Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Grundlagen zum Verständnis der Lebensweltorientierung
2.1 Theorien in der Sozialen Arbeit und ihre Funktion
2.2 Biographische Eckdaten von Hans Thiersch und die Entstehung der Lebensweltorientierung
2.3 Die Aufgaben der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
3 Die Lebensweltorientierung in der Jugendhilfe
3.1 Jugendliche als Adressaten der Lebensweltorientierung
3.2 Die Struktur- und Handlungsmaximen
3.3 Lebensweltorientierung in der mobilen Jugendarbeit
4 Kritik und Grenzen der Lebensweltorientierung
5 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Diese Seminararbeit befasst sich mit der Theorie der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und ihrem Handlungskonzept für die Jugendhilfe. Die Lebensweltorientierung von Hans Thiersch ist ein Weg von vielen, das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit, auf Grundlage einer Theorie, zu begründen.
Besonders in der Jugend befindet sich der Mensch in einer vulnerablen Phase der Orientierung, in der sich seine eigenen Optionen und Erwartungen ausbilden. Es gibt unzählige Richtungen, in die er sich entwickeln kann. Doch gerade im heutigen Zeitalter, in dem unter anderem Globalisierung und Ökonomisierung die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden lassen, wird es für Jugendliche schwerer sich zu behaupten. Vor allem Jugendliche, die durch Bildungsdefizite, einen Migrationshintergrund oder ihren sozioökonomischen Status benachteiligt sind, geraten leichter an den Rand der Gesellschaft. Ihnen bleiben Lebensmöglichkeiten verwehrt. Diese Situation kann als ungerecht empfunden werden und bei den betroffenen Jugendlichen zu Protest, Hass oder Rückzug führen.
Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, von Hans Thiersch, ist ein wissenschaftliches Theoriekonzept der Sozialen Arbeit. Es dient, neben anderen, als Handlungsbasis für Sozialarbeitende, die in der Jugendhilfe tätig sind. In den neunziger Jahren wurde es zum Inbegriff der allgemeinen Neuorientierung in der Sozialen Arbeit und gilt bis heute als zentrales Paradigma in der Jugendhilfe (Thole 2012, S. 43).
Aber ist Thierschs Theoriekonzept wirklich die revolutionäre Antwort auf Probleme in der Sozialarbeit mit Jugendlichen? Oder gibt es nicht doch Probleme bei der praktischen Umsetzung Lebensweltorientierter Jugendhilfe?
Diese wissenschaftliche Arbeit, auf hermeneutisch-interpretativer Basis, soll diese Fragestellung beantworten. Nach einem einführenden grundlegenden Überblick über die Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit wird im Hauptteil dieser Arbeit die Lebensweltorientierung von der Entstehung bis heute mit ihren Handlungsmaximen für die Jugendhilfe beschrieben und ihre praktische Anwendung am Beispiel mobiler Jugendarbeit aufgezeigt. Dann geht diese Arbeit auf Kritik des Theoriekonzeptes ein, um abschließend ein Fazit zu geben und die oben genannten Fragen zu beantworten.
2 Die Grundlagen zum Verständnis der Lebensweltorientierung
Zum besseren Verständnis der Hintergründe der Lebensweltorientierung von Thiersch, wird im folgenden Abschnitt zunächst ein kurzer Überblick über die Grundlagen von Theorien der Sozialen Arbeit gegeben. Im Rahmen des historischen Kontextes und der biographischen Eckpunkte Thierschs, erscheint es sinnvoll, die Schlüsselerlebnisse zu erläutern, die ihn dazu brachten, die Lebensweltorientierung zu formulieren. Dann werden die grundlegenden Aufgaben der Lebensweltorientierung genannt, um im Hauptteil die Aufmerksamkeit speziell auf die Lebensweltorientierte Arbeit mit Jugendlichen zu richten.
2.1 Theorien in der Sozialen Arbeit und ihre Funktion
Die Wissenschaft Soziale Arbeit gehört zu den relativ autonomen Wissenschaften. Das bedeutet, dass sie, im Gegensatz zu autonomen Wissenschaften, in ihrer langen Tradition auf eine Vielzahl von aus den Bezugswissenschaften stammenden Theorien zurückgreift. Sie ist also in ihrer Entwicklung eng mit den Human-, Sozial-, Rechts- und Geisteswissenschaften verbunden (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 15).
Aus der Theoriebildungsgeschichte der Sozialen Arbeit ist festzuhalten, dass es zwei unterschiedliche Traditionslinien gibt. Zum einen gibt es den Bereich der Sozialpädagogik, der eine erzieherische Interventionsform hervorhebt, und zum anderen existiert der Bereich der Sozialarbeit, der fürsorgende, helfende Handlungsmuster umfasst. In den neueren Theorieketten verschwimmt diese traditionelle, klare Trennung jedoch. Nach heutigem Verständnis vereint die Disziplin der Sozialen Arbeit die vormals voneinander getrennten Bereiche Sozialpädagogik und Sozialarbeit.
Es gibt nicht eine allgemein vorherrschende Theorie der Sozialen Arbeit, sondern eine Vielzahl von theoretischen Konzepten, Ansätzen und Modellen, die versuchen, den Bereich der Sozialen Arbeit zu begründen, bzw. zu erklären. Im Versuch, die aktuellen Theoriekurse einzuordnen, kann zwischen systemtheoretischen, diskursanalytischen, psychoanalytischen und professionstheoretischen Ansätzen sowie dem Ansatz, der sich auf Lebenswelt- und Lebensbewältigung bezieht, unterschieden werden (Thole 2012, S. 40). Es würde über diese Arbeit hinausgehen, die genannten Ansätze genauer zu erör- tern. Ihre Nennung soll nur verdeutlichen, wie zahlreich die Theorien der Sozialen Arbeit sind. Diese unterschiedlichen Theorien ergänzen sich zu einem vollständigen Bild. Sie regen mit ihrer Unterschiedlichkeit und auch Gegensätzlichkeit zur Kommunikation an und sollten nicht vereinheitlicht oder reduziert werden (Füssenhäuser 2018, S. 17341745). Theorien helfen komplexe Sachverhalte und Wirkungsketten besser zu verstehen. Außerdem dienen sie Sozialarbeitenden als Handlungsrechtfertigung und Reflexion des eigenen professionellen Handelns (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 15). Eine weitere, nicht zu vernachlässigende Funktion des professionstheoretischen Rahmens, ist seine Untermauerung der Relevanz der Sozialen Arbeit. Besonders in der praktischen Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Wissenschaften, wie z. B. der Medizin und der Rechtskunde müssen sich die Sozialarbeitenden behaupten. Theorien unterstützen die Forderung einer Souveränität und Autonomie der Wissenschaft Soziale Arbeit (Kaminsky 2018, S. 15). Theorien sind also in ihrer Gesamtheit von besonderer Bedeutung für die Disziplin der Sozialen Arbeit.
Die Theorie der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch versteht sich als ein Theoriekonzept, das auf der Tradition einer hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft und einer pragmatisch orientierten Sozialarbeit basiert und diese sozialwissenschaftlich neu formuliert (Grunwald, Thiersch 2016, S. 29). Sie beschäftigt sich besonders mit der Lebenswelt der AdressatInnen, mit der gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit, ihrer Institutionalisierung und ihrem Wissenschaftscharakter (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 426). Dabei wurden die Theorieformulierungen stetig auf der Grundlage von empirischer Forschung überprüft (Grunwald, Thiersch 2016, S. 29).
2.2 Biographische Eckdaten von Hans Thiersch und die Entstehung der Lebensweltorientierung
Hans Thiersch, geboren am 16.05.1935 in Recklinghausen, studierte Germanistik, Philosophie und Theologie an der Justus-Liebig-Universität in Göttingen. Vor Ende seines Studiums belegte er zusätzlich das Fach Pädagogik. Im Jahr 1964 promovierte er zum Dr. phil., ebenfalls in Göttingen, und wurde dann für sechs Jahre Assistent von Heinrich Roth. 1967 folgte er einem Ruf als Professor für Pädagogik an die Hochschule in Kiel.
Drei Jahre später wurde er Professor an der Universität Tübingen, wo er einen neuen, erstmals eingerichteten Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik übernahm. In Tübingen leitete er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 das Institut für Erziehungswissenschaft (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 417ff).
Die Konzepttheorie Lebensweltorientierung wurde von ihm in den späten sechziger und vor allem siebziger Jahren entwickelt. In dieser Zeit gab es, im Zug der Realisierung des Sozialstaatsprinzips, einen radikalen Wandel in der Sozialen Arbeit. An den neu gegründeten Fachhochschulen wurden 1970 erstmals die Studiengänge für Sozialarbeit und Sozialpädagogik eingerichtet. Auch an den Universitäten war es nun möglich, ein Diplom in Erziehungswissenschaft abzulegen. An den Hochschulen wurde die Kritik an den bisherigen Theorien und Konzepten in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik thematisiert und diskutiert. Dieser Diskurs prägte die Ausbildung der neuen Generation von Sozialarbeitenden grundlegend (ebd., Grunwald, Thiersch 2016, S. 24).
Thiersch selbst berichtet von drei Erfahrungssträngen, die für ihn die Hauptgründe zur Formulierung einer Kursänderung in der Sozialen Arbeit darstellten. Dies waren zunächst schlechte Erfahrungen in der Praxis1, z. B. Erlebnisse von autoritären Demütigungen und Disziplinierungen seitens der Erzieher gegenüber Jugendlichen in Fürsorgeanstalten und Jugendgefängnissen. Hinzu kamen Erfahrungen im weiteren Feld der politisch-sozialen Situation verbunden mit Thierschs Wunsch, die Schwächeren in der Gesellschaft, die an den Rand gedrängt wurden, zu unterstützen und ihnen eine Stimme zu geben. Schließlich nennt Thiersch noch seine Erfahrungen innerhalb der Strukturen der damaligen Erziehungs- und Sozialwissenschaft, z. B. die fehlende Qualifikation und Professionalität der Sozialarbeiter. So berichtet er z. B. davon, dass die Stelle des Jugendamtsleiters in Göttingen, standardmäßig vom vorherigen Leiter des Friedhofamtes besetzt wurde. Diese Erfahrungen empörten Thiersch und weckten in ihm den Wunsch nach Veränderung (Thiersch 2020, 17f). Im Jahr 1979 verfasste er den Aufsatz „Alltagshandeln und Sozialpädagogik“, in dem er sich das erste Mal auf den Begriff „Alltag“ bezieht, den er im späteren Verlauf zum Begriff Lebenswelt ändert. Der Aufsatz gilt bis heute als der Anfang eines neuen sozialpädagogischen Diskurses (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 420).
Die Soziale Arbeit etablierte und differenzierte sich im nachfolgendenden Jahrzehnt immer weiter. Sie wurde ein wichtiger Bestandteil der sozialen Infrastruktur in Deutschland. Auf das Grundgerüst der Lebensweltorientierung, welches Thiersch in den achtziger Jahren formulierte, folgten seine Struktur- und Handlungsmaxime sowie detailliertere methodische Zugänge. Durch seine Tätigkeit als Mitverfasser des achten Jugendberichtes2 1990 wurde ihm schließlich die Möglichkeit geboten, die Grundintentionen der Lebensweltorientierung in den Bericht mit einfließen zu lassen und sie somit auf der sozialpolitischen Bühne in Deutschland zu präsentieren. Dies entfachte eine breite Diskussion innerhalb der Sozialen Arbeit. Die Begriffe Alltag und Lebenswelt erfuhren schnell eine große Beliebtheit bei Sozialarbeitenden. Es kam schließlich zum Entwurf einer neuen Jugendhilfe und zu einer Umstrukturierung der Erziehungsheime. An Stelle der traditionellen großen Einrichtungen auf dem Land, entstanden kleine, dezentrale Wohngemeinschaften in der Stadt. Die alltagsorientierte Sozialpädagogik differenzierte und erweiterte sich immer mehr und das Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung formte sich (Thiersch 2020, S. 21; Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, 420f). Bis heute hat sich die Lebensweltorientierung über die Jugendhilfe hinaus auf viele Bereiche der Sozialen Arbeit, wie die Psychiatrie oder die Behinderten- und Obdachlosenhilfe, ausgeweitet.
2.3 Die Aufgaben der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit hat das Ziel, Menschen, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden und mit den alltäglichen Bewältigungsaufgaben überfordert sind, dabei zu unterstützen, ihre eigenen Wünsche und Ziele zu formulieren und ihnen somit zu einem „gelingenderen“ Alltag zu verhelfen3. Die Konzepttheorie setzt dabei im Alltag der Menschen, also in ihrer Lebenswelt und nicht bei ihren Problemen, an. Lebensweltorientierung arbeitet somit nicht defizit-, sondern ressourcenorientiert. Damit wendet sie sich explizit gegen den traditionellen defizitären und individualisierenden Blick (Grunwald, Köngeter, Thiersch 2012, S. 175).
Die Theorie der Lebensweltorientierung geht grundlegend davon aus, dass jeder Mensch sein Leben meistern und sich in seinen Aufgaben bewähren möchte. Sie berücksichtigt aber auch, dass der Mensch von Natur aus auf die Solidarität seiner Mitmenschen angewiesen ist. Das Netzwerk aus Familie und Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn und Bekannten bildet die Basis, auf der wir unser Leben aufbauen. In den Fällen, in denen Menschen, aus welchen Gründen auch immer, durch das Netz dieser gegenseitigen Unterstützung fallen oder diese nicht mehr ausreicht, greift in Deutschland der Sozialstaat, unter Wahrung der Subsidiarität, ein.
Gerade in der Moderne sind immer mehr Menschen häufiger auf sich allein gestellt, als es noch vor der Globalisierung der Fall war. Somit bedarf es auch immer mehr Unterstützung durch Sozialarbeitende. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit unterstützt nicht nur benachteiligte Menschen, sondern bietet auch ein breites Spektrum von Angeboten für die Mitte der Gesellschaft wie z. B. Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit, Migrationshilfe, Erziehungshilfe, bis hin zur Arbeit mit Senioren. Sie hat also zwei Aufgabenfelder: die Beratung in allen Lebenslagen und die Beratung in den Bereichen mit besonderen Belastungen.
Diese Arbeit geht in den Kapiteln 3.2 und 3.3 auf benachteiligte Jugendliche ein, also AdressatInnen mit besonderer Belastung. Soziale Arbeit fokussiert sich dabei auf den vordergründigen Alltag der jungen Menschen, aber auch auf die politischen Hintergründe von Arbeitsmarkt-, Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik und ihre Auswirkungen auf den Alltag. Sozialarbeitende unterstützen und ermutigen Jugendliche bei Verhandlungen mit Organisationen, mischen sich ein, um für mehr soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu kämpfen (Thiersch 2020, S. 88-96).
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1 Er machte diese Praxiserfahrungen während eines Heimbesuchs im Rahmen seines Studiums in Göttingen und später bei einem Besuch des Landeserziehungsheims in Schleswig als Dozent in Kiel zusammen mit seinen StudentInnen.
2 Jugendberichte sind Berichte zur Situation der Kinder und Jugendlichen und der Jugendhilfe, die nach dem Gesetz alle vier Jahre erstellt werden müssen. Zuständig hierfür ist eine Kommission, die nach Vorschlägen aus dem Fach zwar vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG) berufen wird, aber unabhängig und im Wechsel von Gesamtberichten und Berichten zu spezifischen Fragen arbeitet (Thiersch 2020, S. 21).
3 Thiersch wählt bewusst die Formulierung „[...] gelingendere[r] Alltag, da Aussagen über die alltägliche Praxis, die sich aus der Dialektik von Erfüllung und Perspektive ergeben, nur relativ und nicht absolut sein können.“ (Engelke, Borrmann, Spatscheck 2018, S. 429)