Arbeiterschutz und Sozialpolitik


Term Paper (Advanced seminar), 2002

41 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis..

1. Begriffliche Einordnung

2. Entstehung der Arbeiterfrage – Historischer Überblick

3. Die frühe staatliche Sozialpolitik und ihr Beitrag zum Lebensstandard
3.1. Der Arbeiterschutz
3.1.1. Frauen-, Kinder- und Jugendarbeitsschutz
3.1.1.1. Gesetze zum Schutz der Kinder und Jugendlichen
3.1.1.2. Gesetze zum Frauenarbeitsschutz
3.1.2. Allgemeiner Arbeiterschutz
3.1.2.1. Gesetze zum allgemeinem Arbeiterschutz
3.1.3. Der Beitrag der Arbeiterschutzgesetzgebung zum Lebensstandard
3.2. Die Sozialversicherung
3.2.1. Vorläufer der staatlichen Sozialversicherung
3.2.2. Die staatlichen Sozialversicherungen
3.2.2.1. Die Krankenversicherung
3.2.2.2. Die Unfallversicherung
3.2.2.3. Die Invaliditäts- und Altersversicherung
3.2.2.4. Allgemeine Gesetze zur Sozialversicherung – Die RVO
3.2.3. Der Beitrag der Lebensversicherung zum Lebensstandard

4. Gesamtfazit

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Arbeitseinkommen pro Jahr und Beschäftigten (1800 = 100)

Abb. 2 Realeinkommen in Deutschland 1810-1913 16

Abb. 3 Entwicklung der Arbeitszeit – wöchtl. Arbeitszeit (Stnd) der Lohnarbeiter in Deutschland 1800-1914

Abb. 4 Entwicklung der Zahl der Versicherten in der Sozialversicherung 1885-1918

Tabellenverzeichnis

Tab. 1 Löhne und Einkommen in der gewerblichen Wirtschaft

Tab. 2 Verstöße gegen Arbeiterschutzbestimmungen 1904-1913

Tab. 3 Krankenhäuser

Tab. 4 Ärzte, medizinisches Personal und Apotheken

Tab. 5 Gesetzliche Unfallversicherung: Versicherte, Rentenempfänger, Einnahmen und Ausgaben

Tab. 6 Invaliditäts- und Altersversicherung

(Versicherungs-Anstalten mit besonderen Kasseneinrichtungen)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In dieser Hausarbeit soll versucht werden, den Beitrag der Arbeiterschutzregelungen und der staatlichen Sozialversicherungspolitik zum Lebensstandard der anvisierten Gruppe der Arbeiter, aber auch ihren (positiven externen) Effekt auf andere gesellschaftliche Gruppen, darzulegen. Es folgt zuerst eine Einordnung der Begriffe sowie ein kurzer historischer Überblick des gesellschaftlichen Hintergrunds. Daran angeschlossen wird ein Überblick über die wichtigsten Regelungen zum Arbeiterschutz und zur Sozialpolitik. Abschließend wird jeweils immer eine Bewertung der Regelungen vorgenommen, um am Ende ein Gesamtfazit zu ziehen

1. Begriffliche Einordnung

Sozialpolitik als Begriff kann sehr unterschiedlich definiert werden, besonders wenn man eine historische Entwicklung betrachtet, da die Sozialpolitik abhängig vom Wandel sozialer Zustände und geschichtlicher Veränderung ist. Nach Lampert lässt sich Sozialpolitik beschreiben als „politisches Handeln mit dem Ziel, die wirtschaftliche und soziale Lage bestimmter Gruppen im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen Ziele zu verbessern und den Eintritt existenzgefährdender Risiken zu verhindern[1] “. Weiterhin kann man Sozialpolitik in staatliche und nichtstaatliche einteilen. Die nichtstaatliche Sozialpolitik umfasst im allgemeinen von privaten Individuen oder Organisationen angebotene Gemeinnützigkeiten wie die kirchliche Alten- oder Armenpflege, Gefangenen- oder auch Sittlichkeitsfürsorgevereine etc., den Bereich der privaten Daseinssicherung wie das private Versicherungswesen und auch die nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit getroffene Absprachen und Einrichtungen wie Sparergesellschaften, das (Spar-) Kassenwesen für die verschiedensten Zwecke, aber auch Genossenschaften, z.B. für den Wohnungsbau. Gerade in dem letzten Punkt zeigt sich der gesetzgeberischer Einfluss des Staates auf die nichtstaatliche Sozialpolitik: Der Staat schafft die Rahmenbedingungen für privates Handeln. Ein weiterer Bereich der nichtstaatlichen Sozialpolitik stellt die betriebliche Sozialpolitik dar.[2] In dieser Hausarbeit wird das staatliche Sozialversicherungswesen betrachtet, daher wird nicht näher auf die genannten Punkte eingegangen.

Arbeiterschutz lässt sich begrifflich leichter eingrenzen. Er umfasst alle Vorschriften, die sich auf den Schutz von abhängig Beschäftigten vor Unfällen im Betrieb, Arbeitszeitüberschreitungen sowie Vertrags-, Lohn- und Beschäftigungsbrüchen (Kündigungsschutz) beziehen.[3]

Arbeiterschutz und Sozialversicherungswesen sind zwei Hauptpfeiler im Gebiet der staatlichen Sozialpolitik. Nach heutiger Meinung umfasst sie nicht nur diese Bereiche, sondern auch Arbeitsmarktpolitik, Ausgestaltung der Betriebs- und Unternehmensverfassung, die Wohnungs-, Familien- und Bildungspolitik, die Politik der Einkommens- und Vermögensumverteilung, die Jugendhilfe-, die Altenhilfe-, die Sozialhilfepolitik und die mittelstandsorientierte Sozialpolitik.[4]

Die Grundsteine des heutigen sozialpolitischen Systems in Deutschland wurden im 19. Jahrhundert mit der Einführung der Arbeiterschutz- und später der Sozialversicherungsgesetzgebung gelegt. Das Sozialversicherungssystem mit den Regelungen zu Unfall-, Kranken- und Alters- und Invalidenversicherung wurde allgemein, besonders im Ausland, im 19. Jahrhundert als enormer Fortschritt angesehen und war in dieser damals umfassenden Art und Weise als Gesamtsystem in ganz Europa vorbildlich.

Der Schwerpunkt in dieser Hausarbeit soll die Frage sein, inwieweit die Arbeiterschutz- bzw. Sozialversicherungsgesetzgebung zum Lebensstandard beigetragen haben, wobei sich aber schon der Begriff „Lebensstandard“ schwer definieren lässt. Daher fehlt es auch an einzelnen aussagefähigen Indikatoren für den Lebensstandard. Man muss mehrere Indikatoren betrachten und versuchen, den Zusammenhang zu erkennen. Wie der Begriff der Sozialpolitik ist eine Definition des Lebensstandards abhängig vom Wandel gesellschaftlicher Zustände und Ziele. Allgemein gesprochen beschreibt es das Niveau der Existenz-, Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung, i.e.S. lässt sich Lebensstandard als Grad der Befriedigung materieller, geistig-kultureller Lebensbedürfnisse, besonders aber als Versorgungsgrad privater Haushalte mit Verbrauchs- und Gebrauchsgüter sowie Dienstleistungen umfassen.[5]

Eine mögliche frühe Quelle zur Beschreibung des damals herrschenden Lebensstandards stellen subjektive Berichte von Pfarrern und Lehrern und sozial engagierten bürgerlichen Kreisen dar, besonders die von Ärzten, wobei aber negative Erfahrungsberichte überwiegen. Auch die Wissenschaft beschäftigte sich schon früh mit diesem Thema, z.B. Emminghaus 1868 in seiner „Allgemeinen Gewerkslehre“, wo u.a. der Arbeitsvertrag, die Entlohnung, die Gewinnbeteiligung, die Arbeitszeit, die Sorge für Gesundheit, Sicherheit, Wohnungsverhältnisse und die Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen behandelt wird.[6]

Man kann aber auch, soweit vorhanden, die Ausgaben für Ärzte und Medizin als Indikator heranziehen – Angaben hierzu finden sich nach Einführung der Krankenversicherung, vorher kann man wohl davon ausgehen, dass man sich gerade aufgrund der niedrigen Löhne diese Ausgaben erspart hat. Diesbezüglich ist auch die Lohnhöhe auch als Indikator heranziehbar, besonders wenn man dazu im Vergleich die Lebenshaltungskosten bzw. Lebensmittelpreise betrachtet. Eine weitere Möglichkeit wäre die Anzahl der Unfälle bzw. Auszahlungen der (Unfall-) Versicherung an Geschädigte als Quelle zu benutzen, wobei diese Daten aber wiederum erst durch die Unfallversicherung und dem Aufbau der staatlichen Kontrolle der Fabrikinspektion als Indikatoren dienen können. Zumal man erst durch die Fabrikinspektion statistisches Material über den Zustand der Fabriken und der Arbeiter erhielt, dies aber in ausreichendem Maße erst ab 1890 mit dem Ausbau dieser Behörde. Betrachtet man weiterhin Freizeit als Bestandteil des Lebensstandards, so ist auch eine Betrachtung der Entwicklung der Arbeitszeit sinnvoll.

2. Entstehung der Arbeiterfrage – Historischer Überblick

Das 19. Jahrhundert war bzgl. der Arbeits- bzw. Lebenswelt einem grundlegenden Wandlungsprozess unterworfen. Die Ursachen der Entstehung der Arbeiterfrage rühren zwar zum Großteil, von der industriellen Produktionsweise und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem her, sie hat ihren Ursprung aber auch im hohen Bevölkerungswachstum im 19.Jahrhundert, der hohen Binnenmobilität und der Urbanisierung.[7]

So wuchs die Bevölkerung im Zeitraum von 1800-1850 von 23 Millionen au 35 Millionen (52%) und bis 1900 auf 56 Millionen (60%)[8], dieser Wachstum lässt sich u.a. durch die Bauernbefreiung und der Aufhebung des Zunftzwanges, was die Heiratsmöglichkeit erleichterte, begründen. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch, dass viele Familien auf dem Land sich nicht mehr von ihrer Arbeit aus Landwirtschaft und/oder Heimarbeit ernähren konnten, besonders wenn man bedenkt, dass der industrielle Fortschritt mit produktiveren Maschinen die Möglichkeit bot, billiger Waren in Massenproduktion zu erstellen als durch die Heimarbeit. Man zog daher entweder ganz oder nur in „Hochphasen der Konjunktur“ in die Städte oder eben immer dorthin, wo es Arbeit gab.[9] Begünstigt wurde die Binnenmobilität zudem durch das Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen 1842 und das Freizügigkeitsgesetz 1867.

Das Zeitalter der Industrialisierung veränderte das soziale Gefüge auf dem Land, wie auch in der Stadt. Die üblichen Formen der sozialen Absicherung, wie z.B. familiäre und nachbarschaftliche Hilfe sowie die kommunale Armenfürsorge, konnten entweder nicht greifen oder überforderten die Gemeinden und reichten daher nicht aus, da diese Absicherung gewöhnlich seit 1842[10] (Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege und Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen) nun auch für Zugezogene galt, damit aber die Gemeinden nicht übermäßig belastet sein sollten, wurde die ursprüngliche Fassung in der Weise abgeändert, dass diese erst nach einem Aufenthalt von einem Jahr am Wohnort Bezugsrecht erhielten.[11] Zudem war der Bezug von Armenhilfe stets mit sozialer Ächtung und Verlust des Wahlrechts verbunden.

Der große Bedarf an staatlicher Sozialpolitik entstand, als die Industriearbeiter immer mehr zu einer großen Masse heranwuchsen. Diese Schicht war zwar persönlich frei, aber eigentums- und besitzlos, damit einzig und allein auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen. Sie waren nicht nur im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Altersschwäche, Witwen- und Waisenschaft meistens schutzlos in ihrer Existenz bedroht, sondern arbeiteten gewöhnlich unter gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, mit extrem langen Arbeitszeiten und Löhnen am Existenzminimum - dass diese Zustände im hohen Maße die Gesundheit, die Möglichkeit der Regeneration und die Leistungsfähigkeit der arbeitenden Menschen beeinträchtigte, ist offensichtlich.

Da nun der Lohn eines einzelnen Familienmitgliedes nicht zum Leben der Familie reichte, zudem die Arbeitsverträge ohne Einhaltung von Kündigungsfristen jederzeit gelöst werden konnten, kamen auch Kinder, Jugendliche und Frauen zum Arbeitseinsatz. Sie wurden häufig auch bevorzugt angestellt, da ihre Entlohnung niedriger war als die der Männer, sei es, weil sie unqualifiziertere Arbeit verrichteten, welche im Zuge der Maschinisierung sich auf einfache Handgriffe beschränkte und auch geringer entlohnt wurde, oder ebenbürtige.

Eine spezielle Problematik ergab sich aus bestimmten Lohnzahlungsformen – die Arbeitnehmer konnten nicht immer selbst frei über die Ausgabe ihres Verdienstes entscheiden. Die Arbeitgeber zahlten häufig den Lohn nicht in bar aus, sondern in Warenbezugsscheinen für bestimmte Läden, die häufig dem Arbeitgeber gehörten und nicht immer die besten Waren anboten oder überteuert verkauften, oder auch in Zahlungsanweisungen, die der Arbeiter dann bei oft weit vom Wohnort entfernten Banken oder Handelshäusern einzulösen hatten, wobei es gut passieren konnte, dass es sich bei den „Anweisungen“ um Forderungen des Arbeitgebers handelte. Eine weitere beliebte Möglichkeit der Entlohnung war die Entgeltung durch - meist schadhafte - Waren (Trucksystem). Die Arbeiter waren dann gezwungen, erst auf dem Markt ihren „Lohn“ verkaufen zu müssen, bevor sie sich Waren für ihren Lebensbedarf besorgen konnten.[12] Zu all dem kam in den Städten noch die große Wohnungsnot hinzu, noch aus der um 1900 wird berichtet:

„In Berlin waren 1900 43 Prozent aller Haushaltungen in einräumigen, 28 Prozent in zweiräumigen Wohnungen untergebracht. Es wurden 1955 Haushaltungen gezählt, die in einem einzigen Raume Eltern, Kinder (unter 15 Jahre) und Schlafleute bis zu 10 Köpfen, in 48 sogar Schlafleute verschiedenen Geschlechts beherbergten. (...) In Wohnungen mit nur einem Zimmer (mit oder ohne Zubehör) wohnten von je 100 Bewohnern in Barmen 55, Königsberg 54, Rixdorf 54, Magdeburg 46, Posen 45, Görlitz 45, Berlin 44, Halle a.S. 43, Breslau 41. Die Überfüllung dieser einzimmerigen Wohnungen erhellt aus der erschütternden Tatsache, dass von diesen mehr als sechs Personen beherbergten in Königsberg 26 Prozent, Posen 24, Barmen 22, Halle a.S. 20, Hannover 18, Magdeburg 17, Altona 15, Breslau 15, Kiel 14, Rixdorf 14, Charlottenburg 13, Berlin 12, Schöneberg 12.[13]

3. Die frühe staatliche Sozialpolitik und ihr Beitrag zum Lebensstandard

Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik sind in folgende Epochen einteilbar:[14]

Anfänge staatlicher Sozialpolitik bis zur Entlassung Bismarcks (1839 – 1890)

Entlassung Bismarcks bis Ende 1. Weltkrieg (1890 – 1918)

Weimarer Republik (1919 – 1932)

3. Reich (1933 – 1945)

BRD – DDR

Der Schwerpunkt dieser Hausarbeit konzentriert sich auf die Zeit von 1839 (Industrialisierungsphase) bis Anfang 1900. In diesem Zeitraum selbst ist besonders die Sozialversicherungsgesetzgebung der Ära Bismarck und Ära Kaiser WilhelmII interessant.

Vor der Einführung der Sozialversicherungen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen deutschen Ländern Regelungen zum Arbeiterschutz eingeführt, welche die Bereiche Kinder-/ Jugend- und Frauenarbeit betrafen. Damit wurden allerdings nur die offensichtlichsten Missstände geregelt, aber nicht beseitigt[15], da es zudem höchstens nur eine fakultative Fabrikinspektion gab und es daher nicht zu einer wirksamen Kontrolle kam.

In den Belangen des Arbeiterschutzes waren die deutschen Gebiete übrigens im Vergleich z.B. zum früher industrialisierten England Nachzügler, diese hatten schon 1802 die Kinderarbeit in Baumwollfabriken verboten und seit 1833 (Factory Act) durch staatliche Kontrolle überwacht.[16] Warum dann die Sozialversicherung allerdings zuerst im Deutschen Reich eingeführt wurde und nicht dagegen in England, weist auf die Besonderheit im Deutschen Reich hin: der Auslöser für die Einführung der Sozialversicherung, die kennzeichnenderweise auch „Arbeiterversicherung“ genannt wurde, war nicht z.B. die kollektive Absicherung des Lebens vor den Folgen der industriellen Gesellschaft oder Chancengleichheit, wie z.T. heute, sondern zum überwiegenden Teil Ergebnis politische Erwägungen - in erster Linie sollte die Sozialdemokratie und mit ihr die Arbeiterbewegung geschwächt werden. Nicht umsonst kamen die Versicherungen erst im Gefolge des Verbotes der SPD (Sozialistengesetz 1878).

Zudem ist auch in diesem Zusammenhang auffällig, dass es keine Fortschritte bei den Arbeiterschutzgesetzen nach Einführung der Sozialversicherungen während der Zeit Bismarcks gab. Erst nach seinem Rücktritt wurden weitere Arbeiterschutzregelungen durchgesetzt, was u.a. von dem zeitweilig starken sozialpolitischen Interesse Kaiser Wilhelm II herrührte. Allerdings währte dies nur für eine kurze Zeit, schon Mitte der 1890er Jahre kam es wiederum zum Stillstand in der Arbeiterschutzgesetzgebung. Man muss dabei immer bedenken, dass Arbeiterschutzgesetze im Gegensatz zur Sozialversicherung einen direkten Eingriff in die unternehmerische Freiheit darstellen, dies damit gegen das herrschende Dogma des Wirtschaftsliberalismus des Industrialisierungszeitalters sprach.[17] Zudem immer eingewendet wurde (und auch heute wird), dass Regelungen zum Arbeiterschutz lediglich einen zusätzlichen Kostenfaktor für die Unternehmen darstellen, dies damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie beeinträchtigen würde.

3.1. Der Arbeiterschutz

Arbeiterschutzmaßnahmen[18] wurden im Gegensatz zur Sozialversicherung relativ früh in den späteren Mitgliedsländern des Deutschen Reiches gesetzlich geregelt. Im allgemeinen kann man sagen, dass bis zur Einführung der Sozialversicherung, sozialpolitische Ansätze bis 1880 hinter der Arbeitsschutzgesetzgebung zurücktraten.[19] Unter Arbeiterschutz versteht man die „Gesamtheit sozialpolitischer Maßnahmen zum Schutze der abhängig Arbeitenden gegen (materielle und immaterielle) Schädigungen und Gefahren, die aus der Arbeitsausübung und aus dem Abhängigkeitscharakter des Lohnarbeitsverhältnisses erwachsen[20] “.

Den Anfang nahmen Regelungen zum Kinder-/Jugend- und Frauenarbeitsschutz. Diese gingen letztendlich in den allgemeinen Schutzregelungen für alle Arbeiter auf.

3.1.1. Frauen-, Kinder- und Jugendarbeitsschutz

Schutzmaßnahmen für Frauen, Kinder und Jugendliche wurden als erste eingeführt. Dies hatte u.a. seinen Grund darin, dass einerseits die Kinder- und Jugendarbeit in kirchlicher und bürgerlicher Sicht als bedenklich für die Erziehung und Ausbildung sowie der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen angesehen wurde.[21] Ein Bericht aus dem Rheinland aus dem Jahre 1824 beschrieb wie folgt die Lage der arbeitenden Kinder:

„Bleiche Gesichter, matte und entzündete Augen, geschwollenen Leiber, aufgedunsene Backen, geschwollene Lippen und Nasenflügel, Drüsenschwellungen am Halse, böse Hautausschläge und asthmatische Zustände unterscheiden sie in gesundheitlicher Beziehung von anderen Kindern derselben Volksklasse, welche nicht in Fabriken arbeiteten.“[22]

Der Gesundheitsaspekt wurde insbesondere als Einwand bei der Gefahr der Einschränkung der Militärtauglichkeit durch Kinder- und Jugendarbeit genannt.[23] Andererseits gab es auch Befürworter der Kinder- und Jugendarbeit[24], da man der Meinung war, dass Arbeit die Heranwachsenden vom Herumstreunen abhalten und zudem die körperliche Betätigung der Gesundheit dienen würde. Zudem sollte man beachten, dass auch sozialpolitische Erwägungen bei der Beurteilung von Kinderarbeit eine Rolle spielten, es ist i.d.S. nicht verwunderlich, dass ein Bürgermeister diese gutheißt, da sonst z.B. die Familie der Armenfürsorge anheim fallen könnte, somit dies zu Lasten seiner Gemeinde gehen würde. So wurde im Jahr 1824 der Bürgermeister von Ratingen vom Landrat von Düsseldorf bzgl. der Kinderarbeit in seinem Bezirk – Spinnerei Cromford – befragt, seine Antworten lauteten auf die aufgeführten Fragen:[25]

1. „Wie ist die Lebensart o. g. Kinder beschaffen, und wie ist sie von der nicht auf Fabriken arbeitenden Kindern gleichen Standes verschieden? Sie arbeiten 12 Stunden, die nicht in den Fabriken arbeitenden betteln.
2. Wie ist der Gesundheitszustand dieser Kinder an sich und im Verhältnis zu den nicht arbeitenden Kindern derselben Volksklasse? Die meist gehend und stehend verrichtete Arbeit in luftigen Gebäuden erhält die Kinder gesund, die nicht darin arbeitenden sind krank von Elend und betteln.
3. Wenn der Gesundheitszustand der Fabrikkinder schlechter ist als der übrigen Kinder, liegt der Grund in den Arbeiten oder worin? Er ist nicht schlechter, sondern besser.
4. Wie verhalten sich hinsichtlich der Gesundheit diejenigen Erwachsenen, die in ihrer Kindheit in Fabriken gearbeitet haben, zu denen, die nicht gebraucht worden sind? Die in der Spinnerei in der Kindheit gearbeitet habenden, sind erwachsen meist gesunde, starke Handwerker.
5. Welche Gesetze über die Benutzung der Kinder zu Fabrikarbeiten erscheinen nach den Resultaten der über obige Punkte angestellten Untersuchung zweckmäßig? Keine.

Verzeichnis der in den Fabriken arbeitenden Kinder

Bezeichnung von Fabriken, wo Kinder arbeiten: Baumwollspinnerei

Wieviele Kinder arbeiten tags: 150

Nachts: keine

In welchem Alter sind diese Kinder: von 6 bis 16 Jahren

Arbeitsstunden: 12

Gesundheitszustand: gut

Welch Arbeiten die Kinder verrichten: Aufpassen und andere Baumwollgarnarbeiten

Wie lange die Fabriken bestehen: 40 Jahre

Ob ähnliche Fabriken vormals bestanden, welche eingegangen sind: Die hiesige Maschinenspinnerei war die erste auf dem Kontinent.

Die Fragen zeigen an, dass die fragende Behörde sich der Auswirkungen der Kinderarbeit schon bewusst ist, da zielgenau nach dem Zusammenhang des Gesundheitszustands und der Arbeit gefragt wird, die Antworten lassen aber den Eindruck entstehen, dass der Bürgermeister sich des Problems nicht bewusst ist. Ihm ist anscheinend mehr an der Tatsache gelegen, dass die Baumwollspinnerei die erste auf dem Kontinent, Nicht-Arbeit gleich zu setzen sei mit Bettelei oder schlimmer, Versorgung durch die gemeindliche Armenfürsorge.

Auch die industrielle Frauenarbeit wurde als moralisch verwerflich und, bedenkt man die Schwangerschaft, als gesundheitsschädlich angesehen. Schließlich war man der Ansicht, Frauenarbeit verhindere die sittliche Erziehung der Kinder- und Jugendlichen und die ordnungsgemäße Versorgung des Haushalts.[26]

Man muss aber zur Problematik der Frauen-, Kinder- und Jugendarbeit bemerken, dass sie wegen der damals allgemein gezahlten Niedriglöhne letztendlich ein notwendiger Beitrag zum Familieneinkommen war. Ein besonderer Problembereich war die Kinder- und Jugendarbeit u.a. als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft und der Heimindustrie. Dort waren sie erstens der Kontrollmöglichkeit des Staates weitgehend entzogen und zweitens war dies damit statistisch schwerer erfassbar als die Fabrikarbeit.[27]

3.1.1.1. Gesetze zum Schutz der Kinder und Jugendlichen

Es zeigt sich, dass bis etwa 1853 die hauptsächlichen Grundzüge der Kinder- und Jugendschutzgesetze mit den Hauptpunkten Altersgrenze, Arbeitszeit, Arbeitsart (betroffene Unternehmen) und Schulpflichtigkeit gelegt werden. Ein weiterer Ausbau stellte jeweils immer nur Korrekturen dar (z.B. Mindestalteranhebung). Spätere Änderungen wurden zumeist im Gefolge anderer Arbeiterschutzgesetze vorgenommen, weitere Ausweitungen des Kinder- und Jugendschutzes zumeist erst viele Jahre später wieder in Angriff genommen (z.B. 1903).

Das erste Gesetz zum Schutze der Kinder und Jugendliche datiert sich auf den 9.März 1839 (Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken) in Preußen, was sicherlich durch die in Preußen besonders ausgeprägte „vorindustrielle Fürsorgetradition obrigkeitlichen Denkens[28] “ erklärbar ist. Es untersagte für alle Bergwerke, Poch- und Hüttenwerke die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren, verlangte für beschäftigte Jugendliche den Nachweis einer dreijährigen Schulausbildung, begrenzte die Arbeitszeit Jugendlicher unter 16 Jahren auf 10 Stunden täglich, inklusive einer 1½-stündigen Pause und verbot die Beschäftigung Jugendlicher zwischen 21.00Uhr und 5.00Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen.[29]

1853 (Gesetz über Fabrikinspektoren) wurde dieses Gesetz verbessert: das Mindestalter wurde von 9 auf 12 Jahre angehoben und die Arbeitszeit für 12- bis 14-Jährige auf 6 Stunden pro Tag begrenzt, soweit sichergestellt war, dass die arbeitenden Kinder- und Jugendliche 3 Stunden Schulunterricht erhielten. Zudem sah das Gesetz eine, zunächst nur fakultative, staatliche Gewerbeaufsicht vor, die ab 1878 obligatorisch, aber erst nach ihrem systematischen Ausbau ab 1890 effektiv wirksam wurde.[30] Mit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund 1869 kam die Meldepflicht hinzu. Jugendliche von 14 bis 16 Jahren konnten hingegen immer noch bis zu 10 Stunden täglich beschäftigt werden. Im Jahre 1891 verbot eine weitere Novelle zur Gewerbeordnung (Gesetz, betr. Veränderung der Gewerbeordnung – Arbeiterschutzgesetz) die Beschäftigung von Kindern unter 13 Jahren und von noch schulpflichtigen Kindern in Fabriken. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1903 (Gesetz, betr. Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben), bis diese Rechtslage auch für Handwerksbetriebe, das Handels- und Verkehrsgewerbe sowie auf Gaststätten durchgesetzt wurde. Kinder durften nun in gewerblichen Betrieben nur noch maximal 3 Stunden beschäftigt werden. Mit dieser Novelle wurde der Kinder- und Jugendschutz zwar auf die in Familien (Handwerksbetrieb, Krämerladen, Hausindustrie) beschäftigten Kinder ausgedehnt, doch blieb außer dem Verbotsdruck kaum eine Kontrollmöglichkeit. Die Landwirtschaft wurde wiederum ausgeklammert.

3.1.1.2. Gesetze zum Frauenarbeitsschutz

Die Hauptpunkte beim Frauenarbeitschutz waren Arbeitszeit, Arbeitsart (betroffene Unternehmen) sowie Mutterschutzregelungen. Diese Punkte wurden im Laufe der Zeit jeweils erweitert bzw. präzisiert. Erste Regelungen werden 1878 getroffen.

Frauenarbeit ist wie Kinder- und Jugendarbeit in Form mithelfender Familienangehöriger in der Landwirtschaft, im Handwerksbetrieb sowie der ländlichen Industrie vor und auch nach der Industrialisierung eine notwendige Selbstverständlichkeit gewesen. Eine gesonderte Stellung nahmen die meist unverheirateten Dienstmädchen ein. Sie unterlagen den Gesindeordnungen, die häufig, wie z.B. die Preußische Gesindeordnung von 1810, patriarchalisch paternalistisch geprägt waren. Der Haushalt des Dienstgebers sorgte für Unterkunft, Verpflegung und Bezahlung, dafür mussten die Dienstmädchen immer abrufbereit – außer zur Kirchzeit – zum arbeiten sein. Der Dienstgeber hatte auch eine bedingte strafrechtliche Gewalt über sein Gesinde.

Die arbeitende Frau in der Industrie wurde 1878 mit der bereits erwähnten Novelle (Gesetz zur Abänderung der Gewerbeordnung) der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (1869) bedacht: Erstmals wurde der Mutterschutz für Wöchnerinnen während der ersten drei Wochen nach der Entbindung eingeführt, die Untertage-Arbeit und die Arbeit an schwersten Arbeitsplätzen wurde verboten, zudem der Bundesrat ermächtigt, weitergehende Beschränkungen bzgl. der Nachtarbeit von Arbeiterinnen zu erlassen.[31] Dies bedeutete aber nicht, dass der Bundesrat seine Kompetenzen auch wahrnahm. Auch hier bewirkte wie bei den Schutzbestimmungen zur Kinder- und Jugendarbeit erst die 1878 obligatorische und ab 1890 ausgebaute Fabrikinspektion eine Einhaltung der Gesetze.

Das Arbeiterschutzgesetz von 1891 beschränkte zudem erstmals die tägliche Arbeitszeit für Frauen auf 11 Stunden, vor Sonn- und Feiertagen auf 10 Stunden, verbot die Nachtarbeit nun auch für Frauen und führte, für alle Arbeiter, die Sonntagsruhe ein.

Der Frauenarbeitsschutz wurde erst wieder im Jahre 1908 (Gesetz, betr. Abänderung der Gewerbeordnung) mit der Einführung des zehnstündigen Maximalarbeitstages – mit der weiteren Einschränkung der Arbeitszeit an Tagen vor Sonn- und Feiertagen auf höchstens 8 Stunden - aufgegriffen. Weitere Bestimmungen waren die Ausweitung des Mutterschutzes auf nunmehr insgesamt 8 Wochen vor und nach der Geburt und eine Mindest-Nachtruhe für Arbeiterinnen. Im Übrigen ist noch zu erwähnen, dass Frauen in den Städten oft (in Berlin 1895 ca. 60.000 Frauen) in Heimarbeit hinzuverdienten, wie z.B. in der Konfektionsindustrie. Dieser Bereich wurde allerdings erst 1911 (Hausarbeitsgesetz) geregelt.[32]

3.1.2. Allgemeiner Arbeiterschutz

Der allgemeine Arbeiterschutz lässt sich aufgliedern in Sonderregelungen für spezielle Gruppen, wie oben dargelegt handelt es sich hierbei Frauen, Kinder und Jugendliche sowie allgemeinen Regelungen, die in ihren Hauptpunkten für alle Arbeitnehmer gelten. Hierbei handelt es sich um Arbeitszeit-, Lohnschutz- und Unfallschutzregelungen. Eine „Männerschutzregelung“ im speziellen gab es nicht.

3.1.2.1. Gesetze zum allgemeinem Arbeiterschutz

Sachlich ausgeweitet wurde der bisher auf den Kinder- und Jugendlichenschutz beschränkte Arbeiterschutz durch die Preußische Allgemeine Gewerbeordnung von 1845. Sie verpflichtete die Arbeitgeber zur „Rücksichtsnahme auf Gesundheit und Sittlichkeit der Beschäftigten[33] “ - was allerdings nicht unbedingt eine Auswirkung gehabt haben muß, es gab schließlich keine wirksame Kontrolle. Mit der Novellierung der Allgemeinen Gewerbeordnung 1849 wurde mit dem Truck-Verbot für Fabrikarbeiter der Lohnschutz eingesetzt[34], was, wie zu Anfang ausgeführt, eine bedeutende Verbesserung im Vergleich zu der früheren Unsicherheit bei der Entlohnung darstellt.

Eine wichtige Rolle zum Schutze der Arbeiter hätte die Haftungsregelung bei Unfällen spielen können, aber da nach dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 die Beweislast eines schuldhaften Verhaltens dem Geschädigten auferlegt wurde (mit Ausnahmen, wie z.B. bei dem Staatsbetrieb Eisenbahn), verminderte sich ihr Beitrag. Der Schadensersatzanspruch wurde i.d.S. eine Illusion, da die Arbeiter nicht die Mittel besaßen, einen Unternehmer zu verklagen.[35] Zudem bot diese Regelung keinen durchgreifenden Anreiz für den Unternehmer, betriebliche Schutzvorkehrungen zur Unfallverhütung zu betreiben, da eben die Gefahr der Zahlungsverpflichtung gering war, so Ausgaben für Unfallverhütung nur Kosten darstellten und zu guter letzt es kaum eine Kontrolle der Gefahrenquellen in den Betrieben durch z.B. Fabrikinspektoren zu diesem Zeitpunkt gab.[36] Dieser Anreiz wurde erst durch die Unfallversicherung (wie später ausgeführt) und der gleichzeitig kraft Gesetz gebildeten Zwangsvereinigungen der Unternehmer (Berufsgenossenschaften) als gemeinsamer Träger der Versicherung und Haftender bei Unfällen ausgelöst. Damit wurde gleichzeitig aber auch ein möglicher, direkter staatlicher Eingriff in die unternehmerische Freiheit zurückgeschraubt. Die Berufsgenossenschaften selbst schrieben sodann, neben den Auflagen der Fabrikinspektoren, für ihre Mitglieder Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze der Arbeiter vor. Zugleich ist diese Regelungsweise auch als Schutz vor Zahlungsleistungen ansehbar.

Ermöglicht wurde dieser letzte Punkt u.a. auch durch das Arbeiterschutzgesetz von 1891, das die Gewerbetreibenden verpflichtete, „für die Einrichtungen und Regelungen zu sorgen, die erforderlich sind, um Gefahren für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit von der Arbeitern fernzuhalten[37] “.

Mit dem Arbeiterschutzgesetz 1891 (Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung) erging auch ein Verbot der Sonntagarbeit bzw. eine Regelung der Sonntagsruhe für alle Arbeiter auch wenn zahlreiche Ausnahmen enthalten waren. Zudem hinkte gerade bei der Arbeitszeitentwicklung die gesetzliche Regelung der realen wirtschaftlichen Entwicklung hinterher. Aber nicht desto trotz ging von diesem Gesetz ein wichtiger Impuls zur Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit aus. Einschränkend muß dazu aber bemerkt werden, dass diese Novelle erst 1895 und 1901 in Kraft trat und die Sonntagsruhe zwar positiv, besonders von der Kirche, gesehen wurde, aber dies wiederum nicht eine Verminderung der täglichen Arbeitszeit an den restlichen Werktagen von Männern bedeutete.[38] Eine gesetzliche Beschränkung der täglichen Maximalarbeitszeit gab es für Frauen 1891, für Männer aber erst 1918.

3.1.3. Der Beitrag der Arbeiterschutzgesetzgebung zum Lebensstandard

Fragt man nach dem Beitrag der Arbeitsschutzgesetze zum Lebensstandard, so muß man sich vorher überlegen, welcher Art und Weise diese Maßnahmen auszusehen haben, um auch real einen Beitrag leisten zu können. In diesem Sinne wäre eine präventive Arbeiterschutzpolitik[39] bzgl. der Gesundheitserhaltung und eine aktive Unfallvermeidungspolitik notwendig gewesen, aber auch ein existenzsichernder Minimumlohn für die erbrachte Arbeitsleistung stellt eine Möglichkeit dar.

Die Regelungen zur Kinder- und Jugendarbeit regeln eben nur die Arbeit der Minderjährigen, sie verbieten sie nicht. Aber selbst die Einhaltung dieser Regelungen wurde lange Zeit nicht gewährt, da schließlich die wirksame Kontrolle fehlte.[40] In diesem Zusammenhang muß man aber auch beachten, dass gesellschaftlich gesehen, von vielen Arbeit als ein Erziehungsinstrument positiv gesehen wurde, und selbst die kritischen Stimmen konnten angesichts der niedrigen Löhne die Notwendigkeit der Kinder- und Jugendarbeit als Beitrag zum Einkommen der Familie nicht ablehnen.

Zu all dem ist noch das Problem der Heimarbeit von Kindern und Jugendlichen und der Arbeit bzw. Mithilfe in der Landwirtschaft zu nennen: dies lief alles schon wegen der schweren Erfassbarkeit ohne staatliche Kontrolle ab, zudem es auch als Selbstverständlichkeit behandelt wurde, daher begegnete man auch Reformvorschlägen in diesem Bereich mit einer starken Abwehrfront, besonders in den preußisch-deutsch geprägten Gebieten.[41] So war es in der Landwirtschaft durchaus üblich, dass Kinder aushalfen, wie diese Quelle ausführt:

„Wie im ganzen Thüringer Walde und vor allem in meinem Geburtsort üblich war, wurden wir schon in frühester Jugend zur Arbeit bei fremden Leuten angehalten. Wie halfen den Landwirten bei der Ernte, im Frühsommer holten wir aus den Sümpfen Binsen und flochten sie zu Kornbändern, mit denen die Garben zusammengebunden werden sollten. Im Herbst betätigten wir uns bei der Kartoffelernte, im Winter und Frühjahr wurden für die Zinngießereien Bleisoldaten, Schäfereien und dergleichen gemalt.[42]

1889 wurde zur Ermittlung des Umfangs der Kinder- und Jugendarbeit, also nicht nur die Fabrikarbeit, sondern die gesamte gewerbliche Beschäftigung, eine umfassende Erhebung durchgeführt, die ergab, dass den 7072 in Fabriken arbeitenden Kindern insgesamt 532.283 Kinder gegenüberstanden, die außerhalb der Landwirtschaft und des Gesindedienstes gewerblich beschäftigt wurden, wobei 306.823 auf die Industrie, weitere 171.739 auf Lauf- und Auftragsdienste, 20.314 auf Handel und Verkehr sowie 21.620 auf das Gaststättengewerbe entfielen. Man muß hierbei aber regionale Unterschiede beachten: in heimindustriell stark geprägten Gegenden wie Baden war der Anteil der arbeitenden Kinder höher als in Preußen, wobei aber in Berlin selbst ein höherer Wert ermittelt wurde (12,8%) als im restlichen Durchschnitt Preußens (5,2%). Eine Enquete von 1904 ergab, dass von mehr als 9,25 Millionen Volksschulkindern unter 14 Jahren 1,77 Mio. in der Land- und Forstwirtschaft gegen Entgelt, also nicht im elterlichen Betrieb, beschäftigt wurden, wobei 1,052 Mio. unter 12 Jahre, 445.000 unter 10 Jahre alt waren, und dabei 30.000 Kinder durchgängig das ganze Jahr hindurch arbeiteten.[43] War also zu Beginn der Industrialisierung die Kinderarbeit in Fabriken das Problem gewesen, so verminderte sich dieses Problem durch die fortschreitende Industrialisierung und den Schutzregelungen und rückte in den Hintergrund, dafür wurde aber nun die kaum kontrollierbare Heimarbeit von Kindern in der Familie vielfach berechtigterweise als Problem erkannt und kritisiert – Inspektoren berichten im Jahr 1883 in den Preußischen Jahrbüchern:

„ (...) Noch viel schlechter – nämlich als die in Fabrikräumen arbeitenden – seien die Kinder daran, welche zu Hause mit Kleben von Schachteln usw. beschäftigt werden. Sie verlieren die den andern zuerkannte Mittagspause, ihre Arbeitszeit ist am Abend nicht beschränkt, sie arbeiten in kleinen dumpfigen Wohnräumen und sind ohne Aufsicht de Erwachsenen sich vollständig selbst überlassen. (...) Gesundheitsgefährlich im höchsten Grade erschein in Schwarzburg-Sondershausen der Aufenthalt in den engen Wohnungen solcher Hausindustrieller, welche sich mit der Herstellung von Zündhölzern aus weißem Phosphor beschäftigen die fast immer Krankheit nach sich zieht. Unter den an der Necrose Erkrankten war jüngst auch ein noch schulpflichtiger Knabe von 13 Jahren, der nur bei dem Verpacken von Zündhölzern thätig war. (...)[44]

Die Inspektoren verlangen zwar Gesetze gegen diese Zustände, können aber zu diesem Zeitpunkt noch nichts erreichen.

[...]


[1] Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, 4.Aufl., Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1996, S.4

[2] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1992, S.693f

[3] Vgl. Recktenwald, H. C., Wörterbuch der Wirtschaft, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1990, S.37

[4] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.3

[5] Vgl. Meyers großes Taschenlexikon, Band 13, 5.Aufl., B.I. Taschenbuch Verlag Mannheim Leipzig Wien Zürich 1995, S.46

[6] Vgl. Krell, G., Geschichte der Personallehren in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium vom 5.5.1998, S.222

[7] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S. 26f und Ritter, G.A., Sozialversicherung in Deutschland und England, C.H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung München 1983, S.10

[8] Vgl. Henning, F.-W., Die Industrialisierung in Deutschland 1800 – 1914, Bd.2, 9.Aufl., Uni Taschenbücher - Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn München Wien Zürich 1995, S.17

[9] siehe auch andere Seminarthemen

[10] Hinzuzufügen ist, dass man eigentlich aus Vollständigkeitsgründen einzeln auf die Gesetzgebung der späteren Mitgliedsländer des Deutschen Reiches eingehen müsste, da aber nach Lampert die Entwicklung der wesentlichen Inhalte übereinstimmend verlief und später Preußen im Deutschen Reich dominierend war, konzentriert sich die Darstellung der frühen sozialpolitischen Gesetzgebung auf Preußen. (vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.63)

[11] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.65

[12] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.22 und Ritter, G.A./Kocka, J., (Hrsg.), Deutsche Sozialgeschichte-Dokumente und Skizzen, Bd.II 1870-1914, Verlag C.H. Beck, München 1974, S.250

[13] aus: Deutsche Sozialgeschichte – Dokumente und Skizzen 1870-1914, Band II, Hrsg. Ritter, G.A. / Kocka, J., Verlag C.H. Beck, München 1974, S.272, nach Hitze, Geburtenrückgang und Sozialreform 1917, S.27; Kursivdruck übernommen

[14] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.63f nach Henning 1984

[15] Vgl. Machtan, L., Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem, in VZSW, Beiheft 95, Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S.128f

[16] Vgl. Kath, D., Sozialpolitik, in Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd.2, 4.Aufl., München 1995, Hrsg. Bender, D. u.a., S.416

[17] Vgl. Machtan, L., Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem, in VZSW, Beiheft 95, S.113f

[18] Nach Lampert werden die Begriffe Arbeitsschutz, Arbeiterschutz und Arbeitnehmerschutz synonym verwendet (hier wird zum Großteil nur der Begriff Arbeiterschutz benutzt), exakt wäre allerdings nur der Begriff Arbeitnehmerschutz, da damit nicht die Arbeit und nicht nur die Arbeiter, sondern alle Arbeitnehmer geschützt werden. (vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.159)

[19] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.63

[20] Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.159

[21] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.159 und Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.199

[22] Quelle Fabrik - Familie - Feierabend, Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Hrsg. Reulecke, Jürgen/Weber, Wolfhard; Beitrag von Friedrich-Wilhelm Henning: Humanisierung und Technisierung der Arbeitswelt. Über den Einfluss der Industrialisierung auf die Arbeitsbedingungen im 19. Jahrhundert, Peter Hammer Verlag Wuppertal 1978, S.81

[23] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.200 - Nach Ritter/Tenfelde, die sich auf genauere Untersuchungen von Feldenkirchen, W., Kinderarbeit, beziehen, ist dieser genannte Grund in den Bereich der Legenden einzuordnen

[24] Bei Kinder- und Jugendarbeit ist zum Großteil diejenige in den Fabriken gemeint, die Arbeit von Kindern und Jugendlichen als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft und/oder Heimindustrie stellt zwar auch ein Problembereich dar, wird hier aber nicht als Schwerpunkt behandelt.

[25] Deutsche Sozialgeschichte – Dokumente und Skizzen, BandI: 1815 – 1870, Hrsg. Werner Pöls, Verlag C.H. Beck München 1976, S.246f, Kursivdruck übernommen

[26] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.216f

[27] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.199f

[28] Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.200

[29] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.64f

[30] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.64f und Ritter und G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.200

[31] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.65 und Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.207ff

[32] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.213

[33] Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.65

[34] Vgl. Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.65

[35] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.375

[36] Vgl. Machtan, L., Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem, S.131, in: VZSW, Beiheft 95

[37] Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, S.71, Kursivdruck übernommen

[38] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.367

[39] Vgl. Machtan, L., Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem, S.129, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VZSW), Beiheft 95

[40] Vgl. Machtan, L., Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem, S.129, in: VZSW, Beiheft 95

[41] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.199ff

[42] aus Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.204, zitiert nach Wilhelm Bock, Im Dienste der Freiheit. Freud und Leid aus sechs Jahrzehnten Kampf und Aufstieg, Berlin 1927, S.6, zitiert nach Flecken, Arbeiterkinder S.99

[43] Vgl. Ritter, G.A./Tenfelde, K., Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992, S.202ff

[44] aus: Deutsche Sozialgeschichte – Dokumente und Skizzen, BandII 1870 – 1914, Hrsg. Ritter, G.A., Kocka, J., Verlag C.H. Beck München 1974. S.157ff, zitiert nach Stieda, Deutsche Fabrikzustände, in: Preußische Jahrbücher, Band 51, Heft 1, 1883 S.48, S.55 - 59

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Details

Title
Arbeiterschutz und Sozialpolitik
College
University of Marburg  (Geschichts- und Kulturwissenschaften)
Course
Entwicklung des Lebensstandards in Deutschland 18.-20. Jahrhundert
Grade
1,7
Author
Year
2002
Pages
41
Catalog Number
V9990
ISBN (eBook)
9783638165594
File size
692 KB
Language
German
Notes
In der Arbeit waren ursprünglich vier Abbildungen enthalten. Da diese hineinkopiert wurden, können sie hier nicht mitgeliefert werden. Die Abbildungen sind für das Verständnis des Textes nicht unbedingt erforderlich. Außerdem sind für sie exakte Quellenangaben vorhanden, so dass sie über die Sekundärliteratur bequem nachvollzogen werden können.
Keywords
Arbeiterschutz, Sozialversicherung, Lebensstandard
Quote paper
Fatma Deniz (Author), 2002, Arbeiterschutz und Sozialpolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9990

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