Nachhaltigkeit und Partizipation in der Theaterpädagogik

Theoretische Abschlussarbeit im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung


Examensarbeit, 2020

33 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Beherrschung oder Verbundenheit: Die Welt als Uhrwerk vs. die Welt als lebendiger Organismus
2.1 Die mechanistische Weltsicht:
2.1.1 René Descartes: Rational denkender Geist und mechanischer Körper
2.1.2 Thomas Hobbes: Mechanisierung des Staatswesens
2.1.3 Die Aufklärung: Instrumentelle Vernunft und Naturbeherrschung
2.1.4 Vom Frühkapitalismus bis zu Taylor: Mechanisierung der Arbeitswelt
2.2 Die Welt als lebendiger Organismus
2.2.1 Veränderte Vorstellungen von Realität: Energie und Quanten
2.2.2 Systemtheorie
2.2.3 Kurzer Exkurs zum Thema Liebe und „mimisme“
2.2.4 Morphisches Feld

3 Utopien umsetzen: Ansätze und Methoden in David Diamonds Theater zum Leben
3.1 Von Augusto Boals Theater der Unterdrückten zum Theater zum Leben
3.2 Bilder, Symbole und das kollektive Unbewusste
3.3 Mittels Statuentheater von der individuellen zur kollektiven Geschichte
3.4 Andere Weiterentwicklungen von Boals Theater der Unterdrückten
3.5 Rolle der Leitung: Von der Workshop-Begleitung zum Jokern
3.6 Öffentlichkeitsarbeit und Organisation
3.7 Zusammenfassung

4 Fazit & Ausblick

Literatur

1 Einleitung

Ein Teil meines Interesses richtet sich aufs Theater, ein anderer auf das Leben. Ich habe immer versucht, Leute auszubilden, die in beidem gut sind. Vielleicht ist das eine Utopie, aber ich wünsche mir, daß der Schüler ein Lebendiger im Leben und ein Künstler auf der Bühne ist.

Jacques Lecoq (Alexander Verlag Berlin 2003) Ganz Phantasien wird von einer geheimnisvollen Macht bedroht: dem Nichts. In vielen Gegenden verschwinden Landschaften und die Wesen darin im Nichts. Boten aus allen Teilen Phantasiens werden zur Kindlichen Kaiserin gesandt, um ihr von den Ereignissen zu berichten. Mit der Kindlichen Kaiserin - dem Herz Phantasiens - sind alle phantasischen Geschöpfe auf geheimnisvolle Weise verbunden. Alle wissen um diese Verbundenheit. Ohne die Kindliche Kaiserin würde es Phantasien nicht geben. Sie herrscht nicht durch Angst, Schrecken und Gewalt. Sie ist einfach nur da. Vor ihr gelten alle gleich. Nun ist es aber so, dass die Kindliche Kaiserin von einer schweren Krankheit befallen ist, gegen die selbst die größten Heiler ihres Reiches kein Mittel finden. Was können die Phantasier tun? (vgl. Ende 1979)

In Michael Endes Die Unendliche Geschichte braucht es Atréju, einen mutigen phantasischen Jungen, der alle seine Waffen ablegt und sich auf den Weg nach einer Medizin für seine Gebieterin macht. Im Verlauf seiner Suche erfahren wir, dass das düstere, alles verschlingende Nichts Phantasien zerstört, weil die Menschen aufgehört haben zu träumen und zu wünschen. Dass das Heilmittel für die Kindliche Kaiserin nur von einem Menschenkind verabreicht werden kann. Und dass es für die Phantasier keine Möglichkeit gibt, ihr Reich zu verlassen und in die Menschenwelt zu kommen. Nach einer langen erfolglosen Suche trifft Atréju in einem fast vollständig zerstörten Phantasien auf die Kindliche Kaiserin. Sie braucht einen neuen Namen, der ihr nur von einem Menschenkind verliehen werden kann. Das ist das einzige Mittel, was ihr helfen kann. Atréju stirb, weil Bastian - das Menschenkind -, der diese Geschichte in einem Buch liest, Selbstzweifel hat. Er glaubt nicht an die Kraft seiner Imagination, glaubt nicht, dass er es ist, der gerufen wird. Dass er Phantasien vor der Vernichtung retten kann. Bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich im Angesicht größter Angst in dieses Nichts zu stürzen, um sich das Träumen wieder zu erlauben und damit seine innere mystische Welt wieder zu beleben (vgl. Ende 1979).

Auch unsere Welt ist bedroht. PR-Laboratorien manipulieren unserer Gedanken, um den Konsum anzukurbeln. Machgierige Eliten und Lobbyisten schlafen nicht.

Entscheidungen werden getroffen. Menschen auf der Flucht werden zurückgedrängt, das Recht auf Asyl wird ausgesetzt. Die Polizei und andere exekutive Kräfte gewinnen an Macht. Der Raubbau an der Erde nimmt exorbitante Ausmaße an. Der Klimawandel ist im vollen Gange. Die Erde - unsere Kindliche Kaiserin - mit ihrer Artenvielfalt ist als unsere Lebensgrundlage bedroht.

Viele Gespräche, die ich in Zeiten der Corona-bedingten Ausgangsbeschränkungen führte, drehten sich um Horror-Szenarien als mögliches Resultat der Corona-Krise. Ich stimme zu, dass man als Mensch in seinem Leben immer wieder solchen Ängsten begegnet. Aber da sollten wir nicht anhalten oder sogar aufhören. Wir können und müssen uns trauen, unsere größten Träume und Wünsche anzusehen, die in dieser Krise aufkommen. Wie könnte die Welt nach Corona aussehen? Was wünschen wir uns am meisten? Und wie kann ich als Theaterpädagogin dazu beitragen, diese Träume und Wünsche in die Tat umzusetzen, um eine friedvolle Welt zu hinterlassen, in der auch zukünftige Generationen gern leben und sich entfalten können? Wie kann ich meine Tätigkeit in einer sich polarisierenden Gesellschaft Frieden und Nachhaltigkeit widmen und diese so unterstützen?

Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt für meine Recherchearbeit. Selbst Michael Ende scheint mir posthum in meinen Bemühungen ermutigend zuzulächeln. Denn kurz nachdem ich meine ersten Gedanken niedergeschrieben hatte, las ich ein Zitat von ihm über Die Unendliche Geschichte:

Das ist nämlich die Geschichte eines Jungen, der seine Innenwelt, also seine mythische Welt, verliert in dieser einen Nacht der Krise, einer Lebenskrise, sie löst sich in Nichts auf, und er muss hineinspringen in dieses Nichts, das müssen wir Europäer nämlich auch tun. Es ist uns gelungen, alle Werte aufzulösen, und nun müssen wir hineinspringen, und nur, indem wir den Mut haben, dort hineinzuspringen in dieses Nichts, können wir die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wieder erwecken und ein neues Phantasien, das heißt eine neue Wertewelt, aufbauen. (Ende 2019).

Wir alle sind Teil einer unendlichen Geschichte. Deshalb sei die Frage erlaubt: Haben wir als Erwachsene unsere innere Welt, die Welt der Träume und Wünsche, unsere Phantasie verraten? Haben wir uns rücksichtslose Verhaltensweisen angewöhnt? Als Theaterpädagogin interessiert mich, wie meine Arbeit mehr Bewusstwerdung und damit einhergehend einen inneren Wertewandel unterstützen kann. Dieser Wandel könnte sich in einem äußeren Verhaltenswandel verstetigen und somit zu mehr Nachhaltigkeit, Verständnis und Nächstenliebe führen.

Im folgenden Kapitel skizziere ich eine kurze Bestandsaufnahme derzeitiger mechanistischer Weltsichten und neo-liberaler Gesellschaftskonzepte. Diesen stelle ich ein organisches Bild von Gesellschaft, das auf Verbundenheit beruht gegenüber. Dabei beziehe ich neben eigenen Erfahrungen, die Systemtheorie, Erkenntnisse aus der Quantenphysik und Mystik mit ein.

Im dritten Kapitel erläutere ich die Herangehensweise des Theatre for Living (dt. Theater zum Leben) des kanadischen Theatermachers David Diamond, welcher sich in seinem Schaffen für sozialen und ökologischen Wandel einsetzt und lasse eigene Erfahrungen mit den vorgestellten Methoden mit einfließen.

Im abschließenden Fazit ziehe ich ein Resümee zum Thema dieser Arbeit, erkunde die Möglichkeiten, die vorgestellten Ansätze in meine Arbeit als Theaterpädagogin zu integrieren und gebe einen Ausblick auf weitere interessante Konzepte, die sich dem Thema Nachhaltigkeit und Partizipation widmen, welche ich aber aufgrund der Kürze dieser Arbeit nicht detailliert untersuchen konnte.

2 Beherrschung oder Verbundenheit: Die Welt als Uhrwerk vs. die Welt als lebendiger Organismus

2.1 Die mechanistische Weltsicht:

In der frühen Neuzeit entwickelte sich in Europa die Überzeugung, die Welt und das Leben sei berechenbar, exakt vorhersagbar und somit kontrollierbar. Der Mensch sei die Krone der Schöpfung und sollte sich die Natur Untertan machen. So steht es ja immerhin schon in der Bibel geschrieben (vgl. Gen 1,28). Die ersten Uhren mit mechanischer Zeitmessung und einem rädergetriebenen Uhrwerk wurden bereits im Mittelalter gebaut und verbreiteten sich mit exponentiell steigender Nachfrage auf dem ganzen Kontinent. Wenige Jahrhunderte später wurde die gesamte Welt und ihre Bestandteile - damals noch von Vordenkern - als Maschine, insbesondere als Uhrwerk verstanden.

„Mein Ziel hierbei ist es zu zeigen, daß die himmlische Maschine nicht eine Art göttliches Lebewesen ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk [...]“ Kepler (zit. nach Gloy 1995, S. 167).

Dieses Verständnis durchdrang in unserem westeuropäischen Kulturkreis bis in die Moderne hinein alle Bereiche des Lebens. Es geht einher mit einem streng rationalen, dem Denken verpflichteten Generieren von Erkenntnissen (vgl. Seite „Mechanistisches Weltbild“ und Seite „Erkenntnistheorie“ Wikipedia [25.07.2020], Capra zit. n. Diamond S. 27 und Diamond S. 87 f.)

2.1.1 René Descartes: Rational denkender Geist und mechanischer Körper

Einer der einflussreichsten Wegbereiter des Rationalismus war der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596-1650). Um nicht voreilig gezogenen Schlüssen aufzusitzen, zweifelte er zunächst einmal an allem. Deshalb argumentierte er für eine strenge, vernunftbasierte, schrittweise logischanalytische Beweisführung in der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung. In der Suche nach dem archimedischen Punkt, gelangte er zu der Erkenntnis, dass man selbst im Moment des Zweifelns immer noch denkt und demnach existiert. Er kommt zu der Aussage: „Ich denke, also bin ich.“ Diese Sichtweise ist bis in die heutige Zeit für den wissenschaftlichen Rationalismus prägend und bildet eine Ausrichtung der Erkenntnistheorie, von der sich empirische auf Sinneswahrnehmung bezogene und religiöse auf Offenbarung bezogene Ausrichtungen unterscheiden. Descartes sieht im menschlichen Körper eine Maschine und den Geist als davon abgetrennte Instanz (vgl. Capra zit. n. Diamond 2013, S. 27; Seite „Archimedischer Punkt" und Seite „René Descartes", Wikipedia [24.07.2020]).

Immerhin gelang ihm so die Konstruktion einer denkenden Entität, dem „Ich", als in sich abgeschlossene Identität, die den starren Dogmen der Institution Kirche entgegengesetzt werden konnte. Das war ein Befreiungsschlag gegen die Deutungshoheit und Autorität der christlichen Kirche.

Die Natur wurde zwar noch als gottgegeben anerkannt, jedoch durch allgemein gültige Gesetze geregelt. Dem Menschen wurde die rationale Erklärung dieser Gesetze und somit die Beherrschung der Natur zur Aufgabe gemacht. (vgl. Seite „René Descartes", Wikipedia [24.07.2020]).

2.1.2 Thomas Hobbes: Mechanisierung des Staatswesens

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) übertrug den Maschinenbegriff auf den Staat und die Gesellschaft. Im Naturzustand würden sich die Menschen aufgrund von Macht- und Gewinnstreben, Eigennutz und Ehrgeiz gegenseitig vernichten. („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.") Um dies zu verhindern, braucht es einen Staatsapparat, d. h. ein künstliches Gebilde, in dem sich alle Menschen zusammenschließen und ihre natürlichen Rechte auf eine zentrale Gewalt übertragen. Dieser Souverän besitzt als absoluter Herrscher alle Macht. Er überwacht die Staatsmaschine wie ein Techniker und hält sie am Laufen (vgl. Gloy 1995, S. 172 f.).

2.1.3 Die Aufklärung: Instrumentelle Vernunft und Naturbeherrschung

Die europäische und nordamerikanische Epoche der Aufklärung (ca.1650-1800) basierte ebenso auf rationalem Denken. Man berief sich auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz. Alte Traditionen, Gewohnheiten und den Fortschritt behindernde Strukturen sollten damit überwunden werden (vgl. Seite „Aufklärung", Wikipedia [26.07.2020]). Jedoch kritisierten Max Horkheimer und Theodor Adorno im Rückblick, dass es sich bei dem Vernunftbegriff der Aufklärung nicht um die reine, sondern um eine instrumentelle Vernunft gehandelt habe. Instrumenten sei sie deshalb gewesen, da sie auf der Selbstbehauptung jedes Einzelnen gegenüber einer bedrohlichen Natur basierte. Diese habe sich „als Herrschaft über die äußere und innere Natur und schließlich in der institutionalisierten Herrschaft des Menschen über den Menschen" verfestigt (Seite „Dialektik der Aufklärung", Wikipedia [26.07.2020]). Beide Autoren sprechen von einem „spezifisch abendländischen, auf Selbsterhaltung und Herrschaft abzielenden Rationalitätstypus" (ebd.) und betrachten „die Beherrschung der Natur (und allem „Objektiven") als Wesensmerkmal kapitalistisch organisierter Gesellschaften" (Seite „Frankfurter Schule", Wikipedia [29.07.2020]). Der einst mythische Zugang zur Welt sei zwar durch rationales Denken aufgeklärt worden, schlage aber durch die Vervollkommnung der Naturbeherrschung, d. h. der äußeren objektivierten und der inneren reprimierten Natur selbst in Mythologie zurück (vgl. ebd.).

Hört und liest man Berichte indigener Einwohner Nordamerikas bzw. deren stellvertretenden Organisationen darüber, wie ihre Kultur und ihre Familien unterdrückt, zersplittert, zugerichtet und von den Kolonialisten zersetzt wurden1, zeigt sich meiner Ansicht nach wie sehr die europäischen Neusiedler danach strebten, die Natur zu beherrschen. Indigene Kulturen wurden als wild, unzivilisiert und die Menschen als mit einer primitiven Naturell ausgestattet angesehen. Zudem erblühte der Sklavenhandel. Die Verfassung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika fußte zwar auf den Modellen der Aufklärung. Jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass mit keiner Formulierung der Menschenrechte in dieser Epoche die Abschaffung der Sklaverei verbunden war. Sklaven, Frauen und Kinder waren weiterhin rechtelos (vgl. Seite „Aufklärung", Wikipedia [26.07.2020]).

2.1.4 Vom Frühkapitalismus bis zu Taylor: Mechanisierung der Arbeitswelt

Vom 16. bis zum 18.Jahrhundert entstanden in Europa erste Strukturen des modernen Kapitalismus. Absolutistische Herrscher versuchten, ihren Einfluss und Reichtum zu mehren, indem der Import an Waren geringgehalten und der Export durch Ankurbelung inländischer Produktion hochgefahren wurde. In dieser Zeit entstanden erste staatliche als auch privatwirtschaftliche Manufakturen, in denen Handwerker dazu angehalten wurden, ihre Tätigkeiten in Einzelschritte zu zergliedern. Handwerk wurde zu hochspezialisierter Teilarbeit. Da eine Reserve an billigen und fleißigen Arbeitskräften immer zur Verfügung stehen sollte, wurden Arbeitslose und Tagelöhner in Arbeitshäuser, die auf einem arbeitsteiligen Manufaktursystem basierten, eingewiesen und zur Arbeit verpflichtet.

In Österreich ließ man z. B. im Jahr 1751 Frauenlohnarbeit an Webstühlen zu, da die Weberlöhne als zu hoch angesehen wurden. Damit förderte man nicht nur eine Lohnspirale nach unten, sondern auch die Konkurrenz untereinander und zwischen Männern und Frauen. Konkurrenzdenken ist ein zentrales Merkmal kapitalistisch organisierter Gesellschaften.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trug der US-amerikanische Ingenieur F. W. Taylor maßgeblich zur weiteren Rationalisierung und Mechanisierung der Arbeitswelt bei. Viele Fabriken entstanden und Taylor half dabei, sie in unaufhörlich tickende Uhrwerke zu verwandeln. Nicht nur Werkzeuge wurden vermessen und angepasst, der gesamte Herstellungsprozess wurde in kleinste Arbeitsschritte zerlegt, gemessen und optimiert. Für jeden dieser Arbeitsschritte sollte der passende Arbeiter/ die passende Arbeiterin gefunden werden. Als Arbeiterin hatte man in der Fertigungsstraße oder am Fließband als Rädchen im Getriebe zu funktionieren. Nicht schwer zu erkennen ist, dass diese Art von Rationalismus auf Kosten vieler und im Interesse weniger zur Steigerung der Effizienz und der Produktivität eingesetzt wurde (vgl. Seite „Merkantilimus“, Seite „Manufaktur" und Seite „Mechanistisches Weltbild", Wikipedia [7.8.2020]).

Mit anderen Worten war das mechanistische Weltbild ein materialistisches auf Trennung (Geist - Materie, Volk - Herrscher, Chef - Belegschaft, Kolonialherren - Kolonialisierte) und Beherrschung ausgelegtes Bild. Hierarchien wurden konstruiert. Diese Welt basiert auf Dualismen, unvereinbaren Gegensätzen, Kämpfen über Deutungshoheiten und Vormachtstellungen. Eine Welt, die nach dem Grundsatz „Teile und herrsche!“ aufgebaut ist. Eine Welt, in der jede*r unfrei ist, denn niemand möchte auf die Seite der Unterwerfung rutschen oder als Verlierer am Bodensatz der Gesellschaft ewiglich verharren. In diesem Weltbild möchte jede*r „on top" sein auf Kosten der anderen, wer auch immer als „die Anderen" klassifiziert wird. Würde ich nach diesen Grundsätzen Gruppen anleiten und Stücke zu einer Aufführung bringen, bevorteilte ich einen oder einige wenige Spielerinnen. Andere würde ich ignorieren und benachteiligen. Ich würde streng nach Leistung oder persönlichen Sympathien belohnen und der- oder diejenige, der/die es mir am meisten recht machte, bekäme die meiste Aufmerksamkeit. So würde ich Dominanz- und Konkurrenzdenken unter den Spielerinnen anheizen. Ich würde das Ego einzelner aufblähen und wenn sie mir nicht mehr nützlich erschienen, wieder platzen lassen. Ich würde sie für den Aufbau meines eigenen Egos benutzen. Kaum zu erwähnen, dass eine solche Herangehensweise die Entfaltung von mitmenschlichen Qualitäten, wie Güte, Toleranz, Empathie und Rücksicht nicht unterstützen. Da aber Pädagogik immer dem inneren Wachstum von Menschen, im Sinne von Wachstum an Einsichten durch Erfahrungen und damit einhergehender Bewusstwerdung, Wachstum an Verhaltensmöglichkeiten und Handlungsspielräumen, Wachstum an Liebesfähigkeit und Sinn für Ästhetik dienen sollte, muss sie sich gegen eine Vorgehensweise, die auf Beherrschung und Unterdrückung fußt, wenden.

2.2 Die Welt als lebendiger Organismus

Goodbyes are only for those who love with their eyes. Because for those who love with heart and soul there is no such thing as separation. Rumi (Goodreads 2020)

Weise, Mystiker und Dichter haben sie durch alle Zeiten hindurch und über alle Grenzen hinweg besungen - die Einheit und Verbundenheit von allem. In meiner Lebensgeschichte hatte ich das immense Glück, einer großen Lehrerin zu begegnen und diese absolute, bedingungslose Liebe und Einheit mit allem direkt schnörkel- und schonungslos zu erfahren. Mein Verstand hielt an. Noch heute bin ich dieser Frau, die in der Tradition von H. W. L Poonja und Ramana Maharshi steht, für ihre Hingabe, Weisheit und ihren Dienst an den Menschen unendlich dankbar. Worte können das nicht ausdrücken, bestenfalls mystische Gesänge. Ich weiß nicht, ob mich mein Verstand mit seinem Hang, alles verstehen zu wollen und es dann wieder gewohnheitsmäßig anzuzweifeln, ohne diese entscheidende Begegnung nicht kaputt gemacht hätte. Durch Gangaji - so der Name der Lehrerin - und die stille Sangha war ich in der Lage unter Angst und Sorge, die meinen Verstand angetrieben hatten, Liebe, Schmerz und Trauer wahrzunehmen. Darin liegt eine gewisse Schönheit und Schlichtheit. Auch Joanna Macy und Molly Brown schreiben in ihrem Buch für angewandte Tiefenökologie vom „Schmerz um die Welt", den wir aufgrund unserer Verbundenheit mit dem großen Ganzen fühlen (vgl. Macy und Brown 2017, S. 38 f.). Weitere Ausführungen dazu sind im letzten Kapitel zu finden. Zunächst möchte ich auf einen sich verändernden Blick auf die Welt eingehen, der sich im vergangenen Jahrhundert entwickelte.

2.2.1 Veränderte Vorstellungen von Realität: Energie und Quanten

Ich bin keine Physikerin und erhebe auch keinen Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit, jedoch fasziniert mich, wie unser Verständnis von Energie sich im vergangenen Jahrhundert wandelte. Als Albert Einstein 1905 in seiner speziellen Relativitätstheorie feststellte, dass Masse und Energie letztendlich gleich sind, führte das zu der Überzeugung, das gesamte Raumzeitkontinuum lasse sich auf energetische Prozesse zurückführen. Die Entdeckungen der Quantenphysik auf mikrokosmischer Ebene sprengten traditionell mechanistische Vorstellungswelten. Auf dieser Ebene der kleinsten Elemente, die sowohl Teilchen- als auch Wellencharakter annehmen können, war mit einem Mal nichts mehr eindeutig vorhersagbar. Die Ergebnisse von Experimenten wurden davon beeinflusst, ob und an welcher Stelle gemessen wurde. Der Beobachtende stand also in einer Verbindung mit dem Beobachteten. Man kann auch von Intersubjektivität, Vernetzung oder eben von Verbundenheit sprechen. Mit anderen Worten: Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand hört dies, gibt es dann ein Geräusch? Die Quantenphysik zeigt, dass sich die Natur auch ohne die Anwesenheit eines Menschen, der sie wahrnimmt, gegenseitig wahrnimmt, beobachtet und reguliert. Darüber hinaus fasziniert die Entdeckung, dass sich selbst kleinste Elementarteilchen trennen können und diese scheinbar getrennten Einheiten trotz größter räumlicher Distanz zeitgleich, d. h. ohne Verzögerung, reagieren. Hier seien die Fragen erlaubt „Was also ist Trennung?" und „Ist Raum nur eine Illusion?"

[...]


1 Ich werde darauf nochmal im Kapitel 3 bei der Vorstellung der Herangehensweise des Theater zum Leben an einem Beispiel zu sprechen kommen.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Nachhaltigkeit und Partizipation in der Theaterpädagogik
Untertitel
Theoretische Abschlussarbeit im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung
Veranstaltung
Theaterpädagogik
Autor
Jahr
2020
Seiten
33
Katalognummer
V1006535
ISBN (eBook)
9783346372222
ISBN (Buch)
9783346372239
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Theoretische Abschlussarbeit im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung
Schlagworte
Nachhaltigkeit, Theaterpädagogik, Partizipation, kulturelle Bildung, Friedensarbeit, Gemeinwesenarbeit, politische Bildung, Theatre for Living, Systemtheorie, Weltbilder, soziales Theater
Arbeit zitieren
Anja Dellner (Autor:in), 2020, Nachhaltigkeit und Partizipation in der Theaterpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1006535

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