Zum Bildungsbegriff in der Anthropologie Johann Gottfried Herders


Dossier / Travail, 2001

14 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Biographische Anmerkungen

Herders Anthropologie im Hinblick auf ihre pädagogischen Implikationen

Schluß

Literaturverzeichnis

Einleitung

Diese Arbeit ist ein Beitrag zu einem Seminar über den klassischen und neuhumanistischen Bildungsbegriff im WS 2000/2001. Ziel des Seminars ist es über die historisch-systematische Reflexion in die gegenwärtigeöffentliche Auseinandersetzung über die Zukunft des Bildungswesens einzuführen. In diesem Beitrag soll anhand des vierten Buches aus Johann Gottfried Herders ,,Ideen zur Philosophie einer Geschichte der Menschheit" der Bildungsbegriff der deutschen Aufklärung im historischen Kontext dargestellt werden. Da Herder keine eigene Pädagogik entfaltet hat, wird in diesem Beitrag nach den Prämissen gefragt, die seine Anthropologie für eine Pädagogik bereithält.

Am Anfang stehen einige biographische Anmerkungen zu Herder, die Herder als typischen Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums im Ausgang des 18. Jahrhunderts darstellen sollen. Vor dem Hintergrund dieser Anmerkungen wird Herders Anthropologie im Hinblick auf ihre Implikationen für einen Bildungsbegriff untersucht und als Versuch bürgerlicher Selbstbestimmung interpretiert.

Biographische Anmerkungen

Herders Zugehörigkeit zum deutschen Bürgertum verdankt er seiner Bildung, durch die es ihm möglich war, hohe kirchliche Ämter zu bekleiden und am höfischen Leben teilzunehmen. Herder wurde 1744 in Mohrungen/Ostpreußen geboren. Sein Vater war Glöckner und Elementarlehrer und von ernster protestantischer Gesinnung (S.51 ). Herder wurde anders als die Kinder von Bauern und Handwerkern nicht zur Mithilfe in einem Betrieb herangezogen und hatte dadurch Gelegenheit, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Trotz der Mittellosigkeit seines Vaters studierte er Theologie in Königsberg. Aufgrund seiner Begabung konnte er sich seinen Unterhalt als Hilfslehrer an einer pietistischen Schule verdienen. Intellektuell geprägt wurde er durch Kant, dessen Vorlesungen er hörte. (S. 10) Nach seinem Studium wurde er Lehrer an der Domschule in Riga. Riga war eine blühende Handelsstadt. In der Stadtrepublik herrschten neben dem russischen Gouverneur die sich aus den deutschen Großkaufleuten und dem livländischen Adel zusammensetzenden Stände. Hier lernte Herder bürgerliches Gesellschaftsleben kennen. Im Umland hingegen lebte das lettische Volk in drückender Leibeigenschaft und bitterer Armut (S.14). Herder, fasziniert von den Volksliedern und Bräuchen, prangerte noch Jahre später in seinen ,,Humanitätsbriefen" die Unterjochung der baltischen Völker durch den deutschen Adel seit dem Mittelalter an (S.15). Herder machte im Laufe seines Lebens intensive Erfahrungen mit dem kleinen deutschen Provinzabsolutismus. Als Oberprediger in Bückeburg (1771-1776) hatte er sehr unter der ,,kriechenden und garstigen Kleinheit" seiner nur aus Höflingen, Beamten und Militär bestehenden Umgebung zu leiden. (S.37) Er fühlte sich ,,lebendig tot" (S.38). Seine Laufbahn führte ihn schließlich auf Vermittlung Goethes zum Amt des Superintendenten im Herzogtum Weimar-Sachsen-Eisenach, wo der zu besprechende Text entstand. Auch hier erlebte er politische Ohnmacht. Für seine Reformpläne in Kirche und Schulwesen fand er Widerstand und keine finanzielle Unterstützung. (S.53) Die politische Ohnmacht betraf das deutsche Bürgertum im allgemeinen, das abgesehen von den Großkaufleuten der Handelsstädte keineökonomische Macht besaß. Beamte wie Herder hingen am Gängelband kleiner Despoten. Sie waren für die Verwaltung wichtig, erhielten ausdrückliche Anerkennung der höfischen Gesellschaft aber vor allem, wenn sie sich als unterhaltsam erwiesen. Ihr Erfolg war daher gebunden an ihre Unterwerfung unter die höfische Etikette. Sie mußten, wie alle Höflinge, um die Gunst des Landesherren buhlen. Wenige nur waren dabei so erfolgreich wie Goethe. Mit seinem wachsenden Einfluß auf den jungen Herzog Karl August, zog sich Herder immer mehr von ihm zurück. Als Goethe 1782 zum Geheimen Rat und Kammerpräsidenten ernannt und in den Adelsstand erhoben wurde, verstärkte das Herders Mißbilligung, die wohl vor allem Eifersucht war (S.53). Denn Herder mußte sich mit dem Wohlwollen der Damen des Hofes begnügen. Er gehörte zu den ,Auserwählten', die die Herzoginmutter Anna Amalia in ihrer ,,Tafelrunde" um sich versammelte. Die ,,Tafelrunde" war eine Abendgesellschaft von Angehörigen des Hofadels und der bürgerlichen Intelligenz, in der durch Lektüre und Gespräch bürgerliches Gedankengut vermittelt wurde. (S.53 f.)

Die Ämter alleine befriedigten ihn nicht. Trotz seiner umfangreichen Amtsgeschäfte Predigten, Konsortialsitzungen, Examen von Theologen und Lehrern, Inspektionen über das Weimarische Gymnasium, Prüfung der Kirchenrechnungen, Aufsicht über alle Geistlichen und alle Schulen des Landes - vollendete Herder daher viele wissenschaftliche Arbeiten. (S.55) Er arbeitete u.a. auf dem Gebiet der Theologie, Erkenntnistheorie, der Kunst- und Literaturwissenschaften. Als eine seiner Hauptleistungen gelten seine Bemühungen auf dem Gebiet der Volksliedforschung. Im Mittelpunkt vieler seiner Arbeiten steht die Wechselbeziehung zwischen Literatur und Gesellschaft. Er betont die Abhängigkeit der Literatur und Kunst von den Zeitverhältnissen, insbesondere sei die griechische Klassik im ,Zeitalter der griechischen Freiheit' entstanden und mit dieser auch wieder gesunken. (S.58) Das Zeitalter der griechischen Klassik bekam im 18. Jahrhundert vor allem wegen seiner kulturellen Errungenschaften eine Vorbildfunktion für das deutsche Bürgertum. Mit seinem methodischen Postulat, daß der Zusammenhang zwischen dem kulturellen Zustand und den politischen Verhältnissen einer Zeit allgemein gelte, ist er einer der Begründer der historischen Betrachtungsweise und damit Vorläufer des Historismus. Er will anhand seiner historischen Untersuchung allerdings vor allem über die ihm gegenwärtigen Verhältnisse aufklären. Er erklärt, daß die Dichtkunst bei alten Völkern ursprünglich eine religiös-sittliche Funktion gehabt habe. In Deutschland, sei infolge der Zersplitterung in viele kleine Fürstentümer und der Nachahmung fremder Literatur, die Wirkung der Dichtung auf das Volk aber verloren gegangen. Sie sei nichts weiter als ,,schönes Spielwerk" (S.58). Herder diagnostiziert in Deutschland also eine Krise der Kultur. Im Kontext seiner historischen Überlegungen ergibt sich daraus eine Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen. Er fordert, der Dichter müsse wieder Volkserzieher sein. Anhand seiner historischen Untersuchungen aber versucht Herder zu zeigen, daß dazu ,,Gedankenfreiheit" unabdingbare Voraussetzung sei: ,,Die Regierung, unter der allein Natur, rechtes Maß und Verhältnis stattfindet, ist - Freiheit [...] Schaffet uns ein Athen her, die Demosthenes und Perikles werden von selbst werden." (S.58) Die Forderung eines Athen bleibt weitgehend ohne Konkretion. Die politische Mittellosigkeit des Bildungsbürgertums spiegelt Herder wieder als gesellschaftliche Mißachtung des Dichters, als pädagogische Ohnmacht. Während englische und französische Aufklärer Staatsmodelle entwarfen, führte das deutsche Bürgertum gegen den Feudalabsolutismus einen Kulturkampf. Auch Herder kritisierte den deutschen Adel vor allem in seinem kulturellen Gebaren. An allen Höfen wurde französische Hofkultur nachgeahmt, man sprach französisch. Herder sah darin eine Gefahr für die deutsche Kultur, sogar für den Erhalt der deutschen Sprache. (S.46) In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß Herders Volksliedforschung einen politischen Aspekt besaß. Die Rückbesinnung auf die deutsche Volkskultur sollte die deutsche Einheit stiften. Was Herder zunächst als Programm zur Förderung und Entwicklung der Kultur vorzeichnet, wird wenige Jahrzehnte später politisches Propagandamittel der nationalistischen deutschen Burschenschaftsbewegung.

Herders Anthropologie im Hinblick auf ihre pädagogischen Implikationen Der Text findet sich als 4. Buch im ersten von vier zwischen 1784 und 1791 erschienenen Teilen der ,,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Herder versucht in seinem Hauptwerk eine Universalgeschichte der Bildung der Welt zu entwerfen.

Im ersten Teil gibt er einen Überblick über die naturgeschichtliche Entwicklung und Untersucht die besondere Stellung des Menschen. Im zweiten Teil erfolgt der Vergleich der in den verschiedenen Zonen der Erde lebenden Völker. Ihn interessiert dabei nicht eine Einteilung in Rassen. Im Vordergrund steht der humanistische Gedanke der Einheit des Menschengeschlechtes. Er führt daher vor, wie die allen Völkern gemeinsamen Eigenschaften und Sinne durch Umwelteinflüsse vielfältig variiert werden. Im dritten und vierten Teil entwirft Herder eine Kulturgeschichte der Menschheit. (Arnold, S.63 f.) Das vierte Buch umfasst die Untersuchung der besonderen Stellung des Menschen in der Natur.

Herders Bestreben ist es, die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen mit dem erstarkenden naturwissenschaftlich-materialistischen Weltbild zu vermitteln. Als Theologe hält er fest an der Gottesebenbildlichkeitsvermutung. Als Aufklärer sieht er das spezifisch göttliche am Menschen in seiner Vernunftfähigkeit. Mit seiner materialistischen Konzeption eines universellen Entwicklungszusammenhangs, der Einheit von Natur- und Menschheitsgeschichte, wurde Herder zu einem Vorläufer der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts.(Arnold, S.62 f.)

Durch die anatomische Untersuchung soll ein Ideal begründet werden, das alle menschliche Entwicklung anzustreben habe. Herder schließt also von der Seinsstruktur des Menschen auf eine Sollensstruktur, die er als ,,Humanität" bezeichnet. Anders ausgedrückt: Herder versucht eine naturwissenschaftlich-materialistische Begründung von Wertvorstellungen. Die zentrale Behauptung des 4. Buches lautet: In der Anatomie des Menschen liegt ein Potential begründet, das zu idealer Vollkommenheit zu entfalten dem ganzen Geschlecht von Gott aufgetragen ist.

Herders formuliert seine erkenntnistheoretische Voraussetzung so: ,,Alle äußere Form der Natur ist Darstellung ihres inneren Werks." (S.1052 )

Die äußere Form des Menschen soll Aufschluß geben über das, was er seiner Bestimmung nach ist. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet daher die Beschreibung des menschlichen Körperbaus. Herder sucht nach Merkmalen, durch die sich die menschliche Anatomie ganz allgemein von der jeglicher Tiere unterscheidet. Entscheidend für Herder sind dabei ästhetische Kriterien

: Schönheit, Harmonie, Feinheit, Würde. Anhand dieser Kriterien erarbeitet Herder den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Er stellt beim Menschen ,,schönere Lage und Proportion" der Glieder (S.107) fest. Gegenüber den Tieren sei der Mensch ,,vollkommen" gebaut. Herder konstruiert auf diese Weise einen empirischen Nachweis seiner metaphysischen Vermutung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.

Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen stellt sich nach Herder in seiner Vernunftfähigkeit dar. Den menschlichen Körper betrachtet er als ,,Werkstätte des menschlichen Verstandes" (S.105). Die Vernunftfähigkeit des Menschen und sein Körperbau sind nach Herder unmittelbar aufeinander bezogen, harmonisch, einheitlich. Diese Einheit ist eine religiöse. Als ,,Werkstätte" des vernünftigen Gedankens ist sie heilig. Der Respekt vor dieser Heiligkeit verbietet, sie radikal analytisch in einzelne funktionale Teile zu zergliedern. ,,Es wird daher beinah ungereimt, abstrahierte Verhältnisse als einen Körper zergliedern zu wollen und, wie Medea die Glieder ihres Bruders hinwarf, die Seele auseinander zu werfen."(108) Dennoch besteht in dieser Einheit eine klare hierarchische Ordnung. Der vollkommene Körperbau des Menschen diene seiner Vernunftfähigkeit. D.h. den Körper sieht Herder als Diener des Geistes, diesem untergeordnet. Der edelste Teil des Körpers sei der Kopf. ,,Warum neiget sich die griechische Form des Oberhaupts so angenehm vor? Weil sie den weitesten Raum eines freien Gehirns umschließt, ja auch schöne, gesunde Stirnhöhlen verrät, also einen Tempel jugendlich-schö ner und reiner Menschengedanken ." (S.110) Herder stellt daher fest, daß die Gliederung des Ganzen in seine Teile vom Haupt her zu verstehen sei (S.110). Die ganze Struktur des menschlichen Körpers sieht er darauf hin organisiert, klare Gedanken fassen zu können. Am augenscheinlichen verbürge dies der aufrechte Gang des Menschen: ,,Blick also auf gen Himmel, o Mensch, und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Prinzipium, deine aufrechte Gestalt knüpfte. Gingest du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und darnach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit, unsichtbar in dich gesenkt? ..." (S.110). Während er den Menschen als vollkommen schön beschreibt, ist das Tier für Herder gebückt, gefräßig also etwas niederes. Vom gebückten Gehen der Tiere schließt Herder auf ihre Triebgesteuertheit. Der aufrechte Gang des Menschen hingegen ermögliche diesem eine bessere Wahrnehmung seiner Umgebung. Das aufrechte Tragen seines Kopfes befähige ihn auf dem ,,weiten und freien Sammelplatz..., die Eindrücke und Empfindungen aller Nerven mit der größesten Kraft, mit der schärfsten Wahrheit, endlich auch mit dem freiesten Spiel der Mannigfaltigkeit zu verknüpfen und zu dem unbekannten göttlichen Eins, das wir Gedanke nennen, energisch zu vereinen" (S.106). Die menschliche Anatomie erlaube also Freiheit von der Dominanz einzelner Sinne. D.h. Freiheit von reiner Triebgesteuertheit, wenigstens dem Potential nach: ,,Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß notdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht." (S.119)

Der Unterschied zum Tier bestehe außer in einer Ausgewogenheit der Sinne in seinen handwerklichen Gestaltungsmöglichkeiten: Der Mensch hat ,,freie und künstliche Hände, Werkzeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neuen klaren Ideen." (S.114)3 Schließlich hat er die Sprache: ,,die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung." Durch die Rede vereinigen sich die Sinneseindrücke zum Gedanken, der sodann die Herrschaft über die Glieder führen könne. (S.115)

Weil der Mensch aber nicht mehr am Gängelband seiner Triebe liegen müsse, könne er ein Urteilsvermögen entwickeln. Das ist die zentrale Botschaft der Aufklärung: ,,Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen." (S.119) Zwar ist der Mensch nach Herder von Gott geschaffen. Aber er ist nicht von ihm geführt. Er ist frei, zu wählen, Herr über sein eigenes Schicksal. Die Freiheit des Menschen sieht Herder verknüpft mit Pflichten. ,,Die edelsten Pflichten des Menschen" liest Herder wiederum aus der Gestalt ab, die die Natur dem Menschen gab. Was also menschlich sei, was im Menschen als Anlage vorhanden sei, sei zur Humanität zu entfalten, d.h. ideal zu entwickeln. Zur Humanität gehöre vor allem folgendes:

1. Friedlichkeit : Der Mensch sei nicht wehrlos erschaffen, er habe seiner Hände Kunstfertigkeit. Diese sei von Natur aus auf Friedlichkeit angelegt:

,,Kunst ist das stärkste Gewehr, und er ist ganz Kunst , ganz und gar organisierte Waffe. Nur zum Angriff fehlen ihm die Klauen und Zähne; denn er sollte ein friedliches sanftmütiges Geschöpf sein." (S.115)

2. Humane Liebe: Da Kuß und Umarmung nicht abhängig seien von Jahreszeiten, wie beim Tier, d.h. nicht von Natur aus gesteuert, müsse der Mensch die Gabe zur freiwilligen Enthaltsamkeit als natürliche Anlage besitzen. Der Mensch sei für den freiwilligen Bund der Ehe bestimmt. (S.124)

3. Mitgefühl: Dieses sei beim Menschen besonders stark durch Stimme und Sprache entwickelt, da er mit diesen Gaben Gefühlen intensiven und differenzierten Ausdruck verleihen könne. (S.125)

4. Menschliche Gesellschaft: In der Keimzelle der Familie lerne der Mensch durch die liebende Fürsorge der Eltern, Sympathie zu Mitmenschen: ,,Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren ; das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre seiner langen Kindheit." In ihr wird er domestiziert. (S.126)

5. Gerechtigkeit und Wahrheit: ,,Was du willst, daß andre dir nicht tun sollen, tue ihnen auch nicht; was jene tun sollen, tue du auch ihnen." Das ist eine umgangssprachliche Fassung von Kants Kategorischem Imperativ, den er in Kants Vorlesungen kennen gelernt haben wird. (S.127)

6. Wohlanständigkeit: Der Mensch solle die Schönheit seiner Gestalt entfalten. Äußere Erscheinung und innere Haltung gingen Hand in Hand. Da die Humanität durch Barbarei und falsche Künste auf Erden oft verunziert sei, gehöre zur Wohlanständigkeit auch das forschende Wiederfreilegen der Wahrheit des Menschen, insbesondere die Ethik, ,,die echte menschliche Philosophie, die jener Weise vom Himmel rief." (S.127 f.)

7. Religion: Sie sei durch die Verstandestätigkeit gegeben, die auf der Suche nach kausalen Zusammenhängen, da wo sie keine Ursache finde eine vermuten müsse. (S.128)

Herder begründet also materialistisch die Grundzüge einer Ethik, indem er ein ideales menschliches Verhalten darstellt, das mit der natürlichen besonderen Beschaffenheit des Menschen harmoniert.

Als eine erste anthropologische Prämisse Herders können wir festhalten: Der Mensch ist wesentlich bestimmt durch zwei Teile. In seinem biologischen Teil ist er Naturgesetzen unterworfen. In seinem geistigen liegt ein Freiheitspotential. Die zweite anthropologischen Prämisse Herders sagt, daß der Mensch die in ihm angelegte Freiheit erst zu entwickeln habe. Pädagogische Implikationen werden vor allem an dieser im folgenden eingehender zu betrachtenden Prämisse deutlich.

Insbesondere die Vernunft sei zunächst nur dem Potential nach vorhanden: ,,Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes , eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte." D.h., ,,die Vernunft des Menschen ist menschlich ." (S.119) Um Vernunft lernen zu können, bedürfe es zuerst der Notwendigkeit zum Lernen überhaupt. Deshalb werde der einzelne Mensch in einem lernbedürftigen Zustand geboren. Im Gegensatz zum Tier sei er ein Mängelwesen. D.h. er ist zunächst mangels angeborener Instinkte orientierungslos und unselbständig. In dieser Not liege die Freiheit begründet, sich überhaupt vom Gängelband der Triebstruktur lösen zu können und die ethische Aufforderung, den ,,künstlichen Instinkt" zu lernen: ,, Vernunft, Humanität, menschliche Lebensweise ". (S.118) Das verlange rechte Vorbilder. Denn: ,,Täuschen uns Menschen, und wir haben nicht Kraft oder Organ, die Täuschung einzusehen und die Eindrücke zur bessern Proportion zu sammeln, so wird unsre Vernunft krüppelhaft und oft krüppelhaft fürs ganze Leben." (S.119) Viele blieben aber auch aus Bequemlichkeit gefesselt an niedrige Triebe. Solche Menschen können in Herders Vorstellung ,,ärger als ein Tier werden." (S.120) Ein Mensch bedarf also der Vorbilder, um überhaupt erst Mensch werden zu können und nicht als eine Art Tier durchs Leben zu gehen. Die Vorbilder führen den Menschen zur Einsicht in die natürliche Beschaffenheit des Menschen, sein Wesen, wie es Herder beschreibt. Denn diese Einsicht liegt allem richtigen Verhalten zugrunde. Dem unsteten Zuge blinder Triebe entsagten sie dann freiwillig: Im Bund der Ehe, in der Unterwerfung unter Gesetze und Regierung, im Opfer fürs Vaterland, in der Hingabe an die Forschung. (S.121) Herder postuliert eine metaphysische Harmonie zwischen den Institutionen der Gesellschaft und dem Wesen des Menschen. Theoretisch kann eine Gesellschaft, die entsprechende Vorbilder hat, gänzlich auf Gewalt verzichten. Unter diesen Vorbildern stellt Herder sich Menschen vor, die als ,,Blüte des Menschengeschlechts, unsterbliche freie Göttersöhne auf Erden" wandeln, ,,ihre einzelnen Namen gelten statt Millionen".(121) Er hat also sicher keine Schullehrer vor Augen, sondern große Dichterpersönlichkeiten, aus denen Humanität schon nahezu in Vollkommenheit erstrahlt.

Der politisch- aufklärerische Aspekt seines Freiheitsbegriffes besteht darin, daß prinzipiell jeder Mensch das Potential hat Humanität und damit das höchste Gut des Menschen zu entfalten, ohne daß es dabei auf seine Abstammung ankäme.

Jedem droht aber auch das elende Versagen, denn ,,wenn er nicht bald das Gesetz Gottes in der Natur erkennet und der Vollkommenheit des Vaters als Kind nachstrebet" verwildert der Mensch. Herders Ethik tritt mit einem Absolutheitsanspruch auf, der mit dem Freiheitsgedanken bei der Frage der Erziehung in Konflikt gerät. Wenn richtiges Verhalten auf Einsicht beruht, zu der ein Kind noch nicht in der Lage ist, muß das Kind also auf den richtigen Weg gezwungen werden? Wie soll es dann aber noch zu dem selbständigen Akt des Einsehens kommen? Herder behandelt dieses Problem nicht explizit. Er umgeht es durch eine moralische Aufwertung des kindlichen Zustandes als eines unschuldigen, und folgt darin Rousseau. Das Kind kann noch nicht über gut und böse urteilen. Da der richtige Weg die größte Zufriedenheit verbürgt, werde das Kind ihm ganz naiv folgen. Jedes Abweichen sei mit Unlust verbunden. Dies impliziert die Aufgabe an den Erzieher, aus Liebe zum Kind die Unlusterfahrung an der richtigen Stelle zu verstärken. ,,Der wahre Mensch ist frei und gehorcht aus Güte und Liebe: denn alle Gesetze der Natur, wo er sie einsiehet, sind gut, und wo er sie nicht einsiehet, lernt er ihnen mit kindlicher Einfalt folgen, Gehest du nicht willig, sagten die Weisen, so mußt du gehen; die Regel der Natur ändert sich deinetwegen nicht; je mehr du aber die Vollkommenheit, Güte und Schönheit derselben erkennest, desto mehr wird auch diese lebendige Form dich zum Nachbilde der Gottheit in deinem irdischen Leben bilden. Wahre Religion also ist ein kindlicher Gottesdienst, eine Nachahmung des Höchsten und Schönsten im menschlichen Bilde, mithin die innigste Zufriedenheit, die wirksamste Güte und Menschenliebe." (S.129) Herder formuliert paradox einen Zwang zur freiwilligen Einsicht. Die Pädagogik, die Herder impliziert finden wir ausformuliert in Erziehungsschriften seiner Zeit. Ihr manipulatorischer Charakter liegt offen zu Tage. Z .B. zitiere ich aus einer Schrift von 1748 mit dem Titel Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder : ,,Wenn man nicht in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, daß man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben [...] Der Gehorsam besteht darin, daß die Kinder 1. gern tun, was ihnen befohlen wird, 2. gern unterlassen, was man ihnen verbietet, und 3. mit den Verordnungen, die man ihrethalben macht zufrieden sind." An anderer Stelle heißt es: ,,Wenn die Kinder ganz jung einer guten Ordnung gewohnt werden, so vermeinen sie hernach, daß dieselbe ganz natürlich sei; weil sie nicht mehr wissen, daß man sie ihnen durch die Kunst beigebracht hat." (nach Miller, S. 27 f.)4 Eine mit Gewalt installierte Ordnung soll als natürliche erscheinen. Es gibt kein Recht auf Widerstand. Herder löst in seinen Überlegungen das Gewaltverhältnis völlig auf in verklärte Kategorien der Moral.

Wie das Kind, all seiner Rechte zum Aufbegehren beraubt, vor seinen gütig gewalttätigen Eltern steht, so stellt Herder den Menschen vor Gott. Als ,Freigelassener' ist er sich selbst überlassen. Gleichwohl, das Ziel steht fest: Vervollkommnung der Humanität. Nach Herder hat der Schöpfer alles getan, des Menschen Zufriedenheit auf Erden zu ermöglichen: ,,Die glückliche Zeit also, zu lernen, zu wachsen, sich seines Lebens zu freuen und es auf die unschuldigste Weise zu genießen, zog die Natur so lange, als sie ziehen konnte [...] und selbst in dem, was das Leben kürzt und schwächet, hat sie wenigstens den kürzern mit dem empfindlichern Genuß, die aufreibende mit der inniger gefühlten Kraft vergolten."(S.124) Für die Natur insgesamt gelte, daß der ,,Zweck ihrer Organisation auf Empfindung, auf Wohlsein, auf Glückseeligkeit eines Geschöpfes geht" (S.107). Herder formuliert so den christlich/platonischen Gedanken der Einheit von Sittlichkeit und Glückseeligkeit. Die Verantwortung für sittliche Verfehlungen und jegliches Aufbegehren gegen die bestehende sittliche Ordnung fällt auf den einzelnen Menschen zurück. Herders protestantische Vorstellung verbietet ihm mit seinem Schöpfer zu hadern. Verständlich ist daher, warum nach all der möglichen Zufriedenheit auf Erden doch die Erlösungshoffnung Kraft spendet: ,,und die frühesten Jahre soll er gar eine eingehüllete Knospe der Unschuld sich selbst leben. Es folgen darauf lange Jahre der männlichen und heitersten Kräfte, in denen seine Vernunft reift, die bei dem Menschen sogar mit den Zeugungskräften in ein den Tieren unbekanntes hohes Alter hinauf grünet, bis endlich der sanfte Tod kommt und den fallenden Staub sowohl als den eingeschlossenen Geist von der ihnen selbst fremden Zusammenfügung erlöset."(S.124)

Herder hat sich selber nicht in Harmonie mit den bestehenden Verhältnissen befunden. Seine Vorstellung einer metaphysischen Harmonie bleibt davon unberührt. Denn erst im Zusammenwirken der Individuen, zunächst im Rahmen der Familie darüber hinaus in der ,,Kette der Kultur und Aufklärung" (S.227), in der Herder alle Völker der Menschheit eingebunden sieht, also in einem historischen Prozess, werde Humanität schließlich zur vollen Blüte kommen. In seiner optimistischen Betrachtung der Weltgeschichte als einer ,,Schule des Wettlaufs zur Errichtung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde" (S.400) ist der Einzelne oder auch eine bestimmte Gesellschaft nur Durchgangsstadium. Dadurch ist der Menschheit als ganzer die Realisierung des Kulturideals aufgetragen und der Fortschrittsglauben in die Geschichtsdeutung gelegt. (Blankertz, S. 101) Die Leidenserfahrung des einzelnen findet in dieser Konstruktion keine Berücksichtigung.

Was nach Herder nun Bildung ausmacht ergibt sich demnach in Abstraktion von konkreten politischen oderökonomischen Bedürfnissen. Die Aufgabe der Bildung ist einzig auf die Realisierung eines Kulturideals gerichtet. Im Gegensatz zu utilitaristischen Bildungskonzepten der Zeit bleibt bei Herder jeglicher Bezug aufökonomische oder auch soziale Nützlichkeit aus. D.h. berufliche Qualifikation ist kein primäres Bildungsziel. Anders bei den sogenannten Philanthropen, deren berühmtester Vertreter Basedow in einer 1774 in Dessau gegründeten Schule Kinder im Hinblick auf ihre spätere Tätigkeit in der Gesellschaft erzog und ausbildete. (Blankertz, S.79 ff.) Im Neuhumanismus Humboldts wird zwar der Bezug auf ein normatives Ideal beibehalten. Im Vordergrund der Bildung steht dann aber die Entfaltung der Individualität, die auch im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit gesehen wird. (Blankertz, S.101 ff.)

Die Engführung des Bildungsbegriffs auf kulturelle Bildung kann man unter Rückgriff auf die biographischen Anmerkungen verstehen. Anders als französische und englische Aufklärer war die deutsche Bildungselite nicht Teil einerökonomisch mächtigen Klasse, für die sie hätten sprechen können. Sie waren gelitten als Verwalter und wegen ihres Reichtums an Geist eingebunden als Teil absolutistischer Selbstdarstellung. Herder hatte in dieser Situation viel Frustration politischer Ohnmacht erfahren. Andererseits erlebte er auch, wie er aufgrund seiner Bildung Karriere machen und einen gewissen Einfluß am Hofe gewinnen konnte. Der Prototyp eines Bildungsbürgers in diesem Sinne war Goethe, der durch seinen Erfolg entsprechenden Neid auf sich ziehen mußte. Auch seine Schaffenskraft gewann viel weniger politische als kulturelle Gestalt. Es ist also nicht verwunderlich, daß die deutsche Bildungselite im ausgehenden 18. Jahrhundert ihre Identität aus ihren kulturellen Leistungen zog. Auf diesem Gebiet nahm sie den Kampf auf, sowohl den gegen die Konkurrenz der europäischen Nachbarn, als auch den gegen den Alleinherrschaftsanspruch des deutschen Adels. Und diese Bürger fanden ihre Vorbilder im antiken Griechentum. Sie sahen in der Heterogenität der Poliswelt einen Spiegel der politischen Zersplitterung Deutschlands und bewunderten die Bürger der griechischen Poleis, die trotz ihrer politischen Uneinheitlichkeit als Hellenen zu kultureller Einheit gelangt waren. Sie griffen die französische Hegemonie in der höfischen Kultur an. Das Postulat der Aufklärung von der Freiheit eines jeden Menschen bekam in Deutschland einen bildungsbürgerlichen Anstrich. Jeder Mensch habe die Freiheit - verstanden als Potential - ein kultivierter Mensch zu werden. Daraus erwächst die Notwendigkeit - unabhängig von der Abstammung - durch Bildung erst zu wahrer Humanität zu gelangen. In diesem Sinne musste sich auch der Landesherr ethisch legitimieren. Die Verpflichtung zur Verwirklichung des humanen Potentials galt auch für ihn. Die Bestimmung dessen, was human sei, orientierte sich mangels politischer Konkretion aber wiederum stark an den höfischen Umgangsformen. Der Bürger tritt zum Adeligen in Konkurrenz um die ,,höflicheren" Umgangsformen.5 Ohne eineökonomische Potenz trägt diese Kampfansage in Deutschland kompensatorische Züge. D.h. daß die Ideologiebildung im deutschen Bürgertum im Mittelpunkt steht, während in Frankreich etwa die Enzyklopädisten an der Verbreitung für dieökonomische Praxis wertvollen Wissens arbeiteten und andere wie Montesquieus Staatsmodelle entwarfen (Arnold, S.27). Herder begreift auch die französische Revolution in erster Linie als einen geistig-moralischen Prinzipienkampf für ,,gleiche Pflichten, gleiche Rechte, für Verdienst und Tugend" (Arnold, S.77). Zwar ist er zunächst begeistert von den Ereignissen. Er zieht getreu seiner Auffassung, der Mensch verbessere sich vor allem durch kulturelle Bildung, jedoch die allmählich wirkende Evolution vor, die er mit den Jahreszeiten vergleicht. (Arnold, S.78) Die bildungsbürgerliche Aufklärung begründet den Ruf der Deutschen, ein Volk von Dichtern und Denkern zu sein.

Schluß

Herders Bildungsbegriff ergibt sich aus seinen zwei anthropologischen Prämissen, daß erstens der Mensch aus einem naturgesetzlich bestimmten biologischen Körper und aus einem vernunftbegabten geistigen Teil besteht und zweitens die Vernunftbegabung eine erst durch Bildung zu entfaltende Freiheit bedeute. Der Freiheit voraus gehe die genuin philosophische Einsicht in die natürliche Ordnung, die sowohl die biologische Beschaffenheit des Menschen als auch seine gesellschaftlichen Institutionen umfaßt. Unter Freiheit versteht Herder die Harmonie, in der der einsichtige Mensch zu sich und seiner Umwelt stünde. Erst im Laufe eines die ganze Menschheitsgeschichte durchziehenden Fortschrittsprozesses werde der Mensch vollkommen einsichtig, seine Humanität zur vollendeten Entfaltung bringen. Mit Humanität bezeichnet Herder ein Kulturideal, das mittels kultureller Bildung angestrebt wird. Diese Bildung hängt weniger ab von Schullehrern als von großen einzelnen Vorbildern. Herder stellt sich darunter große Volksdichter vor, die dem Volke durch ihre Dichtung das Humanitätsideal näher bringen. Dieser Bildungsbegriff läßt sich verstehen als Ausdruck eines Kulturkampfes, den das deutsche Bildungsbürgertum mangelsökonomischer Potenz gegen den deutschen Provinzabsolutismus führt. Vor der politischen Ohnmacht fliehend findet Herder Freiheit als metaphysische Harmonie, indem er versucht, Ideen der Aufklärung und der erstarkenden naturwissenschaftlich-materialistischen Weltbetrachtung mit traditionellen religiösen Werten zu verbinden. Konfrontiert mit pädagogischen Vorstellungen seiner Zeit wird offenbar, wie sehr Herder reale Gewaltverhältnisse durch seine Anthropologie legitimiert. In diesem Lichte erscheint die Philosophie Herders, obgleich der der Aufklärung verpflichtet, auch als Abwehrreaktion gegen die politische Sprengkraft der französischen Aufklärung.

Der Begriff von Bildung ist bis heute bezogen auf ein normatives Idealbild der menschlichen Persönlichkeit (Giesecke, S.79). D.h. auch heute noch hat der Bildungsbegriff einen normativen Aspekt. In der Untersuchung seiner historischen Genese kann deutlich werden, wie unsere Vorstellung von Bildung geprägt wurde. Inwiefern werden in aktuellen Diskussionen längst überkommene Schlacken mitgeschleift? Welche Aspekte, die heute in den Hintergrund getreten sind, wollen wir vielleicht wieder betonen? In meiner Arbeit über Herders Bildungsbegriff ist mir vor allem deutlich geworden, daß die Bildungsdebatte von Anfang an in dem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Nützlichkeit und normativer Idealität stattfindet. Ich habe versucht zu zeigen, daß der Bildungsbegriff Herders die Idealität überbetont, womit er wohl eine deutsche Tradition begründet hat. Diese Überbetonung habe ich in meiner eigenen Vorstellung wiedergefunden. Man kann die kulturelle Engführung des Bildungsbegriffs als einem Versuch der Selbstbestimmung des deutschen Bildungsbürgertums im 18. Jahrhundert verstehen. Gleichwohl sollte man darüber nachdenken, welche Bedeutung die Konzeption heute haben kann. Ist der normativ- emanzipatorische Gehalt ein wichtiges Vermächtnis, daß heute unter dem Druck des Marktes zu kurz zu kommen droht? Bildung, die mündige Bürger zum Ziel hat muß sich auch heute noch an einem Ideal orientieren und darf nicht in Nützlichkeitserwägungen aufgehen - Auch heute noch gründet unsere politische Verfassung in der Gottesebenbildlichkeitsvermutung - Mit der zugespitzten Formulierung, daß wir heute mit einemökonomischen Absolutismus konfrontiert sind, rückt das Umfeld der aktuellen Debatte um die Zukunft der Bildung sogar in die Nähe des herderschen Problemfeldes. Die Vertreter der französischen Revolution hatten konkrete Frontverläufe vor Augen. Mit dem ,,laissez nous faire" forderten französische Kaufleuteökonomische Freiheiten. Heute geht es doch eher wieder darum, menschliche Werte zu retten und zwar vor ihrerökonomischen Aushöhlung, d.h. ihrer Transformation in reine Tauschwerte. Deshalb ist es wichtig Herders Orientierung an der Frage nach der Humanität zu beerben.

Literaturverzeichnis

Herder, Johann, Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmidt. Wiesbaden (Fourier Verlag) 1985.

Arnold, Günter: Johann Gottfried Herder. 2. überarbeitete Auflage. Leipzig (Bibliographisches Institut) 1988.

Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar (Büchse der Pandora) 1982.

Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1983.

Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. 20., neu durchges. und erw. Auflage. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1997.

Giesecke, Hermann: Einführung in die Pädagogik. 3. Auflage. Weinheim (Juventa Verlag) 1994.

[...]


1 Die Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die Biographie von Günter Arnold.

2 Die Seitenzahlen in diesem Kapitel beziehen sich auf Herders ,Ideen'.

3 Einerseits beobachtet Herder, daß hinter der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten ,,meistens nur Not, Mangel, Krankheit [..] oder Zufall" stehen. Er verfolgt dies nicht weiter. Sondern formuliert eine metaphysische Vermutung: unsere Triebfeder ist ,, das gö ttliche Geschenk der Rede " ,,die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung." (115)

4 Katharina Ratschky hat diese Pädagogik 1977 als ,,schwarze" bezeichnet. ,,Schwarz" deshalb, weil die Frage des Erfolges erzieherischen Bemühens gleichgesetzt ist mit der Frage nach der moralischen Verfassung des Kindes. Zum primären Problem der Erziehung wird auf diese Weise die Halsstarrigkeit des Kindes. (Miller, S.25)

5 Vgl. Elias II S. 367

Fin de l'extrait de 14 pages

Résumé des informations

Titre
Zum Bildungsbegriff in der Anthropologie Johann Gottfried Herders
Université
University of Hannover
Cours
Seminar zur Geschichte des Bildungsbegriffs
Auteur
Année
2001
Pages
14
N° de catalogue
V100006
ISBN (ebook)
9783638984386
Taille d'un fichier
455 KB
Langue
allemand
Mots clés
Bildungsbegriff, Anthropologie, Johann, Gottfried, Herders, Seminar, Geschichte, Bildungsbegriffs
Citation du texte
Christoph Laun (Auteur), 2001, Zum Bildungsbegriff in der Anthropologie Johann Gottfried Herders, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/100006

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Titre: Zum Bildungsbegriff in der Anthropologie Johann Gottfried Herders



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