Erziehung und Lernen. Eine Problematik aus der Moderne?


Diskussionsbeitrag / Streitschrift, 2021

6 Seiten


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Klaus Robra

Erziehung und Lernen. Was führt au der Krise?

Erziehen heißt: Werte vermitteln und Grenzen setzen, und dies innerhalb bereits bestehender Grenzen, zumal der Mensch ein unberechenbares, verletzliches Wesen ist.Sinn ergibt sich hieraus nur, wenn die Notwendigkeit von Erziehung nicht verneint wird, wie dies z.B.Ruth Abraham(2019) tut in ihrem BeitragKinder lernen von alleine, wir müssen sie nichterziehen1und dabei eine Position einnimmt, die so ähnlich schonEllen Key1902 in ihrem Buch Das Jahrhundert des Kindespropagiert hat. Wonach also das angeblich autonome Lernen der Kinder an die Stelle jeglicher Erziehung treten soll. Was gänzlich ausgeschlossen ist, wenn Kant Recht hat mit seiner Auffassung, die er im Jahre 1776 in seiner VorlesungÜber Pädagogikdargelegt hat: „Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muss sich selbst denPlan seinesVerhaltens2machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere für ihn tun.“ – Hiergegen könnte man allenfalls einwenden, dass Kinder doch schon vorgeburtlich und erst recht nach der Geburt ständig Erfahrungen machen, aus denen sie auch ohne Zutun von Eltern und Erziehern lernen. Bedeutet dies aber schon, dass Kinder sich vollständig selbsterziehenkönnen? Hierzu muss man sich Klarheit über die gesellschaftlichen Bedingungen verschaffen, unter denen Kinder aus ihren Erfahrungen lernen. Denn Lernen geschieht natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern stets unter dem Einfluss bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse; die hierzulande inzwischen zu massiven Beeinträchtigungen der Grundvoraussetzungen jeglichen Lernens geführt haben, darunter vor allem vonAufnahmefähigkeit und -bereitschaft, Sachbezogenheit und Sachlichkeit, Konzentration, Disziplin, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. So dass immer wieder nicht nur von „Bildungsnotstand“, sondern auch vonErziehungskriseundErziehungskatastrophedie Rede ist.Weshalb anzunehmen ist, dass ‚Selbst-Erziehung nur durch Lernen‘ in unserer Gesellschaft nicht wirklich funktioniert, nicht funktionieren kann.

Fragt man nun nach den Ursachen der Fehlentwicklung, stößt man unvermeidlich auf ein Phänomen, das seit ca. drei Jahrzehnten immer weiter um sich greift: dieSpaßgesellschaft. Gründliche Untersuchungen hierzu hatAlbert Wunsch(2004) in seiner ArbeitAbschied von der Spaßpädagogikvorgenommen, somit also im Kontext des Erziehungsproblems. Aus einer repräsentativen Expertise eines Sozialforschungsinstituts zitiert Wunsch, dass „im Frühjahr 2001 64 % der Bundesbürger Spaß als Sinn des Lebens“3angaben. Dies in auffälligem Kontrast zu der Situation vor 1990, als noch „für die meisten Menschen der Lebenssinn in einer zufriedenstellenden Existenzabsicherung“ lag (ebd.). Wie erklärt sich diese schwerwiegende Veränderung? Wunsch verweist auf die Verwöhn- und Verführungs-Mechanismen, die in der Konsum- und Spaßgesellschaft immer mehr die Oberhand gewonnen haben; wobei er allerdings den Begriff ‚Spaß‘ in problematischer, wenn nicht unzulässiger Weise definiert, nämlich zunächst korrekt als „Mix aus Witz, Scherz, Posse, Jux und Narretei“, dann aber – unverständlicherweise – daraus schließend: „kurz: verdichteter Unsinn“ (ebd.). Somit also Unsinn als Sinn für zwei Drittel der Bevölkerung? Das halte ich für kurzschlüssig. Denn Witze, Scherze, Jux usw. sind nicht per se unsinnig, im Gegenteil, seit jeher dienen sie dazu, Menschen zu unterhalten, aufzuheitern, ihnen das Dasein wenigstens zeitweise zu erleichtern. Kaiser, Könige und Fürsten hielten sich Hofnarren als sinnreiche Kritiker, die Späße machten, dabei manchen „Unsinn“ erzählten – aber durchweg mit raffiniertem Hintersinn.

All diese Sinngebungen sind aber in der heutigen Spaßgesellschaft anscheinend verflacht. Entstanden ist jedoch nicht „verdichteter Unsinn“, sondern Schlimmeres, nämlich u.a. die aktuelle Bildungs- und Erziehungs-Krise. Für die Albert Wunsch folgende Symptome nennt: 1. „Das Lebenskonzept von Spaß-Fixierten orientiert sich demnach an Herumhängen, viel Essen und Trinken, reichlich Fernsehen, im Internet surfen, Shopping, Sex und Super-Action. Giga-Geil muss es sein. Manchen Zeitgenossen macht selbst Mobbing, Diffamierung, Gewalt und Horror Spaß. Und weil derselbe Spaß auf Dauer keinen Spaß mehr macht, muss bald ein Mega-Plus-Programm her. Das Volk will mehr, bis hin zur Unerträglichkeit, wie manche TV-Formate offenkundig werden lassen.“ (ebd.). Wobei sich die Medien-Sucht in den letzten Jahren durch die rasante Entwicklung von Smartphones mit Internet-Zugang weiter verschärft hat. 2. In Misskredit geraten dagegen „Selbst- und Mitverantwortung, Anstrengung, Nutzbringendes, Leistung, soziale Werte und Zukunftstiftendes“ (ebd.). 3. In Mitleidenschaft gezogen werden nicht nur die Eltern, sondern in hohem Maße auch Kinder und Jugendliche. Was sich bei Kindern in Abwehrhaltungen gegenüber fundamentalen Aufgaben wie Sprechen-Lernen, Regeln einhalten, Zimmer-Aufräumen, Hausaufgaben erledigen usw. äußert; bei Jugendlichen z.B. in Leistungsverweigerung und verantwortungslosem Umgang mit Drogen und Alkohol; bei Eltern u.a. in Scheu vor schwierigen Auseinandersetzungen und Problemlösungen, mangelnder Verlässlichkeit, zu wenig Einsatz für das Gemeinwohl oder auch nur für die eigene Partnerschaft, sobald lästiges Problemlösen gefordert wird. 4. Folgen: fehlende Konflikt-Fähigkeit, Verwöhnung, Antriebslosigkeit, Gleichgültigkeit, Erziehungsnotstand.

Worauf aber ist all dies zurückzuführen? Welche konkreten Ursachen gibt es für solche Fehlentwicklungen, für das „Schwinden zwischenmenschlicher Werte und Sinnstiftungs-System“, für das Propagieren von „Freiheit ohne die Pflicht zur Eigenverantwortung“ (a.O. S. 4)? Albert Wunsch führt überraschenderweise nur Folgendes an: „Es ist die zu große Sattheit und Versorgtheit vieler Menschen! Denn wenn die Existenzabsicherung als Herausforderung entfällt, konzentriert sich die Sinn-Suche allzu leicht auf eine ständige Glücks-Maximierung des eigenen Seins“ (ebd.).

Darin aber sehe ich einen Erklärungsversuch, der entschieden zu kurz greift. Für die Tatsache, dass sich die Spaß- und Vergnügungssucht seit ca. 30 Jahren immer mehr ausgebreitet hat, muss es tiefere Gründe geben. Ich sehe sie in dem ungehemmten, rücksichtslosen Vormarsch des neoliberalen Turbo-Kapitalismus, der denKonsumismuszum einzig maßgeblichen Sinn- und Glücksvermittler emporstilisiert hat und jegliche Alternative dazu für abwegig und hirnverbrannt erklärt.

Die Tatsache, dass A. Wunsch dies überhaupt nicht berücksichtigt, relativiert in hohem Maße die Relevanz der von ihm vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen, darunter die bloßen Hinweise auf die überragende Bedeutung der Erziehung, von „funktionsfähigen Schulen“, der zu jedem Lernen (auch dem spielerischen!) erforderlichen Aufmerksamkeit und Anstrengung und von Werten wie „Sozialkompetenz, Selbstverantwortung, Mut, Stärke, Motivation, Kreativität und Konfliktfähigkeit zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen in Partnerschaft, Familie, Beruf und Gesellschaft“ (a.O. S. 5).

Diese Forderungen sind zweifellos zu bejahen; doch es stellt sich die Frage, wie solche Werte Kindern und Jugendlichen in einer turbo-kapitalistischen Spaßgesellschaft vermittelt werden können. Nur durch deren eigene (Lern-) Erfahrungen? Sicherlich nicht (s.o.)! Und selbst die bestgemeinte qualifizierte Erziehung stößt an die Grenzen, die das Wirtschafts- und Gesellschafts-System mit den genannten Symptomen ständig produziert. Ein System, das offensichtlich Menschen heranzüchtet, die nicht einmal in der Lage sind, sich ihrer eigenenSituation totaler Entfremdungbewusst zu werden, geschweige denn jemals den Versuch zu unternehmen, sich aus dieser Lage zu befreien. Umso mehr sehe ich mich in meiner Auffassung bestätigt, dass eine Erziehung vonnöten ist, die Werte vermittelt und Grenzen setzt.

Werte vermittelnund Grenzen setzen.Eine „wasserdichte“ Lern- und Erziehungstheorie kann ich an dieser Stelle natürlich nicht vorlegen. Und auch in Bezug auf die Werte-Vermittlung und das Grenzen-Setzen muss ich mich auf einige grundsätzliche Überlegungen beschränken. In welchen Grenzen Werte vermittelt werden können, habe ich bereits angedeutet. Zu beachten sind aber nicht nur die System-Einflüsse (Konsum- und Spaßgesellschaft usw.), sondern auch – und zwar vorrangig – diejenigen Grenzen und Faktoren, die aus den unterschiedlich gearteten personalen Strukturen und Besonderheiten der jeweils Betroffenen entstehen; Besonderheiten, die in solchem Maße divergieren, dass sie weder theoretisch noch praktisch überschaubar sind. Bei den „Zöglingen“ ist stets deren Alter zu beachten. Kleinkinder müssen soziale Werte wie Mitgefühl und Respekt erst erlernen, d.h. größtenteils durch Erziehung vermittelt bekommen.4

Wohingegen dies – wie auch jede andere Form von Erziehung – bei Pubertierenden anscheinend gar nicht mehr möglich ist. – Innerhalb dieser Grenzen muss über die Erziehungsziele Klarheit bestehen.Antje Bostelmanngibt hierzu an: „Kinder sollen stark werden, zur Verantwortung fähig sein und mutige, selbst-aktive Mitglieder einer Gesellschaft werden, die in der Lage ist, jeden zu integrieren, zu respektieren und in seinen Grundrechten abzusichern.“5– Schon dies sind freilich sehr ehrgeizige Ziele (zumal im Turbo-Kapitalismus, s.o.), übertreffbar durch den durchaus legitimen Anspruch, den Heranwachsenden Argumente an die Hand zu geben, die dazu dienen können, vorhandene Missstände zu beheben und eine bessere Zukunft vorzubereiten. Wozu sicherlich viel informierende und aufklärende Erziehungsarbeit zu leisten ist; wobei umstritten scheint, wie diese Arbeit vonstatten gehen soll: eher durch die Schaffung von Freiheitsräumen („gewähren lassen“) oder eher durch bewusste Grenzziehung? Entschieden werden kann hierüber nicht rein situativ undad hoc, sondern stetswertorientiert, wobei die Rolle des Unterbewussten nicht zu unterschätzen ist (s.o.). Wird dies missachtet, bleiben die Heranwachsenden ungeschützt den negativen Einflüssen der kapitalistischen Konsum- und Spaß-Ideologie ausgesetzt.

WelcheErziehungs-Werteanzustreben sind, haben Experten untersucht. Der PsychologeWayne Dosickführt an: „Respekt, Wahrhaftigkeit, Fairness, Verantwortungsbewusstsein, Reife, die Fähigkeit, an etwas zu glauben“6, ergänzbar z.B. durch „richtiges Handeln, Liebe und Gewaltlosigkeit“.7Wobei die Werte der „Fähigkeit, etwas zu glauben“ und des „richtigen Handelns“ leicht in gefährliches Terrain führen können. Fanatische, hass- und gewaltbereite Glaubens-Attitüden sind entschieden abzulehnen und zu bekämpfen, und zwar mit Aussicht auf Erfolg wohl erst dann, wenn – wie auch gegenüber den anderen Erziehungswerten – als oberster Grundsatz die Kantische Forderung nach unbedingtem Respekt vor der Menschenwürde (s.o.) beachtet und befolgt wird. Gleiches gilt für den Anspruch auf „richtiges Handeln“; auch hier kann der Zweck nicht die Mittel heiligen.

Es ist eine Forderung, die sich erfahrungsgemäß nicht durch bloßes Gewährenlassen erfüllen lässt. Wie aber sollen stattdessen Grenzen gezogen werden? A. Bostelmann schlägt den Erziehenden im Wesentlichen vor: 1. Rituale, d.h.geregelteAbläufe, 2. altersgemäßes Einfordern der Regeln, 3. Vorbild sein, 4. keine falschen Versprechungen machen, 5. auf Belohnungssysteme („Mohrrüben-Pädagogik“) möglichst verzichten, 6. Konsequenzen erklären und situationsgemäß umsetzen, ohne Angst einzuflößen (Urheberprinzip: „Wer etwas kaputt macht, muss dies reparieren oder ersetzen.“ A.a.O. S. 5), 7. Respekt und Gerechtigkeit im Umgang. Heranwachsende haben Anspruch auf Fairness und Gleichbehandlung. Frieden und Gewaltlosigkeit im Elternhaus und in der Schule hängen davon ab.

Ein besonders schwieriges Problem sehe ich darin, dass Erziehende und erst recht die ihnen anvertrauten Heranwachsenden teilweise auf GrundunbewussterVorgaben und Prägungen handeln, ohne sich über das eigene Unbewusste wirklich im Klaren zu sein. Zumal ein Zugang zum Unbewussten oft erst im Traum, nach längerer Selbst-Beobachtung und -Reflexion oder durch hilfreiche Gespräche, z.B. mit Angehörigen, Psychotherapeuten, Seelsorgern oder anderen Vertrauens-Personen überhaupt möglich ist. Heranwachsende sind hierzu von sich aus kaum in der Lage. Ob überhaupt, sollte zumindest ansatzweise in vertraulichen Einzel- oder Gruppen-Gesprächen herauszufinden sein. Darüber hinaus gebe ich zu bedenken, dass Werte der Erziehung nicht isoliert, sondern in weiverzweigten, individuell unterschiedlichen Werte-Synthesen existieren; wozu ich Näheres und Weiteres in meiner 2020 im Münchner GRIN-Verlag erschienenen ArbeitEthik der Verhaltenssteuerung – eine Neubegründungdargelegt habe, und zwar in dem Kapitel über‚Werte-Synthesen, die das Verhalten steuern (können)‘, S. 212-294, auch unter:

https://www.grin.com/document/923015

[...]


1In: www.focus.de>Familie>Erziehung

2Hervorhebung durch mich. Ein weiterer Beleg für die ethische Relevanz des BegriffsVerhalten!

3 In: A. Wunsch:Abschied von der Spaßpädagogik! – oder: wie nachhaltiger auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet werden kann. www.familienhandbuch.de/babys-kinder/erziehungsfragen/allgemein/abschiedvonderspasspaedagogik.php, S. 1

4 Konkrete Vorschläge hierzu finden sich unter: www.rtl.de/diese-werte-sollten-jedem-kind-nahegelegt-werden-4124195.html, S. 2

5A. Bostelmann:Erziehung braucht Grenzen. www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogik/2412, S. 2

6 s. www. Fußnote Nr. 4, S. 2

7 Vgl. Susanne Stöcklin-Meier:Was im Leben wirklich zählt – mit Kindern Werte entdecken, in: www.familienhandbuch.de

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Details

Titel
Erziehung und Lernen. Eine Problematik aus der Moderne?
Autor
Jahr
2021
Seiten
6
Katalognummer
V1038715
ISBN (eBook)
9783346508096
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bildungs- und Erziehungs-Krise - (Selbst-)Erziehung nur durch Lernen?, Turbo-Kapitalismus - Konsumismus - Spaßgesellschaft - Werte - Grenzen
Arbeit zitieren
Klaus Robra (Autor:in), 2021, Erziehung und Lernen. Eine Problematik aus der Moderne?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1038715

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