Die literarische Raumdarstellung des Gebirges am Beispiel von Ludwig Tiecks "Runenberg"


Dossier / Travail de Séminaire, 2021

19 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Vorwort

2. Raum in der Literaturtheorie
2.1 Diegetischer Raum
2.2 Semantisierung des Raumes
2.3 Raumdarstellung in der Gebirgsliteratur

3. Ludwig Tiecks Runenberg
3.1 Naturverständnis in der Frühromantik
3.2 Diegetischer Raum im Runenberg
3.3 Semantisierung des Raums im Runenberg
3.4 Personen des Gebirges im Runenberg
3.5 Die Bedeutung des Gebirges im Runenberg aus naturphilosophischer Sicht

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

In der Literaturwissenschaft kam der Analyse des Raumes schon immer eine wichtige Rolle zu. Vor Allem die Räume an sich, ihre Konstellationen und die „Verhältnisse von Räumen und Figuren“ (Heimböckel, 2018: 51) galten in der allgemeinen Literaturwissenschaft und Erzähltheorie als bedeutsames Forschungsinstrument. Nach dem spatial turn allerdings wurde der Raum in der Literatur nochmals auf eine signifikantere Ebene erhoben (vgl. Geist, 2018: 26). Einige Theorien, wie die der Topographie und Topologie prägen seither die Begriffserklärung. Vor allem am beliebten Motiv des Gebirges lassen sich diese Merkmale zum Raum darstellen. Deshalb sollen in dieser Arbeit die prägendsten Begriffe des Forschungsgegenstandes Raum anhand eines bestimmten Gebirges genauer dargelegt werden. Ludwig Tiecks Roman Der Runenberg, welcher wohl eines seiner bekanntesten und am meisten interpretiertesten Werke ist, eignet sich unter genanntem Kontext ganz besonders zur näheren Betrachtung. Im Folgenden werde ich daher den Runenberg unter Berücksichtigung erläuterter Fachtermini genauer untersuchen und darlegen.

2. Raum in der Literaturtheorie

Der sogenannten cultural turn rief eine stärkere Konzentration auf den Kulturbegriff ins Leben, sodass die Kultur „nunmehr als kontingente, veränderbare und dynamische Größe gedacht wird“ (Heimböckel, 2018: 49). Ebendieselbe Wandlung hatte auch der Begriff Raum durchgemacht, somit ´[lassen] sich in kulturtopographischer Perspektive die Konstruiertheit des Raums und der Konstruktionscharakter der Kultur engführen´ (Ebd., 2018: 49). Dies hatte die Literatur der Bewegung des spatial turns zu verdanken, welcher in den 1980ern geprägt wurde. Durch ihn entstand ein Paradigmenwechsel, welcher „die lange vernachlässigte Kategorie des Raums erneut in den Fokus rückt und ihn als kulturellen Bedeutungsträger verstärkt zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand macht“ (Geist, 2018: 25). Dem Raum wurde nun also eine bedeutende Rolle in Texten zugeschrieben, er wurde als ´kulturell produziert´ (Heimböckel, 2018: 50), ebenso wie ´kulturell produktiv´ (Ebd., 2018: 50) erachtet. Martínez nennt den Raum auch als „konstituive[n] Bestandteil der erzählten Welt“ (Martínez, 2016: 153). Um sich in der Literaturwissenschaft näher mit dem Motiv des Raumes zu beschäftigen, sollten der Raum aus zwei differenzierten Perspektiven betrachtet werden: dem diegetischen Raum und der Semantisierung des Raumes. In der Geschichte der Erzähltheorie wurden eine Menge an Theorien diesbezüglich aufgestellt. Im Folgenden werde ich die Wichtigsten genauer darlegen und erörtern.

2.1 Diegetischer Raum

Wie es der Name diegetisch bereits verrät, handelt es sich hier um den Raum in einer Erzählung. Unabhängig vom Namen und Bekanntheitsgrad des in einer Geschichte beschriebenen Ortes, ordnet ein Leser die Handlung automatisch einem bestimmten Schauplatz zu. Als Hilfe hierfür können Karten dienen, welche dem Buch bereits beigefügt wurden. Vor Allem bei Fantasy Romanen, wie zum Beispiel Lord of the Rings oder Game of Thrones lässt sich dieses Phänomen häufig beobachten. Natürlich ist es im Falle der Fantasy Romane offen ersichtlich, dass der Ort hier der reinen Fantasie des Autors entspringt. Doch so offensichtlich ist es nicht immer. Zur Klärung des Realitätsgehaltes sollte daher stets beachtet werden, ob „die Handlung an Schauplätzen, die auch außerhalb des Textes in der realen Geographie zu finden sind, oder […] [ob] es sich um erfundene Räume [handelt]“ (Martínez, 2016: 154). Wird ein Ortsname verwendet, welcher „auch außerhalb des Textes in der realen Geographie zu finden [ist]“ (Ebd., 2016: 154), so bezeichnet die Erzähltheorie dies als kognitiven trigger, welcher „ein geographisches und kulturelles Hintergrundwissen des Lesers aufruf[t], das die expliziten Rauminformationen des Textes ergänzt“ (Ebd., 2016: 154). Der genaue Bezug zum realen Raum kann dabei Fluch oder Segen für die Geschichte sein. Einerseits können sich die Leser genauestens in die Erzählung hineinversetzen - fühlen sich vielleicht sogar wieder an einen schönen Urlaubsort oder dergleichen zurückerinnert – das Werk wird so ganz real und nahbar. Allerdings kann es auch genau das Gegenteil bewirken – wenn der Leser nämlich keine Vorkenntnisse hat. Man spricht dann von einer Abschwächung der Referenzen des erzählten Raumes. Hierbei gibt es natürlich wiederum Sonderfälle. Wenn beispielsweise ein Ortsname in der Realität nicht existiert, der Autor ihn aber durch genaueste Erörterung realistisch erscheinen lässt (vgl. Ebd., 2016: 154f.).

In einem diegetischen Raum sind die „explizit thematisierten Schauplätze“ (Ebd., 2016: 155), welche im Vordergrund stehen, von einem unbestimmten Hintergrundraum zu differenzieren. Oftmals wird der Vordergrund mit fiktiven Ortsnamen bestückt, während der Hintergrundraum „durch reale Ortsnamen festgelegt wird“ (Ebd., 2016: 155). Dies kann zusätzlich verstärkt werden durch die Zugabe von Richtungsangaben. Generell kann in fiktionalen Werken einerseits der reale Ortsname genannt werden, was allerdings nicht heißen muss, dass „die vermeintlich reale Topographie“ (Ebd., 2016: 156) ebenso real sein muss. Eine weitere Variante eines solchen Erzählraums stellt der modifiziert reale Erzählraum dar. Wie durch den Namen bereits ersichtlich, handelt es sich hierbei um einen Raum, welcher „zwar an reale Gegebenheiten anknüpf[t], diese[n] aber offensichtlich veränder[t]“ (Ebd., 2016: 156). Des Weiteren gibt es den sogenannten weitgehend fiktiven Raum und Schauplatz in fiktionalen Texten. Dieser lässt sich beispielsweise bei der Beschreibung von Inseln erkennen (vgl. Ebd., 2016: 157). Im kompletten Gegensatz zu eben erläuterten Räumen steht dagegen der Raum, welcher sich mit der Handlung und den Geschehnissen der Erzählung modifiziert (vgl. Ebd., 2016: 157). Die Gestaltung des Raumes steigt und fällt mit den Taten und Entwicklungen der Protagonisten sowie den Vorkommnissen des Werkes. Will man also einen diegetischen Raum genauer untersuchen, so ist es unabdingbar, sich bei beginnender Forschung mit dem Realitätsgehalt der vorliegenden Erzählung zu beschäftigen.

2.2 Semantisierung des Raumes

Zur genaueren Untersuchung der Funktion eines literarischen Raumes hilft uns das Modell des russischen Literatur- und Kulturtheoretikers Jurij M. Lotman. Mit seinem Sujetmodell schaffte er es, „den erzählten Raum eng mit der dargestellten Handlung [zu verknüpfen]“ (Martínez, 2016: 158). Im Zuge dieses Modells wurden vor Allem Raumwörter, wie zum Beispiel „nah, fern, dort, hinten oder unten“ (Geist, 2018: 29) genauer untersucht. Unter dieser Voraussetzung werden anschließend „Netze, Rhizome, Knoten und Kanten in Texten untersucht und so Lagebeziehungen ins Zentrum der Betrachtung gerückt“ (Ebd., 2018: 29). Begutachtet man diese genauer, so kann man häufig eine „Wertung einander gegenübergestellter Paare“ (Ebd., 2018: 29) ausmachen. Dieser komplementäre Gegensatz zeigt sich laut Martínez auf drei verschiedenen Ebenen:

(a) Topologisch ist der Raum, der erzählten Welt durch Oppositionen wie <hoch vs. Tief>, <links vs. rechts>, oder <innen vs. außen> unterschieden. (b) Diese topologischen Unterscheidungen werden im literarischen Text mit ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren verbunden, die häufig wertend sind oder zumindest mit Wertungen einhergehen, wie z.B. <gut vs. böse>, <vertraut vs. fremd>, <natürlich vs. künstlich>. (c) Schließlich wird die semantisch aufgeladene topologische Ordnung durch topographische Gegensätze der dargestellten Welt konkretisiert, z.B. <Berg vs. Tal>, <Stadt vs. Wald> oder <Himmel vs. Hölle> (Martínez, 2016: 159).

Durch Oppositionen innerhalb eines diegetischen Textes also wird der Raum erst topologisch. Bei einer Verbindung semantischer und topologischer Gegensatzpaare, nehmen die topologischen Begriffe eine semantische Wertung an, welche danach wiederum über topographische1 Gegensätze genauer dargestellt werden können. Laut Geist wird der literarische Raum als „zwei komplementäre Felder“ gesehen, „die über binäre Oppositionspaare in Bezug auf die eigene Ich-Achse2 dem Raum Bedeutung zuschreiben“ (Geist, 2018: 30). Je nach subjektiver, kultureller Sichtweise werden so den Lagerelationen verschiedene Bedeutungen übertragen (vgl. Ebd., 2018: 30). Relevant für eine topologische Analyse ist demnach also zum Einen die „Lagebeziehung von Räumen, Orten und Figuren“ (Ebd., 2018: 30), andererseits aber auch die „kulturelle Bedeutungszuschreibung“ (Ebd., 2018: 30).

2.3 Raumdarstellung in der Gebirgsliteratur

Wie in den vorherigen Kapiteln aufgezeigt, spielt die Untersuchung von Räumen in der allgemeinen Literaturwissenschaft also vor Allem seit dem spatial turn eine signifikante Rolle. Da Gebirge in der Literatur seit jeher bedeutende und im wortwörtlichen Sinne herausragende Motive waren, ist es besonders interessant, hier auf die topologische, sowie die topographische Bedeutung einzugehen. Der Berg wird in der Literatur häufig als „zentrales geologisches Phänomen“ (Geist, 2018: 46) dargestellt. Er dient den Autoren als „indentitätsstiftendes Symbol“ (Ebd., 2018: 46), mit welchem man „Raum für Mythen und Mutproben, für Selbst- und Fremderfahrung“ (Ebd., 2018: 46) schaffen kann. Oder auch, wie Meidl es darlegt, als Schauplatz für Kriegshandlungen (vgl. Meidl, 2016: 1). Der Alpenraum dient hier als Ort „ethischer und sozialer Werte oder als Schauplatz traumatischer Kriegserfahrungen“ (Ebd., 2016: 1). Demnach ist vor allem die semantische Bedeutung des Gebirges von höchster Signifikanz geprägt. Sie kann den Berg als sportlich erkundeten Raum darstellen, zum traumatischen Kriegserlebnis werden oder sich zum einmaligen Naturerlebnis wenden – und dennoch bleibt das Gebirge immer nur ein theoretisch geographischer Ort, welcher seit Jahrmillionen aus der Erde ragt. Natürlich hat sich die Darstellung des Gebirges mit der Zeit verändert. Denn sie wurde an Veränderungen der Literatur angepasst, welche sich über die verschiedenen Epochen, Modeerscheinungen und „mythologische Imaginationen“ (Ebd., 2018: 46) immer weiter wandelten (vgl. Ebd., 2018: 46). In den nun folgenden Kapiteln sollen der diegetische Raum, sowie die Semantisierung des Raumes anhand von Ludwig Tiecks Runenberg ausgearbeitet und gedeutet werden.

3. Ludwig Tiecks Runenberg

Ludwig Tiecks Werk Der Runenberg wurde in der Literaturwissenschaft bereits vielfach diskutiert und untersucht. Die Märchen-Novelle, die er 1802 verfasste, wurde 1804 im Taschenbuch für Kunst und Laune erstveröffentlicht (vgl. Geist, 2018: 96). Zeitgleich, im Winter 1802/03 wurde von Wilhelm Schlegel die Vorlesung Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur veröffentlicht, in der er die aktuellen Zustände der aufklärerischen Literatur kritisiert. Er fordert, gemeinsam mit anderen wichtigen Schriftstellern seiner Zeit, eine Regeneration (vgl. Gille, 1993: 612):

Vernunft und Phantasie sollen in dialektischem Wechselspiel sinnstiftend mit Wirklichkeiten umgehen und Möglichkeiten entwerfen, um so den vom Verstand regierten Bereich des Nützlichen zu transzendieren. (Ebd., 1993: 612)

Eine Remythisierung musste also her. Der Runenberg, welchen Tieck in engem Austausch mit unter anderem Schlegel, Schelling und Fichte und Novalis schrieb (vgl. Geist, 2018: 96), kann daher als „Experiment einer Neuen Mythologie […] verstanden werden“ (Gille, 1993: 612). Gille begründet dies unter zweierlei Gesichtspunkten: zum einen, weil Tieck durch seine Märchen-Novelle eben gemeinsam mit Schlegel die Vorstellung der Romantik umzusetzen versucht. Zum anderen sieht Gille in dem Protagonisten des Runenbergs, Christian, selbst einen Aussteiger, der „den Nutzen und Nachteil von Privatmythologien in ihren gesellschaftlichen Bezügen reflektiert“ (Ebd., 1993: 612). Die Geschichte über den Protagonisten Christian ist somit eine Umsetzung des Schlegel´schen Modells einer Transzendentalpoesie (vgl. Ebd., 1993: 612), aber auch „ausgesprochen stilbildend“ (De Gruyter, 2011: 505) für die nachfolgende Literatur der gesamten romantischen Epoche.

3.1 Naturverständnis in der Frühromantik

Wie im Vorkapitel bereits beschrieben, zählte Tieck vor allem gemeinsam mit seinen Freunden Novalis und Schlegel zu den wichtigsten Vorreitern und Vertretern der Frühromantik. Im damaligen Jena des neu begonnenen 19. Jahrhunderts gingen die führenden Köpfe ein und aus. Die Universitätsstadt war der Mittelpunkt frühromantischer Bewegungen, hier wurden Zeitschriften, wie das Athenäum verfasst und Dichter und Denker, wie Schiller, Fichte und Hegel lehrten an der Universität (vgl. Kraus, 1995: 206). Tieck und seine Freunde lasen in dieser Zeit sehr viele Klassiker der Philosophie und Antike, sie „verschlangen“ die Literatur förmlich und wurden dadurch zu sogenannten „europäischen Gelehrten“ (Vietta, 2010: 12), welche über ein großes Wissen der alten, europäischen Literatur verfügten (vgl. Ebd., 2010: 11f.). Die Naturauffassung der jungen Gelehrten wurde dementsprechend von diesem Wissen und modernitätskritischem Denken beeinflusst. Neue Erkenntnisse aus der aktuellen Wissenschaft wurden abgelehnt. Sie sahen den Menschen als „integralen Bestandteil“ (Kraus, 1995: 216) der Natur – für sie waren also die Natur und der menschliche Geist zu einem Ganzen verwoben (vgl. Ebd., 1995: 216) und sollte am besten durch nichts mehr getrennt sein (vgl. Ebd., 1995: 218). Novalis schreibt in seinem Text Lehrlinge zu Sais von Lehrlingen, die sich in ´weiten, hallenden Sälen´ (Ebd., 1995: 218) einfinden, um dort „in die Mysterien der Natur eingeweiht [zu werden]“ (Ebd., 1995: 218). In ebendiesen Sälen befinden sich „die vom Menschen geordneten Gegenstände der Natur“ (Ebd., 1995: 218). Man hört die Stimmen der Natur sprechen:

O! daß der Mensch´ die innre Musik der Natur verstände und einen Sinn für äußre Harmonie hätte. Aber er weiß ja kaum, daß wir zusammen gehören und keins ohne das andere bestehen kann. Er kann nichts liegen lassen, tyrannsich trennt er uns und greift in lauter Dissonanzen herum. Wie glücklich könnte er sein, wenn er mit uns freundlich umginge, und auch in unsern großen Bund träte, wie ehemals in der goldnen Zeit, wie er sie mit Recht nennt. In jener Zeit verstand er uns, wie wir ihn verstanden. Seine Begierde, Gott zu werden, hat ihn von uns getrennt, er sucht, was wir nicht wissen und ahnend können, und seitdem ist er keine begleitende Stimme, keine Mitbewegung mehr. (Kraus, 1995: 218f.)

Treffender hätte Novalis das damalige Naturverständnis wohl nicht ausdrücken können. So lässt er die Natur selbst sich beklagen über die Dissonanzen zwischen ihr und den Menschen – eine Aufforderung Novalis´, sich mit der Natur zu verbünden. Und auch Friedrich Schlegel schreibt über die Natur: ´Der Mensch ist ein schaffender Rückblick der Natur gewissermaßen auf sich selbst´ (Ebd., 1995: 219). Diese wahrlich nicht einfach zu interpretierende Aussage ist folgendermaßen zu verstehen: Sind Mensch und Natur im Einklang, so kann sich die Natur selbst erfassen und verstehen. Für den Menschen bedeutet dies, dass er „immer ein Teil von ihr ist – […] ihre höchste und bedeutendste Hervorbringung“ (Ebd., 1995: 219) bedeutet und dies auch nie anders sein wird.

3.2 Diegetischer Raum im Runenberg

Nachdem die allgemeinen Bedingungen zur Entstehung des Runenbergs nun alle geklärt wurden, sollen hier erarbeitete Kriterien des diegetischen Raums anhand Tiecks Werk herausgestellt werden. Wie in Kapitel 2.1 erklärt, ordnet der Leser dem gelesenen Text automatisch ein bestimmtes Bild des beschriebenen Ortes zu. Bereits im einleitenden Satz wird der Leser über den Raum der fiktiven Handlung informiert:

Ein junger Jäger saß im innersten Gebürge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. Er bedachte sein Schicksal, wie er so jung sei, und Vater und Mutter, die wohlbekannte Heimat, und alle Befreundeten seines Dorfes verlassen hatte, um eine fremde Umgebung zu suchen, um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen, und er blickte mit einer Art der Verwunderung auf, daß er sich nun in diesem Tale, in dieser Beschäftigung wiederfand. (Tieck, 2019: 27)

Durch die Erwähnung seines Dorfes, welches er hinter sich gelassen hatte, um nun im Gebirge Jäger zu werden, wird dem Leser von Anfang an eine fiktive Karte dargelegt. Zwar fehlen hier jegliche Ortsangaben – weder Christians Heimatdorf, noch das Gebirge - werden namentlich benannt, sodass man den Raum sofort und sicher zuordnen könnte. Auch sind die Schauplätze „mithilfe dichterischer Phantasie soweit verfremdet“ (Geist, 2018: 97), dass eine genaue Identifikation des Gebirges als Alpen nur eine vage These darstellen kann. So lässt sich der Schauplatz nur als einen „nicht näher verortbaren Gebirgsraum“ (Ebd., 2018: 97) erkennen. Diese Vermutung lässt sich vor allem durch die Attribute „im innersten Gebirge“, „hinter den Bergen“, „Widerschall antwortete“ und „runde Bergspitzen“ (Tieck, 2019: 27-28) stützen. Und auch der Verweis des Autors, der Protagonist habe sein Dorf verlassen, „um sein Glück in unbekannten Gegenden, in Bergen, unter fremden Menschen in einer neuen Beschäftigung zu finden“ zeigt nochmals deutlich, dass Tieck wohl beabsichtigte, dem Leser den genauen Ort oder Namen des Gebirges vorzuenthalten. Die Zuordnung des diegetischen Raumes im Runenberg ist somit geographisch nicht festzumachen und erscheint dadurch willkürlich. Sie entspricht der freien Fantasie des Lesers, welche durch idyllische Attribute des Autors weiter ausgeschmückt wird. Allerdings sind auch diese Attribute nicht besonders aussagekräftig – so könnte beschriebenes Gebirge wahrlich überall eben genauso vorzufinden sein.

[...]


1 „Topografie, Topographie, die; -,-n [spätlat. topographia < griech. Topographía]: 1. (Geogr.) Beschreibung u. Darstellung geografischer Örtlichkeiten“ (Duden, 2015: 1771).

2 Die Ich-Achse „bildet die vermeintliche Konstante in der menschlichen Anschauung von Welt“ (Geist, 2018: 30). Deshalb gilt sie als „Ausgangsunkt der relationalen Konnotation“ (Ebd., 2018: 30f.). Sie ist somit die Ausgangslage, von der aus der Mensch seine Umwelt subjektiv beschreibt.

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Résumé des informations

Titre
Die literarische Raumdarstellung des Gebirges am Beispiel von Ludwig Tiecks "Runenberg"
Université
LMU Munich
Note
1,0
Auteur
Année
2021
Pages
19
N° de catalogue
V1035309
ISBN (ebook)
9783346445490
ISBN (Livre)
9783346445506
Langue
allemand
Mots clés
Runenberg, Naturphilosophie, Ludwig Tieck, Literarischer Raum, Berg, Alpen, Motiv der Berge in der Literatur, Raumdarstellung
Citation du texte
Melinda Neumaier (Auteur), 2021, Die literarische Raumdarstellung des Gebirges am Beispiel von Ludwig Tiecks "Runenberg", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1035309

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