Sozial- und Entwicklungspsychologie. Eine traumpsychologische und bindungstheoretische Fallanalyse


Dossier / Travail de Séminaire, 2020

43 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ein Beispiel aus der Jugendhilfe „Fall Kai“

3. Theoriegeleitete Analyse des Fallbeispiels
3.1 Traumapsychologische Perspektive
3.1.1. Analyse ausgewahlter Ereignisse im Hinblick auf eine mogliche Traumatisierung
3.1.2 Analyse ausgewahlter Verhaltensformen im Hinblick auf mogliche Traumafolge
3.2 Bindungstheoretische Perspektive

4. Konsequenzen fur die professionelle Beziehungsgestaltung
4.1 T raumapadagogik
4.2 Traumapadagogische Intervention
4.3 Psychohygiene fur Padagogische Fachkrafte

5. Reflexion

6. Literaturverzeichnis

„(Ver-)Bindungen verbinden, halten, geben frei, fuhren, werden neu geknupft, integrieren, starken, nahren, versorgen, trosten, sind einschatzbar, sind kontinuierlich, schutzen, regulieren bei Stress, machen Mut, lachen und heilen.

(Ver-)Bindungen engen oder schnuren ein, lassen unerwartet los, lassen fallen, verfuhren, verwickeln, ziehen, werden abgebrochen, werden vergessen, verunsichern, verangstigen, aktivieren Stress, schmerzen, lassen vereinsamen, trauern oder wuten.“

(Lang 2013, S.I87)

I. Einleitung

Die Fachkrafte der Sozialen Arbeit werden in ihrer praktischen Arbeit immer wieder mit den Themen Bindung und Trauma konfrontiert. Besonders in der Arbeit mit Kindern und jungen Heranwachsenden bieten die Inhalte der Bindungstheorie und der Traumapsychologie einen bedeutenden Erklarungsansatz fur zunachst schwer nachvollziehbare Verhaltensweisen. Aber auch in der Arbeit mit Erwachsenen ermoglichen sie es den Fachkraften einen Einblick in die Problemlagen und Bewaltigungsstrategien von Menschen, die unterschiedlichen Belastungsfaktoren ausgesetzt sind, zu gewinnen. Fur die Padagog*innen ist es von hoher Bedeutung, hypothetische und wissensbasierte Erklarungsansatze fur bereits entstandene Problemlagen zu besitzen. So besteht die Option, potenzielle Risikofaktoren, die zukunftig zu Belastungssituationen fuhren konnten, besser einzuschatzen. Zusatzlich bieten jene theoretischen Erklarungsansatze erst die Moglichkeit, wissensgeleitete Interventionsansatze fallbezogen zu formulieren und durchzufuhren. Um professionell und kontextspezifisch angepasst in verschiedenen - mitunter kritischen - Situationen zielfuhrend intervenieren zu konnen, mussen Sozialarbeiter*innen erkennen, was die geplanten Interventionsmoglichkeiten bei den betroffenen Klient*innen auslosen konnen. Insbesondere die Bindungstheorie und die Traumapsychologie verdeutlichen: Sind sie sich der vorhandenen (biographischen) Belastungsfaktoren nicht bewusst, kann dies schnell dazu fuhren, dass die InterventionsmaBnahmen zu weiteren Belastungen anstatt einer Problembewaltigung fuhren.

In der stationaren Kinder- und Jugendhilfe werden Sozialarbeiter*innen haufig mit komplexen Fallen konfrontiert, die sie fur eine professionelle erfolgreiche Arbeit unter verschiedenen Aspekten genau analysieren und reflektieren mussen. Ein Beispiel hierfur ist der Fall von Kai W.1, welcher in seiner Biografie mit vielen belastenden Erlebnissen konfrontiert wurde und seit seiner Kindheit in Institutionen der stationaren Jugendhilfe lebt. Der Fall von Kai wird im Folgenden wissensgeleitet aus einer bindungstheoretischen und psychotraumatologischen Perspektive analysiert und reflektiert. Hierfur wird zunachst eine Falldarstellung zu Kai erfolgen, die einen Einblick in sein Leben gewahrt. Weiterhin wird es eine Einfuhrung in die Schwerpunkt Themen dieser Hausarbeit Bindung und Trauma geben. Diese Themen haben eine Komplexitat, die es im Rahmen dieser Arbeit nicht moglich macht, auf alle theoretischen Aspekte in ihrer Ganzheit einzugehen. Aus diesem Grund werden nur die theoretischen Aspekte dargestellt und erlautert, die fur den Fall von Kai besonders relevant sind. Diese werden in Bezug zu dem Fall von Kai gesetzt und auf diesen angewandt. Nach der theoretischen Einfuhrung werden aus dieser mogliche InterventionsmaBnahmen sowie Konsequenzen fur das berufliche Handeln in der Sozialen Arbeit gezogen. Abgerundet wird die Fallanalyse dann mit einer abschlieBenden Reflektion, welche ein Fazit sowie kritisch zu betrachtenden Aspekten der aufgefuhrten theoretischen Ansatze beinhaltet.

Zu guter Letzt ist darauf hinzuweisen, dass Fachkrafte der Sozialen Arbeit nicht dafur ausgebildet sind, mogliche psychische Storungen zu diagnostizieren oder auch zu behandeln. Daher werden in dieser Arbeit alle theoretischen Aspekte bezogen auf den Fall von Kai hypothetisch betrachtet und ausschlieBlich Interventionsmoglichkeiten dargestellt, zu denen Sozialarbeiter*innen im Rahmen ihrer Ausbildung befahigt werden, sie in der praktischen Arbeit mit ihren Klient*innen zu leisten.

2. Ein Beispiel aus derjugendhilfe ,,Fall Kai“

Vorgeschichte

Kai W. ist mannlich, 2003 geboren und hat eine altere Schwester, Jana, die 2000 geboren ist. Gemeinsam mit Jana wohnte er zunachst bei den Eltern. Diese konnten sich aufgrund ihrer Suchterkrankungen nicht ausreichend um ihre Kinder kummern. Es gibt nur wenige Informationen uber die ersten Lebensjahre von Kai und Jana. Folgendes lasst sich aus einem ehemaligen Bericht des Jugendamtes entnehmen: Die Mutter, Frau M., war stark Alkohol abhangig und konsumierte gelegentlich Cannabis. Durch die Suchterkrankung fiel es ihr schwer sich und das Familiengeschehen im Alltag zu organisieren. Auch der Vater, Herr M., war stark Alkohol abhangig und nur selten Zuhause. In Konfliktsituationen zeigte die Mutter ein passives Verhalten, wahrend der Vater eher launisch und verbal aggressiv reagierte. Die Kinder waren haufig auf sich allein gestellt. Beispielsweise mussten sie sich eigenstandig um ihr Essen kummern und insbesondere Jana ubernahm die Verantwortung uber ihren kleinen Bruder Kai. RegelmaBig entschieden Jana und Kai selbst uber ihre Freizeitgestaltung, die in der Regel daraus bestand, auf der StraBe mit Nachbarskindern zu spielen oder Fernseher zu schauen. Im Kontakt mit dem Jugendamt zeigten sich die Eltern sehr kooperativ und gaben bereitwillig Auskunft. Das Jugendamt beschreibt die Eltern als sehr bemuht um das Wohl ihrer Kinder. Letztendlich wurde dennoch gemeinsam entschieden, dass die Eltern aufgrund ihrer Suchterkrankung nicht dazu in der Lage sind, sich ausreichend um ihre Kinder zu kummern.

Kai (4 Jahre) und Jana (7 Jahre) zogen schlieBlich im Jahr 2007 in eine stationare Einrichtung. Dort wuchs Kai zunachst in der Regelwohngruppe „Zwerge“ fur Kinder von 3 bis 12 Jahren auf. In dieser Zeit hatte er regelmaBigen Besuchskontakt zu seinen Eltern und seiner GroBmutter mutterlicherseits. Diese verliefen ruhig und harmonisch. Seine Eltern waren auch wahrend der stationaren Unterbringung der Kinder nicht in der Lage, sich von Alkohol und anderen Drogen zu distanzieren. Kai unternahm die Besuchskontakte zu seinen Eltern inzwischen eigenstandig. 2012 fand Kai seinen Vater bei einem Besuchskontakt allein leblos im Wohnzimmer auf. Der Vater verstarb an den Folgen seiner Suchterkrankung.

Als Kai 11 Jahre alt war wurde seine 14-jahrige Schwester schwanger. Mit Kai wurde das Thema nur am Rande besprochen. Er zeigte sich bei den Gesprachen eher uninteressiert und teilnahmslos. Seine Schwester entschied das Kind abzutreiben.

Die Geschwister hielten weiterhin engen Kontakt zu ihrer Mutter, bei der kurze Zeit spater Krebs diagnostiziert wurde. Die Prognose bezuglich einer moglichen Genesung anderte sich haufig. SchlieBlich verstarb sie im Jahr 2016 im Krankenhaus. Kai zeigte in dieser Situation kaum Gefuhlsregungen.

Wahrend Jana mit 16 Jahren zu ihrer Oma zog, wechselte Kai mit 14 Jahren in die Jugendwohngruppe „Sprungbrett“. Kai und Jana hatten nur wenig Kontakt zueinander. Alle zwei Wochenenden verbrachte Kai ein Besuchswochenende bei seiner Oma, welche ebenfalls viel Alkohol konsumierte. Diese Wochenenden waren ihm sehr wichtig. So verbrachte er nicht nur Zeit mit ihr, sondern auch mit seiner Tante und seinem Cousin (17 Jahre). Ansonsten half er seiner Oma, indem er beispielsweise mit dem Hund spazieren ging oder im Garten arbeitete. Er genoss viele Freiheiten. Er spielte bis spat in die Nacht Playstation mit seinem Cousin oder aB das ganze Wochenende Fastfood. Wenn er zuruck in die Gruppe kam, erzahlte er sehr wenig uber den Besuch, und das nur auf Nachfrage.

Aktuelle Situation

Die Besuchswochenenden bei seiner Oma gestalten sich auch heute noch auf diese Weise. Ebenso pflegt er weiterhin kaum Kontakt zu seiner Schwester Jana.

Seine sonstigen sozialen Kontakte belaufen sich auf seine Freund*innen in der Schule, zu denen sein bester Freund Jan und die Jugendlichen aus der Wohngruppe gehoren. Da er sich fur seinen Status als "Heimkind" schamt, nimmt er seine Freund*innen, auBer Jan, nicht mit in die Gruppe. Trotzdem unternimmt er gerne etwas mit ihnen, wie Schwimmen oder FuBball spielen. Eine enge und vertrauensvolle Beziehung hat er nur zu Jan, den er schon seit der Grundschule kennt. Seine anderen Freundschaften sind in der Regel von kurzer Dauer und von starken "Hochs und Tiefs" begleitet. Gerne verbringt er auBerdem Zeit mit seiner aktuellen Freundin, auch diese wechselt haufig.

Zu seinem langjahrigen Bezugspadagogen aus der ehemaligen Gruppe, mit dem Kai ein sehr enges und vertrauensvolles Verhaltnis hatte, ist der Kontakt seitens Kai vollstandig abgebrochen. Auf mehrere Kontaktversuche ein Gesprach mit Kai zu fuhren, reagierte er abweisend.

Lange Zeit hat Kai im Verein FuBball gespielt. Von diesem hat er sich aber vor kurzem abgemeldet, weil er seinen Aussagen zufolge, keinen SpaB mehr am Training findet. Kai ist Schuler in der 9. Klasse an einer Realschule. Seine Lehrer*innen beschreiben ihn als intelligenten, aber sehr faulen Schuler, der gerne provoziert, diskutiert und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Daher muss er oft um seine Versetzung furchten und wird voraussichtlich kommendes Jahr einen "schlechten" Realschulabschluss machen, obwohl fur ihn nach Angaben der Lehrer*innen deutlich mehr moglich ware. Kai erzahlt, dass er in der Schule nicht erfolgreich ist, weil er das alles einfach nicht kann. "Keiner halt es mit mir aus- alle glauben das erst und dann schaffen sie es doch nicht mit mir."

Kai ist seit dem vierten Lebensjahr therapeutisch angebunden. Aktuell nimmt er einmal monatlich einen Therapie Termin wahr. Doch auch hier fallt es ihm, der Wahrnehmung des Therapeuten nach, schwer sich zu offnen. Er verdrange den Tod seiner Eltern, habe mitunter das Grab seiner Mutter noch nie besucht. Gegenuber seiner aktuellen Bezugspadagogin kann Kai auBern, dass er unter der Angst leidet, seine Oma ebenfalls zu verlieren. Er merkt, wenn er sie besucht, dass sie altert und nicht mehr so gesund ist wie fruher.

In der Gruppe selbst fuhle sich Kai unwohl. Er wurde gerne wie seine Schwester zur Oma ziehen, da die oft wechselnden Mitbewohner*innen fur ihn anstrengend seien. Zusatzlich fuhle er sich von den Padagog*innen missverstanden und nicht ernst genommen. Haufig wurden die Padagog*innen ihn fur sein Verhalten maBregeln. Nicht nur bezuglich Alkoholes und Drogen testet Kai derzeit seine Grenzen bei den Padagog*innen. So raucht er seit kurzem und in seinem Zimmer wurden eine Shisha und Computerspiele ab 18 Jahren gefunden. Auch in seinem sonstigen Verhalten provoziert er die Padagog*innen und geht regelmaBig konfrontativ und aggressiv in Gesprache. Dies ist insbesondere auffallig nach personlicheren Gesprachen oder schonen Erlebnissen in der Gruppe.

Von den Padagog*innen wird Kai auBerdem dazu angehalten sich in Bezug auf sein Verhalten zu andern, hierbei scheint es so als gabe er sich nur wenig Muhe. Die Padagog*innen sehen daher schon ein-/zweimal keine andere Moglichkeit als fur Kai das Besuchswochenende bei seiner Oma zu kurzen oder sogar vollstandig zu verschieben. Auf diese MaBnahme reagiert Kai mit unkontrollierter Wut, beruhigt sich im Anschluss allerdings “unverhaltnismaBig” schnell und geht dem Alltagsgeschehen wieder nach.

Grundsatzlich nehmen die Padagog*innen Kai als einen ehrlichen, hilfsbereiten und eigenstandigen Jugendlichen wahr. Er diskutiere gerne und zeige hierbei Durchsetzungsfahigkeit und Durchhaltevermogen. Wenn ihm eine Person wichtig sei, setze er sich auch gerne fur sie ein. Er brauche das Gefuhl die Kontrolle uber eine Situation zu haben. Verliere er diese - bspw. in Konfliktsituationen mit Padagog*innen-, neige er zu verbalen Wutanfallen, die entweder eine lange Zeit des Nachtragens mit sich ziehen oder von einer Sekunde auf die andere wie weggeblasen erscheinen. Er habe Stimmungsschwankungen, teste die Grenzen von jeder Person, mit der er Kontakt habe und probiere sich im Umgang mit Sexualitat und Drogen aus. Kai kenne die Ablaufe und Strukturen der stationaren Jugendhilfe ganz genau und wisse sich durchzusetzen und Regeln zu umgehen.

Bei der Hausaufgabenbetreuung durch die Padagog*innen zeige sich zum einen seine Diskussionsfreudigkeit, sein Bedurfnis die Regeln selbst aufzustellen und seine Schwierigkeiten Kritik anzunehmen. Zum anderen seien aber auch ein geringes Selbstbewusstsein und eine groBe Unsicherheit bezogen auf sein eigenes Konnen sichtbar, die er nur selten nach auBen zeige. Schwer falle es ihm, Kontakt zu fremden Personen aufzunehmen und feste langfristige Beziehungen aufzubauen. Er neige dazu sich nach kurzer Zeit zu distanzieren und die andere Person abzuweisen. Uber Gefuhle, besonders familiare Angelegenheiten, spreche Kai sehr selten. Seine Starken lagen neben seinem Humor und Charme besonders in seiner Zuverlassigkeit und Loyalitat.

3. Theoriegeleitete Analyse des Fallbeispiels

Der Fall “Kai” lasst sich anhand verschiedener Theorien analysieren. Insbesondere die traumapsychologische und die bindungstheoretische Perspektive bieten in der Kinder- und Jugendhilfe relevante Erklarungsansatze fur das Erleben und Verhalten der Klient*innen im padagogischen Alltag. Anhand der uber Kai bekannten Informationen wird eine theoriegeleitete Betrachtung des Falls erfolgen, die sowohl eine traumapsychologische als auch eine bindungstheoretische Positionierung beinhaltet.

3.1 TRAUMAPSYCHOLOGISCHE PERSPEKTIVE

Der Begriff des Traumas stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet ubersetzt Wunde. Zur Abgrenzung zwischen dem physischen und dem psychischen/seelischen Kontext von Verletzungen wurde die Bezeichnung Psychotrauma eingefuhrt. In der Fachliteratur wird der Begriff der Traumatisierung nicht einheitlich definiert und konkretisiert. Fischer/Riedesser verstehen unter einer Traumatisierung ein ,,vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewaltigungsmoglichkeiten, das mit Gefuhlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschutterung von Selbst- und Weltverstandnis bewirkt" (vgl. Fischer/ Riedesser, 2003, S.82).

Kommt es zu einer uberwaltigenden, ausweglosen Situation, in der sich der Mensch in seinem physischen, psychischen oder emotionalen Uberleben gefahrdet sieht und ubersteigt dieses Ereignis die zur Verfugung stehenden psychischen Verarbeitungsmechanismen, verandert das Gehirn seinen neurophysiologischen Zustand. Um das Uberleben des menschlichen Organismus zu ermoglichen, wird der Korper in Uberregung versetzt sowie der Zugriff auf den vernunftgesteuerten Teil des Gehirns ausgesetzt. Jegliche vorhandenen Energien werden fur die Notfallreaktionen Fight (Kampf) oder Flight (Flucht) zur Verfugung gestellt2. Wahrend eines traumatischen Ereignisses hat die/der Betroffene in der Regel weder die Moglichkeit (erfolgreich) zu kampfen noch zu fliehen. Sie/er gerat in eine ,,traumatische Zange" (vgl. Huber, 2012, S.39) und der sogenannte Freeze-Zustand tritt ein. Es kommt zur Unterwerfung in Form einer innerlichen und auBerlichen Starre (..inescapable shock").

In diesem wehrlosen Zustand initiiert das Gehirn selbstschutzende Wahrnehmungsveranderungen und Dissoziation, die es dem Menschen ermoglicht, sich innerlich von der uberwaltigenden Situation zu distanzieren (vgl. Besser, 2013, 45f.).

Um das psychische Uberleben zu sichern, blockiert das Gehirn den normalen Prozess der Wahrnehmung. Sensorische, emotionale, kognitive und physische Eindrucke werden zum Schutz der/des Betroffenen nicht einheitlich integriert, sondern abgespalten und als voneinander unabhangige Bruchstucke (Fragment) abgespeichert (Besser, 2015, S. 43f.). Sowohl die in der Extremsituation reflexartig aufgerufenen, aber nicht vollendeten Handlungsimpulse, als auch die bruchstuckhaften Details der Wahrnehmung verbleiben letztlich unverarbeitet in Gehirn, Geist und Korper (vgl. van der Kolk, 2016). Das traumatische Erlebnis ist mit starken Affekten verbunden - die Auswirkungen auf das menschliche Stresssystem und unverarbeitete Reize bleiben haufig uber einen langen Zeitraum stabil und konnen zu langfristigen Veranderungen im Denken, Fuhlen und Handeln fuhren (vgl. Huther, 2012). Im Umgang mit moglichen Traumatisierungen ist es besonders wichtig, die subjektive Bedeutung des Ereignisses fur das Individuum zu betrachten (vgl. Huber 2012, S. 75ff.). Ob eine Situation als belastendes Lebensereignis integriert werden kann oder als traumatisches Erlebnis verbleibt, wird von den individuellen Anpassungs- und Bewaltigungskompetenzen der Betroffenen und die vorhandenen protektiven Faktoren3 vor, wahrend und nach der Situation mitbestimmt.

3.1.1. ANALYSE AUSGEWAHLTER EREIGNISSE IM HINBLICK AUF EINE MOGLICHE TRAUMATISIERUNG

Im Fallbeispiel Kai lassen sich verschiedene Hinweise auf eine mogliche Traumatisierung erkennen. Hierbei ist zwischen Erfahrungen in Kais Lebenslauf, die ein erhohtes Risiko eines psychischen Traumas mit sich bringen und Verhaltensformen, die als Traumafolgen gedeutet werden konnen, zu unterscheiden. Zunachst werden einzelne bekannte Lebensereignisse von Kai naher betrachtet. BekanntermaBen lebt Kai in seinen ersten Lebensjahren mit seiner groBen Schwester bei seinen Eltern, die an einer Suchterkrankung leiden und sich nicht ausreichend um ihre Kinder kummern konnen. In welchem AusmaB die Eltern nicht dazu in der Lage waren, den emotionalen und korperlichen Bedurfnissen ihrer Kinder zu begegnen, ist nicht bekannt. Formen einer Vernachlassigung von Kai in seiner fruhen Kindheit sind jedoch nichtauszuschlieBen. Diese beschreibt, wenn,,.. .uberlangererZeit bestimmte Versorgungsleistungen materieller, emotionaler und kognitiver Art ausbleiben..." (Schone et al., 1997, S.19). Vernachlassigung ist eine bekannte Ursache von fruhen (Komplex-)Traumatisierungen (vgl. Garbe, 2013, S.30).

Streeck-Fischer nennt als mogliche Formen der Vernachlassigung u.a. den emotionalen Missbrauch - das Nichtbeantworten emotionaler Bedurfnisse von Kindern - und die korperliche Misshandlung mitunter durch Mangelernahrung (vgl. Streeck-Fischer, 2014, S.105). Ebenso seien chronische Situationen, in denen Kinder mangelhaft beaufsichtigt werden und sich selbst uberlassen sind sowie erzieherische Vernachlassigung fur Kinder gefahrdend (ebd.). Folgen konnen mitunter besondere Entwicklungsbeeintrachtigungen im Zusammenhang mit Ruckstanden in der physischen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung sein (vgl. WeiB, 2016, S.30f.).

Kai und seine Schwester mussten sich laut Sachverhalt haufig selbstversorgen und waren sich in ihrer Freizeitgestaltung selbst uberlassen. Kai wurde durch seine Schwester, die mit 7 Jahren selbst noch ein Kind war, beaufsichtigt. Es ist anzunehmen, dass seine Eltern durch ihre Suchterkrankung und zeitweilige Abwesenheit regelmaBig nicht dazu in der Lage waren, die erzieherischen Aufgaben und emotionalen Bedurfnisse der Kinder ausreichend zu erfullen. Diese Annahme wird durch die Rolle der Schwester gegenuber Kai und innerhalb der Familie unterstutzt, die Aufgaben der Elternteile zu ubernehmen scheint. Dies deutet auf eine Parentifizierung hin4. Suchterkrankungen gelten als bekannte mogliche Ursache fur das Nichtwahrnehmen von Bedurfnissen eigener Kinder sowie fur ein diffuses wechselhaftes Bindungsangebot durch die betroffenen Elternteile, dass fur Kinder schwer traumatisierend sein kann und mit gravierenden Folgen fur die Bindungssicherheit der Kinder einhergeht (vgl. Schulze et al., 2016, S.18/Fischer, Moller, 2020, S.102f.) (siehe Kapitel 3.2.). Es ist nachvollziehbar, dass vernachlassigte Kinder uber lange Zeitraume traumatischen Situationen zuhause ausgeliefert sind, in denen sie Abhangigkeit und Hilflosigkeit erfahren und insbesondere in jungem Alter keine Moglichkeiten haben, den Erlebnissen zu entfliehen. Spezifische Folgen einer schweren Vernachlassigung im Sinne einer verspateten physischen oder kognitiven Entwicklung sind im Sacherhalt bei Kai heutzutage nicht zu erkennen.

Kai hat mehrfach eine Trennung von seinen Eltern als Bezugspersonen erfahren mussen. So wird er zunachst von ihnen getrennt, als er durch das Jugendamt in Obhut genommen wird. Laut Sachverhalt halt er daraufhin zunachst weiteren guten Kontakt mit ihnen - im Abstand von 3 Jahren erlebt er dann allerdings den Tod beider Elternteile mit. Es ist davon auszugehen, dass das Auffinden des leblosen Vaters in der Wohnung fur Kai als Kind eine schwerwiegende Erfahrung darstellt. Dass er mit dieser Situation allein konfrontiert ist und weder die Moglichkeit hat, zu fliehen, noch zu kampfen und somit in eine traumatische Zange im Erleben absoluter Ohnmacht gerat, ist anzunehmen. Im Anschluss an den Tod seines Vaters erlebt Kai den Sterbeprozess seiner Mutter. Hierbei gerat er erneut uber einen langeren Zeitraum in eine unkontrollierte, hilflose, moglicherweise traumatisierende Situation. Die im Rahmen der Prognosen wiederholt aufkommende Hoffnung endet fur ihn im Verlust seiner Mutter. Hierbei ist eine Retraumatisierung, das Wiedererleben eines vorherigen traumatischen Lebensereignisses (vgl. WeiB, 2013, S.207f.), nach dem Verlust des Vaters, nicht auszuschlieBen.

Die Fachliteratur stuft das Erleben schwerster Krisen innerhalb der Familien, wozu u.a. Vernachlassigung, schwere Trennungen sowie der Tod eines Elternteils zahlen, als besonders gefahrdend im Hinblick auf eine mogliche fruhe Traumatisierung von Kindern ein (vgl. Riedesser et al., 2003, S.10f/ WeiB, 2016, S.41).

Grundsatzlich wird in der Psychotraumatologie zwischen einmaligen traumatischen Ereignissen (Monotraumatisierung) und chronisch wiederkehrenden, schwerwiegenden Erlebnissen (Komplextraumatisierung) (vgl. Schulze et al., 2016, S.7) unterschieden. Von Komplextraumatisierungen in Form von Entwicklungstraumatisierung wird gesprochen, wenn die Kindheit von fruhen chronischen Gewalterfahrungen durch Bindungspersonen (bspw. Misshandlung oder Vernachlassigungen) oder vom Verlust ebenjener gepragt war (vgl. Garbe, 2013, S.30). Bei Kai ist eine solche Komplextraumatisierung aufgrund seiner im Sachverhalt geschilderten Erfahrungen zunachst zu vermuten.

3.1.2. ANALYSE AUSGEWAHLTER VERHALTENSFORMEN IM HINBLICK AUF MOGLICHE TRAUMAFOLGEN

Traumatische Erfahrungen aus fruher Kindheit bringen fur betroffene Personen Folgen mit sich, die in spezifischen Verhaltens- und Entwicklungsmustern zu erkennen sind (vgl. Streeck-Fischer, 2005, S.2). Anhand der folgenden Betrachtung von ausgewahlten Traumafolgen5 im Zusammenhang mit Verhaltensformen von Kai, sollen weitere Ruckschlusse auf Kais mogliches Erleben gezogen werden konnen im Hinblick auf die zukunftige padagogische Beziehungsgestaltung zu Kai und mogliche Interventionsformen.

Zu den bekanntesten Folgen einer chronischen Komplextraumatisierung (Trauma Typ 2) gehoren laut Streeck-Fischer neben veranderten Lebenseinstellungen und traumaspezifischen Angsten, die Verleugnung, psychische Betaubung, verzerrte Wahrnehmung, Wut und dissoziative Prozesse (vgl. Streeck-Fischer, 2014, S.115). Auch Michaela Huber hebt dissoziative Storungen als „Entwicklungs-Symptom“ nach fruhen Traumata (vgl. Huber, 2012, S.104) hervor. Dissoziation stort oder verandert die integrierte Wahrnehmung physischer und psychischer Prozesse in Gedachtnis, Bewusstsein und Identitat (vgl. Streeck-Fischer, 2014, S.123).

Streeck-Fischer beschreibt dieses Verhalten als Zustand von Betaubung, Apathie und Ruckzug (ebd.), ein „affektiver und sensorischer Shut-Down", der Betroffene unertragliche Gefuhle und Wahrnehmungen dissoziieren lasst. Hierbei ist sowohl das isolierte Wahrnehmen/Ausblenden von Gefuhlen, Korperteilen als auch spezifischer traumatischer Erlebnisse denkbar. Ebenso kann es zu einer Verleugnung des Geschehens kommen oder der Vermeidung von Triggerreizen, bspw. Orten oder Geruchen.

Huber erweitert die Definition durch die Annahme einer moglichen strukturellen Dissoziation im Alltagsleben betroffener Personen. Hierbei unterscheidet sie zwischen zwei Zustanden, die der traumatisierte Mensch in sich tragt - den anscheinend normalen Personlichkeitsanteil (ANP) und den emotionalen Personlichkeitsanteil (EP) (vgl. Huber, 2012, S.123). Dem ANP fehlt groBtenteils das Wissen um die traumatische Erfahrung, insbesondere die emotionale Komponente.

Diese sind abgespalten in einem oder mehreren EPs gespeichert. Der ANP dient als vordergrundige Instanz im Alltag, die das Hervortreten der EPs moglichst verhindert und der Person somit einen Alltag ohne besondere Anstrengung, bzw. uberwaltigende Emotionen ermoglicht. Wird die ANP mit der eigenen Geschichte konfrontiert, reagiert sie als ware die Geschichte fremd (ebd.). Wird die EP mit ihren traumatischen Erlebnissen unerwartet getriggert oder uberflutet, erfolgen schwere emotionale und korperliche Reaktionen (ebd.). Dieses Verhalten lasst sich im Sachverhalt bei Kai sehr gut nachvollziehen. So verhalt er sich in Situationen, die ihn mit den eigenen Verlusten konfrontieren abweisend und uninteressiert. Dies zeigt sich unter anderem in Gesprachen uber seine schwangere Schwester und seinen ehemaligen Bezugspadagog*innen, mit denen er kaum mehr Kontakt hat, sowie in nicht angenommenen Gesprachen uber den Tod seiner Eltern (Therapie und padagogischer Alltag). Er vermeidet ebenso Orte (bspw. das Grab seiner Mutter), die ihn mit seinen Erfahrungen konfrontieren konnten. Bei diesem Handeln steht Kais ANP im Vordergrund. Wird er uberrascht von einer Information, die ihn mit einem akuten Verlust (Trigger) konfrontiert, bspw. bei Verboten seine Oma am Wochenende zu besuchen, reagiert er unkontrolliert und emotional mit Wut und Trauer. Diese waren nach Huber seiner EP zuzuordnen. Hat Kai sich nach kurzer Zeit allerdings „unverhaltnismaBig“ schnell beruhigt und den Konflikt vergessen, hat seine ANP die Kontrolle uber sein Handeln wieder ubernommen.

Kinder und Jugendliche mit fruhen traumatischen Erfahrungen besitzen die Tendenz, diese zu reinszenieren (vgl. Streeck-Fischer, 2014, S.6f.). Dies druckt sich ,,im Denken, Fuhlen, Verhalten und in der Biologie" aus und bestimmt „das innere Selbst- und Weltbild" (ebd., S.120). Dieses wird hierbei in der Regel bestatigt. Bei Kindern mit Trennungserfahrungen findet haufig eine Schuldzuschreibung zur eigenen Person statt, die es nicht wert ist, dass jemand anderes sie ertragt (vgl. WeiB, 2016, S.40). Dieser Gedanke, bose, dumm und nicht liebenswert zu sein, geht einher mit einem mangelnden Selbstwertgefuhl und Selbstwirksamkeitserleben (ebd., S.50ff.). Kai beschreibt, dass es niemand mit ihm aushalten konne. Im Sachverhalt finden sich in diesem Zusammenhang Situationen, in denen sich Kais moglicherweise traumatische Trennungserfahrungen von ehemaligen Bezugspersonen zu wiederholen scheinen. So bricht er die Beziehung zu seinem vorherigen Bezugspadagogen ab und hat auch zu seiner Schwester nur wenig Kontakt. Es ist moglich, dass er sich hierdurch ebenso in seinem benannten Selbstbild sowie seinen Erwartungen an den Verlauf von Beziehungen mit engen Bindungspersonen gefestigt fuhlt.

[...]


1 Daten, die mit den im Fallbeispiel vorkommenden Personen zusammenhangen, wurden dahingehend verandert, dass die Anonymitat der Betroffenen gewahrt bleibt, der Sinnzusammenhang des realen Failes aus derjugendhilfe allerdings nicht verfalscht wird

2 Zum Verstandnis der biochemischen und physiologischen Prozesse des menschlichen Korpers in einer traumatischen Situation vgl. Huber 2012, S. 44-51 sowie van der Kolk 2016, S. 65-107.

3 Unter protektiven Faktoren werden die individuellen personalen, umgebungsbezogenen und Resilienzkompetenzen verstanden, die einen entscheidenden Einfluss auf die Widerstandsfahigkeit, die Stabilitat und das Bewaltigungshandeln eines Menschen haben (vgl. Scherwath/ Friedrich 2016, S. 62f.).

4 Parentifizierung beschreibt die Rollenubernahme der Erwachsenen innerhalb einer Familie durch ihre Kinder (vgl. Huber, 2012, S.84f.). Hiermit geht eine entsprechende Aufgabenubernahme sowohl den Eltern als auch Geschwistern gegenuber einher. Der Sachverhalt lasst an dieser Stelle vordergrundig einen Ruckschluss auf die Situation der Schwester zu. Auf eine detailliertere Betrachtung dieser wird im Hinblick auf die Intention der Hausarbeit verzichtet.

5 In den medizinischen Klassifikationssystemen ICD 10 u. DSM V sind als Folgen einer Traumatisierung die Diagnosen der Posttraumatischen Belastungsstorung (PTSB) und die Akute Belastungsreaktion zu finden. Sie ist auBerdem als mogliche Ursachen von bspw. Anpassungsstorungen, Angststorungen u. Entwicklungsverzogerungen bekannt (vgl. Gahleitner u.a. 2017, S.27). Auf das mogliche Vorliegen dieser Diagnosen kann im Folgenden aufgrund eines Informationsmangels in Bezug spezifisch zugrundeliegenden Symptome nicht naher eingegangen werden.

Fin de l'extrait de 43 pages

Résumé des informations

Titre
Sozial- und Entwicklungspsychologie. Eine traumpsychologische und bindungstheoretische Fallanalyse
Université
Cologne University of Applied Sciences
Note
1,0
Auteur
Année
2020
Pages
43
N° de catalogue
V1038923
ISBN (ebook)
9783346452832
ISBN (Livre)
9783346452849
Langue
allemand
Mots clés
Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, psychologie, Fallanalyse, Fallarbeit
Citation du texte
Celina Poetz (Auteur), 2020, Sozial- und Entwicklungspsychologie. Eine traumpsychologische und bindungstheoretische Fallanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1038923

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