Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Gewaltfreie Kommunikation
2.1 Gewaltfreie Selbstoffenbarung
2.1.1 Beobachtungen ohne Bewertung
2.1.2 Gefühle ohne Interpretationen
2.2.3 Bedürfnisse
2.2.4 Bitten statt Forderungen
2.2 Empathisch aufnehmen
2.3 Mediation
2.4 Die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation
3 Fehlanwendungen der GfK
3.1 Die instinktiv-magische Ebene
3.2 Die egozentrische Ebene
3.3 Die konformistische Ebene
3.4 Die rationale Ebene
3.5 Die pluralistische Ebene
3.6 Die integrative Ebene
4 Selbstreflexion
4.1 Reflexion unserer Bewertungen
4.2 Reflexion unserer Gefühle und Bedürfnisse
5 Bedarf an empirischer Forschung über den Erfolg der GfK
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Lehrerinnen und Lehrer1 erhalten laut der Allgemeinen Dienstordnung für Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen den Auftrag, ihre Schüler zu erziehen und ihre Leistungen zu beurteilen: „Es gehört zum Beruf der Lehrerinnen und Lehrer, in eigener Verantwortung und pädagogischer Freiheit die Schülerinnen und Schüler zu erziehen, zu unterrichten, zu beraten, zu beurteilen, zu beaufsichtigen und zu betreuen.“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung, 2019, § 5)
Dabei bestehen Erziehungsmethoden häufig daraus, Schülern Verhaltensregeln aufzuerlegen und diese mit Belohnung und Bestrafung durchzusetzen, ihnen Befehle zu erteilen und ihnen beizubringen, sich den Urteilen der Lehrpersonen unterzuordnen. Diese Urteile beschränken sich oftmals nicht nur auf die Vergabe von Noten: Schülern werden Lernschwächen diagnostiziert oder sie können etwa als „Schüler mit einer langsamen Auffassungsgabe“ bezeichnet werden (Sacher, 2009). Der US-amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg (1934-2015) erklärt, diese autoritären Verhaltensweisen seien Formen der nicht-physischen Gewalt. Urteile und Befehle können unsere Beziehung zu den Schülern verschlechtern, sie demotivieren und ihrem Selbstbild schaden, so Rosenberg (2005).
Mit seiner Gewaltfreien Kommunikation (GfK) versucht er einen Weg aufzuzeigen, Schüler nicht mehr zu verurteilen, sondern ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und einfühlsam auf sie einzugehen (Rosenberg, 2005).2 Die GfK verspricht, die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern zu bereichern, Konflikte zu lösen und die Bedürfnisse aller Beteiligten zu erfüllen. Außerdem kann sie, so Rosenberg (2005), das Lernklima verbessern, die Motivation der Schüler fördern und ihren Selbstwert stärken. Da die GfK zahlreiche positive Effekte verspricht, gewinnt die zentrale Frage dieser Arbeit an Relevanz: Wie können Lehrkräfte die GfK an Schulen erfolgreich anwenden?
Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst untersucht werden, wie Lehrer die GfK an Schulen grundsätzlich nutzen können. Dafür werden hauptsächlich Rosenbergs Werke selbst herangezogen (Rosenberg, 2003, 2005, 2013). Um das Prinzip der Gewaltfreien Kommunikation zu erklären, werden zuerst ihre vier Komponenten beschrieben: Wie wir unsere eigenen Beobachtungen (1), Gefühle (2), Bedürfnisse (3) und Wünsche (4) gewaltfrei ausdrücken können (Kapitel 2.1). Rosenberg selbst sowie die Literatur um die GfK schildern ihre Erfolge zwar anhand zahlreicher Beispiele, jedoch eher anekdotenhaft. Obwohl Rosenberg Psychologe war, gliederte er die GfK nicht in psychologische Konzepte und empirische Befunde ein. Daher werden seine Ansätze in dieser Arbeit durch psychologische Theorien überprüft und begründet. So werden etwa die negativen Effekte von Urteilen auch in der Theorie der kognitiven Dissonanz (Aronson, Wilson und Akert, 2014), der erlernten Hilflosigkeit (Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008) und der selbsterfüllenden Prophezeiungen bestätigt (Rosenthal & Jacobson, 1986; übers. 1971). Das Konzept der Reaktanz erklärt außerdem, warum wir Schülern keine Befehle mehr erteilen sollten, sondern es wirksamer ist, nur noch Bitten an sie zu richten (Brehm & Brehm, 1981).
Nachdem deutlich gemacht wurde, wie Lehrer ihre eigene Perspektive gewaltfrei erklären können, soll ausgeführt werden, wie wir auf die Perspektive unserer Schüler einfühlsam eingehen können (Kapitel 2.2). Die GfK bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit, zwischen zwei Konfliktparteien zu vermitteln. Wie das im Schulkontext möglich ist, wird in Kapitel 2.3 über die Mediation geklärt. Rosenberg (2005) betont jedoch, dass es für die erfolgreiche Anwendung der GfK weniger auf eine perfekte Formulierung der vier Komponenten ankommt als auf die Grundeinstellung der bedingungslosen Wertschätzung unseres Gegenübers. Daher wird in Kapitel 2.4 die Haltung der GfK näher beschrieben. Auf welchen Grundannahmen beruht sie und wie äußern sich diese im Gespräch mit unseren Schülern?
Nachdem das Prinzip der GfK deutlich geworden ist, wird sich der Fokus auf die Problematiken und Herausforderungen richten, die sich bei ihrer Anwendung ergeben können (Kapitel 3). Möglicherweise weil die GfK noch relativ jung ist (aus den 1960-er Jahren), gibt es in der Literatur bisher nur wenige Autoren, die sich kritisch mit ihr auseinandersetzen. Darunter befindet sich Markus Fischer (2020), welcher mögliche Schattenseiten der Gewaltfreien Kommunikation aufzeigt. Er erklärt, dass die GfK häufig nicht am Modell, sondern an ihrem Anwender scheitert. Er stellt die These auf, dass ihre gelungene Anwendung von der Bewusstseinsebene abhängig ist, auf der wir uns befinden. Dabei bezieht er sich auf die Werte-Ebenen aus Clare W. Graves‘ Modell der Spiral Dynamics (Graves, 1996, zitiert nach Beck & Cowan, 2017). In dieser Theorie versucht Graves, die verschiedenen Entwicklungsebenen der Menschen und ihre typischen gedanklichen Muster und Werte zu beschreiben. Fischer (2020) vereinfacht Graves‘ Modell und zeigt auf, warum wir auf unterschiedlichen Bewusstseinsstufen die GfK mehr oder weniger erfolgreich anwenden. Die sechs Entwicklungsstufen Fischers werden in den Kapiteln 3.1 bis 3.6 dargestellt und mit den Forschungsergebnissen und Theorien der Entwicklungspsychologie abgeglichen. Anschließend soll beschrieben werden, welche Fehlschlüsse und Missverständnisse uns aufgrund dieser Ergebnisse begegnen können, wenn wir die GfK anwenden.
Ein Fazit, das sich aus diesen Untersuchungen ergeben wird, ist, dass wir aufgrund früherer Verletzungen Tendenzen haben können, die uns davon abhalten, die GfK wirkungsvoll anzuwenden. So können wir etwa dazu neigen, unsere Bedürfnisse denen unserer Schüler über- oder unterzustellen oder das gewaltfreie Gespräch perfektionieren zu wollen. Darum soll in Kapitel 4 darauf eingegangen werden, wie wir die GfK dafür nutzen können, uns selbst zu reflektieren. Durch eine bewusste Selbstreflexion kann die Wahrscheinlichkeit steigen, die GfK erfolgreich anzuwenden. Diese These bestätigt auch das Konzept der Achtsamkeit: Durch das bewusste Beobachten unserer Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse können Menschen, die in Achtsamkeit trainiert werden, sich selbst und anderen gegenüber empathischer reagieren und leichter Reize neu bewerten (Sauer, 2011).
Im 5. Kapitel soll daraufhin ein Überblick über die Befundlage der empirischen Forschung über die GfK gegeben werden. Welche Erfolge konnte die GfK bisher sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen erzielen? Um diese Frage zu beantworten, werden 19 empirische Studien über GfK-Trainings kurz dargestellt und ihre Ergebnisse beschrieben. Außerdem wird sich zeigen, dass ein großer Bedarf an qualitativer und insbesondere quantitativer Forschung über die GfK herrscht.
Abschließend soll zu einem Fazit (Kapitel 6) gelangt werden: Wie können Lehrkräfte an Schulen erfolgreich gewaltfrei kommunizieren? Welche Fehlanwendungen können ihnen unterlaufen? Und welche Auswirkungen könnte die Nutzung der GfK für Lehrer, Schüler und ihre Beziehungen haben?
2 Gewaltfreie Kommunikation
Marshall B. Rosenberg entwickelte die Gewaltfreie Kommunikation, als er sich während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren gegen die Rassentrennung in Schulen und Institutionen einsetze. Er suchte nach einer Art zu kommunizieren, die Menschen verbindet und ihre Konflikte lösen kann. Außerdem unterrichtete er die GfK auch an Schulen, um Lehrern und Schülern ein einfühlsameres Miteinander zu ermöglichen (Fischer, 2020).
Rosenberg (2013) beschreibt, dass sich die GfK insbesondere für Situationen eignet, in denen wir ein von uns als „negativ“ bewertetes Gefühl wahrnehmen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn wir eine Handlung beobachten, die uns wütend oder traurig macht oder wenn wir uns in einem Konflikt befinden. Ärgern wir uns beispielsweise, wenn ein Schüler während einer Stillarbeitsphase redet, schlägt Rosenberg vor, gewaltfrei zu kommunizieren.
Die Gewaltfreie Kommunikation beruht dabei auf vier Schritten, die je nach Situation angepasst werden können. Zuerst beschreiben wir unserem Gegenüber die konkrete Handlung, die unser Wohlbefinden beeinflusst (1) und welches Gefühl wir dabei empfinden (2). Anschließend erklären wir, welches unserer Bedürfnisse nicht erfüllt ist (3) und was wir uns von unserem Gegenüber wünschen würden (4) (Rosenberg, 2013). In diesem Fall könnten wir dem Schüler beispielweise gewaltfrei sagen: „Wenn ich höre, dass du mit deinen Mitschülern redest (Beobachtung), dann ärgere ich mich (Gefühl), weil ich gerne möchte, dass wir alle von einer ruhigen Lernatmosphäre profitieren können (Bedürfnis). Ich würde mir wünschen, dass du dich meldest, wenn du etwas fragen möchtest (Wunsch)“. Wie wir unsere eigene Sichtweise gewaltfrei kommunizieren können, wird in Kapitel 2.1 näher erläutert.
In Kapitel 2.2 soll daraufhin beschrieben werden, wie wir gewaltfrei die Wahrnehmung und die Gefühlswelt unseres Gegenübers erfragen können. In diesem Beispiel könnten wir den Schüler etwa fragen: „Hast du mit deinen Mitschülern geredet (Beobachtung), weil dich die Aufgabe langweilt (Gefühl)?“ Im weiteren Gespräch könnten wir den Wunsch des Schülers erfragen: „Wünschst du dir eine herausfordernde Aufgabe?“ So würden wir versuchen, den Schüler zu verstehen und auf seine Wünsche einzugehen (Rosenberg, 2013).
2.1 Gewaltfreie Selbstoffenbarung
2.1.1 Beobachtungen ohne Bewertung
Wollen wir unseren Mitmenschen unsere eigene Perspektive gewaltfrei erklären, ist der erste Schritt der GfK, ihnen die konkrete Handlung mitzuteilen, die unser Wohlbefinden beeinflusst hat (Rosenberg, 2013). Wir können dem Schüler beispielsweise also erklären, dass wir gehört haben, dass er dreimal in einer Stillarbeitsphase geredet hat.
Wenn wir unsere Beobachtung mitteilen, betont Rosenberg (2013), wie wichtig es ist, sie von unserer Bewertung zu trennen. Sobald wir nicht mehr nur formulieren, was wir gesehen, gehört und wahrgenommen haben, bewerten wir Handlungen. Solche Bewertungen bestehen etwa aus Verallgemeinerungen: „Du störst ‚immer‘ den Unterricht“, Interpretationen: „Du hast eben einfach keine Lust, zu lernen“, Annahmen: „So schaffst du dein Abitur bestimmt nicht“, Urteilen über die Persönlichkeit: „Du bist nicht intelligent genug dafür“ oder aus der Attribution von Fähigkeiten: „Du hast eine sehr langsame Auffassungsgabe“. Wenn wir solche Urteile formulieren, sinkt Rosenberg (2013) zufolge die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schüler unser Anliegen versteht und sich in uns einfühlen kann. Außerdem kann sich unsere Beziehung zu dem Schüler verschlechtern oder sein Selbstbild geschwächt werden (Aronson, Wilson und Akert, 2014). Die negativen Konsequenzen von Urteilen bestätigen auch die Theorien der kognitiven Dissonanz, der selbsterfüllenden Prophezeiungen und der erlernten Hilflosigkeit.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz besagt, dass wir ein Unbehagen empfinden, wenn wir eine Aussage hören, die unserem positiven Selbstbild widerspricht. In diesem Beispiel könnte der Schüler einen Widerspruch zwischen unserem Urteil: „Du bist ein schlechter Schüler“ und seinem positiven Selbstbild erleben. Um diesen Gegensatz aufzulösen, kann er mit Widerstand reagieren, um unser Urteil zu entkräften. Er könnte etwa entgegnen: „Ich bin kein schlechter Schüler! Sie sind ein schlechter Lehrer!“ Dadurch würden wir nicht nur unser Ziel verfehlen, dass der Schüler konzentriert arbeitet, es könnte auch unsere Beziehung zu ihm beeinträchtigen. Eine weitere Möglichkeit, seine kognitive Dissonanz zu beheben, besteht für den Schüler darin, sein Selbstbild an unser Urteil anzupassen, indem er denkt: „Es stimmt. Ich bin ein schlechter Schüler.“ Dadurch würde sich sein Selbstbild verschlechtern und er wäre weniger motiviert, sich anzustrengen (Aronson, Wilson und Akert, 2014).
Eine weitere Konsequenz, die unsere Urteile auf das Verhalten von Schülern haben können, ist der Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung. Dieser erklärt, dass Schüler sich tendenziell so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. Rosenthal und Jacobson (1986; übers. 1971) haben etwa eine Studie durchgeführt, in der Lehrer vor Beginn des Schuljahres darüber informiert wurden, dass bestimmte Schüler sogenannte late-bloomers seien, sich also im Laufe des Jahres als besonders intelligent erweisen würden. Diese Schüler wurden jedoch per Losverfahren ausgewählt. Tatsächlich verbesserten sich die Intelligenzquotienten dieser Schüler nach acht Monaten signifikant. Diese Ergebnisse begründen Rosenthal und Jacobson mit mehreren Faktoren: Zum einen haben die Lehrer diese Schüler aufgrund ihrer Erwartungen mehr gefördert und gefordert, ihnen mehr sozio-emotionale Unterstützung gegeben und ihnen mehr Möglichkeiten geboten, ihre Leistungen zu zeigen. Dadurch konnten sie ihre Leistungen leichter verbessern. Zum anderen haben die Schüler diese Fremderwartung angenommen und ihre Anstrengungen an sie angepasst. Sie haben sich mehr eingesetzt, um ihren Erwartungen zu entsprechen (Rosenthal & Jacobson, 1986; übers. 1971).
Der Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung wirkt auch in die negative Richtung (Golem-Effekt) (Murphy, Campbell und Garavan, 1999). Wenn wir einem Schüler etwa sagen, er sei ein „schlechter Schüler“ oder er brauche einen Förderschwerpunkt, kann er unser Urteil annehmen und glauben, seine Fähigkeiten seien zu gering, um gute Leistungen zu erzielen (Ludwig, 2006). Dieses Selbstbild wirkt stark demotivierend und er versucht möglicherweise gar nicht erst, sich anzustrengen, um Enttäuschungen zu vermeiden (Baumgartner, O’Connor und Thalheim, 2015). Die Einstellung, die eigenen Leistungen aufgrund mangelnder Fähigkeiten nicht oder nur wenig beeinflussen zu können, bezeichnet die Psychologie auch als Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Stiensmeier-Pelster & Schöne, 2008; Spinath, Dickhäuser und Schöne, 2018).
Anstatt also etwa zu behaupten, ein Schüler wäre „faul“ oder „ein schlechter Schüler“, würde man mit der konkreten Beschreibung, der Schüler habe drei Mal während einer Arbeitsphase gesprochen, gewaltfreier kommunizieren. So kann der Schüler besser verstehen, welche konkrete Handlung unser Gefühl ausgelöst hat, ohne dass er mit Widerstand reagiert oder sich sein Selbstbild verschlechtert. Gleichzeitig sollten wir Rosenberg zufolge auch nicht uns selbst die Schuld für das Verhalten der Schüler geben. Wenn wir etwa über uns denken: „Ich habe einfach keine Durchsetzungskraft“, kann unser eigenes Selbstwertgefühl geschwächt werden (Aronson, Wilson und Akert, 2014). Rosenberg (2013) wünscht sich, dass wir sowohl mit anderen als auch mit uns selbst gewaltfrei sprechen. Daher empfiehlt er, unsere Beobachtungen von Bewertungen zu trennen.
2.1.2 Gefühle ohne Interpretationen
Nachdem wir unsere Beobachtung mitgeteilt haben, können wir unserem Gegenüber erklären, wie wir uns fühlen, wenn wir diese Handlung beobachten. Gefühle werden von den meisten Psychologen als von Zeit zu Zeit auftretende Gefühlsempfindungen definiert, also als bestimmte körperliche Wahrnehmungen wie „dem Gefühl von Angst“ (Schmidt-Atzert, Peper und Stemmler, 2014). Verschiedene Empfindungen können etwa Angst, Traurigkeit, Einsamkeit und Verwirrung oder auch Freude, Erleichterung, Neugierde und Ausgeglichenheit sein.
Wie geht es uns also dabei, wenn ein Schüler drei Mal in einer Stillarbeitsphase redet? Ein mancher Lehrer könnte antworten: „Ich fühle mich nicht respektiert“ oder auch: „Ich fühle mich dann, als wäre ich kein guter Lehrer.“ Diese Aussagen bezeichnet Rosenberg jedoch als Pseudogefühle. Sie beschreiben keine echten Gefühle, sondern lediglich die Gedanken, die wir über unsere Gefühle haben. Pseudogefühle bestehen häufig aus Interpretationen der Handlungen anderer: Wenn wir uns „nicht respektiert“ fühlen, deuten wir, dass unser Gegenüber uns aufgrund seines Verhaltens nicht respektiert. Erst durch diese Interpretation wird unser echtes Gefühl ausgelöst: Wir fühlen uns etwa wütend, deprimiert oder auch hilflos. Rosenberg unterstreicht, dass es wichtig ist, unsere Gefühle von Interpretationen und Einschätzungen zu trennen. So ermöglichen wir unserem Gegenüber, sich in uns einzufühlen. Er betont, dass unsere Mitmenschen uns besser verstehen können, wenn wir sagen, dass wir uns hilflos oder traurig fühlen (Rosenberg, 2013). Erklären wir jedoch, wir „fühlen uns nicht respektiert“ reagieren sie eher mit Gegenwehr, weil sie ihr positives Selbstbild bedroht sehen: „Aber ich respektiere Sie doch!“ Auch bei Urteilen, die auf Gefühle bezogenen sind, wirkt die Theorie der kognitiven Dissonanz (Aronson, Wilson und Akert, 2014).
Aus diesem Grund empfiehlt Rosenberg auch, zu betonen, dass unser Gefühl nur in uns liegt und nicht direkt durch die Handlung unseres Gegenübers entstanden ist. Wir sagen also „ich fühle mich hilflos“ oder „ich bin traurig“ anstelle von „du machst mich traurig“ oder „du hast mich verletzt“. Für Rosenberg liegt die Verantwortung und die Ursache unserer Gefühle immer in uns selbst. Unsere Gefühle werden uns nicht von unserem Gegenüber „eingepflanzt“, sie entstehen aus unseren persönlichen Bedürfnissen (Rosenberg, 2013).
2.2.3 Bedürfnisse
Rosenberg beschreibt, dass uns unsere Gefühle als Wegweiser für unsere Bedürfnisse dienen. Sind eines oder mehrere unserer Bedürfnisse nicht erfüllt, so empfinden wir das ausgelöste Gefühl häufig als „negativ“ (Geiger, 2015). Ein unerfülltes Bedürfnis, beispielsweise nach Ruhe, kann sich individuell in verschiedenen Gefühlen ausdrücken, etwa in Ärger, Frustration oder Erschöpfung. Bedürfnisse werden in der Psychologie meist als Mangelzustände definiert. Sie aktivieren uns zum Handeln, weil wir von ihrer Erfüllung angezogen werden (Scheffer & Heckhausen, 2018). Verschiedene Bedürfnisse sind Rosenberg zufolge etwa Selbstbestimmung, Sinn, Wertschätzung, Nähe, Verständnis, Sicherheit oder Freiheit.
Rosenberg beschreibt, dass Menschen ihre Bedürfnisse zwar unterschiedlich gewichten, jedoch alle Menschen ähnliche Bedürfnisse besitzen. Daher fällt es uns ihm zufolge leicht, unerfüllte Bedürfnisse anderer Menschen zu verstehen (Rosenberg, 2013). Die gängigen Theorien der Psychologie bestätigen diese These. Maslow etwa beschreibt in seiner Bedürfnis-Pyramide, dass alle Menschen sowohl grundlegende Bedürfnisse wie Hunger oder Durst als auch höherliegende Bedürfnisse wie Liebe oder Wertschätzung miteinander teilen (Kulbe, 2009).
So können wir dem Schüler erklären: „Wenn ich höre, dass du mit deinen Mitschülern redest (Beobachtung), ärgere ich mich (Gefühl), weil ich gerade Ruhe brauche (Bedürfnis).“ Der Vorteil, in unerfüllten Bedürfnissen zu sprechen, ist für Rosenberg (2013), dass wir in der Lage sind, Situationen schnell zu verändern. Wenn Schüler nicht glauben, sie seien „schlechte Schüler“, sondern nur, dass wir persönlich ein unerfülltes Bedürfnis nach Ruhe haben, übernehmen sie nicht mehr die Verantwortung für unsere Wünsche und möchten sie vielleicht aus Wertschätzung zu uns erfüllen. Bedürfnissen nachzukommen ist leichter, als zu verändern, ein „schlechter Schüler“ zu sein (Rosenberg, 2005).
2.2.4 Bitten statt Forderungen
Rosenberg glaubt daran, dass wir Menschen von Grund auf den Wunsch haben, sowohl selbst glücklich zu sein als auch andere glücklich zu machen. Daher wird in der GfK davon ausgegangen, dass Schüler unsere Bedürfnisse aus Wertschätzung und Mitgefühl erfüllen möchten. Darum schlägt Rosenberg vor, anschließend eine konkrete Bitte zu äußern, die zur Erfüllung unseres Bedürfnisses beiträgt, etwa: „Und ich würde dich bitten, aufzuzeigen und mir zu sagen, was du brauchst.“ Er empfiehlt, eine positive Handlungssprache zu nutzen und nicht etwa zu formulieren: „Ich würde dich bitten, den Unterricht nicht mehr zu stören.“ Erklären wir dem Schüler stattdessen, was genau wir uns wünschen, kann er unserer Bitte leichter nachkommen (Rosenberg, 2013).
In der GfK richten wir nur Wünsche an unsere Mitmenschen, keine Befehle. Wir fordern also nicht von ihnen, dass sie diesen Wunsch erfüllen müssen: Wir reagieren nicht wütend oder enttäuscht, wenn er nicht erfüllt wird (Rosenberg, 2013). Lehnt ein Schüler beispielsweise mit einem verärgerten „Nein!“ unsere Bitte ab, können wir auf ihn eingehen und entgegnen: „Das klingt so, als würdest du dich darüber ärgern (Gefühl), dass ich dich bitte, aufzuzeigen, wenn du etwas brauchst (Beobachtung).“ Aus dem weiteren Gespräch könnte sich etwa ergeben, dass der Schüler sich ungerecht behandelt fühlt, weil andere ebenfalls geredet haben, aber nur er darauf angesprochen wurde. Wenn wir auf ihn eingehen, können wir erklären, dass wir alle Schüler gleich wertschätzen und beispielsweise unsere Bitte auch an die anderen Schüler richten.
Rosenberg betont, dass Schüler den Wünschen der Lehrperson lieber nachkommen, wenn sie keine Forderungen sind (Rosenberg, 2013). Diese Annahme Rosenbergs findet sich im psychologischen Konzept der Reaktanz wieder. Die Theorie der Reaktanz nach Brehm und Brehm (1981) beschreibt, dass Menschen, die die Einengung ihrer persönlichen Freiheit (durch einen Befehl) erleben, mit Konfrontation und Widerstand reagieren können. Diese Gegenwehr drückt sich in Aggressionen gegenüber dem Freiheitsbeschränkenden aus, sowie in dem Wunsch, die eigene Selbstbestimmung zu demonstrieren und seine Autonomie wiederherzustellen. Wortman und Brehm (1975) erklären, dass vor allem kurzfristige Freiheitseinschränkungen wie Forderungen zu der Reaktion von Reaktanz führen. Erteilen wir Schülern also Befehle, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie darauf mit Widerstand reagieren. Gleichzeitig beschreibt die Theorie der Reaktanz den Effekt, dass wir die uns verbotenen Handlungsmöglichkeiten als attraktiver empfinden, weil wir sie nicht mehr ausführen dürfen. Die Attraktivität unserer Forderung nimmt somit zusätzlich ab (Dickenberger, Gniech und Grabitz, 1993).
Wenn wir unsere Perspektive gewaltfrei kommunizieren wollen, beschreiben wir also erst unsere Beobachtung, das dadurch ausgelöste Gefühl und erklären anschließend unser unerfülltes Bedürfnis. Daraufhin richten wir einen konkreten Wunsch an unser Gegenüber.
2.2 Empathisch aufnehmen
Auf dieselbe Weise können wir auch auf unsere Mitmenschen eingehen und ihre Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche empathisch erfragen. Diese Art, zuzuhören und uns einzufühlen, bezeichnet Thomas Gordon (1973) als aktives Zuhören. Es wird vor allem dadurch bestimmt, dass wir uns unserem Gegenüber offen und einfühlsam zuwenden, ohne es zu bewerten oder in unsere eigenen Gedanken abzuschweifen. Wir halten also unsere Einschätzungen und Urteile zurück und konzentrieren uns ganz auf die Erfahrungswelt unseres Gegenübers (Rogers, 2014). Wir schenken ihm Raum und Empathie (Rosenberg, 2013). Wolfgang Friedlmeier (2003) definiert Empathie als die Fähigkeit, die Perspektive der anderen Person einzunehmen und ihren emotionalen Zustand nachempfinden zu können.
Auf welche Weisen sollten wir Rosenberg zufolge also nicht reagieren, wenn ein Schüler uns sein Leid ausdrückt? Ist es gegen uns gerichtet, könnten wir mit Abwehr oder mit einer Entschuldigung regieren. Beschwert er sich über sich selbst oder andere Schüler, könnten wir ihm Ratschläge geben, ihm das Positive an diesen Umständen aufzeigen oder ihn trösten. All diese Reaktionen sind jedoch unsere Gedanken und Theorien bezüglich der Situation und wir sind nicht wirklich bei dem Schüler . Empathisch zuzuhören bedeutet, ganz für den Schüler und damit auch für seine Erfahrung der Realität da zu sein. Reagieren wir etwa mit Abwehr auf einen Vorwurf des Schülers oder erklären ihm, dass es „nicht so schlimm ist“, bedeuten wir ihm damit, dass sein Leid unberechtigt ist. Geben wir ihm Ratschläge, implizieren wir, dass wir es besser wüssten als er, obwohl nur er selbst wissen kann, was für ihn das Richtige in dieser Situation ist (Rosenberg, 2005).
Stattdessen schlägt Rosenberg vor, die Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche unseres Gegenübers aus seinen Aussagen herauszuhören. So nehmen wir den Schüler in seiner Erfahrungswelt an und können einfühlsam auf ihn eingehen (Rosenberg, 2013). Das folgende, beispielhaft formulierte Gespräch verdeutlicht diese Vorgehensweise:
Ein Lehrer ruft einen Schüler auf, eine Aufgabe an der Tafel zu lösen.
Daraufhin der Schüler (weinend): „Sie sind unfair!“
Lehrer: „Bist du wütend?“ (Gefühl)
Schüler: „Ja! Das ist einfach ungerecht.“ (Bestätigung unserer Vermutung)
Lehrer: „Fühlst du dich ungerecht behandelt?“ (Paraphrasieren)
Schüler: „Ja. Sie rufen mich immer nur auf, wenn ich es nicht kann.“
Lehrer: „Ich habe dich aufgerufen, obwohl du es nicht kannst (Beobachtung). Das ist bestimmt frustrierend, oder?“ (Gefühl)
Schüler: „Ja! Ich verstehe die meisten Aufgaben.“
Lehrer: „Möchtest du, dass ich deine Leistungen sehe und wertschätze?“ (Bedürfnis)
Schüler: „Ja.“
Lehrer: „Was bräuchtest du denn, um zu wissen, dass ich dein Verständnis sehe?“ (Wunsch)
Schüler: „Ich weiß nicht.“
Lehrer: „Möchtest du, dass ich dich nur noch drannehme, wenn du aufzeigst?“ (Wunsch)
Schüler (trotzig): „Ja.“
Lehrer: „Du fühlst dich immer noch frustriert, oder?“ (Gefühl)
Schüler: „Ja.“
Lehrer: „Möchtest du mir die Aufgaben nach dem Unterricht zeigen, die du geschafft hast?“ (Wunsch)
Schüler (nickend): „Ja. Dann wissen Sie, dass ich doch gut bin.“
Hören wir eine emotionale Aussage eines Schülers oder beobachten ein Verhalten, das auf eine Unzufriedenheit hindeutet, können wir also zunächst erfragen, welche Beobachtung (1) des Schülers zu seiner Unzufriedenheit geführt hat (in diesem Beispiel, dass er zur Tafel gerufen wurde). Bestätigt der Schüler unsere Vermutung, können wir anschießend auf seine Gefühle (2) eingehen (z. B. seinen Ärger, seine Frustration). Dadurch fühlt sich der Schüler in seiner Perspektive angenommen und verstanden (Rosenberg, 2005). Anschließend können wir sein Bedürfnis (3) hinter diesem Gefühl erfragen. So bleibt der Schüler nicht in dem Gefühl „stecken“, sondern erfährt, welches Bedürfnis ihm zugrunde liegt (etwa die Wertschätzung seiner Leistungen). Daraufhin kann er mögliche Handlungsoptionen und Wünsche (4) erforschen (Christ, 2015).
Überspringt man im Dialog die Gefühle oder Bedürfnisse des Gegenübers, könnten wir den Eindruck vermitteln, dass wir das „Problem“ nur schnellstmöglich lösen wollen und kein echtes Interesse am Gefühlsleben des Schülers haben. In der GfK kann es außerdem hilfreich sein, eine Aussage noch einmal in unseren Worten wiederzugeben, zu paraphrasieren. Dadurch erfüllt sich das Bedürfnis hinter vielen Anliegen, gehört und verstanden zu werden. Rosenberg empfiehlt, insbesondere stark emotionale Aussagen zu paraphrasieren, weil das Bedürfnis, gehört zu werden, hinter ihnen so groß ist. Außerdem ermöglicht eine eigene Wiedergabe, dass unser Gegenüber noch einmal in sich hineinhören kann, um sich zu fragen, ob der Kern seines Anliegens vielleicht doch ein anderes ist (Rosenberg, 2013). Rosenberg betont, wie wichtig es ist, sich Zeit zu nehmen, auf die Gefühle und Bedürfnisse der Schüler einzugehen und ihnen vollkommen unsere Aufmerksamkeit zu schenken (Rosenberg, 2005). Dieses Beispiel ist verkürzt dargestellt, um das Prinzip der GfK deutlich zu machen: In der Realität sollten wir uns meistens mehr Zeit für das Anliegen eines Schülers nehmen.
2.3 Mediation
Sind wir nicht selbst in einen Konflikt involviert, können wir die Gewaltfreie Kommunikation auch nutzen, um eine Mediation durchzuführen. Die Mediation ist eine Methode, mit der unterschiedliche Interessen mehrerer Individuen oder Gruppen integriert werden sollen. Dabei dient ein Mediator als neutraler Vermittler zwischen den beiden Konfliktparteien (Scholz, Mieg und Weber 2003). Der Psychologe Karl Berkel beschreibt, dass Konflikte dann vorliegen, wenn zwei Parteien einander durch gegensätzliche oder unvereinbare Handlungen behindern (Berkel, 2005). Die Mediation ermöglicht, als Lehrkraft zwischen zwei Personen, etwa zwischen Schülern, Eltern oder Lehrern, zu vermitteln. Im Folgenden sollen die Schritte einer gewaltfreien Mediation kurz dargestellt und ihr Erfolg empirisch untersucht werden.
Um Konflikte zwischen zwei oder mehr Parteien gewaltfrei zu lösen, gehen wir in einer Mediation auf die Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche beider Seiten ein. Nehmen wir beispielsweise an, zwei Schüler haben Streit, weil der eine den anderen beleidigt hat. In einer solchen Situation können wir in vier Schritten eine gewaltfreie Mediation durchführen: Wir bitten zuerst einen der beiden Schüler, uns die Beobachtungen (1) zu erklären, die er wahrgenommen hat. Anschließend fragen wir den anderen Schüler, was aus seiner Sicht passiert ist. Wir gehen so lange auf die Beobachtungen beider Schüler ein, bis beide Sichtweisen ungefähr übereinstimmen oder ein Schüler der Beobachtung des anderen zustimmt. Als Mediator können wir dabei darauf achten, dass die Schüler ihre Beobachtungen und Gefühle ohne Werturteil formulieren, indem wir etwa fragen: „Wenn du sagst ‚immer‘, meinst du wirklich immer oder wie häufig kam das vor?“ „Kannst du mir erzählen, was konkret passiert ist?“ (Christ, 2015).
[...]
1 Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird in dieser Bachelorarbeit das generische Maskulinum verwendet. Lehrerinnen und Lehrer werden so beispielsweise als Lehrer bezeichnet.
2 Die in dieser Arbeit aufgeführten Beispiele beschreiben, wie Lehrpersonen Schülern gegenüber gewaltfrei kommunizieren können. Diese Darstellung ist exemplarisch und das Prinzip der Gewaltfreien Kommunikation lässt sich ebenso auf die Kommunikation mit Kollegen oder der Schulleitung anwenden. Insbesondere auch im Gespräch mit kritischen Eltern könnte die GfK eine sehr wirksame Methode sein. Ebenso gelten die beschriebenen Auswirkungen der Gewaltfreien Kommunikation nicht nur für Schüler, sondern für alle beteiligten Personen.