Polizeikontrolle in Deutschland. Selektive Kontrollmechanismen, wahrnehmungsrelevante Konstruktionsprozesse und gewaltsame Eskalationsdynamiken in Zusammenhang mit strukturellem Rassismus


Masterarbeit, 2021

98 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung und Forschungsvorhaben

2. Gegenwärtiger Forschungsstand

3. Methodisches Vorgehen und Beschreibung des Datenmaterials

4. Polizei in modernen Gesellschaften: Funktion und Wahrnehmung
4.1 Die Rolle der Staatsform
4.2 Wahrnehmungsrelevante Polizeifeindbildkonstruktionen

5. Soziologie der Polizeikontrolle
5.1 Theoretische Perspektiven der (Polizei)Kontrolle
5.2. Selektive Kontrollmechanismen
5.2.1 Sozioökonomische Rasterbildung, Demografie und Verhalten
5.2.2. Ethnizität, Raum und Verhalten
5.2.3 Erfahrungswissen, Stereotypenbildung, Sozialstruktur

6. Gewaltsame Eskalationsdynamiken polizeilicher Kontrollen

7. Abschließende Zusammenfassung und Hypothesen

Danksagung

Literatur- und Quellenverzeichnis Anhang:

- Leitfaden Interviews

- Kategoriensystem aus MAXQDA

- Kodierte Transkripte

- Videoanalysen

Die Polizei kann als ein die Gesellschaft eingebettetes Organ der staatlichen Exekutive begriffen werden. Daher sind die Organisation und Ausführung polizeilicher Arbeit von sozialen Wandlungsprozessen der Gesellschaft mit beeinflusst. Digitalisierung und Globalisierung gelten als die wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft, denen sich die Polizei zu stellen hat. An diesen Befund soll meine überwiegend theoretische Arbeit im weitesten Sinne anknüpfen. Die Geschwindigkeit medialer Empörungsspiralen zum einen und die veränderte Sachlage polizeilicher Arbeit durch Immigrationsprozesse zum anderen, werden in der hier vorliegenden Studie berücksichtigt. In jüngerer Zeit geriet die Polizei unter vermehrten medialen und gesellschaftlichen Druck. Ausgangspunkt war der durch Polizeigewalt verursachte Tod des Afroamerikaner George Floyd in den USA. Die anschließenden massiven Protestaktionen der Black Lives Matter Bewegung (BLM) breiteten sich international mehr oder weniger intensiv aus und erreichten auch Deutschland. So wurde und wird auch in Deutschland eine kontrovers geführte Debatte zum Thema der Polizeigewalt im Allgemeinen und des strukturellen Rassismus im Besonderen geführt. Vor diesem Hintergrund sehe ich die Relevanz für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik als gegeben an und möchte mit dieser Arbeit einen soziologischen Beitrag leisten. Die Frage nach strukturellem Rassismus im Polizeiapparat bezieht sich in erster Linie auf die Praxis der Kontrolle. Die Thematik wird im Anschluss an die US-amerikanische Kriminologie und Sozialwissenschaft unter dem Begriff des „Racial Profiling“ gefasst (Vgl. Weitzer und Tuch 2002). Da die direkte Übersetzung ins Deutsche aufgrund des geschichtlich belasteten Begriffes problematisch erscheint, werde ich im Folgenden vornehmlich die Begrifflichkeit des Ethnischen Profiling verwenden. In dieser Studie werde ich selektive Kontrollmechanismen der deutschen Polizei soziologisch einordnen und dabei einen Schwerpunkt auf Analysen vor dem Hintergrund der Debatte um strukturellen Rassismus legen. Zunächst werde ich den aktuellen Forschungsstand umreißen und davon ausgehend Anschlussfragen aufwerfen, zu deren Beantwortung ich mit dieser Arbeit beitragen möchte. Im methodischen Teil werde ich darlegen, mit welchem sozialwissenschaftlichen Instrumentarium ich zu welchem Zweck vorgehe und in diesem Zuge das von mir erhobene Datenmaterial beschreiben. Inhaltlich werde ich mit einer systemfunktionalistisch vergleichenden Rahmung der Polizei in modernen Gesellschaften beginnen. Die Funktion und Wahrnehmung von Polizei ist wichtig, um 3 zu einem einordnenden Verständnis derjeweiligen Akteursperspektiven zu gelangen. Daran anschließend werde ich theoretische Perspektiven der Polizeikontrolle entfalten, die vor dem Hintergrund kultursoziologischer Wandlungsprozesse zu begreifen sind. Die theoretische Grundierung der Kontrolle an und für sich bildet den Hintergrund zur folgenden spezifischen soziologischen Analyse selektiver Kontrollmechanismen. In diesem Teil meiner Arbeit werde ich Sequenzen selbstgeführter narrativer Leitfadeninterviews mit Zivilisten und Polizeibeamten auswerten und als ergänzende Quellen mit bereits vorhandenem empirischem Material verknüpfen. Dadurch erhoffe ich mir, empirische Daten interpretativ zu verdichten und eventuell neue Hypothesen zu generieren. Die explizite Forschungslücke, die ich mit meiner Arbeit zu füllen hoffe, bezieht sich in erster Linie auf makrosoziologische Einflussfaktoren der Kontrollsituation. Die Wahrnehmung von Diskriminierung und Rassismus könnte zu einem gewissen Teil durch selbstexkludierende Sozialisationstendenzen, mediale und soziologische Konstruktionsprozesse von Opfer- und Feindrollen-Denken und bewusste Neutralisierungstechniken (Vgl. Sykes und Matza 1958) verzerrt sein. So kann es nicht nur von Seiten der Polizei, sondern auch von Seiten der Zivilisten zu Stereotypenbildung kommen. Die Kontrollsituation ist somit von den beteiligten Akteuren bewusst oder unterbewusst zu einem gewissen Grade vorstrukturiert. Diese Vorstrukturierung wird einen wesentlichen Teil meiner grundlagentheoretischen Analyse der Polizeikontrolle ausmachen. Neben der soziologischen Untersuchung selektiver Kontrollmechanismen und der vorstrukturierenden Konstruktionsprozesse interessiert mich in dieser Arbeit auch der konkrete Ablauf von entsprechenden Situationen. Hierbei möchte ich vor dem makrosoziologischen Hintergrund der Kontrolle möglichst tief in situative Eskalationsprozesse eintauchen und insbesondere den Ausbruch von Gewalt an ausgewählten Beispielen mikrosoziologisch erklären.

2. Gegenwärtiger Forschungsstand

Selektive Kontrollmechanismen der Polizei in Deutschland sind im explizit soziologischen Sinne noch wenig erforscht. Eine Soziologie der Polizei, die recht allgemeine Blickwinkel eröffnet, wurde vor Jahren an der Universität Potsdam erarbeitet. (Vgl. Grutzpalk et al. 2009) Darin geht es vordergründig um die Definition von Begrifflichkeiten und die organisationale Evolution der Polizei in Abhängigkeit gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. In meiner Studie werde ich die dort angesprochene Vergleichsforschung als ersten Bezugsrahmen der weiteren Analysen verwenden. So sei nach Max Weber eine Polizei im okzidentalen Sinne im Orient nicht möglich, (ebd. S. 16) Diesen Faden werde ich dahingehend aufgreifen, um zu zeigen, dass die Polizei in modernen demokratischen Gesellschaften andere Funktionen erfüllt und andere Wahrnehmungsmuster bei der Bevölkerung hervorruft, als es in autokratischen Gesellschaften der Fall ist. So sind auch das Wesen, die Funktion und der Stellenwert von Kontrollen in kulturhistorischer Einbettung zu verstehen. „Die Politik der Inneren Sicherheit fristet bisher ein Schattendasein in der vergleichenden Policy-Forschung. Dennoch ist die Staatstätigkeit in diesem Politikfeld durch große zwischenstaatliche Unterschiede gekennzeichnet, die eine Erklärung erfordern.“ (Lauth et al. 2015 S. 797) Da in derjüngeren Vergangenheit nicht wenige Menschen aus undemokratisch geprägten Gesellschaften nach Deutschland eingewandert sind, ist dieser Bezugsrahmen für die weitere Interaktionsforschung zwischen Polizei und Zivilisten mit Migrationshintergrund von Relevanz. Eben dieser Bezugsrahmen scheint mir in der soziologischen Forschungslandschaft bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben zu sein. Die explizit polizeiwissenschaftliche Forschung beleuchtet schon seit längerem die praktische Arbeit der Beamten. Dabei sind in der deutschen Forschung insbesondere Rafael Behr und Daniela Hunold zu nennen. Behr beschreibt in seinen Analysen eine spezifisch polizeiliche Kultur, die ein Innen und Bewahren und ein Außen und Abwehren definiert. (Vgl. Behr 2006) Diese von den meisten Mitgliedern geteilte Berufskultur, werde in der Kontroll- und Einsatzpraxis relevant, wenn es darum gehe, die eigene Gefahrengemeinschaft gegen Angriffe von außen zu schützen. Loyalität ist dabei ein Schlüsselbegriff der Identitätsbildung und gegenseitigen Absicherung. Hunold referiert in ihren Arbeiten auf die soziale Raumkonstruktion durch polizeiliches Handeln. So reproduziere polizeiliches Handeln Ungleichheit in der Gesellschaft und könne somit zu bewusster oder unbewusster Stereotypenbildung beitragen. Diese Stereotypenbildung beschreibe aber 5 noch keine bewusste Diskriminierung und auch kein rassistisches Vorgehen der Polizisten. Der Polizeiberuf wird als Erfahrungsberuf bezeichnet, der ein berufsimmanentes Misstrauen bedingen kann. (Vgl. Hunold 2017) Zum Thema Ethnisches Profiling werde ich auf den US-amerikanischen Kriminalsoziologen Ronald Weitzer Bezug nehmen. An dieser Stelle muss und werde ich auch auf wichtige Unterschiede zwischen der US-Polizeistruktur und der deutschen Polizeistruktur eingehen, die zeigen, dass die Polizei auch im Vergleich zwischen Demokratien keinesfalls als homogene Einheit zu begreifen ist. Aktuelle repräsentative quantitative Studien zu unterschiedlichen Häufigkeiten des Polizeikontakts je nach Herkunft gibt es in Deutschland nicht. Ein kürzlich abgeschlossenes Forschungsprojekt der Universität Bochum gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund außerhalb von politischen Großveranstaltungen und Fußballstadien häufiger in gewaltsam verlaufende Polizeikontrollen geraten als weiße Bürger ohne Migrationshintergrund. (Abdul-Rahman et al 2020, S.28) Die Wahrnehmung von Rassismus durch die Polizei hänge dabei auch von Diskriminierungserfahrungen der Vergangenheit ab. Inwieweit diese Wahrnehmungen durch andere Faktoren, etwa durch selbstexkludierende Sozialisationsbedingungen oder mediale Mechanismen verzerrt sein können, war jedoch kein Gegenstand der Studie. Schließlich steht zu vermuten, dass der Rassismus­Vorwurf teilweise bewusst oder unterbewusst auch als Strategie der Erklärung inkorporiert sein kann und andere Muster der Erklärung systematisch ausschaltet. Ebenso wenig wurde das eigene Verhalten der mutmaßlichen Opfer ungerechtfertigter polizeilicher Übergriffe berücksichtigt. So mag es Fälle geben, in denen der Rassismus-Vorwurf bewusst als Neutralisierungstechnik (Vgl. Sykes und Matza 1958) genutzt wird, um eigenes Fehlverhalten zu kaschieren. Unmittelbarer Zwang als Ausdruck legaler Gewaltanwendung durch die Polizei geschieht im Regelfall als Aktion der Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen gegen Widerstand seitens des Kontrollierten. Dieser nimmt die körperliche Aktion gegen seinen Willen vermutlich zumeist zwangsläufig als ungerechtfertigt wahr. Dabei könnte auch die menschliche Eigenschaft, eigene Fehler tendenziell zu unter- und die anderer zu überschätzen, eine Rolle spielen. Solche Verzerrungseffekte sind in Dunkelfeldstudien generell angelegt, müssen aber ausführlich reflektiert werden. So kann auch eine medial-diskursive Konstruktion und Reproduktion von Rassismus selbsterfüllende Prophezeiungen gefühlter Diskriminierung begünstigen, worauf ich in dieser Arbeit noch eingehen werde. Ein (noch) nicht repräsentativ quantifizierbares Mehr an Kontrolle und eine subjektiv wahrgenommene Ungleichbehandlung gegenüber weißen Menschen ohne Migrationshintergrund stellt noch keinen objektiv vorhandenen Rassismus dar. Die zahlreichen Facetten polizeilicher Kontrollsituationen machen es, wie ich in dieser Arbeit zeigen werde, äußerst schwierig einen strukturellen Rassismus bei der Polizei anhand der analytischen Betrachtung der Kontrolle zu identifizieren, sofern er denn überhaupt vorhanden ist. Zur gewaltsamen Eskalation von Polizeikontrollen gilt die mikrosoziologische Theorie von Collins als wegweisend. (Collins 2011) Diesen Weg werde ich unter Berücksichtigung makrosoziologischer Theorieansätze am Beispiel der Interaktionsprozesse zwischen der deutschen Polizei und Zivilisten weiterzuentwickeln versuchen. Dabei werde ich auch auf „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ (GLMN; Enzmann et al 2004) eingehen, die in gegenseitiger Beeinflussung mit anderen Variablen wie der sozioökonomischen Lage die spezifische Situation der Polizeikontrolle beeinflussen können. Die übergeordnete Frage lautet also inwiefern anhand der soziologischen Betrachtung der Polizeikontrolle rassistische Strukturen bei der Polizei zu verorten sind oder auch nicht und wie die Wahrnehmung in de Gesellschaft diesbezüglich bestellt ist und welche Rolle dabei kulturelle Faktoren der Sozialisation spielen. Nicht zuletzt ist neben der polizeilichen Berufskultur auch die soziale Konditionierung der beteiligten Akteure als Hintergrund von Eskalationsprozessen zu berücksichtigen.

3. Methodisches Vorgehen und Beschreibung des Datenmaterials

Meiner Arbeit liegt ein interpretativ-verstehendes Forschungsdesign zu Grunde, wobei ich mich ohne methodische Scheuklappen an verschiedenen Instrumentarien der qualitativen Datenanalyse orientiere (Vgl. Mayring 2019, S. 633-648) Unter Einbezug von Interview- und Videodaten möchte ich polizeiliche Kontrollsituationen soziologisch erklären und in ihrem gewaltsamen Eskalationspotential verstehend nachvollziehen. Die Interviews wurden mithilfe eines zuvor anhand aktueller Debatten und der Forschung erarbeiten Leitfadens durchgeführt, der im Anhang dieser Arbeit zu finden ist. Diese wichtigsten Fragen in Bezug auf die mich interessierenden Gebiete stellen das Grundgerüst dar, welches nicht als starre oder gar einengende Suggestion, sondern vielmehr als relativ offen gehaltene Erzählaufforderung zu verstehen ist, die auf konkrete Erfahrungen der Befragten abzielt. (Vgl. Helfferich 2014, S. 676 ff.) Davon ausgehend ergaben sich in denjeweiligen Gesprächsverläufen im Anschluss an subjektive Fallsinnkonstruktionen spontan-flexible Fragen, die den narrativen Charakter der Interviews unterstreichen. Die Interpretation der Daten erfolgt vor dem Hintergrund, dass es keine objektiv messbare Wirklichkeit gibt, sondern vielmehr subjektive Sinnkonstruktionen und deren Interpretationen in die Formulierung von datenbasierten Annahmen und Hypothesenbildungen einfließen. Dem Thomas­Theorem nach erlangen subjektive Sinnkonstruktionen für die Individuen den Status der Objektivität und sind insofern gerade für die soziologische Analyse von dynamischen Situationen wertvoll. (Vgl. Thomas & Thomas 1928, S. 572) Primär befasse ich mich mit der inhaltlichen und mehrdimensionalen Deutung derjeweiligen Situationen. Insofern können meine Sequenzanalysen als zusammenfassend - hermeneutische Erfassung von Sinnstrukturen begriffen werden, wobei die rein subjektive Ebene durch intersubjektive Interpretationen und theoretische Anschlüsse erweitert werden soll. Ich habe dafür die relevanten Interviewpasssagen mithilfe der Analysesoftware MAXQDA transkribiert und anschließend invivo codiert. (Vgl. Kuckartz und Rädiker 2019 S.103 ff.) Aus den Vorüberlungen zur Thematik ergaben sich die drei Kategorien „Kontrollmechanismen“, „Mikrosoziologische Faktoren“ und „Makrosoziologische Faktoren“, die sukzessive durch weitere Codes ergänzt wurden. Die vorab und am Material entwickelten Kategorien, die ich zur Interpretation der Fälle genutzt habe, finden sich mit den zugrundeliegenden Memos im Anhang dieser Arbeit. Zum Zwecke der Gewinnung von Interviewpartnem wandte ich mich zunächst schriftlich an Polizeidirektionen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. 8 Leider bekam ich auf meine Anfragen keine Zusagen, was wohl auch mit der polarisierenden öffentlichen Wahrnehmung der Thematik zum einen und mit organisationstypischen Schließungsmechanismen gegenüber externer Forschung zum anderen zusammenhängt. Von den Behörden wurden die Absagen mit fehlenden Zeitressourcen begründet. Durch einen privaten Kontakt und einem davon ausgehenden Schneeballverfahren konnte ich zumindest zwei (aus drei) verwertbare Interviews mit Bundespolizisten der Führungsebene realisieren. Ursprünglich wollte ich primär Gespräche mit Streifenbeamten führen, da diese noch mehr gegenwartsbezogene praktische Auskünfte zu Kontrollsituationen geben können. Dennoch ergab sich soziologisch interpretierbares Material für die vorliegende Arbeit. Die beiden Gespräche dauerten knapp 41 und knapp 44 Minuten und erfolgten telefonisch. Der Vorteil telefonischer Interviews liegt in der zeitlichen und räumlichen Flexibilität begründet. Außerdem können bei sensiblen Themen Interviewer-Effekte geringer ausfallen, als dies bei direkten Gesprächen von Angesicht zu Angesicht zu befürchten wäre. Unter diese sensiblen Themen fallen auch Gewalterfahrungen, zu denen keiner meiner Gesprächspartner konkretere Aussagen machen konnte oder wollte. Die Interviews mit Zivilsten mit Migrationshintergrund wollte ich zunächst mittels der Kontaktierung von Sozialarbeitern als Kontaktpersonen realisieren. Aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen war es jedoch äußerst schwierig Gesprächspartner zu finden. Ein Sozialarbeiter konnte für mich ein Gespräch mit einem gambischen Asylbewerber organisieren. Die anderen Gesprächspartner organisierte ich erneut durch die Nutzung persönlicher Kontakte. So führte ich insgesamt sieben Gespräche mit Bürgern verschiedener sichtbarer Migrationshintergründe, darunter mit einem Sozialarbeiter. (Gambia, Syrien (3), Kosovo, Türkei, Nigeria; Dauer 20 bis 55 Minuten) Diese Auswahl ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass weiß-mitteleuropäisch aussehende Menschen kaum über Rassismus-Erfahrungen mit der Polizei berichten werden können. Der Migrationshintergrund der von mir befragten Bürger bezieht sich auf die Eltern und eigene Einwanderung nach Deutschland. Alle Gespräche wurden mit einem Olympus- Aufnahmegerät aufgezeichnet, in der Folge anonymisiert und nach der sozialwissenschaftlichen Auswertung vernichtet. Im Vorfeld der Interviews wurden die Gesprächspartner über die grundlegende Thematik des Forschungsvorhabens informiert und Unterzeichneten eine Datenschutzerklärung. Da aufgrund der organisationalen Schließungsmechanismen und der Corona-Pandemie eine methodisch breiter gestreute Stichprobe leider nicht möglich war, entschied ich mich dazu, meine Arbeit mehr theoretisch, denn analytisch auszurichten. Insofern sind die ausgewählten sequenzanalytisch behandelten Datenausschnitte der von mir geführten Interviews als ergänzende Quellen der Studie zu verstehen, die im Einzelnen Anhaltspunkte und Belege für bereits Bekanntes, aber auch für Neues liefern sollen. Eine vollumfängliche Studie im Sinne der Grounded Theorie nach Glaser und Strauss mit kontrastierenden Fällen bis hin zu einer theoretischen Sättigung war aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten im Zuge der Corona-Pandemie, aber auch wegen der für diese Abschlussarbeit knapp bemessenen Zeitkapazitäten nicht möglich. Einen meine Arbeit komplettierenden Schwerpunkt habe ich daher auf die Analyse von Videos gelegt. So analysiere ich im Verlauf dieser Arbeit YouTube-Videos eskalierter Polizeieinsätze. Die grundlegende Architektur meiner Studie baut auf makrosoziologischen Überlegungen der Vorstrukturierung der Interaktionssituation zwischen Polizei und Zivilisten auf, wobei es im Detail um Zivilisten mit Migrationshintergrund gehen soll. Diese makrosozioloschen Überlegungen bilden den Hintergrund der spezifischen mikrosozioloschen Analyse der Eskalationsdynamiken polizeilich-zivilistischer Interaktionssituationen vor dem Hintergrund der Debatte um strukturellen Rassismus. Dafür werde ich methodisch auf einen Ansatz von Braunsmann und Wagner zurückgreifen, der es ermöglicht (...) „spontan-authentische Liveaufnahmen untersuchbar zu machen“ (Braunsmann, Wagner 2018, S.l) In diesem Sinne werde ich Videos mit Hilfe einer leicht abgewandelten Form des von Braunsmann und Wagner entwickelten SPLINOS(spontan-authentische Liveaufnahmen Notationssystem) analysieren, die entsprechende Situationen zeigen und dabei den Schwerpunk auf die konkreten sozialen Handlungen legen und allenfalls grob kontextual auf die Aufzeichnenden selbst eingehen.

4. Polizei in modernen Gesellschaften: Funktion und Wahrnehmung

Das Verständnis der Funktion einer Organisation ist von fundamentaler Bedeutung, will man die prozesshafte Vollzugswirklichkeit der von ihr ausgehenden sozialen Handlungen soziologisch erklären. In der Spezifik der theoretisch-analytischen Soziologie der Polizei müssen verschiedene Perspektiven berücksichtig werden, welche die Komplexität der Thematik verdeutlichen. Die Staats- und Gesellschaftsform eines Landes wirkt sich auf die Struktur und Arbeitsweise der dort arbeitenden Polizei aus und konstruiert dementsprechend das Bild der Polizei bei den Zivilisten, die ihrerseits durch die sie umgebende soziopolitische Umwelt Prägung erfahren. Darüber hinaus und damit durchaus im Zusammenhang stehend können spezifische Faktoren der Sozialisation und medialer Mechanismen Polizeifeindbildkonstruktionen begünstigen, die die Situation der Polizeikontrolle vorstrukturieren. Diese Perspektiven müssen vor dem Hintergrund der Einwanderung aus Regionen des Nahen Ostens und Afrikas als Basis des Verstehens besonders berücksichtig werden, wenn darauffolgend Polizeikontrollen als Solches in ihrer Wirkung auf die Kontrollierten, ihrer Selektivität und in ihrem gewaltsamen Ablauf soziologisch analysiert werden.

4.1 Die Rolle der Staatsform

Die Funktion und Wahrnehmung von Polizei in modernen Gesellschaften ist für das Verständnis polizeilicher Kontrollsituationen, deren Legitimität sowie deren Ablauf von besonderer Wichtigkeit. Die Polizei kann als systemfunktionalistischer Bestandteil moderner Gesellschaften und Ausdruck (innerstaatlicher Ordnungsmacht begriffen werden. Die Funktion der Integration der Gesellschaftsmitglieder mittels der Festigung eines anerkannten Werte- und Normenkanons ist dabei zentral. Normen können als in Regeln gegossene Werte begriffen werden, die je nach Grad der juristischen Ausformung strafrechtlich relevant werden. Nicht alle Normen sind für die Polizeiarbeit von Interesse. „(...) Normen dienen der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen (...)“ (Luhmann 2005, S. 135) Soziales Verhalten kann niemals mit absoluter Gewissheit vorausgesagt werden und in der Setzung einer strafrechtlich relevanten Norm ist die Möglichkeit des Bruchs bereits mitgedacht. Insofern die Norm auch nach ihrem Bruch noch über allgemeine Geltung verfügt und im Bedarfsfälle von der Polizei um- und durchgesetzt wird, ist sie stabil. Die Polizei übernimmt in modernen Gesellschaften also sanktionierende und damit normstabilisierende Aufgaben. Zu diesem Zwecke der Erfüllung und Durchsetzung der verbindlichen Normen des Gesetzgebers verfügt sie über das Gewaltmonopol im Inneren des Staates. (Vgl. Wilz 2012, S. 114/115) Die Gewaltanwendung an und für sich muss genauso wie die Polizei als Solches in kulturhistorischer Entwicklung betrachtet werden, wobei Kultur nicht statistisch, sondern stetigen Wandlungsprozessen unterworfen ist. So ist die Organisation Polizei selbst in ihrer historischen Genese ein Ausdruck von Macht und der Bildung von Staatswesen, die Kollektive in spezifische Territorien umschließen. In diesem Sinne kann und muss die Polizei in modem-demokratischen Gesellschaften von der Polizei in tendenziell vormodern-autokratischen Gesellschaften unterschieden werden. Sowohl die Polizei als auch die Zivilisten sind von der sie umgebenden Kultur und der politischen Herrschaftsstruktur beeinflusst. „Es gibt (...) eine wechselseitige Interaktion von Polizei und Gesellschaft: sie bedingen einander (...). Die jeweiligen Kulturen bestimmen, wie sie Polizei verstehen und legitimieren.“ (Grutzpalk et al 2009 S. 167) Auch auf deutschem Territorium war die Polizei einst eine reine Staatspolizei, die primär Aufgaben des Schutzes der Mächtigen und der Kapitalbesitzenden Klassen erfüllte. Die Veränderung systempolitischer Machtverhältnisse wirkt sich auf die gesamte Gesellschaft und somit auch auf die Polizei als Exekutivorgan aus und dürfte 12 besonders im Grad der Anwendung von Gewalt sichtbar werden. Der demokratische Frieden nach Kant ist auch in der inneren Durchsetzung von Staatsinteressen in modernen Gemeinwesen erkennbar und definiert sich in einer Anhebung der exekutiven Hemmschwelle für Gewalt, die juristisch im Verhältnismäßigkeitsprinzip verankert ist. Im polizeilichen Umfeld wird rechtsdurchsetzende Gewalt als unmittelbarer Zwang bezeichnet, der die polizeiliche Maßnahme gegen den Willen des sich Wehrenden zur Vollendung bringen soll. Dieser unmittelbare Zwang obliegt einer gesetzlichen Rahmung, die unverhältnismäßige Polizeigewalt ilegalisiert. Das bedeutet, „(...) dass die Grundrechtsschranken einerseits einen legitimen Zweck verfolgen und andererseits geeignet, erforderlich und zumutbar bzw. verhältnismäßig im engeren Sinne sein müssen.“ (Koutnatzis 2011, S. 36) Derartige Prinzipien sind in ihrer praktischen Berücksichtigung in Demokratien deutlich wirksamer als in Autokratien und begründen eine juristisch-staatliche Eingriffsbeschränkung, die praktisch allerdings nicht immer eingehalten wird. Auf die Nichteinhaltung der Eingriffsbeschränkung, die sich in Form illegitimer Polizeigewalt äußert, werde ich in dieser Arbeit an anderer Stelle noch spezifischer eingehen. Mit Demokratisierung und Modernisierung verändert sich auch die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Konfliktbewältigung. So hat Gewalt als Mittel der Konfliktbewältigung im Prozess der demokratischen Modernisierung an Legitimation eingebüßt. Für diesen Prozess dürfte in besonderem Maße die Emanzipationsbewegung mit verantwortlich sein, da erwiesenermaßen eine höhere politisch-gesellschaftliche Inklusion von Frauen zivilisierend auf die Gesamtgesellschaft einwirkt und das Risiko für Bürgerkrieg erheblich mindert. (Vgl. Hudson 2012) Die Illegitimität von Gewalt wird in modern-demokratischen Gesellschaften weitgehend auch im Sozialisationsprozess in Schule und Elternhaus vermittelt. Solche Entwicklungen schlagen sich zwangsläufige auch im Wesen der Polizei nieder, da deren Mitglieder aus der Gesellschaft rekrutiert werden. Die Evolution der Polizei im demokratisch-modernen Sinne wandelte die praktische Arbeit der Beamten darüber hinaus dahingehend, dass sie fortan auch immer häufiger in konfliktbehaftete Lebensbereiche der Bürger eingriff, die für eine Staatspolizei schlichtweg nicht von Interesse sind. Der Wandel von einer reinen Staatspolizei zu einer Staats- und Bürgerpolizei ist über Zeit gesehen tendenziell mit einem höheren Grad der Ausdifferenzierung polizeilichen Handelns verbunden. (Vgl. Wilz S.115- 117) Damit einher gehen beispielsweise höhere Standards der Ausbildung, deren Bestandteil eine kommunikativ-deeskalierende Kompetenzerweiterung im Vergleich zum polizeilichen Handeln in automatischen und/oder vormodernen Staaten darstellt. Allerdings kann es auch zwischen Demokratien Abstufungen der polizeilichen Ausbildung und der Gewaltakzeptanz geben. Ein Vergleich der US-Polizei mit der deutschen Polizei zeigt dies deutlich. In Deutschland sind die schulischen Anforderungen an Bewerber im internationalen Vergleich relativ hoch. In der Ausbildung selbst geht es „(...) längst (...) nicht mehr primär um Zugriffstechniken und Verkehrskontrollen. Eine umfangreiche rechtliche und politische Bildung, (...) Psychologie und Gesprächstraining [und] interkulturelle Kompetenzen (...) stehen heute auf dem Lehrplan.“ (Jasch 2019, S. 234) Die Ausbildung der Landespolizisten wird von den Bundesländern zwar punktuell unterschiedlich ausgestaltet, kann insgesamt aber im Rahmen einer Akademisierung der Polizeiausbildung begriffen werden, da zumindest der Realschulabschluss, häufiger aber die Fachhochschulreife oder das Abitur verlangt werden. (Vgl. Jasch 2019, S.233). Für Baden-Württemberg kommt Sauerbaum nach Analyse qualitativer Daten zu „dem Schluss, dass die Polizei (...) die Thematik „Polizei und Fremde“ auf vielfältige Weise in der Ausbildung behandelt“. (Sauerbaum 2009 S.83) Im Vergleich demokratischer Staaten ist die Polizeiausbildung in den USA dagegen auffallend kurz und die (schulischen) Voraussetzungen für Bewerber gering. (Vgl. Haberfeld 2016, S. 18) Vor dem Hintergrund, dass höhere Bildung tendenziell zu höherer Aggressionskontrolle führt, ist dies ein wichtiger Befund im Zusammenhang meines Forschungsinteresses. So scheint Polizeigewalt in den USA deutlich häufiger vorzukommen als in Deutschland und kann insofern sicherlich auch auf die andersartige Ausbildungsstruktur und Kandidatenauswahl zurückgeführt werden. Die Unterschiede polizeilicher Kontroll- und Einsatzpraxis können im Anschluss an diese Befunde zwischen Demokratien erheblich sein, dürften aber dennoch zwischen Demokratien und Autokratien deutlicher ausfallen. Die Polizeien in autokratischen Staaten sind aufgrund anderer gesetzlicher Befugnisse und fehlender demokratischer Kontrolle mutmaßlich wesentlich gewalttätiger als in Demokratien. Max Weber ging davon aus, dass eine rational-säkular arbeitende Polizei im westlich-demokratischen Sinne im Orient unmöglich sei, da sich jene Gesellschaften keinem in dieser Weise organisierten staatlichen Gewaltmonopol unterwerfen würden. (Vgl. Ellenbeck 2006, S.108) Tatsächlich dürften noch gegenwärtig die meisten Polizeien in orientalisch­islamischen und afrikanischen Ländern als Staats- und/oder Religionspolizeien zu verstehen sein, die jenseits ethnisch konnotierter machtpolitischer und theologisch- traditionaler Fragestellungen wenig in das Leben der Bürger eingreifen, die ihrerseits Konflikte eher familiär denn offizial-juristisch orientiert lösen. (Vgl. Pawelka 2002) Die dortigen Polizeiapparate dienen primär der Machtsicherung der Herrschenden Gruppierungen und der Durchsetzung islamischer Rechtsnormen. Diese grundlegende Unterschiedlichkeit der Polizeilichen Organisations- und Funktionsstrukturen bestätigten auch meine Interviewpartner. Die soziologisch-politologische Forschungslandschaft bezüglich der vergleichenden Polizeiforschung in Autokratien im Allgemeinen und orientalisch-islamischen und afrikanischen Staaten im Besonderen ist eher karg. Daher möchte ich an dieser Stelle einen subjektiven Erfahrungsbericht in meiner Arbeit mit einbeziehen. Der syrische Journalist Yahia Alaous gewährte im Rahmen einer Kolumne für die Süddeutsche Zeitung (SZ) Einblicke in sein Leben in Deutschland. In einem dieser Beiträge erläuterte Alaous seine Erfahrungen mit der Polizei und bestätigte mit seiner Einschätzung der Praxis die von mir beschriebenen Ordnungsprinzipien in Abhängigkeit der systemisch­staatlichen Architektur eines Landes. Demnach sei die syrische Polizei sehr schnell zugegen, wenn es um die Einschüchterung oder gar Niederschlagung der Opposition gehe, sei aber auf der anderen Seite eher zurückhaltend, wenn es um Alltagskonflikte der Bürger (Familienfehden; Häusliche Gewalt) gehe. (Vgl. Alaous 2020) Diese Ausführungen sind deshalb wichtig, weil in den vergangenen Jahren relativ viele Menschen aus Regionen nach Deutschland eingewandert sind, in denen das Staatswesen undemokratisch ist und die Polizei primär die Schutzmacht der Staatsmacht darstellt. Wie bereits angerissen begreifen sich Menschen aus Regionen wie dem Nahen Osten oder Afrika zudem nicht selten primär als Angehörige von Stämmen und/oder großen Familienverbänden und eben nicht von Staaten. Die Akzeptanz von Rechtsnormen ist mitunter entweder familiär und/oder theologisch begründet, das soziale Handeln in weberscher Lesart eher wert-, denn zweckrational orientiert. Der syrischstämmige Politologe Bassam Tibi geht davon aus, dass auch in der Gegenwart „(...) eine wertrationale Vergemeinschaftung in Form des Stammes­Staats das entscheidende Charakteristikum der orientalischen Gesellschaften sei“ (Orywal 2002, S.59) Politische Machtfragen sind häufig Fragen ethnischer Zugehörigkeitskonstellationen. Wertrational meint, dass die „(...) Individuen ihre Handlungen ausschließlich an den Erfordernissen derjenigen Gemeinschaft ausrichten, deren Mitgliedschaft sie qua Geburt erworben und durch Sozialisation einen affektiven Bezug zu dieser Gemeinschaft entwickelt haben“. (Orywal 2002, S.58) Die Auswirkungen ethnischer Zugehörigkeitskonstellationen auf Polizeifeindbildkonstruktionen werde ich im folgenden Teilkapitel expliziter darlegen. Erfahrungen mit einer gewalttätigen Staatspolizei, die zudem potenziell einen Staat repräsentiert, dem man sich identitär nicht zugehörig fühlt, können die Wahrnehmung von Menschen nachhaltig beeinflussen. Die erfahrungsbasierte, tendenzielle Polizeiaversion stammesgesellschaftlich sozialisierter Menschen kann somit auch polizeiliche Kontrollsituationen in Deutschland vorstrukturieren. „Oftmals herrscht bei Angehörigen ethnischer Minderheiten ein grundlegendes importiertes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen vor, welches aus negativen Erfahrungen mit der Polizei im Heimatland resultieren kann.“ (Meier 2020 S.143) Dies kann einerseits Angst vor der Polizei begründen, die zu unüberlegtem Handeln verleitet, kann aber auch Respektlosigkeit bis hin zur eigenen Gewaltanwendung begünstigen. In Gesellschaften, in denen modern-demokratische Entwicklungen der Nicht-Akzeptanz von Gewalt zur Bewältigung von Konflikten nicht oder nur marginal stattgefunden haben, gilt Gewalt auch heute noch als Teil der geschlechterrollenbasierten Männlichkeitskonstruktion und -Demonstration. Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen (GLMN; Enzmann et al 2004) im Kontext des Erhalts einer kulturspezifisch definierten Verteidigung der „Ehre“ und des Kampfes um Anerkennung können im Spannungsverhältnis zur Autoritätsbewahrenden Rollenauslegung polizeilicher Akteure Konfliktpotentiale erhöhen. Auf diese Aspekte werde ich im Verlaufe der Arbeit noch näher eingehen. Bezüglich der Funktion und Wahrnehmung von Polizei möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass die kulturell unterschiedliche Beurteilung von Gewalt und Zugehörigkeit verschiedene Auswirkungen haben kann. Die tendenziell gewaltsensibel modem-demokratisch sozialisierte Gesellschaft nimmt polizeiliches Handeln anders war, als es bei Teilen der tendenziell archaisch-gewaltadaptiert sozialisierten Gesellschaft der Fall sein mag. (Wobei natürlich Mischformen und Abstufungen Vorkommen) Deeskalierendes polizeiliches Handeln kann von Teilen der Gesellschaft als vernunftbasierte und lösungsorientierte Arbeit begriffen werden, von anderen Teilen der Gesellschaft aber auch als unmännliche Schwäche wahrgenommen werden, die zur Untergrabung polizeilicher Autorität einlädt. Wie die Polizei die Pluralität der Gesellschaft wahrnimmt und welche eigenen wahrnehmungsrelevanten Konstruktionen sie entwickelt ist für das Verständnis eskalierender Polizeikontrollen ebenso wichtig wie die Wahrnehmung der Polizei durch die Bürger selbst. Die Metapher der Polizei als Freund und Helfer scheint in Deutschland durchaus über einen gewissen Geltungsanspruch zu verfügen. So hegen laut Allbus 2018 72,8 Prozent der Bundesbürger großes bis sehr großes Vertrauen in die Polizei. Geringes bis gar kein Vertrauen in die Polizei besteht demnach nur bei einer Minderheit von 11,6 Prozent. Eine Umfrage durch Infratest Dimap für das Politmagazin Report München bestätigt diesen Befund. Demnach haben sogar 82 Prozent der Grundgesamtheit (1048) großes bis sehr großes Vertrauen in die Polizei. (ARD-Politikmagazin "Report München" 2020) Im Vergleich zu anderen stattlichen Institutionen ist dies ein sehr hoher Wert. Die Polizei wird also von der Mehrheit der Bürger in Deutschland als vertrauenswürdig wahrgenommen, was bei einem strukturell vorhandenen Problem des gewaltsamen Machtmissbrauches kaum der Fall sein dürfte. Allerdings müssen diese empirischen Belege differenziert betrachtet werden. So fand bei den Umfragen keine gesonderte Berücksichtigung nach Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund statt. Es kann angenommen werden, dass das Vertrauen in diesem Sinne variieren und Ausdruck negativer Erfahrungen sein kann. Erfahrungen mit polizeilicher Gewalt und Respektlosigkeit bis hin zu offenem Rassismus können das Bild der Polizei bei den betroffenen Bürgern nachhaltig trüben. Enke und Asmus geben zu bedenken, „dass insbesondere türkische Jugendliche und junge Erwachsene vergleichsweise mit deutschen, italienischen und griechischen jungen Menschen ein deutlich geringeres Vertrauen in die deutsche Polizei als Institution bekunden“. (Asmus und Enke 2015, S.17) Wie groß das dahingehende Problem ist und ob es gar strukturell zu nennen ist, kann in dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden. Neben einer objektiv erfahrungsbasierten Polizeiabneigung können andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen und die Polizeikontrollsituation mit vorstrukturieren. Auf diese wahrnehmungsrelevanten Konstruktionen von Feindbildern und Opferrollen werde ich im Folgenden näher eingehen, bevor im Anschluss daran die Kontrolle an und für sich soziologisch definiert und dann spezifisch analysiert wird.

4.2 Wahrnehmungsrelevante Polizeifeindbildkonstruktionen

Ich habe darzulegen versucht, dass die staatlich-gesellschaftliche Ordnung von entscheidender Bedeutung für die systemische Rolle und für das individuelle Erleben der Organisation Polizei ist. Im Hinblick auf die dieser Arbeit zugrunde liegende wissenschaftliche Rahmung werde ich im Anschluss daran nun auf spezifische wahrnehmungsrelevante Polizeifeindbildkonstruktionen eingehen, die Interaktionsprozesse zwischen Polizeibeamten und Zivilisten möglicherweise vor strukturieren. Zunächst einmal gibt es eine gesellschaftliche Gruppe, die logischerweise die Polizei als feindlich interpretiert: Delinquenten. Wer beispielsweise in den Bereich der Betäubungsmittelkriminalität involviert ist, wird seine geschäftlichen Transaktionen bevorzugt ohne polizeiliche Intervention abwickeln wollen. Hier kann soziologisch von einer klar antagonistischen sozialen Wirklichkeit ausgegangen werden. Die Polizei ist insofern der natürliche Feind des Normbrechers. Allerdings gibt es auch Bürger, die ohne Normbruch negative Erfahrungen mit der Polizei sammeln und diese Erfahrungen Abneigung bis hin zu Feindschaft begründen können. Über diese offensichtliche Konstellation hinaus, können aber auch andere Einflüsse eine Polizeifeindbildkonstruktion begünstigen. Im linksextremen Spektrum ist der Ausspruch A.C.A.B. (All Cops are Bastards) weit verbreitet und beschreibt die Annahme, alle Polizisten seien in letzter Konsequenz als verlängerte Arme kapitalistischer Ausbeutungsstrukturen zu verstehen. Ein solches Denken wird tendenziell durch polizeiliche Schutzmaßnahmen kapitalintensiver Großprojekte wie Stuttgart 21 oder Waldrodungen zum Kohleabbau gestützt und reproduziert. Für die Spezifik dieser Arbeit möchte ich im Folgenden aber Feindbildkonstruktionen interkultureller Lesart besonders berücksichtigen. Die bereits erwähnten Aspekte der Sozialisation und des wahrnehmungsrelevanten Referenzrahmens aus den Herkunftsländern können Interaktionssituationen vorstrukturieren und somit in ihrem Ablauf beeinflussen. Die Konstruktion der Polizei als Feindbild kann sowohl durch intrafamiliäre Sozialisationsprozesse, den Freundeskreis als auch den unreflektierten Konsum medialer Empörungsspiralen bedingt sein. Der Begriff des Rassismus unterliegt im deutschen Kontext einer gewissen Inflation, die auch durch bewusstes und unterbewusstes Opferrollen-Denken verstärkt werden kann. So liegt etwa der modernen Religionskritik in Deutschland auf den Islam bezogen eine latente Angst vor Rassismusvorwürfen zu Grunde. Das entsprechende Narrativ des „antimuslimischen Rassismus“ wird dabei strategisch von Islamisten genutzt, um eine 18 Opfer-Täter Struktur zu schaffen, die eine „Wir gegen die Anderen“ Analogie produziert. Islamisten nutzen das Internet als Propaganda-Plattform, um die Selbst- Viktimisierungjunger Muslime zu befördern und in Feindseligkeit gegen den Westen zu transformieren. Ein Beispiel für eine solche bewusste Konstruktion von Opfer­Denken, das die kommunikative Kraft der Feinbildung illustriert, ist der »Nicht ohne mein Kopftuch« Twitter-Hashtag. (Schmitt 2019) Islamisten suggerierten mit dieser Aktion, dass der Westen jungen Muslima ihre Kultur verbieten und sie in rassistischer Art und Weise ausgrenzen wolle. Die stark moralisierenden Kommentare der Empörung über angebliche Fälle von Diskriminierung kopftuchtragender Frauen stammten hauptsächlich von der islamistischen Gruppierung »Generation Islam«. Die strategische Nutzung der Opferrolle scheint Islamisten in Deutschland besonders leicht zu fallen, da die Identitätskonstruktion junger Muslime nicht selten auf einer bewussten Eigen-Ethnisierung in Abgrenzung zum „Deutschen“ basiert. Diese bewusste Tendenz der sich selbst von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzenden Kultursegregation deutet sich beispielsweise auch in der relativ weit verbreiteten Nutzung des zumeist als Ethnophaulismus genutzten Begriffes „Alman“. (türkisch für Deutscher) an. Empirische Befunde bestätigen relativ starke Segregationstendenzen bei türkischstämmigen Bürgern. (Vgl. Schacht et al S.452-455) Interethnische Freundschaftsbeziehungen und interkulturelle Partnerschaft mit Deutschen scheinen bei orientalisch-islamisch geprägten Migranten deutlich seltener vorzukommen als es bei anderen Einwanderergruppen der Fall ist. „In Europa deutet sich an, dass insbesondere Türkei- oder Marokkostämmige Schüler stärkere Vorlieben für Personen der gleichen ethnischen Herkunft haben als Einheimische oder Schüler aus anderen Herkunftsländern“. (Carol und Leszcesnky 2019, S. 5) Dies hängt zunächst einmal sicherlich mit Homophilie zusammen, also dem Umstand, dass Menschen sich eher an das halten, das ihrem eigenen, engen Umfeld ähnelt, ihnen insofern Sicherheit bietet. Jene Homophilie äußert sich in stammesgesellschaftlich und stark religiös geprägten Kulturen in einer besonderen Intensität, da es um den Erhalt des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen geht. „Menschen aus Ländern mit einer muslimischen Mehrheit heiraten am seltensten außerhalb ihrer Gruppe“. (Carol und Leszcesnky 2019, S.7) Diese Tendenzen soziokultureller Segregation hängen teilweise mit entsprechenden Gelegenheitsstrukturen und Ausgrenzungserfahrungen zusammen, können aber auch als Hinweis bewusster Eigen-Ethnisierung und innerkultureller Schließung gedeutet werden. Innerkulturelle Schließung geht zwangsläufig mit Abgrenzung einher. Abgrenzung bedeutet längst noch keine Feindschaft, kann zumindest aber ein Baustein derselben und als Solches unter gegebenen Umständen für sozialpsychologische Prozesse der Feindbildkonstruktion von besonderer Bedeutung sein. Es „(...) wurde festgestellt, dass exklusive Identitäten in Konfliktszenarien gewaltfördemd und inklusive Identitäten gewaltmindernd sein können. „(Gold 2019, S.30) Tendenzen der eigenen kulturellen Segregation und der Selbst-Ethnisierung in Abgrenzung zur teilweise bewusst oder unterbewusst feindlich interpretierten „deutschen“ Mehrheitsgesellschaft können durch mediale Mechanismen verstärkt und reproduziert werden und insofern für Kontaktsituationen mit der Polizei Bedeutung erlangen. Wie Wolfgang Frindte in seiner sozialpsychologisch konnotierten Medienanalyse zeigt, ist beispielsweise das Fernsehen durchaus als Medium anzusehen, das Feindbilder und Opferrollen konstruieren kann. (Vgl. Frindte 2013, S. 158 ff) Frindte analysierte Fernsehbeiträge von deutschen, arabischen und türkischen Sendern hinsichtlich der Darstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen als Täter und Opfer. „In den untersuchten Beiträgen werden muslimische Akteure senderübergreifend überwiegend als Opfer dargestellt“. (Frindte 2013, S. 165) Die Darstellung von Nicht-Muslimen geht in die andere Richtung. „Vor allem in den deutschen und den arabischen Sendern werden die westlichen Protagonisten vornehmlich in Täterrollen bzw. als Aggressoren dargestellt.“ (Frindte 2013, S. 165) Da Fernsehen und Internet als wichtigste Informations- und Meinungsbildungsquellen der Moderne anzusehen sind, ist eine entsprechende Beeinflussung nicht zu unterschätzen. Im Anschluss an die Befunde von Frindte ist es nicht abwegig, die deutsche Polizei als „westlichen Akteur“ zu interpretieren, der medial eher als Feind, denn als Freund und Helfer inszeniert wird. Nach dem durch Polizeigewalt verursachten Tod des Afroamerikaners George Floyd in den USA entbrannte auch in Deutschland eine kontroverse Diskussion um Rassismus und Machtmissbrauch im Polizeiapparat. Die mediale Berichterstattung wird von vielen Polizisten, so auch von meinen polizeilichen Interviewpartnem, als einseitig und generalisierend empfunden. Da Medien ihrer Eigenlogik folgend auf die Vermarkung von „schlechten“ Nachrichten angewiesen sind, können die Wirklichkeit stark verzerrende Bilder entstehen. Konkret stand die Polizei in Folge der international expandierenden BLM-Demonstrationen immer wieder im Mittelpunkt einer stark generalisierenden Kritik. Die große Unterschiedlichkeit der US-amerikanischen und deutschen Polizeistruktur schien dabei wenig reflektiert worden zu sein. Die mediale Zuspitzung von Missständen ohne Verhältnismäßigkeit kann auf Medienkonsumenten einwirken und deren Bild von der Polizei beeinflussen. Beispielsweise steht zu vermuten, dass die mediale Verarbeitung des Lageberichts des Innenministeriums zu rechtsextremistischen Einstellungen in den Sicherheitsbehörden eben solchen Mechanismen folgte. Der Lagebericht gibt Zahlen zu Verdachtsfällen im Zeitraum von 2017 bis 2020 wieder. Demnach gab es im Berichtszeitraum auf Länderebene 319 Verdachtsfälle (bei etwa 276.000 Mitarbeitern) und auf Bundesebene 58 Verdachtsfälle (bei etwa 109.000 Mitarbeitern). (Bundesamt für Verfassungsschutz 2020) Ein solcher Lagebericht bietet Medien für ihre Berichterstattung breiten Spielraum der strategischen Zuspitzung. Die Zahlen könne ohne Relationierung als Beiwerk emotionalisierender Fallbeschreibungen verwendet werden. Die prozentuale Relation, die äußerst gering ist, könnte selbst wiederum relativiert werden, in dem auf ein mutmaßlich breites Dunkelfeld verwiesen wird. Eine Nutzung der prozentualen Relation zur Entschleunigung der Empörung ist tendenziell nicht im Sinne medialer Verwertungslogiken. Eine umfassende Medienanalyse, die innerhalb dieser Arbeit nicht möglich ist, könnte zu Tage fördern, inwieweit Relationen beachtet oder nicht beachtet und Feindbilder mithilfe bestimmter Begrifflichkeiten konstruiert oder zumindest gestützt und reproduziert werden. Medien sind ihrer Eigenlogik nach auf die Inwertsetzung von Problemen angewiesen. Diese Inwertsetzungslogik kann Neutralität und Objektivitätjoumalistischer Inhalte beeinträchtigen und das auch bei Zeitungen, die für seriösen Qualitätsjournalismus stehen. Journalistische Gütekriterien dürften bei sozialen Medien tendenziell deutlich weniger Beachtung finden und sich eher in verkürzenden Techniken der Empörungskommunikation ergießen. Die Schlagzeilen werden eher selektiv übernommen und emotional verdichtet, denn aus verschiedenen Blickwinkeln interpretiert. Bilder ersetzen somit zusehends Argumente, Emotionen ersetzen rationale Reflektion. Diesen Mechanismus der Moderne hat Giovanni Sartori im Rahmen des Fernsehens als eine Wandlung des Homo Sapiens zum „Homo videns“ beschrieben. “Das Fernsehen produziert Bilder und vertilgt Begriffe. So lässt es unsere Abstraktionsfähigkeit verkümmern und mit ihr unsere Fähigkeit des Verstehens.“ (Sartori 1997, S.43) Der die Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit reduzierende Mechanismus des Fernsehens dürfte im digitalen Raum sozialer Medien noch stärker ausfallen, da eine professionelle journalistische Einordnung der Bilder seltener stattfmdet. Derart angereicherte Empörungsspiralen haben das Potential an der Polizeifeindbildkonstruktion mitzuwirken. Kurze Videosequenzen, die einen angeblichen oder auch tatsächlichen Machtmissbrauch der Polizei zeigen, gehen viral und werden wahrscheinlich nicht selten ohne tiefergehende Reflektion der Gesamtthematik interpretiert. Hobbyjoumalisten auf sozialen Plattformen betreiben eher die Propagierung der eigenen Meinung, denn der objektiven Information und setzten diese in das entsprechende Licht. Bei den Aufrufen zu BLM-Demonstrationen wurde mutmaßlich selten darauf hingewiesen, dass die Polizei nicht als homogene, weltumspannende Organisation zu begreifen, sondern vielmehr im nationalen Kontext zu betrachten ist. Wer sich in entsprechenden digitalen „Filterblasen“ aufhält und von einseitigen unreflektierten Informationen beeinflusst ist, wird die Polizei in einer dementsprechenden Art und Weise wahrnehmen. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in diesem Kapitel kann angenommen werden, dass die Polizei von Teilen der multikulturellen Gesellschaft tendenziell als Instrument der „deutschen“ Mehrheitsgesellschaft und eines Staates interpretiert wird, von der man sich selbst bewusst abgrenzt und demgegenüber man keine Loyalitätsbeziehung verspürt. (Vgl. Enke und Asmus 2016, S. 16) Bewusste eigene Abgrenzung kann mit Vorannahmen über die Gesinnung des Gegenübers einhergehen. Eine respektlose Behandlung durch Polizisten, die nicht der eigenen Ethnie angehören, wird von Menschen, die ihre Identität primär über ethnische Zugehörigkeit definieren und sich dementsprechend von anderen abgrenzen, vermutlich schneller als rassistisch empfunden, als es die objektive Betrachtung der Situation zulassen würde. So mag es Vorkommen, dass die schlechte Behandlung durch den „Feind“ auf die eigene opferbehaftete Ethnische Konstruktion zurückgeführt wird, die jedoch für den so interpretierten „Feind“ vielleicht gar keine Rolle gespielt hat. Der Rassismus-Vorwurf kann unabhängig davon fallweise auch im Anschluss an Sykes und Matza als Neutralisierungstechnik begriffen werden, welche die eigene Schuld bewusst verschleiern soll. (Vgl. Lüdemann, Ohlemacher 2002, S. 62) Dies wäre dann als Strategische Viktimisierung des Selbst zu verstehen, die der Beschuldigung des anderen, in diesem Falle des Polizisten, dient. (Vgl. dazu Reinhardt 2020) Wie weit verbreitet eine die eigene Schuld verschleiernde Kommunikationsstrategie des Rassismus-Vorwurfes ist, dürfte empirisch schwer erforschbar sein. Hauptsächlich sollte aus der Lektüre dieses Kapitel aber klar werden, dass soziokulturell und medial gestützte Polizeifeindbilder entstehen können, die die Kontrollsituation makrosoziologisch vorstrukturieren. Die Kontrolle selbst werde ich im Folgenden soziologisch betrachten.

5. Soziologie der Polizeikontrolle

Polizeiliche Kontrollsituationen können aus mannigfaltigen Blickwinkeln der Soziologie heraus interpretiert werden. Zunächst einmal ist, wie ich in den ersten Kapiteln dieser Arbeit gezeigt habe, Polizei als direkte Folge historischer Staatenbildung und der Interaktion von Exekutive und Gesellschaft zu verstehen. Insofern ist Polizeiarbeit durch die sie umgebende politisch-kulturelle Umwelt maßgeblich beeinflusst und in ihrem Wesen daher weniger stetig, denn vielmehr wandelbar. Die Kontrolle an und für sich erfolgt vor dem Hintergrund der Definition von Sicherheit und dem zu erfüllenden Aufgabenkanon einer Polizei, der durch Globalisierungsprozesse beeinflusst ist. Ob man von der Polizei in Deutschland kontrolliert wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die als selektive Mechanismen deutender Polizeiarbeit verstanden werden können. Diese polizeilichen Selektionen und die ihnen zu Grunde liegenden Vorannahmen definieren den sozialen Raum der Kontrolle und der (Un)Sicherheitsinterpretation und können ohne Reflektion durch die handelnden Akteure Diskriminierungsdynamiken bis hin zu Rassismus entfalten. Jede Kontrollsituation selbst ist ein mikrosoziologisch interpretierbares Ereignis, in dem Rollenerwartungen bestehen, erfüllt oder nicht erfüllt werden und somit den Ausgang der Interaktion beeinflussen.

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Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Polizeikontrolle in Deutschland. Selektive Kontrollmechanismen, wahrnehmungsrelevante Konstruktionsprozesse und gewaltsame Eskalationsdynamiken in Zusammenhang mit strukturellem Rassismus
Hochschule
Universität Stuttgart
Note
2,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
98
Katalognummer
V1040183
ISBN (eBook)
9783346457776
ISBN (Buch)
9783346457783
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polizei, Rassismus, Gewalt, Polizeikontrolle, Polizeisoziologie
Arbeit zitieren
Johannes Renner (Autor:in), 2021, Polizeikontrolle in Deutschland. Selektive Kontrollmechanismen, wahrnehmungsrelevante Konstruktionsprozesse und gewaltsame Eskalationsdynamiken in Zusammenhang mit strukturellem Rassismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1040183

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