er im Laufe seines Aufenthaltes in Deutschland gemacht hat.

Ein weiterer wichtiger Faktor für sein positives Bild von Deutschland bildet die Freiheit, die den hier lebenden Menschen zusteht. Für ihn spielt dieser Faktor eine besonders große Rolle, denn er zieht ein Vergleich zwischen Syrien und Deutschland, um die Problematik zu verdeutlichen. Das Fehlen von Freiheit wird als Grund für den Krieg in Syrien angegeben: „Deswegen hatja der Krieg angefangen in Syrien“, „Na ist halt wegen Freiheit so, wir hatten da nicht unsere Freiheit“ (Zeile: 180, 182 Interview A). Der Vergleich bezieht sich auf die Rechte der Menschen, dabei ist ihm vor allem wichtig die Korruption und das Fehlen des echten Wahlrechtes in Syrien aufzuzeigen: „Ich darf zum Beispiel als Deutsche, oder, jeder darf wen wählen wer er 'will aber bei uns gibt’s nicht der Präsident ist der Präsident bleibt bis er stirbt. Und er bekommt immer 99,99 Prozent Zustimmung, das verstehe ich nicht. (Zeile: 185-187 Interview A). Im Kontrast dazu steht Deutschland, der seinen Bürgern alle Freiheiten zugesteht, die A wichtig zu sein scheinen, wie die oben genannte Meinungsfreiheit und das Wahlrecht: „jeder darf wen wählen wer er will“ (Zeile:185-186 Interview A).

Auch für S scheint Freiheit ein wichtiger Faktor zu sein, dass er sich in Deutschland wohl fühlen kann und das sein positives Bild von Deutschland beeinflusst. Sein positives Bild von Deutschland hat sich auf der Flucht entwickelt, er betont insbesondere den Aspekt der Freiheit und verbindet es mit einer Normalität, das sich aus einem freien Leben hier entwickelt: „jeder hat frei, jeder Mensch hatfrei, (jjeder geht zur Schule“ (Zeile: 90-92 Interview S). S verbindet mit Deutschland, dass jeder hier frei leben kann. Insbesondere die Freiheit, dass er sich keinem Glauben aus Zwang anschließen muss, betont er ganz stark: „weißt du was ich meine, also Religion, also ich hab eigentlich keine Religion, ich -willfrei leben “ (Zeile: 101-103 Interview S). S. durchlebte in Afghanistan eine schwere Zeit, in der er durch die Taliban Folterung erfuhr, weil er nicht den dort herrschenden „Zwang zur Religion“ sich anschließen wollte. Deshalb ist ihm umso wichtiger, dass er in Deutschland die Glaubensfreiheit ausleben kann. Das positive Bild von Deutschland manifestiert sich somit eher an Faktoren, die er auf sich individuell bezieht, wie das Vorhandensein der Glaubensfreiheit, aber auch dass er in Deutschland eine Sicherheit erfährt, die in Afghanistan nicht vorlag: „In Deutschland bin ich ganz sicher“ (Zeile: 5-6 Interview S), „ als ich in Afghanistan war dort war Krieg und so, ich 'will nicht über das jetzt reden.“ (Zeile:15-16 Interview S). Es besteht keine Gefahr mehr, ihm kann nichts mehr passieren, in Deutschland ist er geschützt und ungefährdet. Er betont dabei immer wieder diese Sicherheit und intensiviert es durch das Wort „ganz“: „In Deutschland bin ich ganz sicher“(Zeile: 5-6), „Ja ich bin ganz sicher“ (Zeile:9 Interview S). S. stellt somit seine Situation in Deutschland sehr positiv dar, er scheint sich mit den aktuellen Umständen ganz wohl zu fühlen: „Ich hab hier ein gute Leben“ (Zeile: 11 Interview S). Das „gute Leben“ wird darin begründet, dass er die Möglichkeiten zur Bildung bekommt und dass er in Deutschland in Sicherheit leben kann: „also ich geh zur Schule (2) mhm ich mach meine Schule bis Ende, danach mach ich eine Ausbildung, ich bin sicher, das ist ein gutes Leben für mich“ (Zeile: 14-15 Interview S), ,, ich fühle mich in Deutschland ganz glücklich“ (Zeile: 18 Interview S). Auch hier wird das Wort „ganz“ verwendet um das positive Gefühl „glücklich“ zu bestärken. So wird deutlich, dass er in Verbindung mit Deutschland nur positive Eigenschaften äußert: „ganz glücklich, ganz sicher“

Beide Interviewten zeigen ein positives Bild von Deutschland, das sich an Faktoren wie Bildungschancen, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Wahlrecht und Sicherheit manifestieren. Insbesondere für A spielt die Gesellschaft eine starke Rolle und zeigt deutlich, dass sein positives Bild von Deutschland durch den Zusammenhalt in der Gesellschaft geprägt ist.

Ausblenden negativer Erfahrungen (Kategorie 2) Das positive Bild von Deutschland hält sich daher aufrecht, da alle negativen Erlebnisse von den Jugendlichen wie „ausgeblendet“ zu sein scheinen. Beide Teilnehmer sind sehr bemüht daran, ein gutes Bild von Deutschland aufzuzeigen, so auch bei negativen Erfahrungen, die oftmals wenig bis gar nicht angesprochen oder vertieft werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Integration als Sozialpädagogische Aufgabe. Begünstigende und hemmende Faktoren bei der Integration Geflüchteter beeinflussen
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
92
Katalognummer
V994672
ISBN (eBook)
9783346366221
ISBN (Buch)
9783346366238
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale Arbeit unbegleitete Minderjährige UMA Geflüchtete Integration Othering Fremdheit Erziehungswissenschaft
Arbeit zitieren
Chinara Balayeva (Autor:in), 2018, Integration als Sozialpädagogische Aufgabe. Begünstigende und hemmende Faktoren bei der Integration Geflüchteter beeinflussen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/994672

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