Die Figur der Paulina Salas aus "La muerte y la doncella". Opfer der Diktatur oder Täterin der Gegenwart?


Term Paper, 2018

17 Pages, Grade: 2,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Die Figur der Paulina Salas: ein Opfer der Diktatur oder eine Täterin der Gegenwart?

2. Der historische Hintergrund in La muerte y la doncella
2.1 Chile vor und während der Diktatur von Pinochet
2.2 Die demokratische Transition in Chile

3. Das individuelle und kollektive Gedächtnis

4. Vergangenheitsbewältigung und Opfer-Täter-Transition

5. Analyse der Figur der Paulina
5.1 Paulina als Opfer der Diktatur
5.2 Paulina als Täterin der Gegenwart

6. Schlussbemerkung

Bibliographie

1. Die Figur der Paulina Salas: ein Opfer der Diktatur oder eine Täterin der Gegenwart?

„^Como pueden los represores y los oprimidos cohabitar una misma tierra, compartir una misma mesa?” (Dorfman 2001: 90) ‘Wie können die Unterdrücker und die Unterdrückten auf derselben Erde zusammenleben, denselben Tisch teilen?’, dies ist eine zentrale Frage von Ariel Dorfman, dem Autor des Theaterstücks La muerte y la doncella (1991). Das Stück, ein für die Weltgeschichte repräsentatives lateinamerikanisches Werk, scheint ein Klassiker für die Themen „Gerechtigkeit, Vergebung, Erinnerung und das Vergessen” zu sein (Dorfman 2001: Klappentext).

Die Figur der Paulina Salas (ca. 40 Jahre alt) ist eine der drei Hauptfiguren in La muerte y la doncella. Die Persönlichkeit bzw. das Verhalten von Paulina durchläuft eine große Entwicklung innerhalb des Stückes. Paulina und ihr Ehegatte, Gerardo Escobar, der zum Mitglied einer Untersuchungskommission, welche die Delikte der chilenischen Diktaturperiode untersuchen, ernannt wird, leben in einem isolierten Haus am Strand. Nachdem ihn eines Tages der Arzt Roberto Miranda besucht, um ihm zu gratulieren, meint Paulina, die vor 15 Jahren ein Folteropfer zur Zeit der Diktatur war, in Roberto ihren Peiniger wiederzuerkennen. Sie beschließt ihn als Geisel festzuhalten, um so ein Geständnis seinerseits zu erzwingen. Während zu Beginn Gerardo und Paulina die klischeehafte Rollenverteilung in einer Ehe repräsentieren, verändert sich im Nachhinein das Bild, welches die Zuschauer bzw. die Leser von Paulina haben, drastisch. Nachdem sie Roberto fesselt, den Revolver auf ihn richtet und Selbstjustiz ausüben möchte, scheint sie nicht mehr das zu bemitleidende, passive Opfer zu sein. Sie hört nicht mehr auf ihren Ehemann Gerardo und scheint sowohl über Gerardo als auch Roberto die Kontrolle zu haben. Überraschenderweise nimmt Paulina am Ende des Stücks wieder die „typische” Frauenrolle ein, die sie zu Beginn repräsentiert hat.

Daher soll das Ziel dieser Arbeit sein die ambivalente Figur der Paulina Salas näher zu untersuchen. Um sich jedoch mit der Figur der Paulina und ihrer Rolle als „Opfer in der Vergangenheit” bzw. „Täterin der Gegenwart” beschäftigen zu können, soll vorher ein Überblick zu den historischen Ereignissen, die im Theaterstück La muerte y la doncella eine Rolle spielen, gegeben werden. Die Arbeit wird sich zuerst mit der Situation von Chile vor und während der Diktatur von Augusto Pinochet, aber auch mit dem Übergang zur Demokratie beschäftigen. Danach soll das Konzept des individuellen Gedächtnisses von Maurice Halbwachs kurz veranschaulicht und auf die Vergangenheitsbewältigung eingegangen werden. Da bei der Erfahrung traumatisierender Ereignisse in der Vergangenheit das Risiko der „Opfer-Täter­Transition” besteht, also die Entwicklung eines Opfers zum Täter, soll dieses, für die Analyse der Figur der Paulina signifikante, Konzept ebenfalls beschrieben werden. Schließlich soll in dem Analyseteil dieser Arbeit, der hauptsächlich aus dem close reading von ausgewählten Textstellen aufgebaut ist, untersucht werden, inwieweit bzw. weshalb Paulina sowohl als Opfer, als auch Täterin gesehen werden kann. Am Ende dieser Arbeit sollen im Schlussteil die wichtigsten Punkte der Ergebnisse der Analyse zusammengefasst werden.

2. Der historische Hintergrund in La muertey la doncella

Das Theaterstück La muerte y la doncella spielt in den 90er Jahren, also nach der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (vgl. Dorfman 2001: 86). Der März 1990 ist dabei der Phase der Transition hin zur Demokratie zuzuordnen, was die Handlung des Stücks La muerte y la doncella in die Zeit der Gründung der Kommission rückt, die die politischen Festnahmen und Folterungen während Pinochets Diktatur aufklären sollte (vgl. Dorfman 2001: 87).

2.1 Chile vor und während der Diktatur von Pinochet

Am 4. November 1970 wurde Salvador Allende, Mitglied der Unidad Popular, einer linken chilenischen Partei, zum Präsidenten gewählt (vgl. memoriachilena). Allendes Ziel war es, eine sozialistische Demokratie in Chile zu schaffen. Um Chile auf einem demokratischen Weg zum Sozialismus zu führen, beschloss Allende die Agrarreform durchzuführen, die von dem Christdemokraten und vorherigen Präsidenten, Eduardo Frei Montalva, eingeleitet wurde (vgl. Contact Chile). Dies bedeutete, dass ein großer Teil der landwirtschaftlichen Fläche, aber auch das Bankwesen und weitere Bereiche der Industrie, entschädigungslos verstaatlicht wurden (vgl. Contact Chile). Da jedoch ausländische Investitionen ausblieben, kam es zu einer großen Wirtschaftskrise in Chile (vgl. Contact Chile). Nicht nur Streiks und Boykotte von Landbesitzern, Unternehmern etc. hetzten gegen Allende, sondern auch die USA ließ ihren Geheimdienst, die CIA, Aktionen zur Schwächung von Chile ausführen (vgl. Contact Chile).

Schließlich kam es am 11. September 1973 zu einem Militärputsch in Chile, der von Augusto Pinochet geleitet wurde, der dazu führte, dass sich Allende am selben Tag das Leben nahm (vgl. Contact Chile). Bereits bei Amtsantritt sagte Pinochet: „Von hier zum Friedhof, ich bin kein Mann des Exils” (Deutsche Welle). Sogar das „Estadio National”, ein Fußballstadion, wurde zum Konzentrationslager umgebaut und ca. 40.000 Menschen (Pinochet-Gegner, Linke etc.) wurden eingesperrt, gefoltert oder ermordet (vgl. Deutsche Welle).

Von 1973 bis 1990 regierte Pinochet Chile diktatorisch (vgl. DW). Um das Land wiederaufzubauen, wurde Chile von den USA und Politikern in Deutschland massiv unterstützt (vgl. Deutsche Welle). Anhänger von Allende wurden während der Militärdiktatur unter Pinochet weiterhin verfolgt und ermordet, linke Parteien und Gewerkschaften wurden ganz verboten und die Verstaatlichungen, sowie die Presse- und Meinungsfreiheit abgeschafft (vgl. Deutsche Welle). Aufgrund dieser Umstände und der massiven Verletzungen der Menschenrechte flohen viele Chilenen ins Exil (vgl. Deutsche Welle). Durch die Wirtschaftskrise im Jahr 1982 stieg die Armut und somit auch die Proteste im Land (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung). Schließlich mobilisierten die Gegner von Pinochets Diktatur im Jahr 1987 alle Kräfte und leiteten mit einer Aktion den Übergang in die Demokratie ein und Pinochet verlor das Plebiszit zur Verlängerung seiner Regierung (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung). Im Oktober 1989 nahm die Mehrheit der Chilenen an einer Werbekampagne teil, in der sie auf die Frage, ob Augusto Pinochet als alleiniger Kandidat bei den nächsten Wahlen antreten dürfe, mit „No!” stimmten (vgl. Deutsche Welle).

2.2 Die demokratische Transition in Chile

Die ersten freien Wahlen fanden 1998 statt (vgl. Deutsche Welle). Im März 1990 war das Ende der Diktatur eingeleitet und Pinochet wurde zwar vom Christdemokraten Patricio Aylwin abgelöst (vgl. Deutsche Welle), blieb jedoch bis 1998 Chef des Heeres und positionierte seine Gefolgsleute im Senat, Gerichtshof und in der Wirtschaft (vgl. Deutsche Welle). Keines der zahlreichen internationalen Verfahren gegen Pinochet führte zu einer Verurteilung (vgl. Deutsche Welle) und auch die Täter wurden vom Amnestiegesetz geschützt. Trotz Allem gründete Patricio Aylwin die Rettig- Kommission, eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen (Dorfman 2001: 87). Somit wurde 1991 ein Bericht veröffentlicht, der zwar die Namen der Toten bzw. Verschwundenen beinhaltete, jedoch damit andere, noch lebende, Opfer der Diktatur ausschloss (vgl. Vatican News). Der Valech-Bericht („Informe de la Comision Nacional sobre Prision Politica y Tortura”) von 2004 hingegen publizierte ca. 28.000 Namen von Folteropfern, was dazu führte, dass auch Opfer, die die Diktatur überlebt, jedoch unter ihr gelitten hatten, die Möglichkeit bekamen, von ihrer Vergangenheit zu berichten, statt die Geschehnisse zu verdrängen (vgl. Vatican News). Der Valech-Bericht kann als ein Schritt, nicht „nur” die toten Opfer, sondern auch die gefolterten und noch lebenden Opfer der Diktatur, gesehen werden. Außerdem zahlte die Regierung diesen Opfern eine symbolische Entschädigung beispielsweise in Form von Geldzahlungen oder kostenlosen Weiterbildungen etc. (vgl. Vatican News).

3. Das individuelle und kollektive Gedächtnis

In seinem Buch Das kollektive Gedächtnis (1991), beschäftigt sich der Soziologe Maurice Halbwachs unter anderem mit den Begriffen des kollektiven und individuellen Gedächtnisses. Da sich diese Arbeit auf die Figur der Paulina spezialisiert und das individuelle Gedächtnis bei der Analyse dieser Figur von Bedeutung ist, soll es im Folgenden kurz erläutert werden.

Das individuelle Gedächtnis bezeichnet nach Halbwachs (1991) folgende Erinnerungen, die ein Individuum als Eigene, aufgrund eigener, persönlicher Erfahrungen, entwickelt hat. Beim kollektiven Gedächtnis hingegen wird von Erinnerungen gesprochen, die nicht nur ein Individuum, sondern eine gesamte Gruppe (Beispiele: Nachkriegsgeneration, Generation DDR) aufgrund gemeinsamer, besonders prägender Ereignisse, aufgebaut hat. Das individuelle Gedächtnis kann als ein „,Ausblickspunkt’ auf das kollektive Gedächtnis gesehen werden”, wobei das kollektive Gedächtnis als eine Erinnerung verstanden wird, die aufgrund gemeinsamer Erfahrungen und dem Wissen einzelner Individuen innerhalb einer sozialen Gruppe basiert (Halbwachs 1991: 31). In Abhängigkeit von der gewählten Position, die innerhalb des kollektiven Gedächtnisses eingenommen wird, kann dieser Ausblickspunkt variieren (vgl. Halbwachs 1991: 31). Diese verdeutlichte Abhängigkeit des individuellen Gedächtnisses vom kollektiven Gedächtnis verdeutlicht eine Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu rekonstruieren, ohne auch die Erinnerungen anderer Menschen heranzuziehen (vgl. Halbwachs 1991: 31). Somit kann gesagt werden, dass nach Halbwachs das kollektive und individuelle Gedächtnis nicht als zwei voneinander unabhängige Konzepte betrachtet werden können, sondern sie sich stets aufeinander beziehen. Wird davon ausgegangen, dass das kollektive Gedächtnis auf der Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es schließlich die Individuen innerhalb einer Gruppe, „die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern” (Halbwachs 1991: 31).

4. Vergangenheitsbewältigung und Opfer-Täter-Transition

Des Weiteren ist im Rahmen dieser Arbeit nicht nur der Begriff des individuellen (bzw. kollektiven) Gedächtnisses erwähnenswert, sondern auch die „Bewältigung” von vergangenen Geschehnissen. Auch hier muss es nicht nur ein Individuum sein, das sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen muss. Ebenso bedürfen Gruppen oder gar ganze Nationen der Ausarbeitung kollektiv erfahrender Ereignisse, wie beispielsweise Folter. Aleida Assman, die in ihrem Buch Der lange Schatten der Vergangenheit (2006) unterschiedliche Wege, die von individuellen zu kollektiven Konstruktionen der Vergangenheit führen, untersucht, behauptet, dass eine endgültige Verarbeitung von bestimmten vergangenen Ereignissen erst dann möglich ist, wenn eine „Symmetrisierung der Erinnerung” hergestellt wird. Erst nachdem dies geschehen ist, kann man sich „einer gemeinsamen Zukunft zuwenden” (Assman 2006: 72).

Symptome, die jedoch plötzlich auftauchen können und somit die Vergangenheitsbewältigung stören bzw. erschweren, werden als sogenannte „flashbacks” bezeichnet. Hier werden „durch einen Schlüsselreiz ein Wiedererleben traumatischer Emotionen hervorgerufen” (Dypka 2016). „Flashbacks” tauchen zum Beispiel auf bei: akutem Stress, Depressionen, Gewalterfahrungen etc. „Unbewältigt sind dann Negatives, Verdrängtes, Belastendes, seelische Verletzungen und Schuldgefühle”, erklärt die Heilpraktikerin Rosemarie Dypka (2016).

Neben den „flashbacks” besteht bei der Erfahrung traumatisierender Ereignisse in der Vergangenheit ebenfalls das Risiko der „Opfer-Täter-Transition”, also die Entwicklung eines Opfers zum Täter. Grund hierfür sind dann bestimmte Wirkungsmechanismen, die für das erhöhte Risiko, als Opfer in der Vergangenheit selbst später zum Täter zu werden, verantwortlich sind (Lindhorst, Urban 2003: 144).

Laut Lindhorst und Urban besagt dieser Wirkungsmechanismus, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, dass, falls „ein Kindheitstrauma, das durch einen erlittenen sexuellen Missbrauch (sexuelle Gewalterfahrung) entstanden ist, zu bewältigen ist”, dieses Opfer in der Zukunft selbst zum Täter bezüglich sexuellen Missbrauches werden kann (Lindhorst, Urban 2003: 144). Möglicherweise kann diese Opfer-Täter-Transition auch als eine Art Versuch gesehen werden, das verlorene Selbstwertgefühl wiederzugewinnen bzw. das erlebte Trauma auf rächender Weise zu verarbeiten.

5. Analyse der Figur der Paulina

Im Folgenden sollen mehrere Ausschnitte aus dem Theaterstück La muerte y la doncella präsentiert und mit Hilfe des close readings analysiert werden. Bevor ein Textausschnitt dargelegt wird, soll(en) die jeweilge(n) Szene(n) in den Gesamtkontext eingeordnet werden. Des Weiteren soll die Figurencharakterisierung für Dramen nach Manfred Pfister (u2001) berücksichtigt werden.

5.1 Paulina als Opfer der Diktatur

SEGUNDO ACTO, Escena 1 (50-51)

Der Arzt Roberto Miranda, der Gerardo Escobar nach einer Autopanne nach Hause fuhr, klingelt an Gerardos Tür, um ihm zum Beitritt einer Untersuchungskommission, welche die Delikte der chilenischen Diktaturperiode untersuchen wird, zu gratulieren. Gerardo bietet Roberto an, bei ihm zu übernachten, woraufhin dieser die Einladung schließlich annimmt. Nachdem Paulina Salas, die Ehefrau von Gerardo Escobar, die beiden Männer belauscht hat und Roberto nun schläft, schlägt sie ihn bewusstlos und fesselt ihn an das Sofa. Ihrer Meinung nach sei Roberto, den sie an der Stimme wiedererkannt hat, der Peiniger, der sie während der Diktatur gefoltert und misshandelt hatte. Nach unerfolgreichen Versuchen von Gerardo Paulina zu beruhigen und von ihrem Vorhaben abzuhalten, versucht sie ihm zu erklären, dass er sie in ihrem Handeln nicht hindern soll und er sich weiterhin mit seiner Kommission, die sowieso „nur” bereits tote berücksichtigt, beschäftigen soll:

[...]

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Details

Title
Die Figur der Paulina Salas aus "La muerte y la doncella". Opfer der Diktatur oder Täterin der Gegenwart?
College
University of Würzburg
Grade
2,0
Author
Year
2018
Pages
17
Catalog Number
V1042139
ISBN (eBook)
9783346462565
ISBN (Book)
9783346462572
Language
German
Keywords
La Muerte y la Doncella, Paulina Salas Pinochet Opfer-Täter-Transition
Quote paper
Nevin Baidoun (Author), 2018, Die Figur der Paulina Salas aus "La muerte y la doncella". Opfer der Diktatur oder Täterin der Gegenwart?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1042139

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