Das Bildungsverständnis in der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik

Geschichte und Entwicklung


Hausarbeit, 2020

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Annäherung an die Begriffe
2.1. Bildung
2.2. Realistische Wende

3. Das Bildungsverständnis in der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik
3.1. Ausgangslage (1950er Jahre)
3.2. Die 1960er und 70er Jahre:
3.2.1. Praktische Bildung
3.2.2. Geistige Bildung
3.2.3. Ansprechbarkeit und Kommunikation
3.2.4. Handlung und Wahrnehmung
3.2.5. Bildung als aktiver, reflexiver Prozess
3.3. Ab den 1980er Jahren
3.3.1. Beziehung
3.3.2. Inklusives Bildungsverständnis
3.1.3. Allgemeinbildung als inklusives Bildungsverständnis
3.1.4. Bildung als relationaler Prozess
3.1.5. Bildung als Recht

4. Fazit

5. Literatur

1. Einleitung

Der Bildungsbegriff ist kein klar definierter, sondern eröffnet viele Deutungsmöglichkeiten und Abgrenzungsprobleme (vgl. Vogel 2019, 76). Dazu kommt der Wandel, den dieser Begriff durchlaufen hat, geprägt von verschiedenen Leitideen wie Vernichtung (Euthanasie), Normalisierung, Integration, Selbstbestimmung und Empowerment sowie Teilhabe und Inklusion (vgl. Stöppler 2017). Zu Beginn der Arbeit werden die Begriffe Bildung und realistische Wende erläutert, auf deren Grundlage die Bildungsvorstellungen betrachtet werden. Im Folgenden sollen verschiedene Bildungsverständnisse innerhalb der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik – also ab den 1960er Jahren – bearbeitet werden, angefangen mit der Ausgangslage – der Nachkriegszeit. Da Bildung ein zentraler Begriff der Pädagogik ist, eignet sich diese Hausarbeit, um sich mit der Geschichte der Bildungsvorstellungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik auseinanderzusetzen und dessen Entwicklung nachzuvollziehen.

2. Annäherung an die Begriffe

Allein der Begriff Bildung ist aufgrund seiner langen Geschichte und den Wandel, den er durch die verschiedenen Bildungstheorien und Bildungsverständnisse erfahren hat, umfangreich und bedeutungsoffen. Im Rahmen dieser Hausarbeit möchte ich mich daher an diesen Begriff und der realistische Wende nur annähern, sie grob umschreiben, um eine Grundlage, auf der die folgenden Bildungsverständnisse betrachtet werden können.

2.1. Bildung

Der Begriff Bildung ist ein zentraler Grundbegriff der Pädagogik, jedoch gibt es keine allgemeingültige Definition. Einerseits wird dieser Begriff in der Alltagssprache häufig mit Konnotationen verwendet, wie beispielsweise Allgemeinbildung, Bildungslücke und Bildungsgerechtigkeit, andererseits ist der Begriff Bildung eine Kategorie für zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, die den Begriff ausgehend von ihrer Tradition individuell beschreiben. Dazu kommt, dass es selbst innerhalb der Pädagogik keinesfalls “die Bildung“ gibt, sondern auch hier verschiedene pädagogische Richtungen ein anderes Verständnis aufweisen. Durch die daraus entstehenden Deutungsmöglichkeiten des Begriffs Bildung kann es zu Überschneidungen mit anderen Begriffen, wie Erziehung, Förderung und Lernen kommen (vgl. Zirfas 2011, 13 und Vogel 2019, 75f).

„Im Fokus des Bildungsbegriffs steht eine spezifische Problemlage, die als – abstrakt formuliert – Subjektivierung objektiver Sachverhalte und als Objektivierung subjektiver Gegebenheiten verstanden werden kann“ (Zirfas 2011, 13). Zirfas beschreibt eine aktuelle Bildungsvorstellung, die von einem Wechselverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen geprägt, wobei der Einzelne hervorgehoben wird. Der Einzelne handelt in diesem Wechselverhältnis differenziert, intensiv und reflektiert, wodurch es „[…] zur Ausformung eines selbstbestimmten kultivierten Lebensstils […]“ kommt (Zirfas 2011, 13). Der Begriff Bildung bezeichnet sowohl den Prozess, bei dem sich ein Mensch Bildung aneignet (bei dem Bildung vermittelt wird und der Mensch sich selbst bildet) als auch das daraus hervorgehende Ergebnis (vgl. Klauß 206, 1).

Groothoff (1973) unterscheidet zwischen dem transitiven und dem reflexiven Sinn von Bildung . Der transitive Sinn besteht darin, dass Inhalte an die nächste Generation weitergegeben werden, welche sich diese Inhalte aneignet. Bildung wird dann als das Ergebnis dieses Prozesses beschrieben: Gemeint ist das Gebildetsein. Diese Art von Bildung kann man auch inhaltlich verstehen. Dieses – gleichzeitig didaktische System – kann schließlich einen Bildungskanon (z.B. Lehrpläne) hervorbringen. Bei dem reflexiven Sinn von Bildung steht „das Werden selbst“ und „das Sichbilden als Mensch“ (Groothoff 1973, 36) im Mittelpunkt (vgl. ebd., 35f).

In der Bildungstheorie nach Klafki hingegen wird nach materieller, formaler und kategorialer Perspektive unterschieden. Materiale Bildungstheorien sind vergleichbar mit dem transitiven Sinn von Bildung: Es wird von den Bildungsinhalten ausgegangen, die für so relevant gehalten werden, dass die nächste Generation diese „erproben, erfahren und verstehen sollten“ (Meyer & Meyer 2007, 32). Bei den formalen Bildungstheorien wird vom Menschen (bzw. Kind) ausgegangen: gewünschtes Verhalten, Einstellungen und Handlungsformen werden identifiziert, die eine gegenwärtige und zukünftige Relevanz besitzen (vgl. ebd). Nach Klafki sei es falsch, die Ordnung von Akten „[…] allein vom Inhaltpol her zu deuten (materialer Bildungsaspekt) [ebenso] wie jener andere, der die Bildung rein aus der Seele hervorwachsen ließ (formaler Bildungsaspekt) […]“ (Klafki 2013, 67). Stattdessen sei anzunehmen:

„[…] dass die bestimmenden Prinzipien dieser Bildungsgestalt sowohl in der objektiven Welt der Inhalte wie in der subjektiven Seele wirken, dass die Struktur des objektiven Momentes und die des subjektiven Momentes in der Bildungsgestalt einander im Grunde gleich sind, daß, wo „Bildung“ ist, die Gliederung der objektiven Welt in die subjektive Seele Eingang gefunden hat und zur Gliederung dieser Seele als eines „Aktzentrums“ (im weitesten Sinne) geworden ist, wobei wiederum diese Gliederung der objektiven Welt schon in der Seele potenziell vorhanden, gleichsam „vorgezeichnet“ gedacht werden muss […]“ (ebd.).

Das Verständnis der kategorialen Bildung verbindet die beiden Bildungstheorien der materialen und der formalen Bildung: Die kategoriale Bildung ist jedoch mehr als ein bloßer Zusammenschluss der beiden Bildungstheorien. Sie ermöglicht einen tieferen Einblick in Bildung an sich und Bildung als Prozess (vgl. Klafki 2013, 68). Die Vorstellung einer dynamischen Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt übernimmt Klafki (1985) und konkretisiert diese als „wechselseitige Erschließung von Subjekt und Wirklichkeit“ (ebd., 44). Dies sei jedoch nur möglich, wenn es gelinge, die Wirklichkeit auf Grundformen – Kategorien – zu reduzieren (Klafki 1985, 44).

Auf Grundlage dieser zeitgenössischen Bildungstheorien sollen die Bildungsverständnisse der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik betrachtet werden. Zentral hierbei ist die Ähnlichkeit des transitiven Sinns von Bildung und der materialen Bildungstheorie, die sich auf die Weitergabe von Inhalten an die nächste Generation beziehen, sowie des reflexiven Sinns von Bildung und der formalen Bildungstheorie, die sich hingegen auf das Individuum selbst, dessen Entwicklung und Entfaltung beziehen. Der Erweiterung durch eine Verbindung dieser beiden Bildungstheorien – die kategoriale Bildung – ist ebenfalls nicht zu vernachlässigen, genauso wenig wie die Vorstellung von Bildung in einem aktiven, wechselseitigen Verhältnis zwischen Mensch und Welt.

2.2. Realistische Wende

Nach Roth kommt es immer wieder zu einer realistischen Wende, da es scheint, „[…] als ob die Pädagogik den Trend hätte, sich immer wieder ins rein Verbale, Künstliche, Lebensferne, in eine Bildungsideologie zu versteigen und zu verlieren“ (Roth 1962, 481). Bei einer realistischen Wende wird die Pädagogik nun vermehrt von erfahrungswissenschaftlichen Methoden geprägt, dazu gehört die Konzentration auf Begriffe, die empirisch besser erforscht werden können, wie beispielsweise Erziehung, Lernen, Förderung und Sozialisation (vgl. ebd, 482 und Papke 2016, 135).

So kann es im Folgenden dazu kommen, dass Pädagogen sich beispielsweise auf den Begriff Erziehung beziehen, dies – aufgrund der realistischen Wende – auf Bildung bezogen werden kann.

3. Das Bildungsverständnis in der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik

Im Folgenden soll das Bildungsverständnis der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik betrachtet werden, die in den 1960er Jahren begann, sich als explizit wissenschaftliche Disziplin zu etablieren (vgl. Ackermann 2010, 53). Aufgrund der bereits thematisierten Problematik mit dem Bildungsbegriff (vgl. 2.1.) und der großen Anzahl an verschiedenen Bildungsvorstellungen, wird im Folgenden auf ausgewählte Beispiele eingegangen. Zuvor wird auf die Ausgangslage – die 1950er Jahre – eingegangen.

3.1. Ausgangslage (1950er Jahre)

Nach dem zweiten Weltkrieg übernahmen viele Bundesländer den 11. Paragrafen Reichsschulgesetz von 1938 in ihre neuen Schulgesetze. In diesem werden Kinder mit geistiger Behinderung als nicht bildungsfähig erklärt und wurden aus diesem Grund von der Schulpflicht befreit (vgl. Fornefeld 2020, 40, 42 und Lindmeier & Lindmeier 2006, 42). Im Jahr 1960 veröffentlichte der Verein „Lebenshilfe für das behinderte Kind“ eine Denkschrift, in der die gegenwärtige Situation und die Befreiung von der Schulpflicht aufgrund von Bildungsunfähigkeit kritisiert wird. Der Bildungsunfähigkeit wird entgegnet, dass unter den vom Schulbesuch ausgeschlossenen Kinder, sich sehr viele befinden, die:

„zwar nur in bescheidenem Maße das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernen würden, sich aber doch oft in überraschender Weise bei entsprechender heilpädagogischer Betreuung im motorischen und praktischen Bereich als durchaus bildungsfähig erweisen“ (Lebenshilfe 1960, 1).

Ebenfalls kritisiert wird das Bildungsverständnis, das Bildungsfähigkeit als Aneignung der Kulturtechniken versteht (vgl. ebd., 2). Dieses Bildungsverständnis ist „stark durch die Vorstellung gymnasialer Bildung geprägt.“ (Papke 2016, 69). Gruhle (1950) beschäftigt sich mit dem Problem der Bildungsunfähigkeit – oder wie er es nennt: „die Grenzen der Erziehbarkeit“. Nach Gruhle sind diese Grenzen kein individuelles Problem, sondern auch ein „Problem des Lehrers“ (ebd., 3), zudem seien:

„[ a]lle Grenzen […] relativ. Wir müssen in jedem einzelnen Falle zu ergründen versuchen, wo die Ursache des Versagens liegt. Man kann nur feststellen, dass unter den vorhandenen Umständen und Möglichkeiten kein erzieherischer Erfolg erwartet werden kann“ (Gruhle 1950, 3)

Wenn dies festgestellt wird, müsse jedoch Rücksicht auf „die anderen“ genommen werden, Kinder, die eine „Verseuchungsquelle“ darstellen, müssten aus den „normalen Anstalten“ entfernt werden (vgl. ebd). Die Idee von Integration oder Inklusion lässt sich hierbei noch nicht vermuten, stattdessen spiegelt sich hier die Ordnung des segregierenden Schulwesens wider.

Mit der Grenzsetzung der Bildungsfähigkeit und dem Bildungsbegriff wird sich die Geistigbehindertenpädagogik weiterhin beschäftigen, denn die Bildungsfähigkeit wurde in der Praxis erwiesen, es mangelte ihr jedoch an einer theoretischen Fundierung (vgl. Stinkes 1999, 76).

3.2. Die 1960er und 70er Jahre:

In diesem Zeitraum entstanden zahlreiche abgegrenzte und eigenständige Schulen für Kinder mit geistiger Behinderung (vgl. Ellger-Rüttgardt 2019, 303). Wie in der Denkschrift der Lebenshilfe bereits thematisiert, wächst die Kritik am übernommenen Reichsschulpflichtgesetztes, bis es nach und nach in den einzelnen Bundesländern aufgehoben wird (vgl. Papke 2016, 75). Auch im Lehrbuch „Geistigbehindertenpädagogik“ von Bach, wird die Unterstellung der Bildungsunfähigkeit angefochten:

„Was als „Bildungsunfähigkeit“ oder „Erziehungsunfähigkeit“ erscheint, wird demgemäß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle richtiger als verborgene, verschüttete oder verkannte Erziehbarkeit zu bezeichnen sein. […] Angesichts dieser Sachverhalte ist es also von außerordentlicher Bedeutung, die Erziehbarkeit des geistig behinderten Kindes aufzuspüren, freizulegen und selbst die winzigsten Ansätze durch unermüdliches erzieherisches Engagement hervorzulocken“ (Bach 1968, 6f).

Bach spricht hierbei Menschen mit geistiger Behinderung Bildungsfähigkeit zu, jedoch scheint dieses Bildungsverständnis eine aktive Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Welt (vgl. 2.1.) nicht zu beinhalten. Im eigenen Bildungsprozess nimmt das Kind nur eine passive Rolle ein, der Zusatz „unermüdlich“ suggeriert, dass das Kind mit geistiger Behinderung zwar bildungsfähig ist, der Bildungsprozess wird jedoch als abhängig von anderen Personen und als sehr mühsam beschrieben (vgl. Papke 2016, 86).

Da Bach Kinder mit geistiger Behinderung für bildungsfähig hält, ist ein neues Bildungsverständnis nötig, dass diese Kinder miteinschließt. Moor (1964) thematisiert dies ebenfalls und formuliert die sich unausweichlich stellende Frage:

„Wollen wir an einem solchen Bildungsbegriff festhalten und also das geistig behinderte Kind als bildungsunfähig bezeichnen; oder halten wir an der Auffassung fest, daß sein Leben einen Sinn habe und also der verwendete Bildungsbegriff nicht genüge?“ (Moor 1964., 58).

Nach Moor kann nur die Vertiefung des Bildungsbegriffs eine Antwort auf diese Frage liefern (vgl. Moor 1964, 58f). Somit war die Erweiterung des Bildungsbegriffs ab den 1960ern von zentraler Bedeutung für die nun institutionalisierte Geistigbehindertenpädagogik.

3.2.1. Praktische Bildung

In diesem Jahrzehnt wird ein neuer Begriff geprägt: das praktisch bildsame Kind. Ein Bildungsverständnis, das auf der Fähigkeit Kulturtechniken zu erlernen basiert, kann nicht auf alle Menschen mit geistiger Behinderung angewandt werden. Der Verweis auf die praktische Bildbarkeit erweitert den Bildungsbegriff (vgl. Papke 2016, 90).

Die Ständige Konferenz der Kultusminister veröffentlichte 1972 die „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“ beschreibt Schüler*innen, die eine Schule für Geistigbehinderte besuchen als „Kinder und Jugendliche […] die wegen der Schwere ihrer geistigen Behinderung in der Schule für Lernbehinderte nicht hinreichend gefördert werden können, aber lebenspraktisch bildbar sind“ (KMK 1972, 1188). Zudem wird angeführt, dass die Erziehung (in Bezug auf beispielsweise Körperbeherrschung und Wahrnehmung) Vorrang hat vor dem Lehren von Kulturtechniken (vgl. ebd., 1189). Das Gutachten enthält eine defizitäre Vorstellung von Menschen mit geistiger Behinderung, die auch Auswirkungen auf deren Bildungsverständnis hat: Die Schüler*innen sind nur bedingt leistungsfähig und es ist darauf zu achten, den Lernstoff so auszuwählen, dass er diese nicht überfordert (vgl. ebd. 1172).

Bach setzt ebenfalls die Begriffe geistig behindert und praktisch bildbar gleich und beschreibt das Aneignungsniveau des praktisch bildbaren Kindes: die anschaulich-vollziehende Lernweise, welche die „überwiegende Möglichkeit der Erziehung darstellt“. Bach 1968, 1). Hierbei bezieht er sich jedoch eher auf Lernen als auf Bildung. Es zeigt ebenfalls, dass dieses Bildungsverständnis überwiegend von transitiver Bildung geprägt ist (vgl. Ackermann 2010, 60f). Nach Bach ist es eine Zumutung für Kinder mit geistiger Behinderung, wenn man ihnen Kulturtechniken wie die Schriftsprache nahebringen möchte (vgl. Bach 1968, 38). Die Ressourcen eines Kindes mit geistiger Behinderung soll nicht für abstrakte Dinge verschwendet werden, sondern in das Erlernen von nützlichen und lebenspraktischen Fähigkeiten investiert werden (vgl. ebd., 40). Ähnliche Ansichten hat Harbauer (1971): Er benutzt nicht nur ebenfalls den Begriff des praktisch bildbaren Kindes für ein Kind mit geistiger Behinderung und hält das anschaulich-vollziehende Lernen als einziges Aneignungsniveau, auch er bezeichnet die pädagogische Arbeit mit diesen Kindern als “oft mühevoll“ und das Erlernen von Kulturtechniken als „weder sinnvoll noch nützlich“ (vgl. ebd., 81). Obwohl sowohl Bach als auch Harbauer widersprechen, dass Kindern mit geistiger Behinderung bildungsunfähig sind (vgl. Bach 1968, 6f und Harbauer 1971, 79), halten sie diese trotzdem nicht für uneingeschränkt bildungsfähig (vgl. Papke 2016, 91).

Ein anderes Verständnis von praktischer Bildung beschreiben Liljeroth und Niméus (1973) in „Praktische Bildung für geistig Behinderte“:

„Unter dem Thema „Praktische Bildung“ werden die Dinge angegeben, die geübt werden müssen, um die Fähigkeiten des Schülers zu entwickeln, die einfachsten und wichtigsten Arbeiten des täglichen Leben und die Arbeit üben zu können“ (Liljeroth & Niméus 1973, 9).

Dieses Bildungsverständnis ist noch mehr auf das Lernen und Trainieren alltäglicher Fähigkeiten ausgelegt: Bildung wird hierbei als Lernen durch wiederholendes Üben beschrieben. Die reflexive Dimension von Bildung wird hierbei nicht beachtet (vgl. Ackermann 2010, 1). Es werden Inhalte vorgeben, die ein Mensch mit geistiger Behinderung können soll. Daraus entsteht eine Art Kanon, der lebenspraktischen Fähigkeiten, wie beispielsweise sich ausziehen oder ein Lätzchen zu benutzen.

Auffällig ist außerdem, dass in „Geistigbehindertenpädagogik“ (Bach 1968) der Begriff Bildung keine bedeutsame Rolle spielt. Bach bezieht sich fast ausschließlich auf den Begriff Erziehung. Ähnlich ist es bei Liljeroth und Niméus (1973), die nicht auf Begriffe wie Bildung oder Erziehung eingehen, sondern überwiegend von Training sprechen.

Die verschiedenen Sichtweisen auf praktische Bildung haben eins gemeinsam: Sie basieren auf einer materiellen Bildungstheorie. Die Themen an sich, die als wertvoll und wichtig für die Kinder mit geistiger Behinderung, deren Alltag und Leben, erachtet werden, stehen im Mittelpunkt (vgl. Meyer & Meyer 2007, 32): Hierbei ist das Verständnis von Alltag und Leben auf das Nötigste reduziert. Auch wenn es scheinbar eine Erweiterung des Bildungsbegriffs ist, werden Schüler*innen mit geistiger Behinderung dadurch eingeschränkt, da ihnen nur einfache lebenspraktische Aufgaben zugetraut werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Bildungsverständnis in der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik
Untertitel
Geschichte und Entwicklung
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
23
Katalognummer
V1027355
ISBN (eBook)
9783346406729
ISBN (Buch)
9783346406736
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geistige Behinderung, Sonderpädagogik, Geistigbehindertenpädagogik, Bildung
Arbeit zitieren
Michelle Ziegler (Autor:in), 2020, Das Bildungsverständnis in der institutionalisierten Geistigbehindertenpädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1027355

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