Die politisch relevanten Nutzungsformen sozialer Medien und deren Auswirkungen


Thèse de Bachelor, 2020

70 Pages, Note: 2,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Politikverdrossenheit in Deutschland
2.1 Versuch einer Definition der Politikverdrossenheit
2.2 Auswirkungen der Massenmedien auf die Verdrossenheit

3. Der mediale Wandel des 21. Jahrhunderts
3.1 Der Stellenwert der Massenmedien in einer Demokratie
3.2 Die Entwicklung der Massenmedien
3.3 Das Aussterben und der Bedeutungsverlust der Massenmedien
3.4 Die Entwicklung des Internets und dessen Bedeutung für
die Informationsvermittlung
3.5 Die Gefahr der Desinformation auf Social Media

4. Die Veränderung im politischen Informationsverhalten seitens der Bürgerinnen und Bürger
4.1 Soziale Medien als Informationskanal und dessen Konsequenzen
4.2 Welche Chancen bietet Social Media für die Politik und welche Anforderungen werden in diesem Kontext an die Politik gestellt?

5. Fazit

Quellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Im Jahr 1992 wurde das Wort „Politikverdrossenheit“ (PV) zum Wort des Jahres gewählt. Dieser unscharfe Begriff diente zur Beschreibung einer generellen Unzufriedenheit mit politischen Akteuren und Institutionen. Inbegriffen waren unterschiedliche individuelle Enttäuschungen und Kritikpunkte. Die „Verdrossenheit“ resultierte aus der Tatsache, dass zwischen den Bürgern und der Politik eine emotionale und kognitive Distanz aufgebaut wurde. (Fuchs 2002: 339)

Der vorherrschende politische Unmut innerhalb der Bevölkerung zeichnete sich bereits bei der Bundestagswahl 1990 ab. Erstmals in der Historie der Bundesrepublik Deutschland beteiligten sich weniger als 80 Prozent (77,8 Prozent) am Entscheidungsprozess, damit ließen 32,2 Prozent ihre Stimme verfallen. Knapp 27 Jahre später war die Wahlbeteiligung mit 76,2 Prozent noch einmal um 1,6 Prozentpunkte niedriger. (Statista Research Department 2020c) Trotz diverser gesellschaftlicher Fortschritte und einer absolut differenten Ausgangslage scheint der Begriff der PV nach wie vor angemessen zu sein. Aktuell vorherrschende Szenarien wie die „Flüchtlingskrise“, der vermeidliche Rechtsruck in Deutschland und die Covid19- Pandemie drohen die breite Ablehnung zu verstärken.

Das auch als Politikmüdigkeit (PM) bezeichnete Phänomen diente als Motivation für diese Bachelorarbeit. Im Fokus standen hierbei die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts und die Frage, inwieweit sich die strukturellen Ursachen gewandelt haben. Bei einer ersten Betrachtung der Problemstellung würde man meinen, dass ausschließlich politische Taten als Auslöser negativer Gesinnungen in Frage kämen. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass auch die massenmediale Vermittlung und Kommunikation die Verdrossenheit verstärken bzw. hervorrufen kann. Print, Hörfunk und Fernsehen dienten lange Zeit als Sprachrohr für die Politik, die Gesellschaft war auf die mediale Informationsverarbeitung und Weitergabe angewiesen. Je nach Medium und Intensität der Nutzung konnte dies zu einer Verzerrung des pluralistischen Meinungsbildungsprozesses (MBP) führen. (Wolling 1999: 37; Sorge 2013; Leif 2002: 6-9)

Die Erkenntnis, dass Massenmedien (MM) als strukturelle Ursache fungieren, muss jedoch in den Kontext der technischen Entwicklung eingebettet werden. Eine Erhebung des „Media Activity Guide 2020“ zeigt nämlich, dass die Nutzerzahlen klassischer MM in den letzten Jahren konstant rückläufig waren (Weidenbach 2020). Einer Langzeitstudie von ARD und ZDF zufolge ist die generelle Mediennutzung im Vergleich zum Jahr 2015 jedoch auf einem konstant hohen Niveau (Breunig/ Handel/ Kessler 2020: 410).

Zu begründen ist dies mit der Entwicklung des Internets und dem Aufkommen neuer Plattformen. Insbesondere die entstandenen sozialen Netzwerke (SN) wie Facebook, Instagram und Twitter bestimmen inzwischen den alltäglichen Mediengebrauch. In ihrem Werk sprechen Jan-Hinrik Schmidt und Monika Taddicken (2017: 5) von einer „Veränderung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, welche soziale Medien/Social Media (SM) ausgelöst hätten“. Weiter heißt es, dass sich die „informelle Selbstbestimmung“ (ebd.: 5) verändert hätte. Basierend auf diesen Erkenntnissen lässt sich die These aufstellen, dass das Internet und insbesondere SM den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen. Da insbesondere die jungen Menschen (Generation Z, ab dem Jahrgang 1996) SN intensiv nutzen, dürfte ihre Relevanz in den kommenden Jahren weiter steigen (Hein 2019).

Anknüpfend an diese Feststellung muss die Frage gestellt werden, inwiefern soziale Medien den Informationsvermittlungsprozess und MBP beeinflussen und somit die früheren gesellschaftlichen Funktionen der klassischen MM zunehmend übernehmen. Muss SM auch als eine strukturelle Ursache für die PV wahrgenommen werden? Es ist außerdem bekannt, dass Populisten und Politikgegner SN nutzen, um ihre Betrachtungsweise zu publizieren und die Rezipienten von der eigenen Auffassung zu überzeugen. Ein beliebtes Instrument hierfür ist die Streuung von „Fake News“ (FN), um die Abneigung gegenüber der gefahrenen Politik ostentativ zu fördern. (Redaktion Netzdebatte 2017) Die aktuell vorherrschende Covid19-Pandemie eignet sich als ein Paradebeispiel für das ausgehende Risiko von FN. So musste beispielsweise das Bundesgesundheitsministerium im März dieses Jahrs aktiv in Form einer Twitter­Kampagne eingreifen, um der Verbreitung des Gerüchtes weiterer einschränkender Maßnahmen entgegenzuwirken (ZDF 2020). Aufgrund der höheren Reichweite im World Wide Web und in sozialen Foren muss hinterfragt werden, ob die Dimension der Desinformationen (DI) und der Diskurs auf SM das Risiko der Anfälligkeit für ein politisches Desinteresse sogar erhöhen.

Zur Analyse der zentralen Fragestellung, inwieweit SM die PV beeinflusst, wird in einem einleitenden Kapitel der Begriff der PV inklusive seiner Konsequenzen beleuchtet. Es wird zu erkennen sein, dass die Problematik grundlegend auf der Mikroebene veranlagt ist, sich aber auf der Makroebene, zumeist in Form einer verweigerten Stimmabgabe, äußert. Die Auswirkungen der MM auf die PM werden an dieser Stelle ebenfalls geschildert.

Im folgenden Abschnitt wird ein Blick auf den Medialen Wandel des 21. Jahrhunderts geworfen. Ziel ist es, den kontinuierlichen Fortschritt und damit verbundene gesellschaftliche Umbrüche darzustellen. Nach einem Rückblick auf die Unabdingbarkeit der MM im Zuge der Demokratisierung wird deren Verlust der Monopolstellung für die gesellschaftliche Informationsvermittlung (IV) und Meinungsbildung (MB) aufgezeigt. Die zunehmende Informationsgewinnung über das Internet und später über SM gilt aufgrund ihres auf den individuellen Gebrauch zugeschnittenen Programms als nutzerfreundlicher gegenüber den klassischen MM. (Schenk/ Wolf 2006: 239ff.) Allerdings birgt die Verlagerung, insbesondere die SM basierte Informationsgewinnung und MB, diverse Risiken, welche die Anfälligkeit für die PV erhöhen können. Zum Abschluss des dritten Kapitels wird auf jene Risiken eingegangen und ihr politisch schädliches Potential aufgezeigt.

Im Hauptteil dieser Arbeit wird die heutige Bedeutung von SM als Informations- und Meinungsgrundlage analysiert. Mithilfe diverser Studien wird die Veränderung im gesellschaftlichen Nutzungsverhalten veranschaulicht. Die den sozialen Medien übertragene gesellschaftliche Verantwortung und das vermeidlich zunehmende Vertrauen in sie sorgen für die Prämisse, dass die im vorherigen Kapitel geschilderten Risiken als ernsthafte Bedrohung für das politische Engagement gesehen werden müssen. Das Auftreten politischer Entscheidungsträger in den sozialen Netzwerken, welches im gleichen Kapitel analysiert wird, lässt jedoch darauf schließen, dass der auf SM stattfindende Diskurs nicht als vollwertig betrachtet und im politischen Alltag weitgehend ignoriert wird. In der aktuellen Debatte rund um die PV scheint SM daher nur bedingt eine Rolle zu spielen.

Im gleichen Atemzug wird die Frage erörtert, ob eine intensivere Berücksichtigung von SM im politischen Alltag nicht nur eine Ausweitung der PV verhindern könnte, sondern auch die Chance einer besseren Politik-Bürger-Bindung offeriert. Zum Abschluss der Arbeit wird die Frage nach den Chancen aufgegriffen und ein Weg aufgezeigt, wie sich aus der SM-Nutzung ein möglicher politischer Mehrwert generieren ließe.

2. Die Politikverdrossenheit in Deutschland

Das Phänomen der PV ist in Deutschland bereits seit einigen Jahren festzustellen. Es handelt es sich hierbei nach wie vor um ein höchst aktuelles Thema. Das vermeidlich abnehmende Interesse an der Politik zeigt sich anhand des Wählerverhaltens. Eine konstante Wahlbeteiligung bei deutschen Bundestagswahlen war in den letzten Jahren nicht zu erkennen. Die prozentuale Streuung lag in den vergangenen 25 Jahren bei bis zu 11,4 Prozent. Während im Jahr 1998 noch 82,2 Prozent der Bevölkerung (ca. 67,45 Millionen Bürger) zur Wahl gingen, waren es bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 nur noch 76,2 Prozent (ca. 62,88 Millionen Bürger). Trotz des langfristigen Negativtrends ist die Beteiligung in diesem Jahrzehnt gestiegen. Den vorläufigen Tiefpunkt gab es im Jahr 2009. Hier nahmen lediglich 70,8 Prozent der Bevölkerung (58,06 Millionen Bürger) ihr Wahlrecht in Anspruch. (Statista Research Department 2020c)

Angesichts des voranschreitenden demographischen Wandels steht insbesondere das politische Interesse der Jugendlichen (12-25 Jahre) im Zentrum der Debatte rund um die PV. Trotz jugendlicher Initiativen wie „Fridays for Future“ hat die generelle Aufmerksamkeit für die Politik im Vergleich zum Jahr 2015 leicht abgenommen. Laut der „Shell Jugendstudie 2019“ waren im letzten Jahr 41 Prozent der befragten Jugendlichen an der Politik interessiert. Vier Jahre zuvor beschrieben sich 43 Prozent der Befragten als allgemein politisch interessiert. Aus den Zahlen lässt sich die These ableiten, dass die PV künftig eine größer werdende Herausforderung darstellen wird. (Albert/ Hurrelmann/ Quenzel 2019:14)

In diesem Abschnitt wird das Phänomen der PV inklusive seiner Ursachen und Folgen analysiert. Es wird auch die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit die mediale Berichterstattung Einfluss auf den politischen Unmut nimmt und folglich den Verdruss fördert.

2.1 Versuch einer Definition der Politikverdrossenheit

Die Frage, wieso knapp ein Viertel der Gesellschaftsmitglieder als Nichtwähler auftreten, ist vielschichtig. Laut Manfred Küchler (1982: 40ff.) sind insbesondere die Formen der Staatsverdrossenheit, welche den Unmut über die vorzufindende Staatsform zum Ausdruck bringt, sowie der Parteiverdrossenheit, welche die mangelnde Vielfalt der Parteienlandschaft kritisiert, für das Ausmaß der PV verantwortlich.

Bei der PV handelt es sich um einen vergleichsweise unscharfen Terminus, dessen Grenzen zu den verwandten Begriffen wie bspw. der Parteiverdrossenheit, der Staatsverdrossenheit, der Politikerverdrossenheit oder der Systemverdrossenheit fließend sind. Diverse Autoren haben sich an einer Definition versucht, im Folgenden werden die relevantesten Erkenntnisse aufgegriffen. Erstmals tauchte der Begriff der PV im Jahr 1982 auf. Er entstand im Zuge der Auseinandersetzung mit der Legitimitätskrise westlicher demokratischer Industriegesellschaften. Eine erste von Küchler aufgestellte Definition beschreibt das Phänomen der PV als „Unzufriedenheit mit der konkreten Art und Weise, wie Politik gemacht wird“ (Heil 2016: 159). Ähnlich unpräzise ist die von Arzheimer aufgestellte Definition der „negative[n] Einstellung der Bevölkerung gegenüber politischen Objekten“ (ebd.: 160). (ebd,: 159f.)

Ersetzt wird die fehlende präzise Definition durch diverse Merkmale, Indikatoren und Eigenschaften, welche über die Angemessenheit des Begriffs der PV entscheiden. Hervorzuheben ist, dass die PV eng mit dem persönlichen Empfinden verknüpft ist. Die subjektive Wahrnehmung macht eine Verallgemeinerung des Begriffs der PV nahezu unmöglich. Grundlegend wird im Zuge der PV von einer Abneigung gegenüber der Politik und den Politikern gesprochen. Diese ist zumeist das Resultat von persönlichen Enttäuschungen sowie erwecktem Misstrauen. Hieraus entsteht eine kognitive sowie affektive individuelle Distanz des Bürgers zur Politik als Ganzem inklusive seiner Akteure und Institutionen. Die negativen Erfahrungen rufen beim Individuum Eigenschaften wie Gleichgültigkeit, Langeweile, Interessensverlust, Widerwillen und/oder Entfremdung hervor. Die Abneigung wird durch jene Eigenschaften gefördert. (Schedler 1993: 415-434)

Zusammenfassend kann die PV daher als eine individuelle Einstellung zu politischen Reverenzobjekten beschrieben werden. Dieses Befinden ist geprägt von diffusen und kritischen Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen politischen Gegenstand. Bei der PV handelt es sich demensprechend um einen dynamischen Zustand, welcher sich bspw. durch personelle Veränderungen im gegenwärtigen System wandeln kann. Je nach Schwere der Enttäuschung und dem erweckten Misstrauen kann sich die PM manifestieren und statische Züge annehmen. (Heil 2016: 162) In ihrem Werk „Die Verantwortlichkeit politischer Akteure“ weißt Autorin Stein (2009: 3) darauf hin, dass sich die Abneigung insbesondere dann verfestigt, wenn das Zutrauen in die politischen Entscheidungsträger nachhaltig gestört ist. Eine solche Tendenz kann sich bspw. durch die wiederholte Nichteinhaltung von Wahlversprechen entwickeln (ebd.: 3).

Die Auswirkungen der PV betreffen in erster Linie das individuelle Wahlverhalten. Je nach Schwere der Verdrossenheit steht am Ende die Wahl oder die Nichtwahl einer bestimmten Partei. Oft wird auch der Entzug der Unterstützung für die vorherrschenden Institutionen, das System und die Amtsinhaber mit der PV in Verbindung gebracht. Der Politikwissenschaftler Kai Arzheimer gelangt zu der Erkenntnis, dass sich auf lange Sicht die Verhaltens- und Partizipationsformen der Betroffenen verändern werden. Auf der Makro-Ebene kann dies zu einer Veränderung der politischen Kultur, einer Schwächung der Parteien sowie zu einem Wandel des Parteiensystems führen. Mögliche Auswirkungen als Ergebnis von PV können eine sinkende Wahlbeteiligung, politische Anomien, das Verlieren von Mitgliedern oder das Erstarken antidemokratischer Parteien sein. (Heil 2015: 183f.) Das Erstarken der AfD, welche in zehn Landtagen über zehn Prozent der Stimmen erhielt, ist ein Beleg für das Eintreten des letzteren Falls (Statista Research Department 2020b).

Es lässt sich festhalten, dass die Ursachen der PV gleichartig zu deren Auswirkungen sind. Beispielsweise führt das Misstrauen gegenüber der Politik zu PV. Die PV wiederum fördert das Misstrauen. Das Verhältnis von Ursachen und Auswirkung kann daher als zyklische Kausalkette beschrieben werden. (Heil 2015: 169)

Die bereits genannten auftretenden Eigenschaften finden auch in der Realität Anklang. In einer von der „Stiftung für Zukunftsfragen“ durchgeführten Studie zum Thema „Ursachen wachsender Wahlmüdigkeit in Deutschland“ aus dem Jahr 2009 gaben 73 Prozent der Befragten an, dass die persönliche Enttäuschung von Parteien und/oder Politikern schuld an der Wahlenthaltung gewesen sei. Sie war somit das meistgenannte Kriterium für eine Nichtteilnahme am Wahlprozesse. Im Jahr 2002 lag jene Enttäuschung/Unzufriedenheit bei nur 59 Prozent. Der zweithäufigste Grund für eine Stimmenthaltung war das Gefühl, durch das Wahlversprechen etwas vorgelogen zu bekommen. Insgesamt stimmten 68 Prozent der Befragten mit dieser Aussage überein. Im Vergleich zum Jahr 2002 stieg der Wert um 18 Prozentpunkte. Bei den Jungwählern (18 bis 24 Jahre) war der Anstieg drastischer. In der Zeitspanne von 2002 bis 2009 stieg der Anteil jener, die die Wahllügen als Grund für die Stimmenthaltung sahen, um ein Viertel auf insgesamt 65 Prozent. Auch die fehlende Identifikation mit einer Partei, d.h. die „eintönige“ Parteienlandschaft, war für knapp die Hälfte der Befragten (48 Prozent) ein Grund zum Nichtwählen. Auch hier war die Entwicklung bei den Jungwählern (18­24 Jahre) extremer. Binnen des Zeitraums von 2002 bis 2009 stieg der Anteil jener, die ihre Interessen nicht durch eine Partei vertreten sahen, um 18 Prozentpunkte auf insgesamt 53 Prozent. (Stiftung für Zukunftsfragen 2009: 1f.).

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) aus dem Jahr 2012 bestätigt, dass es sich bei den politikverdrossenen Personen um eine heterogene Wählergruppe handelt, welche aufgrund unterschiedlicher Motive handelt. Befragt wurden Personen, welche bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 als Nichtwähler auftraten. Die Studie bringt mit den Aspekten der „schwache[n] Involviertheit in das politische Geschehen sowie das Gefühl, keinen Einfluss auf das politische Geschehen zu haben“ (Neu 2012: 37) zwei weitere relevante Ursachen der PV empor. Allerdings konnte festgestellt werden, dass der Großteil der befragten Nichtwähler das System der Demokratie befürworten. Das Phänomen der Demokratieverdrossenheit bzw. der Systemverdrossenheit scheint daher nur einen geringen Teil des politischen Unmuts in Deutschland zu erklären. Für einige Nichtwähler ist die nicht gegebene Stimme eine Form des Protests. Ein Fünftel der Befragten gab an, der eigentlichen „Stammpartei“ durch das nicht Geben der eigenen Stimme die Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Parteiprogramm signalisieren zu wollen. In einer qualitativen Auswertung kam die Stiftung zu dem Ergebnis, dass sich die Tendenz des Nichtwählens bei denen von PV betroffenen Personen aber durchaus etabliert kann. (ebd.: 9-39)

Die Ergebnisse der durch die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Jahr 2013 durchgeführten Studie „Nichtwähler in Deutschland“ ergänzen die Resultate der KAS. Insgesamt wurden hier 3.501 Wahlberechtigte befragt, welche das Angebot der Stimmabgabe nicht wahrnahmen. Lediglich 14 Prozent der Befragten bezeichneten sich als dauerhafte Nichtwähler. Ihnen gegenüber stand die Gruppe der gelegentlichen Nichtwähler, welcher 46 Prozent der Befragten angehörten. Eine weitere wichtige Erkenntnis war, dass 61 Prozent der Nichtwähler nach eigenen Angaben ein hohes politisches Interesse hatten und sich persönlich in das politische Geschehen involviert sahen. Hieraus lässt sich folgern, dass es sich bei Nichtwählern nicht automatisch um von PV betroffene Personen handelt. Es besteht daher die Möglichkeit, einen Großteil der Nichtwähler als Wähler zurückzugewinnen. (Güllner 2013: 16-40)

Das allgemeine Interesse an der Politik hat sich in den letzten Jahren geringfügig verändert. Einer in diesem Jahr erschienen Studie der „Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse“ ist zu entnehmen, dass sich im Jahr 2020 knapp 69,4 Prozent der Befragten generell für Politik interessieren. Seit 2016 hat sich dieser Prozentsatz höchstens um zwei Prozentpunkte nach oben bzw. unten verändert. Nach derzeitigem Kenntnisstand interessieren sich 24,4 Prozent der Befragten sehr stark für Politik, im Vergleich zum Jahr 2016 konnte hier ein Anstieg von ca. 8,6 Prozentpunkten festgestellt werden. Nach wie vor kritisch zu betrachten ist der Anteil derer, die sich kaum bzw. gar nicht für Politik interessieren. Innerhalb der letzten vier Jahre ist dieser Wert leicht angestiegen, sodass sich fast ein Drittel (30,6 Prozent) der Probanden als nicht politikinteressiert beschreiben. Die Brisanz des Phänomens der PV ist daher nicht zu leugnen. (Institut für Demoskopie Allensbach 2020 : 34; Pawlik 2020)

Es wurde gezeigt, dass es sich bei dem Phänomen der PV um eine komplexe Problemstellung handelt. Die Studien der KAS, der FES und der „Allensbacher Markt- und Werbeträger-Analyse“ haben gezeigt, dass die Thematik zeitgemäß und von großer Wichtigkeit ist. Eine Verallgemeinerung und somit eine allgemeingültige Definition sind indes aufgrund der engen Verknüpfung mit dem individuellen Empfinden nicht zu treffen. Der Begriff der PV muss mit Vorsicht verwendet werden. Zwar sind die Grenzen zu verwandten Begriffen wie der Parteiverdrossenheit oder der Systemverdrossenheit fließend, allerdings müssen die Termini und die jeweiligen Indikatoren unabhängig voneinander bewertet werden. So kann beispielsweise die PV vergleichsweise groß/klein sein, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung das politische System befürwortet/ablehnt.

Einen Beweis für etwaige Differenzen liefert eine Studie des „sinus-instituts“ aus dem Jahr 2019. Trotz der weiten Verbreitung der PV in Deutschland war bspw. die Zustimmung für das System der Demokratie sehr hoch. Insgesamt befürworteten 83 Prozent der Befragten die Demokratie. Nur neun Prozent der Befragten lehnten sie ab. An diesen Werten ist zu erkennen, dass die Demokratieverdrossenheit keinesfalls mit der PV gleichgesetzt werden kann. (Sinus 2019: 1f.)

Bestätigt wird die Notwendigkeit der separaten Begutachtung vom Politikwissenschaftler Pippa Norris. Sein Modell der politischen Unterstützung verweist darauf, dass es sich bei ihr um ein mehrdimensionales Phänomen handelt. Demnach existiert keine pauschale politische Unterstützung. Die Zuwendung ist situationsgebunden. Beispielsweise ist eine Ablehnung des Systems der Demokratie nicht mit einer Ablehnung von politischen Führungspersönlichkeiten oder Parteien gleichzusetzen. Trotz einer möglichen Demokratieverdrossenheit kann ein Gesellschaftsmitglied die politischen Aktivitäten eines bestimmten Politikers/ einer Partei befürworten. Gleiches Schema gilt für die Zustimmung bzw. die Ablehnung der vorherrschenden Institutionen. (Mannewitz 2018: 556)

Von einer allgemeinen Parteienverdrossenheit kann deshalb ebenfalls nicht gesprochen werden. Die situationsgebundene Unterstützung und die Dynamik der Verdrossenheit spiegeln sich in den jüngst veröffentlichten Mitgliederzahlen wider. Während zum Beispiel die CDU zwischen den Jahr 2018 und 2019 18.117 Mitglieder verlor, gewannen die Grünen im gleichen Zeitraum 21.176 Anhänger dazu. (Statista Research Department 2020a) Das Phänomen der Parteienverdrossenheit ist folglich abhängig von den gegenwärtig vorherrschenden Interessen der Bevölkerung und den ausgesprochenen Parteiprogrammen sowie den Führungspersönlichkeiten der Parteien. Der Aufstieg der Grünen kann u.a. mit der gegenwärtigen Aufmerksamkeit der „Friday for Future“- Bewegung und dessen medialer Präsenz begründet werden (Schindler 2020).

Die Tendenz bezüglich einer Zunahme der PV und womöglich auch der Parteien- sowie der Demokratieverdrossenheit ist steigend. Aktuelle Ereignisse wie die Corona-Pandemie steigern den Unmut in der Bevölkerung. Bester Beleg für die wachsende Abneigung gegen die gefahrene Politik sind die zahlreichen Protestaktionen, welche wöchentlich in unterschiedlichen deutschen Städten stattfinden. Der Höhepunkt der bisherigen Protestbewegung war die am 1. August 2020 in Berlin stattfindende Demonstration mit insgesamt knapp 38.000 Teilnehmern (Dambeck 2020). Paul Nolte, Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, geht davon aus, dass die Spannungen weiter zunehmen werden. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte er: „Wir leben ja nicht in einem Land, in dem sofort soziale Unruhen drohen. Aber das Unbehagen, der Widerwillen und der Trotz werden zunehmen. Auch die Nerven von Menschen, die ihren Alltag zwischen Job und Kinderbetreuung ohne Hilfe von außen meistern müssen, sind irgendwann zerrüttet“ (Mika 2020).

Erste Auswirkungen könnten bereits bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr festzustellen sein. Fakt ist, dass das Ausmaß der Ablehnung schon jetzt zugenommen hat und die Herausforderungen für die Politik gewachsen sind.

2.2 Auswirkungen der Massenmedien auf die Verdrossenheit

Die MM leisten einen unabdingbaren Beitrag für die Demokratie und die politische Stabilität in Deutschland. Sie üben die Kontroll-, Meinungsbildungs- sowie Informationsfunktion aus und fungieren somit als Bindeglied zwischen der Politik und den Bürgern. Während im Zuge der Kontrollfunktion die politischen Aktivitäten überwacht und öffentlich kritisiert werden, tragen die MM mit den beiden letztgenannten Funktionen zu einem kontinuierlichen gesellschaftlichen Fortschritt bei. Die MM dienen sämtlichen politischen Akteuren als Sprachrohr und treiben so den Austausch zwischen teils oppositionellen Auffassungen voran. Eine politisch-gesellschaftliche Integration sowie ein politischer Vermittlungsprozess sind ohne die MM nicht denkbar. (Drentwett 2009: 63f.)

Aufgrund der Aufgabe der IV werden die Medien häufig als Auslöser bzw. strukturelle Ursache für die PV gesehen. So hält Jens Wolling (1999: 37), Professor am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau, fest, dass die MM neben den Bürgern und der Politik als weiterer Verantwortlicher für PV gesehen werden müssen. Die mediale Vermittlung von Politik entscheide demnach nicht nur über das Vorhandensein von PV, sondern auch über deren Stärke. Insbesondere die negativ ausgerichtete und kritische Berichterstattung in den deutschen MM laufe einer positiven Bürger-Politik-Beziehung zuwider und könne daher zu einer Gefahr für das demokratische System werden. (ebd.:37)

Unterstützt wird diese Theorie u.a. durch den Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger und den Mediziner Marcus Maurer. Kepplinger (2000: 22) betitelt die MM sogar als die Hauptverantwortlichen für die ausgelöste Entfremdung mit der Politik. Durch ihre Berichterstattungen würden sie die in Kapitel 2.1 genannten Eigenschaften des Misstrauens und der Enttäuschung vergrößern und eine Trotzreaktion des Bürgers fördern. Die von Maurer durchgeführte Paneluntersuchung brachte die Erkenntnis, dass insbesondere das Urteilsvermögen der Empfänger beeinflusst wird. Der politische Wissensstand werde durch die Politikdarstellung von Journalisten und Journalistinnen suggeriert. Aufgrund der zumeist negativ ausgerichteten massenmedialen Vermittlung werde die PV tendenziell eher erhöht als verkleinert. Diese negative Entwicklung sei damit zu begründen, dass die beliebten politischen Medien (Printmedien und politische Fernsehmagazine) deutlich negativer und kritischer gegenüber der Politik eingestellt sind und dementsprechend berichten. (ebd.: 22)

Im Fokus steht insbesondere die Skandalberichterstattung der Medienhäuser. Ziel jener Publikationen ist es, politische Verfehlungen wie bspw. korruptes Verhalten eines Politikers aufzudecken. Die Tatsache, welches Verhalten als ein Skandal eingeordnet wird und welches nicht, liegt im Ermessen des jeweiligen Mediums. Es handelt sich hierbei um einen normativen Sachverhalt. Da der Bürger nur durch die Medien über etwaige Fehltritte informiert wird, hat die mediale Berichterstattung einen direkten Einfluss darauf, ob der spezifische Skandal die individuelle Bewertung der politischen Legitimität und im Zweifelsfall sogar der Legitimität der Demokratie prägt. Jens Wolling verweist jedoch darauf, dass die Beurteilung der Legitimität und das Ausmaß der Skandalberichterstattungen mit der Nutzung bestimmter Medien zusammenhängt. In diesem Zusammenhang wird von einer Mediennutzungsvariable gesprochen. So lässt eine Politikberichterstattung, welche viele unpolitische Elemente einsetzt, die Zweifel an der Legitimität der Politik und/oder der Demokratie beim Rezipienten größer werden. Die Mediennutzungsvariable bzw. die individuelle Mediennutzung ist daher mit dem Grad der durch die Medien ausgelösten PV verknüpft. Wolling gelangt zu dem Ergebnis, dass eine negativ wahrgenommene politische Berichterstattung zu einer negativen Bewertung der aktuellen Politik sowie der Demokratie führt. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die individuelle Auffassung. Je unkritischer ein Gesellschaftsmitglied die publizierte Berichterstattung hinterfragt, desto stärker ist demnach seine Abneigung gegenüber der Politik. (Wolling 2001: 21-33)

Gleichermaßen sorgt die Mediennutzungsvariable bzw. die selektive Mediennutzung für eine geringere Wahrscheinlichkeit der Meinungsveränderung. Die Bürger bevorzugen jene MM, welche die eigenen politische Ansichten vertreten. Folglich führt der Medienkonsum tendenziell dazu, dass die eigene Meinung gestärkt wird und die Abneigung gegenüber oppositionellen Ausrichtungen zunimmt. Die meinungsverändernde Wirkung eines persönlichen Gesprächs ist im Vergleich als deutlich höher einzuschätzen. (Baumann et al. 2011)

Ein weiterer Vorwurf an die MM lautet, sie würden den Politikbetrieb ausnutzen, um mit reißerischen Aufhängern eine große Abnehmerschaft für sich zu generieren. Einige Sachverhalte werden daher künstlich dramatisiert und ein Skandal erschaffen, obwohl ein solcher an für sich nicht vorliegt. An dieser Stelle werden die übertragenen Aufgaben der Kontroll-, Informations- und Meinungsbildungsfunktion missbraucht und so zur PV beigetragen. Bei etwaigen Berichterstattungen werden politische Institutionen, Amtsinhaber etc. wagen Behauptungen ausgesetzt und ihnen so geschadet. Man kann dieses Verhalten als „Medienmanipulation“ bezeichnen. (Sorge 2013; Leif 2002: 6-9) So schrieb bspw. die „Stuttgarter Zeitung“ im Zuge der Frage, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen solle, von einem „Überbietungswettbewerb“. Weiter hieß es, „die demonstrative Gutmenschlichkeit, die dabei zum Ausdruck kommt, folgt dem taktischen Kalkül, vor dem Wähler als ganz besonders hilfsbereit zu erscheinen“ (Stuttgarter Zeitung 2013). Im hiesigen Beispiel wird der Politik ein nahezu „scheinheiliges“ Verhalten vorgeworfen, wodurch beim Leser Gefühle der Abneigung entstehen können (Sorge 2013). Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau äußerte diesen Vorwurf bereits im Jahr 2002. Bei einer Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen der Bundeszentrale für politische Bildung sagte er: „So positiv die Medien ihre öffentliche Aufgabe erfüllen können, so schädlich können sie aber wirken, wenn sie um der Quote und Auflage willen und aus Lust am Knalleffekt dem Publikum Politik nur noch als eine Art Panoptikum unfähiger und selbstsüchtiger Politiker präsentieren“ (Spiegel Politik 2002)

Neben der medialen Verfälschung von Tatsachen ist insbesondere die einseitige Berichterstattung ein Problem. An dieser Stelle ist erneut der Aspekt des individuellen Empfindens ausschlaggebend. Je nach „Ausgewogenheit des Informierens“ und je nach dem, wie kritisch bestimmte Berichterstattungen hinterfragt werden, ist eine Person anfällig bzw. weniger anfällig für eine solche Form der Manipulation. Das Risiko der Falschinformation ist definitiv gegeben. Dahingehend besteht auch die Gefahr, durch einen „einseitigen Medienkonsum“ die Anfälligkeit für die PV zu steigern. (Sorge 2013; Leif 2002: 6-9)

Es wurde gezeigt, dass die MM definitiv einen Einfluss auf das politische Klima haben. In einer Demokratie, in welcher die Medien als „vierte Gewalt“ auftreten, wird das hohe politische Engagement sowie die Publikation von möglichst vielfältigen Berichterstattungen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten jedoch gefordert. Gemäß dem elften Paragrafen des Rundfunkstaatsvertrages haben die öffentlichen Medien die „demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen“ (Rundfunkstaatsvertrag 1991: 17). Grundsätzlich handelt es sich bei der „Beeinflussung durch die Medien“ also um einen legitimen Sachverhalt. Die Verfehlung des journalistischen Auftrags kann jedoch zu einer Verstärkung der PV führen.

Der Journalist hat dabei Vermittlungsaufgaben zu übernehmen. Er hat die politische Komplexität zu reduzieren und den Inhalt so widerzugeben, dass er für die breite Masse verständlich ist. Bei der Aufarbeitung des Themenkomplexes muss selektiv vorgegangen werden, die wahrheitsgetreue Wirklichkeit darf hierbei jedoch nicht verfälscht werden. Gelegentlich kommt es jedoch zu eben dieser Verfälschung und/oder zu Falschinformationen aufgrund einer unausgewogenen Recherche. Diese Fehler beschleunigen das Risiko einer PV. Man kann den MM jedoch nicht per se einen gewollten negativen Einfluss unterstellen. (Grass 2018: 346)

Des Weiteren ist die individuelle Komponente von großer Bedeutung. Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, ist die PV an das persönliche Empfinden geknüpft. Gleiches gilt für das persönliche Verständnis von Berichterstattungen. Darüber hinaus bestimmt das Individuum durch die Medienselektivität eigenhändig über die Ausgewogenheit der Informationen. Es lässt sich festhalten, dass die MM durchaus das Risiko zur Förderung der PV bieten, im Endeffekt jedoch die individuelle Handhabung über den Umfang des Risikos entscheidet.

3. Der mediale Wandel des 21. Jahrhunderts

Die Verantwortung der MM ist trotz der vielseitigen Kritik nicht geringer geworden. Die nationale Politik zeichnet sich durch ihre Komplexität aus, der politische Entscheidungsfindungsprozess ist nicht bürgernah. Die Resultate werden immer kurzlebiger und die Dynamik des Wandels schreitet voran. „Wenn man davon ausgeht, dass die Bürger überhaupt je ein klares Verständnis von diesen Vorgängen gehabt hätten, dann ist das eine recht romantisierende Ansicht“ (Die Welt 2017), sagte Ingolfur Blühdorn, Leiter des Wiener Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit, in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Diese Unübersichtlichkeit sei gleichzeitig ein weiterer Grund für das Voranschreiten der PV. „Für die Bürger wird dadurch die Wahrnehmung von Chaos, Krise und Unfähigkeit der politischen Organe weiter verstärkt“ (Die Welt 2017).

An den aktuellen Entwicklungen (z.B. Covid19-Pandemie, der Konflikt zwischen Griechenland/Zypern und der Türkei oder die Demonstrationsbewegung in Weißrussland) ist zu erkennen, dass die Komplexität der nationalen sowie internationalen politischen Landschaft gegenwärtig und auch künftig nicht abnehmen wird. Die MM als politisch-gesellschaftliches Bindeglied und als ausführende Kraft der Informations-, Kontroll- und Meinungsbildungsfunktion werden daher nach wie vor benötigt. Die mediale Berichterstattung generiert auch weiterhin einen Mehrwert für die Demokratie. Diesbezüglich bezeichnete Sir Sebastian Wood die Medien im Rahmen des Internationalen Tags der Pressefreiheit 2019 als „Lebenselixier der Demokratie und eine wichtige Voraussetzung des Wohlstands“ (Wood 2019).

In diesem Kapitel soll die Rolle der MM in der Demokratie genauer erläutert werden. Es stellt sich die Frage, welche systemrelevanten Funktionen durch Print, Hörfunk und Fernsehen übernommen werden. Das Image der MM hat in den letzten Jahren jedoch zunehmend gelitten, nicht zuletzt aufgrund des Emporkommens von SM. Anhand von Studien soll die Abnahme des gesellschaftlichen Stellenwerts der MM aufgezeigt werden. Es soll außerdem die Frage geklärt werden, welche Auswirkung der Umbruch auf die Öffentlichkeit hat und inwieweit von einem gesellschaftlichen Wandel gesprochen werden kann.

3.1 Der Stellenwert der Massenmedien in einer Demokratie

Das Stichwort der „Mediendemokratie“ unterstreicht den Stellenwert von den gängigen MM des Hörfunks, des Fernsehens und der Printmedien. Gemeint ist hiermit, dass die demokratische Ordnung eines modernen Nationalstaats auf funktionierende Massenkommunikationsmittel angewiesen ist. Ohne sie würde die staatliche Kernstruktur samt seinen Institutionen nicht bestehen können. Gleichzeitig sind die MM der Ausgangspunkt jeglicher politischen Partizipation. Das individuelle politische Engagement beruht auf der Möglichkeit, sich ein informierendes Urteil bilden zu können und dies im öffentlichen Diskurs zu vertreten. Die Chancen der MB und des Erlangens von Informationen sind gänzlich auf den Grundauftrag der MM (Informations-, Kontroll- und Meinungsbildungsfunktion) zurückzuführen. Der Ausdruck der eigenen Meinung kann zum einen im persönlichen Dialog, zum anderen aber auch in wirksamen Wahlen stattfinden. Der Wahlprozess, d.h. die Legitimität der Politik, beruht somit ebenfalls auf der öffentlichen Infrastruktur und seinen Kommunikationskanälen/ den MM. Die Berichterstattung ist der Schlüsselbereich der MM. Durch sie wird die politische Agenda und das Faktenwissen an die Gesellschaft weitergetragen. Jene Überlieferung ist die Grundlage für eine aufgeklärte Öffentlichkeit. Erst durch die Medien sind die Bürger in der Lage, das politische Geschehen zu kontextualisieren und den Akteuren sowie Institutionen eine Verantwortung zuzuschreiben. Die Berichterstattung bildet somit die Grundlage für die Vergabe bzw. Beschränkung von politischer Macht. (Marcinkowski/Pfetsch 2009: 11)

In den ersten Jahren der demokratischen Bundesrepublik Deutschland zeichneten sich insbesondere die Printmedien dadurch aus, dass sie mit vergleichsweise geringem Aufwand eine größte mögliche Reichweite erzielten. Die technische Entwicklung machte es möglich, dass sich der Hörfunk und später das Fernsehen als weitere effiziente Kommunikationskanäle etablierten und die Bevölkerung auf hohem Niveau mit Informationen versorgten. Lange Zeit galt die durch die MM bereitgestellte informelle Dichte als einzigartig, die Digitalisierung hat jedoch eine erneute Revolution der Informationsdienstleister ausgelöst. (ebd.: 11)

Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli bezeichnet die Medien als „Resonanzboden, als Generator und als Katalysator für gesellschaftlichen Wandel“ (Sarcinelli 2012: 273). Ergänzend zu der Erkenntnis von Marcinkowski und Pfetsch definiert Sarcinelli die öffentliche Kommunikation als elementaren Bestandteil der modernen Gesellschaft und spricht ihr ein regulatives Element zu. Die Kommunikation ist demnach von strategischer Bedeutung, da sie „über Erfolg oder Misserfolg von Individuen, Organisationen, gesellschaftlichen Gruppen und ganzen Gesellschaften entscheidet“ (ebd.: 273). Die kommunikativen Medien und die Politik stehen in Wechselbeziehung zueinander, ihre Entwicklung verläuft parallel. Gemeint ist hiermit, dass die Medien einerseits zu einem Instrument der Politik geworden sind (als Sprachrohr für bspw. Politiker), andererseits hat die medientechnologische Weiterentwicklung einen Einfluss auf die Politik und deren Kommunikation nach außen. So trägt die stets größer werdende mediale Reichweite u.a. zur Demokratisierung und Liberalisierung bei . (ebd.: 273)

Die Entwicklung der MM hat die Gesellschaftsstruktur in ihrer funktionalen Differenzierung grundlegend verändert. Zwar werden die Meinungsbildungs-, die Informations- und die Kontrollfunktion durch Printmedien, Radio und Fernsehen übernommen, allerdings obliegt die finale Urteils- und Entscheidungsfindung einer Selbststeuerung. Betroffen vom Wandel sind dementsprechend die Makro- und die Mikroebene. Entscheidend für die Selbststeuerung ist u.a. die im vorherigen Kapitel genannte Mediennutzungsvariable. Die „Medialisierung“ hat die vorherrschenden organisatorischen Muster sowie Interpretations- und Selektionsschemata erweitert und Interdependenzen zwischen einzelnen Teilsystemen erzeugt. Die Gesellschaft hat eine Weiterentwicklung zur Informationsgesellschaft erfahren. Diese wiederum offeriert den Bürgern die Möglichkeit, zu mündigen Gesellschaftsmitgliedern inklusive diverser Partizipationsmöglichkeiten zu werden. (Imhof et al. 2006: 16f.)

In diesem Kapitel wurde erörtert, dass die MM einen unerlässlichen Wert für die Demokratie haben. Sie garantieren eine ausgewogene und fortwährende IV, auf dessen Grundlage der Bürger zu einem politisch mündigen Gesellschaftsteilnehmer wird. Die Gesellschaft erfährt so einen immerwährenden Fortschritt und der Bürger wird in das politische System integriert. Aufgrund dessen sind nicht nur die Bürger, sondern ist auch die Politik an sich auf Print, Hörfunk und Fernsehen angewiesen.

3.2 Die Entwicklung der Massenmedien

Ein maßgeblich verantwortliches Organ für die Übernahme der grundlegenden drei Funktionen (Meinungsbildungs-, Informations-, Kontrollfunktion) ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Zurückzuführen ist seine Entwicklung auf das Jahr 1950. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt schlossen sich in den Bundesländern Westdeutschlands sechs öffentliche Landesrundfunkanstalten mit jeweils eigener Produktion zusammen. Der BR (Bayerische Rundfunk), der HR (Hessische Rundfunk), das RB (Radio Bremen), der SDR (Süddeutsche Rundfunk), der SWF (Südwest Funk) und der NWDR (Nord-westdeutscher Rundfunk) gründeten die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD). (Stein 2000: 30f.) Der erste gemeinsame Fernsehsender nahm am 1. November 1954 seinen Betrieb auf. Heutzutage ist die ARD ein föderalistisch strukturierter, öffentlich-rechtlicher Rundfunkverband, unter dessen Dach sich neun Landesrundfunkanstalten befinden. (Pürer 2015: 111 ff.)

Neben der ARD entwickelte sich kurze Zeit später das ZDF zum zweiten Standbein des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der damalige Bundeskanzler Adenauer forcierte eine „Deutschland-Fernsehen-GmbH“, welche zu 51 Prozent vom Bund und zu 49 Prozent von den Ländern getragen werden sollte. Die Länder wurden bei jenen Plänen übergangen und sahen sich in ihren Kompetenzen eingeschränkt. Die folglich eingereichte Klage ging als das „erste Fernsehurteil“ in die Geschichte ein und bekräftigte die Länder in ihrer Rundfunkhoheit. Am 28. Februar 1961 wurde die „Deutschland-Fernsehen-GmbH“ für verfassungswidrig erklärt. Anschließend an das Urteil beschlossen die Bundesländer ein eigenes zweites Fernsehprogramm für alle Länder zu schaffen. Am 6. Juni 1961 wurde durch die Schließung des „Staatsvertrags über die Einrichtung der Anstalt des öffentlichen Rechts Zweites Deutsches Fernsehen“ das ZDF gegründet. Am 1. April 1963 ging das ZDF auf Sendung. Wichtig bei den Vertragsverhandlungen war die Unabhängigkeit gegenüber der ARD, welche bis heute Bestand hat. (Pürer 2015: 113 ff.; Hoff 2011: 103f.)

Die verfassungsrechtliche Grundlage des öffentlich-rechtlichen Programms ist das in Art.5, Abs. 1, S. 2 GG festgehaltene Grundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit. Demnach ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, die Funktionsfähigkeit des Rundfunks zu gewährleisten. Darüber hinaus darf eine Zensur des Presserechts nicht stattfinden. Der Verankerung im Grundgesetz kommt in Zeiten von anhaltender PV eine wichtige Bedeutung zu, denn sie bildet die Basis für den dauerhaften Fortbestand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Gleichzeitig wird durch die Verknüpfung das Merkmal der Informationsgesellschaft gewahrt, da der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die Garantie der Informations-, Kontroll- und Meinungsbildungsfunktion verantwortlich ist. (Lucht 2009)

Als rechtliche Grundlage für das dualistische Rundfunksystem (öffentlich­rechtlicher Rundfunk und privater Rundfunk) der Bundesrepublik Deutschland fungiert der Rundfunkstaatsvertrag. Neben den Satzungen für ARD und ZDF sind hier in erster Linie die rechtlichen Regelungen für den privatrechtlichen/ kommerziellen Rundfunk, welcher seinen Ursprung in der Gründung der „Anstalt für Kabelkommunikation“ 1984 hat, niedergeschrieben. Der Rundfunkstaatsvertrag gibt u.a. die Rahmenbedingungen des ausgestrahlten Sendeprogramms sowie die Bedingungen der Finanzierung vor. Auch er garantiert in seiner Präambel den Bestand und die Fortentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die privatrechtlichen Sender zählen ebenfalls zum deutschen Mediensystem. Dementsprechend müssen sie die gleichen Richtlinien einhalten und haben den gleichen Auftrag zu erfüllen. (ARD o.D.)

Neben dem Hör- und Fernsehfunk bilden die Printmedien das dritte Glied der MM. Sie umfassen regelmäßig publizierte Druckerzeugnisse, vorwiegend handelt es sich hierbei um die beiden Produktgruppen der Zeitung (Tages-, Wochen- und Sonntagszeitung) und der Zeitschriften (Publikums- und Fachzeitschrift). Neben den Zeitungen tragen insbesondere die Fachzeitschriften eine politische Verantwortung und sind zuständig für die Wahrnehmung der Meinungsbildungs-, Informations- und Kontrollfunktion. Nachfolgend wird sich jedoch vorwiegend mit dem Tageszeitungsmarkt beschäftigt, da dieser aufgrund seiner Quantität und Reichweite den größten Einfluss auf die Leserschaft hat. (Prase 2016: 171ff.) Die verfassungsrechtliche Grundlage ist, parallel zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in Art.5, Abs. 1, S. 2 GG niedergeschrieben. Im Sinne des öffentlichen Auftrags haben auch die Printmedien eine publizistische Vielfalt zu garantieren. Voraussetzung für eine unabhängige Berichterstattung (gilt auch für Hörfunk und TV) ist die Autonomie des jeweiligen Mediums. Innerhalb der Medienordnung darf es keinen staatlichen Einfluss geben. Ansonsten würde die Politik anfangen, die Informationskanäle zu „steuern“. Das von den Ländern ausgesprochene Presserecht gewährt den Printmedien das Recht, von sämtlichen Institutionen Informationen einholen zu dürfen. (Branahl/Eberwein 2011)

3.3 Das Aussterben und der Bedeutungsverlust der Massenmedien

Trotz der geschilderten Bedeutung der MM für die Demokratie stehen sie vor einer ungewissen Zukunft. Die Nutzerzahlen sind konstant rückläufig und die resultierenden Finanzierungsprobleme laufen einer massenmedialen Vielfalt zuwider. Besonders gefährdet ist der Printjournalismus. Auslöser für diese Krise ist der technologische Wandel des 21. Jahrhunderts. Die Entwicklungen des Internets und der digitalen Medien haben die Sphäre der MM drastisch verändert. Das World Wide Web hat das Medienangebot innerhalb kürzester Zeit vervielfacht. Internetbasierte Inhalte haben das Abhängigkeitsverhältnis von den informationsvermittelnden MM zerstört und unterliegen weder dem Kriterium der Periodizität noch sind sie in ihrer Quantität beschränkt. Das Internet gilt daher als weitaus nutzerfreundlicher. (Molthagen-Schnöring 2018: 77; Schenk/ Wolf 2006: 239ff.)

[...]

Fin de l'extrait de 70 pages

Résumé des informations

Titre
Die politisch relevanten Nutzungsformen sozialer Medien und deren Auswirkungen
Université
University of Würzburg  (Institut für Politikwissenschaften und Soziologie)
Note
2,3
Auteur
Année
2020
Pages
70
N° de catalogue
V999952
ISBN (ebook)
9783346379498
ISBN (Livre)
9783346379504
Langue
allemand
Mots clés
Soziale Medien, Politik, Politikverdrossenheit
Citation du texte
Henrik Zinn (Auteur), 2020, Die politisch relevanten Nutzungsformen sozialer Medien und deren Auswirkungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/999952

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