Warwitz' entwicklungspsychologisches Modell. Eine Text- und Bildweltanalyse zur Ontogenese des kleinen Katers aus Sven Nordqvists "Wie Findus zu Pettersson kam"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Im Wagnis erwächst das Leben
2.1 Der Wagnisbegriff
2.2 Vom Leben in wachsenden Ringen (Warwitz)

3 Sven Nordqvist: Wie Findus zu Pettersson kam
3.1 Das Objekt im Überblick
3.1.1 Text- und bildgestützte, objektinhärente Werbung
3.1.2 Die physikalische Rahmung: Die Objektdeckel
3.1.3 Die Seitengestaltung von Text und Bild
3.1.4 Der Seiteninhalt – ein Blick auf die Erzählung
3.2 Findus‘ Leben in wachsenden Ringen
3.2.1 Die Ringe 1 und 2: Die Geburt aus der Pappkiste und die Küche als häusliche Insel
3.2.2 Ring 3: Nächste Umgebung und der Tischlerschuppen (nicht autonom)
3.2.3 Ring 4: Findus‘ Exodus in die Welt der Mäuse und kleinen Wesen
3.2.4 Ring 5: Eine Kiste am Ende des Tunnels
3.2.5 Der nächste Ring – Sicherheitsbildung und Verwachsen der Lebenswelten

4 Konklusion

5 Literaturverzeichnis

6 Anhang

1 Einleitung

Der Text ist das Opus Magnum der Wissenskultur. Der Aneinanderreihung von Morphemen zu größeren syntaktischen Sinneinheiten ist die Funktion des Informierens, Erzählens und Bildens inhärent. Wo es nach Ausführungen auf textlicher Grundlage noch Veranschaulichungsbedarf gibt, wo es gilt, Informationen oberflächlich zu vermitteln, da kommt das Bild als Anhängsel ins Spiel. In dieser und ähnlicher Weise proliferieren Thesen zum Verhältnis zwischen Text und Bild des sprachfixierten und textbefangenen Elfenbeinturms der selbsternannten Wissenskultur. Diese Desavouierung hat auch Auswirkungen auf die Deutsch-Didaktik und die institutionelle Vermittlung: So steht die Textarbeit im Deutschunterricht der Schule über allem (vgl. Dehn, 2008, S.1), was sich deutlich im „Sieg des gedruckten Wortes“ (Sturm, 1991, S. 4) zeigt. Bildern wird in einem solchen Gesinnungsumfeld maximal eine Hilfsrolle für den Schriftspracherwerb zugestanden: Sie verkommen zu Knechten der Lesesozialisation und finden sich daher in tradierter Weise vor allem in der Kinderliteratur wieder. Text-Bild-Amalgame bestehen aber nun einmal nicht nur aus Geschriebenem mit veranschaulichendem Bildanhängsel, sondern sie konstituieren sich aus Text und Bildern – und beide Teilbereiche produzieren autonome Welten, welche im Medium miteinander korrespondieren und etwas Neues, eine Text-Bild-Komposition, entstehen lassen, welche die Narration gemeinsam vollführt. Ein Exempel für ein solches Objekt1 ist Sven Nordqvists Wie Findus zu Pettersson kam. Text und Bilder erzählen die Geschichte vom alten, eremitischen Pettersson und seiner Begegnung mit dem jungen Kater Findus sowie dessen Ontogenese. Ziel dieser Arbeit ist eine Analyse dieses Objektes, aus welcher heraus gezeigt werden soll, dass für die spezifische Darstellung von Findus‘ Entwicklung und der Einsamkeit des Eremiten Text und Bild nötig sind. Um dies zu leisten, soll im ersten Schritt die entwicklungspsychologische Theorie vom Leben in wachsenden Ringen von Warwitz erläutert werden (1), um diese im Folgeschritt auf Findus‘ text- und bildlich verhandeltes Heranwachsen anzuwenden. Hierbei wird immer wieder auch darauf einzugehen sein, wie die Entwicklung von einem alten, melancholischen Pettersson hin zu einem lebensfreudigen, eng mit den wachsenden Ringen des kleinen Katers korreliert (2). Eine Konklusion samt Ausblick beschließt die Diskussion (3).

2 Im Wagnis erwächst das Leben

Menschen müssen sich in ihrem Entwicklungsprozess immer wieder aus ihrer Komfortzone wagen. Sie müssen Risiken und Gefahren eingehen, um die Sprossen der Entwicklungsleiter hinaufzusteigen. Das Kleinkind, welches den aufrechten Stand und anschließend die zweibeinige Fortbewegung – das Gehen – durch die Erfahrung hundertfachen Fallens und Scheiterns lernt, wagt seine bodenbehaftete Sicherheit, riskiert blaue Flecken, aber gewinnt nach scheinbar endlosen Anstrengungen einen völlig neuen Bewegungs- und Gestaltungraum: Durch die Aufrichtung erfolgt eine fundamentale Modifikation der Wahrnehmungsperspektive, womit ebenfalls ein Freiwerden der oberen Extremitäten einhergeht. Dieses Beispiel zeigt, was für viele kindliche Lernschritte gilt: Sie sind untrennbar mit dem Wagnis verbunden (vgl. Warwitz, 2016, S. 1). In jedem Wagnis schwingt aber die Gefahr des Scheiterns mit, daher ist die berechtigte Sinnfrage zu stellen: Warum wagen sich Kinder, wenn es gefährlich ist, mitunter sogar zu Verletzungen führen kann? Warwitz beantwortet dies in Anlehnung an Felix von Cube wie folgt:

Das Kind sucht das Wagnis nicht um des puren Risikos willen, nicht aus Naivität und nicht aus Suizidabsichten, sondern um Sicherheit zu gewinnen. Indem es sich das Unbekannte zum Bekannten, das Fremde zum Vertrauten, das Unberechenbare zum Berechenbaren, das Gefährliche zum Handelbaren verwandelt, erschafft es Schritt für Schritt aus Unsicherheit Sicherheit (Warwitz, 2016, S. 247).

Und genau diese Suche nach Sicherheit ist es, auf welcher der kleine Findus in Kapitel 3 begleitet werden soll. Allerdings erscheint es zuvor unabdingbar, den Wagnisbegriff näher zu beleuchten: Riskiert Findus etwas, wenn er in dem unbekannten „Loch in der Wand“ (Nordqvist, 2002, S. 15)2 auf Entdeckungsreise geht, oder wagt er sich? Die Distinktion der beiden Begriffe Risiko und Wagnis ist für die Diskussion fundamental, daher soll zunächst eine Begriffsschärfung erfolgen. Als weitere Grundlage für das Verständnis der Ontogenese von Findus ist im Anschluss daran noch die Warwitz’sche Theorie vom Leben in wachsenden Ringen zu umreißen, damit eine Einordnung der Text-Bild-Analyse-Ergebnisse in Bezug auf die Entwicklung des Katers gelingen kann.

2.1 Der Wagnisbegriff

Immer wenn es in der Folge von anspruchsvoller werdendem Denken und aus komplexen Sachverhalten heraus nötig wird, eine Differenzierung im sprachlichen Ausdruck zu bewirken, vollziehen sich dynamische Prozesse innerhalb der Sprache. Dazu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Es können Lehnwörter übernommen werden oder auch verschlissen erscheinende Begriffe innerhalb der Sprachgemeinschaft eine Bedeutungsinnovation erfahren. In dieser Weise konstituieren sich auch wissenschaftliche Fachsprachen, mit ihrem hohen Anspruch an Ausdrucksgenauigkeit. Die Alltagssprache indes vermag es, von dieser Genauigkeit zu abstrahieren, voreilig Synonyma zu generieren und als gleich zu behandeln, was gar nicht gleich ist (vgl. Warwitz, 2016, S. 14). So ist es auch in Bezug auf Risiko und Wagnis: Diese „Begriffe […] sind keine Synonyme“ (ebd.; Hervorhebung durch M.R.). Generell gilt: „Es gibt Risiken ohne ein Wagnis, d. h., es gibt Gefährliches ohne eine Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Aber es gibt kein Wagnis ohne Risiken“ (ebd.): Denn, auf der einen Seite versetzt ein Wagnis in mitunter gefährliche – risikoreiche – Situationen, aber eben mit dem impliziten Zusatz, dass ein Wagnis durch den bewussten Entschluss des Subjekts bewirkt respektive eingegangen wird (vgl. ebd.).

Dies wird noch etwas deutlicher, wenn die Etymologie der Wörter betrachtet wird: Das Risiko (von griech. rhiza = Klippe; lat. risicare; ital. risico) bedeutet ursprünglich so viel wie Gefahr laufen oder Klippen umschiffen.3 Es kommt aus dem Seefahrtsmilieu, fand im 16. Jahrhundert als Lehnwort seinen Weg in den deutschen Sprachraum und steht im Zuge des damals langsam aufkommenden Versicherungswesens in der Tradition, Aspekte der Gefahrenberechnung von Situationen auszudrücken (vgl. ebd., S. 15). Das Risiko referiert also auf das Erkennen von Gefahren und verweist auch auf seine Quantifizierungsversuche, beispielsweise in Form von zu riskant oder risikoarm (vgl. ebd.).

Demgegenüber steht das Wagnis (von ahd. wagan = sich getrauen; den Mut haben etwas zu tun), welches „seinen Bedeutungsschwerpunkt auf die Vorgänge innerhalb der sich gefährdenden Person “ (ebd.; Hervorhebung durch M.R.) legt. Sich wagen bedeutet, bewusst und freiwillig ein Risiko eingehen, um eines tieferen Sinnes willen. Wagnis ist obendrein mit wägen, also Abwägungsprozessen verbunden: „Der Wagende wirft seine Gründe für das Wagnis in die Waagschale und wägt sie“ (ebd., S. 16). In diesem Sinne kommt es zu einer Prüfung der Gewichtigkeit, indem die Waagschalen Sinn des Wagnisses und Risiko des Wagnisses miteinander verglichen werden (vgl. ebd). Der Zugewinn respektive die Wertschöpfung (im Beispiel von oben: das aufrechte Stehen) wird mit dem geforderten Risikoeinsatz (äquivalent dazu: die Möglichkeit des Hinfallens) verglichen und bei einer als günstig erachteten Ausgangslage wird sich gewagt – oder anders ausgedrückt: Findus geht das Risiko ein, genau vor dem Grimbart, diesem „entsetzliche[n] Untier“ (S. 18), im Gras zu landen, indem er sich in für sich unbekannte Bereiche vorwagt. Seine Auseinandersetzung mit dem Unbekannten ist also risikoreich und gefährlich. Sie wird seinen Sicherheitskreis letztlich jedoch erweitern, wie noch zu zeigen sein wird. Ein solcher Zugewinn vollzieht sich nach Warwitz in wachsenden Ringen.

2.2 Vom Leben in wachsenden Ringen (Warwitz)

Mit den wachsenden Ringen verweist Warwitz in Anlehnung an den folgenden Gedichtausschnitt von R. M. Rilke metaphorisch auf individuelle Entwicklungsprozesse:

Da neigt sich die Stunde und rührt mich an / mit klarem, metallenem Schlag: /
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann – / und ich fasse den plastischen Tag. // Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, / ein jedes Werden stand still. /
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut / kommt jedem das Ding, das er will. //
[…]
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn. /
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn (Rilke, 1899).

Bildsprachlich referieren die wachsenden Ringe auf ein Subjekt, das von einer individuell definierten Startposition aus, seine Lebenskreise erweitert. Dies geschieht durch „Arbeit an sich selbst“ (Warwitz, 2016, S. 260), in welcher die Bereitschaft mitschwingt, sich „die Welt um sich herum und sich selbst zu erschließen“ (ebd., S. 261). Im Grunde geht es darum, dass bereits erschlossene und als sicher definierte Lebensräume und -bereiche zugunsten der persönlichen Entwicklung verlassen werden, um „für die reichen Potentiale der Persönlichkeit in wachsenden Kreisen immer neue Betätigungsfelder“ (ebd., S. 263) zu suchen und zu finden. In diesen kommt es dann entweder zur Bewährung oder zum Scheitern, aus welchem heraus ein neuer, innovativerer Lösungsversuch entspringt, oder aber das Stagnieren der persönlichen Entwicklung resultiert. Der Kerngedanke der Perspektive, welche Warwitz auf Individualentwicklung und Wagnis einnimmt, ist der, dass es darum geht, bewusst oder unbewusst, eine sinnstiftende Absicht zu verfolgen (vgl. ebd., S. 270), um Können und Sicherheit durch Konfrontation zu gewinnen. Denn beide „reifen miteinander in wachsenden Ringen. Es handelt sich um einen potentiell lebenslangen Prozeß [sic!]“ (ebd., S.269). Es liegt an den konstituierenden Charakteristika der Kindheit, dass besonders innerhalb dieses Lebensintervalls, große Entwicklungssprünge – also wachsende Ringe – in kurzer Zeit wirkmächtig und damit beobachtbar werden. Daher soll im Folgenden nun am anthropomorphisierten Kater Findus versucht werden, die wachsenden Ringe seiner Ontogenese aus der text-bildlichen Darstellungsweise der Narration zu derivieren.

3 Sven Nordqvist: Wie Findus zu Pettersson kam

Um dies en détail leisten zu können, soll die Betrachtung von Wie Findus zu Pettersson kam zunächst auf einer Metaebene erfolgen: Es soll analysiert werden, wie die Gesamtgestaltung des Werkes vorgenommen wurde, also wie es den Rezipierenden in seiner artifiziellen Ausformung entgegentritt (1). Daraufhin wird die Ontogenese des kleinen Findus aus der Perspektive der Theorie von den wachsenden Ringen in den Blickpunkt der Analyse geraten. Es ist zu zeigen, wie diese textlich und bildlich innerhalb der Narration umgesetzt wurde und welche Auswirkungen sich dadurch auch auf Pettersson und dessen Lebenswelt ergeben (2).

3.1 Das Objekt im Überblick

Der erste Blick auf das Objekt soll dem Medium in Gänze gelten, also der Art und Weise, wie es den Rezipierenden in seiner Printform entgegentritt: Vierzehn gebundene Doppelseiten liegen zwischen zwei kartonierten und bebilderten Buchdeckeln.4 Die eigentliche Geschichte um den Eremiten Pettersson und den kleinen Kater Findus wird davon nur auf elf Doppelseiten (vgl. DS 2-12) und einer abschließenden Einzelseite (vgl. S. 25) erzählt. Die übrigen Seiten werden unter anderem kommerziell genutzt: Für Werbung. Dieses Beiwerk soll zunächst näher beleuchtet werden.

3.1.1 Text- und bildgestützte, objektinhärente Werbung

Da sich nicht alle Seiten des Objektes mit der eigentlichen Narration beschäftigen, bedeutet dies zugleich, dass Platz ist für anderes. Neben den obligatorischen bibliographischen Angaben innerhalb der Titelei, fällt vor allem die Werbung für das verlagsinterne Produktportfolio des Autors auf. Textgestützt wird auf weitere Nordqvist-Publikationen hingewiesen, welche sich thematisch nicht im Pettersson-Universum bewegen. Es handelt sich um Sachbücher und die Buchreihe Mama Muh, welche von Nordqvist allerdings nicht erdacht und geschrieben, sondern lediglich illustriert wurde (vgl. S. 26). Wie noch zu zeigen sein wird, referieren sowohl Text als auch Bilder in Wie Findus zu Pettersson kam mehrfach auf Kühe. Etwaige intertextuelle respektive interpikturale Verweise zur Mama-Muh-Reihe sind also denkbar. Dieser Ansatz soll hier allerdings nur Erwähnung finden, er wird innerhalb dieser Arbeit nicht weiter verfolgt.

Die Werbung ist damit noch nicht beendet: Auf der Folgeseite erscheint selbige, diesmal bildhaft, für alle bisher erschienen Bücher des Verlagsprogrammes mit der Pettersson-und-Findus-Thematik.5 Dies geschieht durch illustrative Abbildungen der jeweiligen Frontcover der Bücher (vgl. S. 27). Die Auflistung beginnt chronologisch nach Erscheinungsjahr, bricht diese Logik allerdings ab dem siebten Bild auf (vgl. Tab. 1 im Anhang). Das achte Bild verweist selbstreferentiell auf den Ort seines eigenen Abdrucks: Im Objekt Wie Findus zu Pettersson kam wird also für das Objekt Wie Findus zu Pettersson kam geworben (vgl. S. 27). Wird beachtet, dass sich der größte Teil des Objektes, die intradiegetische Erzählung von Findus‘ Ankunft, Verschwinden und Wiederauftauchen, als Analepse konstituiert, kann das Objekt Wie Findus zu Pettersson kam als Prequel der Gesamtserie klassifiziert werden. Im rechten, unteren Eck dieser Werbeseite finden sich die beiden Protagonisten höchstselbst abgebildet. In dieser Darstellung wirkt Pettersson nachdenklich und blickt in Richtung der Auflistung: Er scheint zu überlegen, welches Werk aus der Reihe er sich als nächstes besorgen soll (vgl. S. 27) und tritt damit als Werbefigur in eigener Sache auf. Außerhalb der Narration ist das nicht der einzige Ort, an dem er im Objekt abgebildet ist: Er findet sich ebenso auf dem vorderen Objektdeckel wieder. Die beiden Deckel sind im Folgenden genauer in den Blick zu nehmen.

3.1.2 Die physikalische Rahmung: Die Objektdeckel

Die beiden kartonierten Deckel sind ebenfalls bebildert: Auf der Vorderseite exponieren sich bildlich dargestellte, wichtige Motive in proleptischer Weise. Besonders die Socke, welche ostentativ auf Findus' in der Kiste gerichtet ist und der überdimensional große Dachs werden in der folgenden Diskussion wieder aufzugreifen, und ihre Bedeutung für den Entwicklungsprozess des Katers aufzuzeigen, sein. Wird der Socke in ihrer Bundrichtung gefolgt, kann sogar ein reziprokes Verhältnis von Vorder- und Rückseite bescheinigt werden: Schuh, Socke und Hosenträger auf dem rückseitigen Objektdeckel liegen dergestalt angeordnet auf dem Boden, dass eine Linie entsteht und sie sich über den Buchrücken6 hinaus, imaginär mit der Socke auf der Vorderseite zu einer Art Pfeil, welcher in seiner Gesamtgestalt auf eine Holzkiste zeigt, verbinden (vgl. Objektdeckel Vorderseite & Objektdeckel Rückseite). Und auch die rücklings abgebildete Sonnenblume folgt diesem Beispiel, indem sie sechs ihrer sieben Stielblätter in selbige Richtung zeigen lässt. Auch ihr Kopf reckt sich in dieser Weise, ebenso wie die, mit Augen versehenen Löwenzahnpflanzen in direkter Nachbarschaft (vgl. Objektdeckel Rückseite). Diese dezidiert angedeutete Zeigefunktion von Gegenständen wird innerhalb der intradiegetischen Narration noch zu thematisieren sein, da sie die fundamentalen Funktionen von Sprache – Verständlichkeit und Kommunikation – bildlich substituieren. Im Gegensatz zur Rückseite, welche durch ihren großen Weißanteil beinahe aufgeräumt gestaltet ist, erscheint die Vorderseite, gemäß der überwiegenden Mehrheit der Seiten innerhalb des Objektes, als hochgradig intrikat: Innerhalb einer Welt von Gerümpel steht ein gebeugter Pettersson mit offenem Mund, der durch seine Gestik einen Ruf andeutet. In der anderen Hand hält er einen leeren Pappkarton (vgl. Objektdeckel Vorderseite), dabei handelt es sich um ebenjene Pappkiste, in welcher Findus zu Pettersson gelangt (vgl. S. 6), während zur gleichen Zeit Findus zusammengekauert in der Holzkiste sitzt, durch welche er Pettersson wieder abhandenkommt (vgl. bspw. S. 18). Diese beiden Kisten bilden bedeutende Wegmarken auf der Entwicklungsleiter von Findus. Für den wissenden Rezipierenden liefern also allein die Objektdeckel schon jede Menge narratologisch bedeutsame Anspielungen auf ihren Inhalt. Für den unwissenden Betrachter wirken sie in bester Wimmelbildmanier als Handlungsaufforderung, das Objekt zur Hand zu nehmen, um seinen Inhalt zu erschließen. Selbiger soll nun übersichtsartig in den Fokus genommen werden.

3.1.3 Die Seitengestaltung von Text und Bild

Ein erster Blick auf die Seitengestaltung der eigentlichen Narration (vgl. S. 3-25) verrät, dass die Anordnung des Textes und der Bilder einer gleichbleibenden Struktur folgt: Alle Seiten beginnen mit einem Textabschnitt, welcher sich immer im oberen Bereich der jeweiligen Seite finden lässt, woran sich dann unmittelbar eine Abbildung, im unteren Bereich, anschließt. Lediglich einmal wird diese Regel aufgebrochen, indem der Textbaustein auf der Seite zentriert und von unterschiedlichen Bildelementen gerahmt wird (vgl. S. 13). Teilumrahmungen finden sich indes etwas häufiger, wobei der Text aus eurozentristischer Perspektive dennoch als Seitenanfang gesehen werden kann, da er sich links oben befindet (vgl. S. 10, 14 und 17). Lediglich eine Ausnahme dieser Strukturlogik ist zu verzeichnen, bei welcher der Text vom Bild in das rechte, obere Viertel der Seite verdrängt wird (vgl. S. 16). Hierbei handelt es sich um eine Doppelseite, welche narratologisch als Einheit aufzufassen ist: Die bildliche Darstellung beginnt auf der linken Seite und sprengt die Beschränktheit der Einzelseite, indem das Bild nahtlos auf der rechten Seite weitererzählt (vgl. DS 8).

Text und Bild bleiben auf der Darstellungsebene der Seiten deutlich voneinander getrennt, indem die Textpassagen immer weiß hinterlegt sind. Zwar gehen einzelne Rand-Textteile in die Hintergrundausläufer einzelner Bilder über (vgl. bspw. S. 5 und 14), allerdings kann hier dennoch keine genuine Vermischung von Text und Bild attestiert werden. Vielmehr exponiert sich in diesem Punkt ein deutliches Distinktionsmerkmal zwischen Text und Bild: Während Ersterer durchgängig linksbündig formatiert ist und einer klaren, syntaktisch einfachen Aufbaulogik folgt, welche sich vor allem durch die Verwendung von Parataxen konstituiert (vgl. bspw. S. 1), sind die Letzteren hochgradig intrikat und kontrastieren somit im Stile von Wimmelbildern: Text und Bild scheinen auf der reinen Darstellungsebene also die Dichotomie von Ordnung und Chaos widerzuspiegeln. Dies wird ebenfalls durch eine weitere Beobachtung gestützt: Der Text realisiert sich im Druck durchgängig in gleichbleibender Größe der Lettern, während Bildelemente in ihrer Größendarstellung mitunter schwanken – beispielsweise die Veränderung der Größenverhältnisse je nach Distanzierungsgrad der Fokalisierung: Findus wird häufig sehr klein dargestellt (vgl. bspw. S. 8), kann bildlich allerdings auch als wahrer Riese realisiert werden (vgl. S. 19). In der Größendarstellung im chronologischen Verlauf der Narration spielen die Abbildung außerdem dynamisch mit der Zeit: In der rahmenden Gegenwartserzählung wird Findus im Verhältnis zu Pettersson größer dargestellt (vgl. S. 3 und 25) als in der retrospektiven Metadiegese, wo er als junger – und damit kleinerer – Kater dargestellt wird (vgl. S. 4-24).

Ein weiteres auffälliges Merkmal kann in der Flächendominanz der Bilder beobachtet werden: Die ersten sechs Seiten der Geschichte priorisieren Bilder vor dem Text ostentativ, indem ihnen circa vier Fünftel des verfügbaren Raumes zugesprochen wird (vgl. S. 3-7). Die beiden Folgeseiten gewähren dem Text sogar lediglich circa ein Sechstel des Platzes (vgl. S. 8 und 9), was nochmals zu einer Verschärfung dieses Missverhältnisses führt. Der Text bricht dies im weiteren Verlauf der Seitenfolge zwar noch auf, indem er sich raumgreifender exponiert, erhält flächentechnisch allerdings nicht ein einziges Mal die Hälfte oder mehr einer Seite, sondern pendelt sich im Bereich zwischen einem Fünftel und einem Drittel ein (vgl. bspw. S. 20). Auffällig ist auch, dass Text fast nie auf der unteren Hälfte einer Seite zu finden ist. Die einzige Ausnahme bildet die bereits erwähnte Textzentrierung auf Seite 13, wo der Text circa gleichteilig auf der oberen und unteren Hälfte der Seite verteilt ist (vgl. S. 13). Weiterhin ist anzumerken, dass innerhalb des Objektes Text auf distinktive Weise auch im Bild realisiert wird: In amimetischer Form als Linien in Petterssons Zeitung (vgl. S. 3 und 25), aber auch in mimetischerer Gestalt, in Petterssons Zeitung innerhalb der intradiegetischen Erzählung, wo einzelne gezeichnete Wörter erahnt werden können (vgl. S. 10) und sogar pittoresk in dezidiert-expliziter Umsetzung als Aufdruck des Pappkartons, in welchem Findus zu Pettersson gelangt (vgl. S. 6). Zum Abschluss des Objekt-Überblicks soll nun noch die Erzählung in den Fokus gerückt werden.

[...]


1 Begriffe wie Buch oder Literatur referieren im tradierten Zusammenhang ihrer Wortfelder sehr stark auf Texte, daher wird innerhalb dieser Arbeit der Begriff des Objektes präferiert, womit der Emanzipation und Eigenweltlichkeit von Bildern innerhalb des Mediums Rechnung getragen werden soll. Angestrebt wird damit die unbefangene Betrachtung der Parität von Text und Bild.

2 Zu Zitation aus dem Primärtext Wie Findus zu Pettersson kam und zur Paginierung: Da es sich um eine werkimmanente Analyse handelt, erwiese sich eine Zitation mit Verweis auf das Werk selbst als redundant, daher wird im Folgenden nur noch durch die Angabe der betreffenden Seitenzahlen im Klammersatz zitiert. Volle Literaturangaben oder Abkürzungen wie ebd. in Bezug auf Wie Findus zu Pettersson kam entfallen demzufolge. Ebd. wird allerdings trotzdem in Bezug auf Verweise auf derselben Seite verwendet. Soll etwas exemplarisch aufgezeigt werden, was sich allerdings noch an weiteren Stellen verdeutlichen lassen würde, wird die Zitation mit bspw. (=beispielsweise) versehen. Ferner sei angemerkt, dass das Objekt selbst keine genuine Paginierung aufweist. Ein Lösungsvorschlag für diese Problematik findet sich im Anhang dieser Arbeit (vgl. Abb. 1).

3 Die semantische Nähe zu Klippen findet sich heutzutage bspw. noch im Ortsnamen von El Risco auf der spanischen Atlantikinsel Gran Canaria.

4 In Anlehnung an die Begründung für den Objektbegriff (vgl. Fußnote 1) werden innerhalb dieser Arbeit auch die Buch deckel äquivalent als Objekt deckel etikettiert.

5 Das Bezugsjahr ist logischerweise das Jahr der Publikation des vorliegenden Objektes: 2002.

6 Äquivalent zur Argumentation in den Fußnoten 1 und 4: Objektrücken.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Warwitz' entwicklungspsychologisches Modell. Eine Text- und Bildweltanalyse zur Ontogenese des kleinen Katers aus Sven Nordqvists "Wie Findus zu Pettersson kam"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Neuere deutsche Literatur)
Veranstaltung
Bild und Literatur. Vom illustrierten Gedicht zur Bildergeschichte
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
28
Katalognummer
V1013069
ISBN (eBook)
9783346404114
ISBN (Buch)
9783346404121
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Findus, Pettersson, Nordqvist, Bildwelt, Bilderbuch, Warwitz, Wagnis, Wagnis und Narration, Leben in wachsenden Ringen
Arbeit zitieren
Martin Reese (Autor:in), 2019, Warwitz' entwicklungspsychologisches Modell. Eine Text- und Bildweltanalyse zur Ontogenese des kleinen Katers aus Sven Nordqvists "Wie Findus zu Pettersson kam", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1013069

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